Der Glasgarten von Gadreel_Coco ================================================================================ Kapitel 98: Kriegsgefangener ---------------------------- ~ Kriegsgefangener ~ „Angenehm entspannt und klar im Kopf“, lachte Aya. Wie es sich anhörte… „Allerdings glaube ich nicht, dass ich nächste Woche schon wieder arbeiten kann.“ Leise Nachdenklichkeit schlich sich in Ayas Stimme. Er wusste, dass er bald wieder zurück ins Laugh musste, aber es gab einige Gründe, die noch dagegen sprachen. „Du brauchst noch ein paar Tage länger…“, dachte Schuldig laut. „Ich kann Gabriele anrufen und nachfragen, wie es aussieht. Während du mit Kudou die Gegend unsicher machst, kann ich ja mal durchklingeln lassen.“ Total harmlos - aber nicht übertrieben brachte er seine Worte vor, mit dem Hauch von Nachdenklichkeit. Also eine gute Mischung, damit niemand misstrauisch wurde - vor allem Ran nicht. Schuldig löste sich von Ran und stand auf. Aya tat Schuldig den Gefallen und wurde ganz und gar nicht misstrauisch, ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen Naturell. Er nickte und sah zu seinem Pendant hoch. „Wäre nicht schlecht… wenn du ihn anrufst.“ Er wollte es selbst noch nicht, wollte noch Abstand haben. Er erhob sich ebenso und streunte an Schuldig vorbei zur Küche, aus der es so feierlich roch. „Telepathenbällchen…“, murmelte er für sich. „Hunger!“, lauter dann auch für Schuldig, schon einmal Schälchen aus dem Schrank holend. „DAS hab ich gehört!“ schickte Schuldig Ran nach, bevor er sich an die Anrichte stellte und die Honigbällchen - wie sie vor Kudous Verunglimpfung hießen - begutachtete. Die Bällchen gleichmäßig auf beide Schälchen verteilend, hob Aya spielerisch lachend die Augenbrauen. Er griff zum Honigtopf und verfeinerte die schon leckeren Süßigkeiten mit der zähen Flüssigkeit, bevor er Kokosstreusel darübergab. Die frischen Früchte standen schon auf dem Tisch. „DU hast sie erfunden, also sind es deine!“ Er trug sie zum Tisch und setzte sich. „Gut, der Begriff stammt von Youji.“ Sie hatten sich nämlich zusätzlich zur Theke, die die Küche vom Wohnraum trennte einen Esstisch geleistet, samt schwerer Platte und den passenden Stühlen mit rotem Lederbezug. Die Nähte waren weiß und der Kontrast hatte Schuldig auf Anhieb gefallen. „Eben.“ Schuldig setzte sich Ran gegenüber und pickte sich eines der Bällchen mit den Fingern heraus und ließ eines komplett in seinem Mund verschwinden. Wie immer… lecker. Sein Blick fiel auf die Uhr der Überwachungsanlage. So wie er den Kerl kannte, kam der ohnehin früher als geplant. Eben genau jetzt. Kurz nachdem Youji auf dem Überwachungsmonitor auftauchte, klingelte es und Aya sah auf, gerade eine der Erdbeeren aus einem Früchteschälchen im Mund, die Schuldig extra für ihn besorgt hatte. Er legte seine Stäbchen beiseite und erhob sich mit einem Lächeln zu Schuldig. Den Türsummer betätigend wartete er an der Tür auf den blonden Weiß. Und Schuldig blieb mit angewinkeltem Bein unflätig am Tisch sitzen und hörte der Begrüßungszeremonie mit einem Ohr zu, während sich sein Gesichtsausdruck etwas abkühlte. Er versüßte sich den unwillkommenen Besuch mit einer Ananas und dem Gedanken an Rans Lächeln. Es war nichts Aufgesetztes, er tat es gern. Ran war ehrlicher mit sich selbst und das tat Schuldig gut. Er hatte von Anfang an gewusst, dass es besser werden würde. Nach der „Begrüßungszeremonie“ plus dazugehöriger Umarmung führte Aya Youji in die Küche, wo sie schon auf Schuldig trafen. „Setz dich!“ „Hallo“, grüßte Youji nicht wirklich freundlich, aber auch nicht unfreundlich und ließ sich Schuldig schräg gegenüber am Tisch nieder. „Willst du etwas trinken? Essen?“ „Ein Kaffee wäre nicht schlecht!“ Schuldig nickte lediglich gezwungenermaßen und wollte gerade dazu ansetzen zu sagen, dass er sich den Kaffee selber holen solle, verkniff sich aber den Launekillerspruch und aß an seinem Honigbällchen weiter. Allerdings hatte Ran kaum etwas gegessen und das lag daran, dass Kudou zu früh gekommen war. Schuldig zog seinen Fuß vom Stuhl und erhob sich. Er ging Richtung freistehender Küchenzeile. „Setz dich, ich mach ihm einen Kaffee. Willst du auch einen… oder ist dir Tee lieber?“ „Tee!“, lächelte Aya und ließ sich Schuldig gegenüber nieder. „Wie war die Fahrt hierhin?“, fragte er Youji und dieser zuckte mit den Schultern. „Mir ist niemand gefolgt… aber es war voll! Noch voller als sonst! Wie geht es euch?“ „Gut… die letzte Zeit war ruhig, sehr entspannt.“ Aya bot Youji Bällchen aus seinem Schälchen an und dieser griff sich eins. Er schob es sich in den Mund und kaute genüsslich. „Sind das die Telepathenbällchen?“ Aya hob spöttisch eine Augenbraue. Das musste jetzt sein, oder? „Ja, das sind die Honig-Mandel-Bällchen, Youji“, erwiderte er leicht tadelnd. „Und es sind nicht deine, Kudou“, knurrte Schuldig aus dem Hintergrund. ‚Lass ihn essen, er hat heute noch fast nichts zu sich genommen. Wenn du ihm noch eins wegfrisst, dann fliegst du im hohen Bogen raus.’ Das war die Telepathendrohung zu den Telepathenbällchen. Youji hob eine Augenbraue. Schuldig, die Glucke. Aber ausnahmsweise hatte er ja Recht, Aya sollte etwas essen, wieder gut zu Appetit kommen und wenn es selbst durch diese Bällchen war. Zumal er es ja provoziert hatte. „Jawohl!“, erwiderte er spöttisch, zog sich aber zurück, lehnte dankend ab, als Aya ihm noch eins anbot. Aya runzelte die Stirn, besah sich Schuldig. „Schuldig…?“ Hier war doch irgendetwas im Busch… das sah er alleine an Youjis Gesichtsausdruck. Schuldig blickte auf. „Ja? Willst du doch keinen Tee mehr?“ Langsam begann Ran ihm zu schlau zu werden, er kam ihm immer schneller auf die Schliche. Weil Kudou auch immer einen Gesichtsausdruck wie ein Mondkalb machen musste wenn er telepathischen Kontakt aufnahm. Genau das war der Grund, warum Aya immer schlauer wurde. „Doch, will ich… aber warum will er keine Bällchen mehr?“, fragte Aya mit einem zweifelnden Unterton und einem kritischen Blick in Richtung Telepathen, dann in Richtung Essen. „Ich bin auch anwesend…“, gab Youji zu bedenken und bekam von Aya den gleichen Blick. „Es ist okay… ich habe keinen Hunger.“ „Und warum willst du ihm deine Bällchen geben, wo ich sie für dich gemacht habe?“, gab Schuldig mit fragendem Blick zu bedenken und wandte sich zur Kaffeemaschine um, die gerade die frischen Bohnen gemahlen hatte und stellte zwei Tassen unter. Rans Tee zog bereits in einer Tasse und wurde von Schuldig bewacht. „Ich will Youji doch nicht alle geben… aber ich finde es unhöflich, ihm nichts anzubieten!“ Da war er, der Gerechtigkeitsfanatiker, dachte Youji so bei sich und stopfte Ran den Mund mit einem weiteren Bällchen, sodass dieser erst einmal beschäftigt war, wütend auf ihn zu sein und sich nicht mit Schuldig über unwichtige Dinge wie sein Naschen zu beschäftigen. „Iss, Ran, damit du groß und stark wirst!“, sagte er mit einem Herzensbrecherlächeln und lehnte sich zurück. „Du hast ihm schon eins gegeben und er hat keinen Hunger. Damit ist der Höflichkeit genüge getan, finde ich“, sagte Schuldig in freundlichem Tonfall, wandte sich jedoch nicht um sondern arrangierte den fertigen Kaffee samt Löffel, Untertasse, Milch und Zucker zu den beiden an den Tisch. Rans Tee und sein eigener Kaffee gesellten sich hinzu, bevor er wieder Platz nahm. Banshee kam heran und sprang auf seinen Schoß. Youji klemmte sich jeglichen Kommentar bezüglich Schuldig, sondern vergnügte sich mit seinem Kaffee. Er besah sich die Wohnung und den kommenden Sonnenuntergang. Was wäre er froh, wenn er gleich mit Ran alleine spazieren gehen konnte, ohne Schuldig und seine provozierende Gegenwart. Aya widmete sich währenddessen ebenso schweigend seinen Bällchen. Er fühlte sich nicht wirklich bemüßigt dazu, ein Gespräch zu beginnen oder zwischen den beiden zu vermitteln… was auch schwer werden würde. Einzig und alleine Banshee war sehr kommunikativ, wie sie mit Schuldig sprach. Und er mit ihr. Schuldig mochte das Fellknäuel nicht mehr missen, außer wenn sie ihre verrückten fünf Minuten hatte in denen sie kreuz und quer durch die Wohnung jagte und sich die, durch die Vorhänge bewegende Schatten fing. Momentan jedoch war sie unter seiner Hand sehr ruhig und verschmust. So streichelte er sie mit der einen und aß seine Honigbällchen mit der anderen Hand. Sie mochte den bösen Kudou auch nicht… redete er sich ein. Aber er redete es auch ihr ein, in leisen Zwiegesprächen, die sie gehabt hatten hatte er ihr immer wieder erzählt, wie niederträchtig, böse und gemein der Blonde war. Und wie schlecht er für Ran war. Von alledem nichts wissend, beendete Aya sein Mahl und stellte schließlich alles sorgsam in die Spülmaschine. Die Luft wurde ihm hier bei weitem zu dick für sein Wohlbehagen und er nickte Youji zu. „Lass uns spazieren gehen.“ Nur raus aus der Wohnung, ganz raus. „Kommst du klar?“, fragte er Schuldig mit einem Augenzwinkern. Natürlich würde der Telepath alleine fertig werden… es sei denn, ihn packte die Eifersucht. „Gut, lass uns los!“ Auch Youji erhob sich jetzt und ging ohne viel Federlesens zur Garderobe im Flur. So lauschig es in der Küche auch gewesen war, so sehr drängte es ihn jetzt in die sichere Umgebung von Schuldig weg. „Geht nur“, sagte Schuldig leise und winkte den beiden zu, mit Banshee auf dem Schoß. „…bevor ich zum Tier werde, har har har“, witzelte er mit gelangweilter Mimik und blickte wieder auf ihren Katzenteenie hinab. „So, jetzt sind wir alleine und die bösen Weiß sind weg und jetzt sind nur noch wir zwei da um das Schiff vor dem Sinken zu retten.“ Sein Blick kreiste in der Wohnung umher, bis er sich an der Playstation verfing… Schuldig zockte ein kleines Weilchen, bevor ihm einfiel, dass er die ‚Ran-lose’ Zeit nutzen konnte um bei dessen Arbeitgeber vorzusprechen. Er hangelte sich das Telefon heran, platzierte das Headset ordentlich, bevor er die Nummer wählte, die er über Nagi herausfinden ließ. Die Privatnummer von Gabriele, der, wie er wusste, im Smile war. Seine Frau jedoch war zuhause, denn sie musste das Bett hüten um ihr Ungeborenes nicht zu gefährden. Schuldig wählte über eine sichere Verbindung die Nummer und wartete bis sich Yuki am Telefon meldete. Ein wenig den Irritierten mimend meldete sich Schuldig verzögert und entschuldigte sich sogleich… „… dachte ich, dass es die Nummer des Smiles wäre. Es tut mir wirklich Leid, sie zu stören. Gabriele Amerati ist nicht zufällig zuhause?“ Schuldig wusste, dass Gabriele seiner Frau von Rans Zustand erzählt hatte - wie es brave Ehemänner so taten. „Nein, nein, er müsste im Smile sein. Kann ich ihnen irgendwie helfen? Geht es um Fujimiya Ran?“ „Ja. Das tut es tatsächlich. Ihm geht es wesentlich besser, jedoch braucht er noch ein paar Tage länger um auch unter Menschen sein zu können. Ich wollte Gabriele bitten, ihm noch eine Woche zu geben.“ Yuki schwieg einen Moment, den Schuldig dafür nutzte in ihre Gedanken zu gelangen. Sie mochte Ran und sie fand ihn gut als Aushängeschild des Laughs. „Das ist schwierig. Wir können nicht so lange auf ihn verzichten.“ Schuldig gab ihr einen kleinen Schubs in die wohltätige, sanfte Richtung. Suggerierte ihr, wie schade es doch wäre, wenn dieser junge Mann auch noch seine Stelle verlieren würde zusätzlich zu seinem jetzigen Zustand. „Ich verstehe, dass er seine Kollegen mit seiner Abstinenz enorm belastet und dass sie die Arbeit für ihn mitmachen müssen. Aber eine Woche wäre wirklich das Maximum.“ „Ja… ja… eine Woche wäre wirklich nicht ganz so schlimm. Ich spreche mit meinem Mann.“ Sie tauschten noch ein paar höfliche Floskeln aus und Schuldig verabschiedete sich dann mit dem guten Gedanken daran, dass sie die Dinge mit Gabriele schon richten würde. Dennoch musste er natürlich in zwei Tagen bei diesem persönlich anrufen. o~ „Ich mag ihn nicht.“ „Ich weiß.“ „Ist ja auch nicht zu übersehen.“ „Nein, das ist es nicht.“ „Aber dir gefällt es nicht.“ Youji seufzte. „Natürlich nicht, wie denn auch? Ich mag euch beide, nur ihr mögt euch nicht.“ Ayas Blick war ernst, streng gar, auch wenn ein latenter Schimmer Hilflosigkeit durchaus vorhanden war. Wie immer, wenn es um besagte Youji-Schuldig-Thematik ging. „Er ist der Neue… der zukünftige Schwager, Ran. Da ist man immer strenger, wenn man sich Sorgen macht. Besonders, wenn es sich um Schuldig handelt. Er war unser Feind und er hat dich nicht gut behandelt.“ Nun war es an Aya zu seufzen. Sein Blick schweifte in die Umgebung, die sie auf seinen Wunsch hin bewusst menschenleer gewählt hatten. Gut... nicht ganz so voll wie der Rest von Yokohama. Das machte es für sie beide auch einfacher, wachsam zu sein und auf jede Regung zu achten, die ihnen gefährlich werden konnte. Das machte es für ihn einfacher, den anderen, vereinzelten Menschen zu begegnen. „Er ist aber nicht mehr unser Feind.“ „Doch er war bereit dazu, dich umzubringen. Und dir wehzutun.“ „Er ist es nicht mehr.“ „Kann man das einfach so auslöschen?“ „Das Thema hatten wir doch schon, Youji… Liebe macht grausame Dingen mit Menschen… aber auch wunderliche. Sieh ihn dir an. Er ist kein Arschloch…“ Aya überdachte es einen Moment lang und fügte dann für Youjis Seelenfrieden versöhnlich an: „Kein so großes mehr. Und er würde mich im Leben nicht verletzen.“ Youji grollte und grub seine Hände in die Hosentaschen. „Gut… dann ist er eben ein verliebter Trottel!“ Er brauchte diesen Ausdruck, um sich besser zu fühlen, weil ihm ein verliebter Schuldig zu abstrus schien. Aya schnaubte. „Aber er ist mein verliebter Trottel.“ „Und wo hat uns das hingebracht? Weiß wird angeblich überfallen, weil Schwarz das Ziel einer noch unbekannten Gruppierung ist!“ „Das ist unfair.“ „Ich weiß, aber es STIMMT! Wir wären nie überfallen worden, hätten wir keine Verbindung zu ihnen!“ Aya schwieg für einen Moment. Youji sagte das Gleiche wie Schuldig und zugeben, vermutlich hatten beide Recht. Doch würde sie das auseinandertreiben? Nein. „Wir müssen das gemeinsam durchstehen“, führte Aya etwas schwach an und Youji gab ein zustimmendes Geräusch von sich, das jedoch von Zweifeln durchsetzt war. „Daran besteht kein Zweifel. Doch wir müssen hier weg, Ran. Zumindest Weiß muss Japan verlassen… und dazu existieren schon Pläne.“ Aya sah überrascht auf. „Was?!“ Das war ihm neu… das war ihm nicht recht, er wollte nicht, dass sie gingen! Er wollte nicht… alleine sein, ohne die Freunde, die mittlerweile seine Familie geworden waren. Doch wie töricht war er, das bis jetzt verdrängt zu haben? Zu ihrer eigenen Sicherheit hätten sie schon längst untertauchen sollen. Schon längst. „Ja. Manx hat letztens eine Andeutung gemacht. Wir sollen Japan ganz verlassen um uns in Sicherheit zu bringen. Anscheinend will sie uns doch nicht opfern.“ Ayas Blick verriet Youji, dass es ihm überhaupt nicht recht war, doch was sollte Youji tun? Hierbleiben und letzten Endes doch noch sein Leben riskieren? Er wollte Aya sehen, ja, aber nicht zum Preis seines Lebens… nicht zum Preis eines himmlischen Wiedersehens. „Es tut mir Leid, Ran. Aber ich befürworte diese Möglichkeit. Wer weiß, was sie sonst noch mit uns anstellen…“ In Ayas Blick schlich sich Sanftheit. „Wie geht es dir, Youji? Ehrlich?“ „Besser als dir, Ran. Es geht schon. Es muss gehen. Wenn wir sie gestellt haben, dann kann ich über eine Verarbeitung nachdenken.“ „Es belastet dich.“ „Ja, das tut es, aber ich konzentriere mich auf das Wesentliche: diese Scheißkerle zu fassen und umzubringen.“ „Wir haben keinen Anhaltspunkt… gar nichts. Nagi hat schon gesucht, Crawford hat auch nichts, Schuldig und ich ebenso nicht. Sie sind unsichtbar.“ Ayas Stimme glitt in die Nachdenklichkeit ab. „Die einzigen vier, die mit dieser Gruppierung Berührungspunkte hatten, waren Schuldig, Jei, du und ich. Ich habe nicht viel erfahren, Schuldig und Jei auch nicht… du ebenso nicht. Oder? Oder hast du etwas vergessen, irgendetwas vielleicht, eine Kleinigkeit, die wichtig sein könnte?“ Youji grübelte. „Nein, ich habe nichts an ihnen erkennen könnten, nichts, was sie ausgezeichnet hätte… gar nichts.“ „Was haben sie denn gesagt?“ „Nicht viel… nur unwichtige…“, …verletzende… „Dinge.“ „Kannst du dich an den genauen Wortlaut erinnern? An irgendetwas?“ Eine Weile schwieg Youji, eine sehr lange Weile. Seine Augen huschten über den Asphalt der Straße, als er in Gedanken all das durchging, was Aya verborgen geblieben war. „Sie waren spöttisch…“, begann er schließlich. „…haben nichts und niemanden ernst genommen und die Anführerin… die Schlampe… sie hat komisch gesprochen, akzentuiertes Japanisch. Sie hatte einen sehr starken Akzent.“ Das war… besser als gar nichts. Das war sogar definitiv besser als gar nichts. „Weißt du, welche Nationalität?“, fragte Aya hoffnungsvoll, die Information bereits abspeichernd. „Es klang hart vom Klang her. Herrisch und kalt… so ähnlich wie Schuldig damals vor ein paar Jahren. Wo wir ihnen das erste Mal begegnet sind, weißt du noch? Sie klang… ähnlich.“ „Du meinst also eine Deutsche?“ „Keine Ahnung. Ich kann es nicht genau sagen!“ Youji raufte sich verzweifelt die Haare. „Ich kann so wenig genau sagen!“ „Entspann dich, Youji… lass dich davon nicht aus der Ruhe bringen. Denk einfach an das, was dir noch einfällt.“ Wieder herrschte für einen Moment lang Schweigen, bevor Youjis Augen sich abrupt hoben. „Gott… Ran… ich habe in der Tat was vergessen, was Wichtiges! Verdammt!“ Seine Augen brannten sich in die des rothaarigen Japaners. „Diese Schlampe… kurz bevor Jei sie getötet hat“, kurz bevor sie ihn vergewaltigt hätte, „...hat sie gesagt: „Bestelle mir schöne Grüße an meinen Ne…“…und da hat Jei sie erschossen. Ich weiß nicht, wen sie damit meint… ich habe es vergessen, einfach vergessen! Wieso vergesse ich so etwas Wichtiges?!“ Aya umfasste Youji und zog ihn kurz an sich, ein Bekunden von Freundschaft, das er sich nicht oft in der Öffentlichkeit erlaubte. „Ist in Ordnung, Youji, wirklich… ganz ruhig. Es ist doch gut, dass es dir eingefallen ist! Beruhige dich!“ Was sollte das heißen? ‚Bestelle schöne Grüße an meinen Ne…’ An wen? Wer war das? Wieso kannte sie diese Person? Doch alleine die Tatsache, dass sie einen deutschen Akzent hatte, war AUFFÄLLIG, mehr als das! „Youji, das sind Informationen, mit denen wir sehr viel anfangen können, egal, wann sie kommen!“ „Aber was, wenn es zu spät ist und sie noch jemandem von uns etwas tun?“, fragte Youji verzweifelt und seine Augen suchten Rans, begegneten dort gelassener Ruhe. „Nein, es ist nicht zu spät. Wir schnappen sie, bevor sie noch weiteren Schaden anrichten können, hörst du?“ Da war mehr Zuversicht in seinen Worten als Aya wirklich fühlte… doch es würde werden, es MUSSTE werden. „Ich habe Angst, Ran, dass sie uns wirklich gefährlich werden können.“ „Ich auch… aber wir haben jahrelang überlebt. Warum sollten wir diese Herausforderung nicht überleben? Vor allen Dingen, da wir jetzt Unterstützung haben.“ Leicht gesagt. „Du hast Recht…“ Youji wollte sich beruhigen lassen, doch das war in Ordnung so. Aya sah es lieber, wenn der andere Mann einen klaren Kopf behielt, als wenn er völlig neben sich stand. „Lass uns zurückgehen, Youji. Es wird Abend… und kälter.“ Ein stummes Nicken erfolgte. o~ Die Musik gipfelte in stakkatoartigen Beats, bevor sie wieder in sphärenhafte Trance überging. Das Licht folgte und die Atmosphäre wechselte von heftigem Blitzgewitter zu psychedelischem Violett und Rot. Sie waren alleine auf dem Feld. Zwölf Spieler hatten sie schon ins Aus befördert und nur sie waren als einzige übrig geblieben. Der künstlich aufgeworfene Sandhügel, an dem Nagi lehnte und der ihm Deckung vor dem Feind bot leuchtete in diffusem Rot, bedingt durch das Licht. Nagi hörte ein verdächtiges Geräusch und schob sich weiter über den Sandhügel voran. Seine Schutzmaske schränkte ihn mehr ein, als wenn er sie nicht tragen würde. Er repertierte den Markierer und schoss. Das Zischen der mit Lebensmittefarbe gefüllten Kugel über seinen Kopf hinweg ließ Omi sich ducken und hinter der metallenen Tonne zurückrollen, von der er gerade einen Sprung hatte wagen wollen. Exakt zwei Spieler waren sie noch, Nagi und er und sie bekriegten sich in gewohnt professioneller Manier, sich keinen Zentimeter schenkend, keine Gnade zeigend, beide absolut ehrgeizig in ihrem Tun. Omi sah kurz dem Geschoss hinterher, das sich in einen der Sandhügel gebohrt hatte und warf einen Blick nach links. Dort hatte er ebenso viel Deckung und ein besseres Schussfeld auf den letzten, verbliebenen Opponenten. Er sprintete über das Dröhnen der Musik hinweg los, seinen Markierer im Anschlag und bereit zu schießen. Allerdings sah Nagi den Angriff kommen, duckte sich nach hinten weg und kroch in eine der halbhohen Röhren. Die innere Aufregung hielt ihn noch immer wie zu anfang des Spiels gefangen. Das lag aber zum großen Teil daran, dass er Angst hatte, im Eifer des Gefechts die Kontrolle über seine Fähigkeiten zu verlieren. So war dieses Paintballspiel eine durchaus gute Übung für ihn. Ihn juckte es sprichtwörtlich in den Fingern, vielmehr Händen einen leichten Sieg herbeizuführen. Allerdings übte er sich in Beherrschung. Es ging schon lange nicht mehr wirklich darum die Hauptaufgabe des Spiels zu lösen, vielmehr bekriegten sie beide sich schon eine geraume Weile ohne einen Treffer zu erzielen. Nagi hatte den Verdacht, dass die anderen Spieler, die sie hinausbefördert hatten bereits gegangen waren. Den Verdacht hatte Omi auch, doch momentan war er zu sehr damit beschäftigt, einen Schuss auf Nagi abzugeben, den er gerade noch in seinem Blickfeld gehabt hatte. Doch der Schuss ging ins Leere und Omi lud nach. „Komm zu Papa…“, tschilpte er leise für sich und grinste. Paintball machte Spaß und es machte noch mehr Spaß, es mit Nagi zu spielen, da dieser ebenso gut, wenn nicht sogar besser war als er! Vor allem, wenn bedacht wurde, dass Nagi dieses Spiel noch nie zuvor gespielt hatte, sich aber die Regeln und den Spielablauf wiederholt durchgelesen hatte. Er fand nur die Ausrüstung etwas lästig – nötig, aber lästig. Möglichst ruhig und flach lag er im Schatten der Wölbung des Rohres und beobachtete die feindliche Aktivität im Umfeld. Noch hatte Omi Nagi nicht entdecken können. Doch dieser hatte die Röhre, in der sich sein Ziel befand, schon auserkoren und suchte nun einen geeigneten Weg, Nagi aus seinem Versteck zu treiben. Omi hatte jedoch das Pech auf seiner Seite, denn er konnte sich nicht gefahrlos zur nächsten Deckung begeben, ohne höchste Gefahr zu laufen, dass er sich selbst opferte. So beschloss er, Nagi mit einer etwas… plumpen Taktik aus seinem Versteck zu treiben und schoss gegen die Röhre. Gerade jetzt war es an Nagi beide Seiten der offenen Röhre in Augenschein zu nehmen. Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig dass Omi entweder von der einen oder von der anderen Seite kam. Jetzt hinauszugehen wo sein Versteck gefunden worden war, wäre glatter Selbstmord. Er würde abwarten. Für ein paar trancebegleitete Minuten tat sich rein gar nichts… und Omi wartete weiter und weiter… um dann plötzlich wieder vorzupreschen und zu seinem alten Versteck zurück zu kehren. Dadurch war er zwar weiter von Nagi entfernt, hatte aber mehr Möglichkeiten, die er nun auch ausgiebig nutzte, sodass er letzten Endes in schräger Schussbahn zu Nagi stand. Jedoch hatte Nagi einen Schatten wahrgenommen, zu seiner Linken, etwas weiter entfernt. Er musste seinen Platz verlassen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte abgeschossen zu werden. So robbte er auf dem schattigen Boden der Röhre auf der anderen Seite nach draußen und über den Boden mit einer Rolle hinter den nächsten Sichtschutz der eine mannshohe Kiste darstellte. Dieser schloss sich mehrere übereinandergestapelte Lagerpaletten an, auf die er nun kletterte. Und da war Omi auch schon… er hatte tatsächlich auf ihn gelauert. Nagi wollte sich nicht zu früh freuen, ging wieder in Deckung und machte sich daran eine bessere Schussposition zu erlangen. Omi suchte sich eine erneute Deckung und war nun in direkter Schusslinie zu Nagi, doch dieser hatte sein Versteck verlassen… verwaist lag es vor ihm und Omi fluchte wortgewandt. Wieso hatte er gerade nicht richtig aufgepasst? Er sah sich um und blieb am nächstmöglichen Versteck des anderen hängen. Nagi hatte sich jedoch gerade von seinen Paletten herabbequemt, als er Omi sich an sein ehemaliges Versteck anpirschen sah und empfing ihn mit einer Ladung Farbe, als dieser sich zu ihm umdrehte. Sich gerade noch selbst für den finalen Schuss vorbereitend, wurde Omi nun von Nagis letztem Schuss getroffen. Die Überraschung tat ihr Übriges und Omi strauchelte rückwärts, setzte sich recht unsanft auf seinen Hosenboden. Verdammt! Scheiße! Er grollte durch den Helm und sah an sich herunter… sah, dass mitten auf seiner Brust ein fröhlich gelber Farbklecks prankte, der wehtat! Was Nagi dazu brachte sich erst zögerlich in Bewegung zu setzen dann jedoch bis zu Omi zu kommen und sich dann den Helm abzuziehen. Seine Haare standen wirr umher, im Nacken verschwitzt, an der Stirn ebenso. Doch seine Augen leuchteten und seine Wangen waren leicht gerötet. „Ich habe Gefangene gemacht. Einen um genau zu sein“, resümierte er mit einem angedeuteten Lächeln. Durch die Dämmung des Helmes das Gesagte nur dumpf verstehend – aber dennoch zur Kenntnis nehmend – zog Omi seinen Helm ab und grinste schräg, kurz nachdem er geschnaubt hatte. „So, hast du?“, fragte Omi frech und seine Augen funkelten vor Unternehmungslust. „Welch schreckliches Schicksal erwartet deinen Gefangenen denn nun?“ Diese Frage war vorauszusehen. Aber bevor Nagi antworten konnte, machte sich sein Magen bemerkbar und gab die Antwort anstatt seiner. Ein wenig röter im Gesicht zuckte Nagi mit den Schultern. „Ich denke, das sagt alles, den gut angerichteten Appetitanreger mimst du ja gut.“ „Soso… bei dieser Art von Appetit knurrt also dein Magen? Sehr interessant… dann musst du ja jetzt sehr viel Appetit besitzen?“, grinste Omi schelmisch und streckte Nagi eine Hand entgegen. „Du bist wirklich gut in diesem Spiel!“ Nagi nahm Omis behandschuhte Hand und half ihm hoch. Durch die Spannung, die sie beide aufbrachten bei diesem Ziehen stand Omi ganz dicht vor ihm und Nagi besah sich dessen Lippen, korrigierte jedoch hin zu den Augen. „Ja? Findest du? Anfängerglück.“ Es dauerte zwei Sekunden, bis sich ihm die Tragweite dieses letzten Wortes offenbarte und sich ein durchaus berechnendes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. „Wie, ANFÄNGERGLÜCK?!“ Die Tragweite der geäußerten Worte erschloss sich nun auch Omi, der natürlich prompt motzte. Anfängerglück? Hieß das, dass er hier von einem GREENHORN besiegt wurde? Omi grollte! Das schrie nach Strafe! Ganz gewaltig! Rache gar! RACHE! Er, ein absoluter Profi...das ging an seine japanische Mannesehre! Omis Rechte schlich sich zu Nagis Nacken und packte zu, während er den anderen zu einem innigen Kuss an sich zog, ihn anstelle dessen aber zwickte. „So, Strafe muss sein!“ Nagi, ganz Herr der Lage, griente weiter und zog lediglich seine Lippe zwecks Beschwichtigung ein wenig nach innen und sah dabei aus, als könne er sich das lauthalse Lachen nicht mehr verkneifen. Was natürlich nicht der Fall war. Nagi lachte nicht derart ausfallend. Das hatte er noch nie getan und würde er auch nie tun. „Beim nächsten Mal gewinnst sicher du!“, orakelte er und wagte eine feuchte Berührung seiner Lippen und seiner Zunge mit Omis. „Blödmann“, nuschelte Omi, ließ Nagi jedoch höchst willig in seine heimischen Gefilde, lockte ihn gleich noch tiefer. „Wir sollten uns etwas zu essen besorgen und uns dann in etwas Bequemeres zurückziehen… was meinst du?“, murmelte er. „Sollten wir.“ Nagi löste sich von Omi und sie strebten die Umkleiden an. Es war Abend und Nagi spürte den Hunger nach etwas zum Essen in sich, aber auch den Hunger nach Nähe. Er fühlte sich nicht wohl, als er sich aus der Schutzkleidung schälte und seinen Pullover überzog, denn er war völlig verschwitzt. Hier gab es zwar Duschen, aber er wollte sich hier nicht ausziehen, vor allem, weil bereits die nächsten Spieler hereinströmten und ihnen überhebliche Blicke zugeworfen wurden. Die Gruppe sah aus, als wären sie erfahrene Spieler und sie begrüßten sich überschwenglich. Nagi beeilte sich aus der Umkleide zu kommen. „Lass sie reden, sie haben keine Ahnung“, lächelte Omi Nagi zu, als er sah, dass dieser einen Zahn zulegte und sich von den Neuankömmlingen verunsichern ließ. Er selbst stieg gemächlich in seine Sachen und packte den Rest in seine Sporttasche. Sollten sie lästern. Sie wussten, was sie voneinander zu halten hatten, ohne Wenn und Aber. Sie wussten, was die anderen nicht wussten, dass sie Killer waren, und das hob sie von den anderen ab, aber ganz gewaltig. Zumindest sagte das Omis arrogante Seite. Er schulterte die Tasche und lächelte Nagi zu…seinem nachlässigen Wächter, der es ja gar zu provozieren schien, dass ihm sein Gefangener entwischte. Nagis Gesicht trug die für ihn übliche Ausdruckslosigkeit als Omi zu ihm an die Doppeltür kam und sie die Umkleide verlassen konnten. Am liebsten hätte er einen dieser Spieler gegen die nächste Wand befördert, oder wahlweise eine der schweren Deckenlampen für ihn heruntergeholt. „Hattest du kein dringendes Bedürfnis nach einer hygienischen Säuberung? Es wäre kein Umstand für mich gewesen auf dich zu warten.“ Er sagte dies mit einem Seitenblick zurück, bevor der Gang eine Biegung machte und sie an der Kasse vorbei zum Ausgang kamen. „Ich dusche lieber im Privaten… man weiß nie, was man sich in solchen Sanitäranlagen holen kann! Wir könnten ja gemeinsam duschen, was hältst du davon? Das spart Wasser!“ Vor allen Dingen, da es ihnen auf das Sparen ankam… doch irgendeinen Grund musste Omi ja vorschieben… nun gut, von müssen war keine Rede. „Wir könnten wegfahren oder Urlaub machen… irgendwohin… einfach zum Duschen“, lachte er. Sie stießen die Glastüren des Fitness und Sportclubs auf und traten in die milde Abendluft hinaus. Nagi blieb stehen, machte jedoch einer Frau platz die mit ihrer Sportasche in das Sportzentrum wollte. Er wischte sich die in die Stirn gefallenen feuchten Haare aus der Sicht. „Ich gehöre nicht gerade zu den spontanen Menschen, Omi“, bemerkte er und sah seinen Gefangenen offen an. Aber… die Verlockung war groß, vor allem im Hinblick darauf, dass er sich… in ihrem neuen Unterschlupf nicht nur durch die Abstinenz von Brad alleine gelassen fühlte. „Denk nur mal daran, dass wir uns ein lauschiges Hotel suchen… nur wir beide in einem gemütlichen Zimmer und nicht in einer so ungemütlichen Kaschemme wie euer Haus! Vielleicht auch noch mit heißen Quellen und den dazugehörigen Affen! Trotz aller Unspontanität!“ Omi seufzte und warf einen Blick zu Nagi… gekonnt von unten, sich dabei zunutze machend, dass der andere größer war als er. „Unser jetziges Domizil…“, fing Nagi an, ohne auf die manipulativen Gesten Omis einzugehen, den einzigen Ort zu verteidigen, an den er momentan gehen konnte, hörte aber mitten im Satz auf. Es war ungemütlich in ihrem Haus, aber das lag daran, dass sie nicht wussten, wie lange sie dort bleiben konnten. Ein Gefängnis waren diese Wände. Doch er konnte sich auch nicht seiner Verantwortung entziehen. Er zögerte noch… „Es schadet nicht, ein wenig Abstand zu gewinnen und ein wenig Gemütlichkeit in dein Leben einziehen zu lassen“, lächelte Omi und eine vorwitzige Hand tatschte auf Nagis Hintern, bevor Omi sich umdrehte und ein paar Schritte ging. „Außerdem würde ich mich freuen, mal länger als nur ein paar Stunden mit dir zu verbringen!“ Nagi hatte nicht bemerkt, dass er bei seinen Grübeleien den Kopf leicht gesenkt hatte, doch als er die feste Hand auf seinem Gesäß spürte, blickte er auf und die Hitze, die durch ihn strömte, ließ ihn schlucken. Begehren… es war Begehren, das er bei Omi spüren und sehen konnte. Er wurde begehrt. Nagi setzte sich langsamer in Bewegung, zog sein Mobiltelefon hervor und wählte Brads Nummer. Die Menschen um sie herum nahm er nur marginal wahr, da ihn die Aussicht auf das vielleicht Kommende zu sehr in Aufregung versetzte. Es war gegen zehn Uhr. Brad nahm ab und Nagi sagte ihm, dass er bis morgen Abend unterwegs sein würde. Vor allem, dass er nicht in kurzer Zeit zurückkommen konnte, falls ein Notfall eintrat. Brad nahm diesen Umstand zur Kenntnis und Nagi war beruhigt und zugleich erleichtert, dass ihm kein Verbot auferlegt wurde, sondern wegfahren konnte. Nachdem er aufgelegt hatte, schloss er zu Omi auf, das Mobiltelefon noch in der Hand, der Anhänger kokett daran baumelnd. „Gut, ich bin bereit“, sagte er eine Spur zu nüchtern. Omi sah zurück und hatte wie eine neugierige Katze den baumelnden Anhänger am Handy des Schwarz ins Auge gefasst. Er musste lächeln, als er sah, was es war. Ein kleiner Elefant. Es passte… es passte einfach! Omi haschte danach und nutzte die Gelegenheit, um Nagi nah zu sein. Nagi freute sich, das wusste Omi, auch wenn dieser ganz und gar nicht erfreut klang… so zog er den Telekineten schier zu seinem momentanen Mietwagen, einem schnittigen Nissan im guten Alter von 12 Jahren, der alles war, nur nicht leise. Unauffällig, ja. Abgewrackt, ja. Aber die Geräuschkulisse übertönte selbst das Radio. „Irgendwelche Präferenzen, wohin du mich entführen könntest, oh dunkler, böser Nagi?“ „Du schmeichelst mir“, meinte Nagi mit hauchdünnem, ironischem Unterton, ohne eine Miene zu verziehen. Er errettete seinen Mobiltelefonanhänger, der ein Geschenk von Schuldig war, vor dem feindlichen Zugriff und steckte ihn samt dem Telefon in seine Jackentasche. „Nein“, antwortete er auf Omis ursprüngliche Frage, als sie die Taschen in den Kofferraum des Wagens legten. Er trat einen Schritt zurück, damit Omi die Klappe schließen konnte. „…ich habe mich stets den anderen angeschlossen. Ich habe keine Präferenzen.“ „Gut, dann fahren wir nach Beppu. Das ist ungefähr 400 Kilometer von hier entfernt… ich kenne da ein schönes, ländliches Hotel mit heißen Quellen – und Affen. Sehr entspannend, genau das Richtige für uns beide.“ Ihr Gepäck sicher verstaut, ging Omi zur Fahrertür und stemmte sie auf. Er hoffte, dass Nagi seine Tür leichter öffnen konnte, hatte aber nicht viel Hoffnung darauf… wurde sie doch auch bald zerstört. Sie fuhren nach einigen Startschwierigkeiten los und Omi stellte sehr schnell fest, dass er ganz und gar nicht nach Beppu fahren wollte… er wollte fliegen… das wäre weitaus einfacher, würde sie weniger Nerven kosten und kürzer dauern! „Fahren?“ Nagis sanftes „Nachhelfen“ öffnete die Tür ohne große Kraftanstrengung. Er war schon besser geworden, was die subtilen Wirkungsweisen der Telekinese anbetraf. Er setzte sich in den Wagen, schloss die Tür mit einem lauten Geräusch und schnallte sich an. „Dahin brauchen wir mindestens sieben Stunden.“ Er überdachte den Zustand des Wagens… „Wenn wir überhaupt ankommen.“ „Ja, wenn!“, orakelte Omi dunkel und grollte. „Ich wäre für’s Fliegen, was meinst du?“ Sehr utopisch, aber auch sehr spontan… so sie denn einen Flug bekamen. Zumindest wären sie sicherer und schneller an ihrem Bestimmungsort. Sie ruckelten über die schlecht ausgebauten und kaputten Straßen, durchgeschüttelt vom unzähligsten Schlagloch. Nagi zog sein Mobiltelefon - ein kleiner Alleskönner - hervor und ging damit ins Internet um sich die Flüge anzusehen. „In circa 90 Minuten geht ein Flug… nach… Oita.“ Es dauerte etwas, bis er den richtigen Ort dafür gefunden hatte. „Danach sollte es noch einen Bus geben, der uns nach Beppu bringt. Sofern noch einer fährt.“ Omi grübelte. „Ansonsten nehmen wir uns ein Taxi… also gebongt?“ Er lächelte schelmisch, große Lust verspürend, verrückte Dinge mit Nagi zu tun… zu fliehen vor ihrem Alltag. „Schaffen wir es denn bis dahin… aber so verschwitzt wie wir sind? Ohne Klamotten?“ Er rümpfte die Nase. Oh ja… wirklich verschwitzt. Das hatte Nagi nicht bedacht, auch wenn er die Kühle des Abends deutlich fühlte, so war ihm dies noch nicht zu dringlich erschienen. Noch spukte sein schlechtes Gewissen wegen seines Wegganges als Problem im Hintergrund seines Bewusstseins umher. „Das habe ich nicht bedacht.“ Wenn er jedoch nach hause fuhr… dann. „Wir könnten uns dort etwas kaufen… morgen.“ „Oder wir fahren schnell nach Hause, laden unsere Klamotten ein und ab zum Flughafen… kannst du die Tickets damit auch buchen?“ Omi hatte da schon so eine Idee, aber die bedurfte dem heimischen Kleiderschrank… ganz ganz dringend. Er fand immer mehr Gefallen an der Idee ihres Pseudoaufbruches… vielleicht, weil es genau das war, was ihm seit Jahren fehlte. „Ich könnte mit diesem Mobiltelefon die nationale Sicherheit gefährden, oder Daten der Tokyoter Bank entwenden. Ich denke… ich kann auch einen Flug buchen.“ Nagis trockene beiläufige Worte, während er eben dies tat - einen Flug für sie buchen, wurden von ihm gemildert, als er sich bewusst wurde, wie Omi seine Worte auffassen konnte und er aufblickte und ein angedeutetes Lächeln seine Lippen umspielte. „Aber ich habe es noch nicht ausprobiert.“ „Was, einen Flug zu buchen oder das andere? Wobei ich dir jetzt völlig frei unterstelle, dass du ersteres definitiv schon einmal getan hast!“ Omi prustete beim Gedanken daran und musste wirklich herzlich lachen. Herrlich! Ein Genie im Alltag…ja, das war Nagi. Denn auch den Alltag musste man lernen! „Du bist eine Marke…“ Dies bedurfte nun wirklich keiner Antwort. „Die Tickets sind reserviert, die Abbuchung findet statt.“ Nagi surfte weiter und suchte nach Bus-verbindungen ab ihrem Landezielort. „Du kannst mich dann absetzen, ich warte in der Nähe“, sagte er, als er aufblickte und sie in Richtung Koneko fuhren. „Wie wäre es, du holst mich mit dem Taxi von einem bestimmten Treffpunkt ab und wir fahren gemeinsam zum Flughafen?“, schlug Omi vor, in Gedanken bereits bei seinem Vorhaben. Er suchte den Blick des anderen, der schon wieder in recht emotionslose Professionalität gefallen war… doch Omi hatte seine Tricks, wie er Nagi hervorlockte. „Hattest du vor alleine zum Flughafen zu gelangen?“, hakte Nagi nach und wieder spielte dieses Lächeln um seine Mundwinkel. „Möglich, aber dann müsste ich dich ja alleine fahren lassen… das wäre dann nicht gut, nicht wahr. Gar nicht gut.“ Omi schmunzelte gegen das leicht spöttische Lächeln an. „Außerdem würden wir uns ohne deinen kleinen Monstercomputer heillos in Tokyo verirren!“ Das Wort Monster störte Nagi und wenn es nicht Omi gewesen wäre, der es gesagt hätte, dann hätte er es ihm bestimmt übel genommen. So nickte er nur einmal und behielt sein Lächeln bei, behielt Omis Profil, während dieser fuhr, im Blick. „Nein, gar nicht gut, wäre das…“ Nagi lehnte sich zurück. Omi nickte und schweigend fuhren sie den Rest der Strecke, bis er langsamer wurde und schließlich anhielt. Sie hatten ausgemacht, dass er Nagi hier absetzte und dann selbst zum Koneko weiterfuhr, dort seine Sachen packte und sie sich an einer etwas weiter entfernten Ecke wieder trafen. Nur keine Aufmerksamkeit erregen… nur nicht den Standort preisgeben. „Beeilen wir uns… wir haben nicht mehr viel Zeit!“, kam es fröhlich von ihm und seine Augen strahlten vor Freude. „Allerdings“, resümierte Nagi und öffnete die Tür, wandte sich jedoch bereits im Aussteigen leicht um. „Bis später.“ Er legte ein nicht ganz unschuldiges Lächeln auf und stieg mit einem letzten Blick aus. Omi hatte diese hochgezogenen, verdorbenen Mundwinkel durchaus gesehen! Durchaus… Vor sich hinsummend, fuhr er nach Hause, immer darauf bedacht, auf mögliche Verfolger zu achten, die sich jedoch nicht zeigten. Generell kam er gut durch und war innerhalb von fünfzehn Minuten am Blumenladen, wo er die Treppe hochpreschte und in sein Zimmer stob. Ihnen rannte die Zeit weg! Während Omi einiges einpackte und schließlich innehielt, glitten seine Gedanken zu zwei Ensembles, die Nagi sehr gut stehen würden und die er nach kurzem Zögern mitnahm. Natürlich war alles jugendfrei… alles… und harmlos. Omi grinste. In Windesweile hatte er Toilettenartikel zusammen und einen kleinen Zettel geschrieben, der anzeigte, dass er heute Nacht nicht zuhause sein würde. Wo jedoch… das war sein Geheimnis. Außerdem wollte er eventuelle Einbrecher nicht auf seine Fährte locken. Währenddessen setzte sich Nagi auf den gemauerten Grund einer Umzäunung und begann damit, die unterschiedlichen Unterkünfte ausfindig zu machen. Die Touristeninformation hatte einige Unterkünfte in verschiedenen Preisklassen für ihn und er begann sie nacheinander abzutelefonieren. Die Unterkunft, die Omi noch im Gedächtnis gehabt hatte war leider schon ausgebucht. Schlussendlich fand er dennoch ein Plätzchen für sie in einem Ryokan, in der Nähe des Buscenters. Es war etwas schwierig, da sie sehr spät ankommen würden, aber der Besitzer drückte ein Auge zu und würde sie am Abend noch als Gäste aufnehmen. Jetzt war es kurz nach 18.00 Uhr und in einer Stunde etwa ging ihr Flug. Ein wenig fühlte er sich, als wäre er auf der Flucht, was ihm ein unbehagliches Gefühl bescherte. Als nächstes rief er sich ein Taxi, das etwas dauern würde, wie man ihm in der Zentrale mitteilte. So rief er die nächste Taxizentrale an und orderte erneut einen Wagen, der schneller bei ihm sein würde. Da er einen guten Tag hatte, war er so nett um die erste Order zu stornieren. Die Wartezeit, die er hatte, bis der Wagen kam, vertrieb er sich damit, Informationen über das Buscenter in Oita herauszufinden. Wenn sie Glück hatten erwischten sie den letzten Bus vom Flughafen bis dorthin. Omi machte sich in der Zwischenzeit auf nach draußen… zusammen mit seiner schweren Tasche und stieg in das von ihm bestellte Taxi, das ihn zum Treffpunkt fahren würde. Er freute sich, sein Herz klopfte schier vor Aufregung. Wie lange war es her, dass er weggeflogen war, einfach so, spontan? Eigentlich… war es noch nie so gewesen. Sie fuhren durch die belebte Stadt und schließlich sah Omi die vertraute Gestalt. Nagi wartete samt Taxi auf Omi, der aus dem einen Taxi ausstieg, und schließlich hielt Nagi ihm die Tür auf und sie setzten sich auf den Rücksitz. „Zum Flughafen“, wies Nagi den Fahrer an. o~ „Hmm…“ Mit jeder Minute hier im Rotenburo fiel die Anspannung der letzten Tage von ihm und ließ ihn als puddingweiche, schwerelose, fast schnurrende Masse wieder, die neben Nagi in dem schwach erhellten Bad saß. Nur noch sie befanden sich in dem heißen Wasser, da es schon recht spät war… das letzte Mal, als Omi auf die Uhr gesehen hatte, war es elf Uhr abends gewesen… dann hatte er seine Uhr weggelegt und beschlossen, die Zeit zu vergessen. Sie hatten den Flug bekommen – in allerletzter Minute und waren dann in schweigendem Einvernehmen, zwischen lauter Geschäftsmännern, den Flug hinter sich gebracht, nur um wieder zum Bus zu hetzen. Doch der Besitzer des Ryokan hatte sie freundlich empfangen, hatte ihnen freundlich mit der japanischen Höflichkeit das Zimmer zugewiesen. Die erste Dusche war herrlich gewesen, ebenso wie ihr jetziges Bad, das die beanspruchten Muskeln sehr effektiv entspannte. Er blinzelte diesig und sah träge den Glühwürmchen zu, die sich über ihnen tummelten und vereinzelt auf das Wasser trafen, während unter ihnen die Wellen des Meeres an den Strand spülten. Der Vollmond stand hoch am Himmel und warf einen lebendigen Schatten auf das Wasser, während die Sterne ohne Beeinträchtigung durch Wolken das Firmament erleuchteten. Omi kam sich verzaubert vor. „Das war die richtige Entscheidung.“ Nagis Blick ging in den abendlichen Himmel und seine Gliedmaßen trieben im Wasser. „Ja“, meinte er sparsam, er fühlte sich müde, diesig. Aber… es war gut so. Er hätte jetzt die Augen schließen können und einschlafen und niemand würde ihn nerven, ihm verbal zusetzen. Er spürte, wie er abdriftete und setze sich rascher auf als beabsichtigt. Mit feuchten Fingern fuhr er sich über das erhitzte Gesicht und sah hinüber zu Omi. Sie hatten beide nicht wirklich Muße, sich in ihrem diesigen Zustand zu unterhalten… wenngleich sein Blick nun auf Nagi ruhte, der ihn aus leicht geweiteten Augen ansah. „Wenn du dich anlehnen würdest, würdest du nicht so schnell untergehen!“, lächelte er träge. „Ich war angelehnt!“, behauptete Nagi wenig enthusiastisch und pitschte ins Wasser vor Omi, dass es nur so platschte und spritzte. „Ich… glaube ich bin müde“, gestand er ein. Omi blinzelte. „Merkt man…“, grinste er und schnappte sich Nagis Arme, zog den anderen zu sich. „So, nun kannst du mich nicht mehr nassspritzen!“, behauptete Omi blauäugig, da er Nagis Kräfte einfach mal außer Acht ließ. Nicht, dass Nagi ganze Gebäude einstürzen lassen könnte… nein. „Glaubst du?“ Nicht wirklich den Elan für interessante Gegenbeweise habend, ließ sich Nagi weich in die Umarmung fallen. Es fiel ihm noch immer nicht ganz so leicht, sich Omi von sich aus zu nähern. In der Zeit, in der Schuldig als tot gegolten hatte, war dies anders gewesen. Es war alles so… unwirklich… gewesen. „Wir sollten aus dem Wasser und ins Zimmer gehen. Es ist schon nach elf Uhr.“ So unwirklich wie… dieser Abend. „Ja, das sollten wir… ein gemütlicher, weicher Futon ist jetzt genau das Richtige.“ Denn sie residierten ja in einem der alten Zimmer. Schlicht eingerichtet im Einklang mit den Zen-Lehren… ganz nach Omis Geschmack, wenn es darum ging, Urlaub zu machen, fühlte er sich doch bei solchen Räumen immer in seine Kindheit versetzt – warum auch immer. Er erinnerte sich nicht daran, an die ersten fünf Jahre. Er erinnerte sich eigentlich an gar nichts und das, was sie ihm erzählt hatten, war ein Gespenst, das ihn verfolgte, aber keineswegs ein Teil von ihm. Und an das, woran er sich nicht erinnern wollte... erinnerte er sich natürlich auch nicht. Omi seufzte und stemmte sie beide in die Höhe, lächelte Nagi zu, als er zu den Handtüchern griff und sie beide einschlang. Nagi griff sich sein Handtuch um die Hüften und verließ den Onsen. Er streifte sich seinen Yukata über und schlüpfte in das bereit gestellte Schuhwerk. Über den Steinweg gelangten sie in den älteren Teil des Ryokans und betraten nach kurzem ihr Zimmer. Nagi ging fast sofort barfuß zu seinem spärlichen Häufchen Kleidung und kramte nach seinem Mobiltelefon. Das Zimmer war warm beleuchtet und er fand sofort die Taste um das Telefon einzuschalten. Ein komplizierter Code schaltete das Gerät für ihn frei… Omi unterließ es, zu seinem Handy zu greifen. Er wollte nicht gestört werden… wollte so tun, als gäbe es so etwas wie Handys nicht, durch die sie erreichbar waren. Doch er verstand Nagi und dessen Verbundenheit zum Schwarzschen Teufel. Schwarzhaarigen Teufel, wohlgemerkt. Omi trocknete sich währenddessen ab und zog sich den bereitgestellten Yukata zum Schlafen über. Er war ihm etwas zu groß, doch das machte nichts. Während Nagi noch mit seinem Handy beschäftigt war, schnappte sich Omi das Handtuch und rubbelte den dünnen Telekineten trocken und warm. So stand Nagi da und rief seine Mails ab und nicht nur dass, er checkte seinen Server und war somit auf dem Laufenden, auch was diverse Anrufe betraf, die in Schuldig und Rans Haushalt eingingen. Auf Nagis Gesicht bildete sich ein ausgewachsenes Grinsen aus, bevor er sich ein wenig mehr in Omis Obhut gab. Da stand er nun… „Ich komme mir etwas… seltsam vor… nackt mit einem Mobiltelefon samt Elefantenanhänger …“, gab er zu bedenken, das Grinsen eingestellt. „Du bist der zukünftige Businessman, mit deinem persönlichen Betthäschen“, grinste Omi dafür anstelle dessen noch mehr. „Das sind eben deine zwei Facetten… Kontrolle und Lösen.“ Er seufzte und hauchte Nagi einen Kuss auf die freiliegenden Schulterblätter. Bei diesen Worten musste Nagi an Omis Vergangenheit denken… es drängte sich ihm auf. Er wandte sich zu Omi um und hielt dessen Blick fest. Er stand stumm da, näher und intimer als zuvor, wie es ihm in diesem Moment vorkam. Omi war angezogen, er nackt und doch… war es nicht verwerflich in seinen Augen. „Du bist kein Betthäschen.“ Sein Gesicht war ohne Ausdruck, doch die grauen Augen hielten immer noch das Blau unbeirrbar fest. „Mir ist kalt…“, sagte er völlig vom Thema abkommend, in die Stille hinein. Die Müdigkeit zog mit solcher Macht an ihm… Nein, ein Betthäschen war er sicherlich nicht. Junger Killer, Auftragsmörder, Mann ohne Kindheit… alles Dinge, die ihm einfielen, wenn es um ihn ging. Aber Betthäschen… nein. Er hatte sich seine Partner ausgesucht und war nie wirklich das willige Häschen gewesen. Nie. Er kontrollierte IMMER, dazu war er zu sehr Killer. Omi lächelte Nagi an, dankbar für den Themenwechsel. „Dann habe ich etwas für dich!“ Er griff nach dem zweiten Yukata und zog ihn Nagi über, verschnürte ihn sorgsam. „Und jetzt ab unter die Decke, damit du dich wenigstens etwas aufwärmst!“ Aus vergangenen Treffen wusste Omi nämlich, dass Nagi ihn als Heizungsradiator im Bett gebrauchte. Was Nagi zu wenig hatte, hatte Omi zuviel. Nagi löschte die Lichter ringsum mit einem dezenten Fingerwink an den entsprechenden Schalter und legte sich anschließend nieder. Omi tat es ihm gleich und sobald dieser lag wurde Nagi magisch von dessen Wärme angezogen und kuschelte sich an ihn. „Du… hast mich… ziemlich gut… eingepackt… fast so“, Nagi flüsterte verschwörerisch. „…als würde ich nicht mehr ausgepackt werden.“ Omi hob durch die Dunkelheit hinweg eine Augenbraue. „Wünscht der Herr denn, ausgepackt zu werden?“ Natürlich wünschte es Nagi sich… so lief es immer: Nagi und er zogen sich aus, berührten sich, befriedigten sich, wenn sie wollten, waren sich nahe. Er schmiegte sich an Nagi. „Mal sehen“, bekannte Nagi nicht unbedingt Farbe. Er fühlte sich in diesem Ryokan zwar wohl allerdings was ihre Privatsphäre anbetraf, so fühlte er sich in dieser Hinsicht eher ungenügend abgeschottet. „… ob sich mein Körper in irgendeiner Art noch aufwärmt…“ „Was schwebt dem Herrn denn so vor?“, grinste Omi schelmisch, schon eine Idee habend, wie er Nagi erwärmen konnte… doch ob das so günstig war, war die Frage. Die Wände waren sehr dünn, wenn Nagi ihn zurückschleuderte, konnte es schon sein, dass er im Nachbarzimmer landete… deswegen hatten sie notdürftig auch schon eine Wand in Nagis Wohnung gepolstert. Damit er nicht so hart aufkam… nach dem Kommen. „Nichts besonderes, lediglich ein wenig Hautkontakt wäre wünschenswert, oder willst du durch die Wände fliegen?“ Sie lagen seitlich zueinandergewandt und Nagi lehnte an Omis Brust, blickte jetzt aber auf und streifte mit seinen Lippen Omis Kiefer. Sich ein wenig nach oben schiebend erreichte er so Omis Lippen besser und küsste sich eher beharrlich, denn forsch in diese Richtung. Omi war begeistert von dieser Regung, ließ Nagi doch mehr und mehr seine Zurückhaltung hinter sich… seine Schüchternheit. Er kümmerte sich um diese bedürftigen Lippen, umhegte und umsorgte sie zärtlich. „Nein, will ich nicht, die Nachbarn würden sich bedanken…“ Omi lächelte und schmuste sich an Nagi, zog den anderen eng an sich. Das mit dem Küssen und Schmusen ging schon ganz gut, ohne, dass seine Hände anfingen zu prickeln. Der Rest jedoch war immer noch mit dem Risiko eines telekinetischen Einsatzes behaftet. Nagis freie Hand hielt sich einen Moment noch an ihrem Platz - Omis Kleidung - fest bevor sie sich löste und auf Wanderschaft ging. Allerdings blieb sie züchtig auf Omis unterem Rücken. Sein Selbstvertrauen in diesen Dingen stand immer noch auf wackligen Füßen, denn er übte zwar fleißig was seine Selbstkontrolle betraf, dennoch bei emotional wirksamen Ereignissen drohte er die Kontrolle zu verlieren. Und… verlor sie auch. Was Omi auch mit Freuden zu spüren bekommen hatte. Nun aber schob er seinen Yukata auf und tat mit Nagis das Gleiche, bevor er sie beide Haut und Haut brachte… direkter Körperkontakt. „Wir sind im Begriff, uns aus dem Geschäft zurückzuziehen“, sagte Omi schließlich. Es musste irgendwann darüber gesprochen werden… da die Pläne von Kritiker langsam konkreter wurden. Nagis Lippen verließen Omis. „Ja?“ Es war eine Verlegenheitsantwort, da Nagi nicht wusste, was er darauf sagen sollte, denn Omis Satz beinhaltete viele Möglichkeiten. „Ein notwendiges, da unter Sicherheitsaspekten durchaus akzeptables Vorgehen. Dies impliziert jedoch einen Rückzug aus bekannten Gebieten.“ Er zögerte. „Ihr verlagert eure Präsenz in ein anderes Gebiet.“ „Das tun wir. Angedacht ist es, dass wir schließlich unsere Aktivitäten ganz einstellen.“ Omis Stimme war leise, beinahe schon beruhigend, denn er wusste, dass dies sich zu einem schwierigen Thema entwickeln konnte. Er selbst wusste, dass sie untertauchen mussten, doch die emotionale Seite in ihm wollte es nicht… partout nicht, denn er hatte ja jetzt Nagi. Er konnte nicht sagen, dass er Nagi liebte, denn Omi wusste nicht, ob er dazu fähig war, doch der Telekinet bedeutete ihm etwas und dieses etwas wollte er nicht aufgeben. „Ist dieser Ausflug dazu gedacht gewesen mir diese Neuentwicklung möglichst schonend beizubringen?“ Nagis Hände zogen sich von Omis Kleidung ein wenig zurück. „Ich bin kein Kleinkind mehr, es ist nicht nötig eine derartige Maßnahme einzuleiten um mir zu sagen, dass du in den Untergrund gehst. Es ist notwendig.“ Nagis Stimme klang hellwach, leise, aber klar, ohne erkennbare Emotionen. „Nein, dieser Ausflug war dazu gedacht, uns beide zu entspannen… außerdem war er spontan. Und ebenso spontan wollte ich gerade über diese Thematik sprechen.“ Omi seufzte. „Natürlich ist es notwendig, aber das macht es nicht leicht, garantiert nicht. Außerdem sehe ich dich nicht als Kleinkind.“ „Ich könnte dich… entführen. Entkommen würdest du mir nicht“, sagte Nagi nach einer kleinen Weile der Stille. Eine praktische Lösung, wie er fand, nüchtern betrachtet. Omi konnte nicht verhindern, dass sich eine seiner Augenbrauen hob bei diesen Worten. Nagi hatte recht damit, doch kamen in ihm für einen Moment, alles andere als Wohlgefühle auf, als er den letzten Satz hörte. Doch er schluckte dieses Unwohlsein hinunter. Es war ein Spiel, eine spielerische Idee. Ernst war es nicht mehr, nicht seit ein paar Jahren. „Und wie lange würde ich dann in deiner Gewalt bleiben müssen?“, schmunzelte er. Nagi hörte das Schmunzeln mehr als er es im Dunkeln sah. Aber anhand dieses Amüsements erkannte er, dass er selbst seine eigenen Worte ernst meinte. Mit dieser Erkenntnis kamen auch Gedanken daran, dass er nicht das Recht dazu hatte, wie Omi dies schon einmal betont hatte und Omi sich gegen ihn stellen würde… wie ebenfalls dies schon einmal der Fall gewesen war. Warum war ihm das nicht gleich aufgefallen, dass er es tatsächlich machen würde? Omi festhalten. Die Verwerflichkeit, die hinter dieser Idee steckte, kam ihm erst in Omis Worten ins Bewusstsein. Die Verwerflichkeit, die Omi dahinter sah. Nagi nahm seine Hände von Omi und ließ sie locker zwischen ihnen liegen. „Solange du willst.“ Ein Paradoxon. Omi musste lachen. Auch für ihn war es ein Paradoxon. „Wer will schon entführt werden, hm?“, schmunzelte er schließlich und hauchte Nagi einen Kuss auf die Nasenspitze. „Würdest du es wollen? Ohne Freiheit, gefangen an einem Ort? Wäre das wünschenswert?“ Nein, war es nicht… die Überlebenden litten darunter. Selbst Ran. Wie er auch hatte Ran Angst vor Dingen, die ihm vorher nichts bedeutet hatten, die ihm egal waren. „Du hast Recht.“ Nagi begriff, dass es besser war, wenn er sich distanzierte. Omi war im Begriff ihm zu sagen, dass er gehen würde. Er schwieg, denn er fühlte sich nicht gut. Und er musste sich einiges durch den Kopf gehen lassen, momentan war es so, als würde jemand ihn demütigen und dieser jemand war Omi. Er hasste Demütigung. Irgendetwas lief hier falsch und Omi konnte es nicht genau betiteln. „Was ist los mit dir? Du bist angespannt… und ich habe das Gefühl, dass es nicht daran liegt, dass ich vielleicht irgendwann nicht mehr dort wohne.“ Omi setzte sich leicht auf. Nagi traf die Entscheidung in weniger als einer Sekunde. „Es ist nur weil ich Hunger habe und mir kalt ist. Es hat nichts mit dem Gespräch zu tun“, sagte er und setzte sich ebenfalls halb auf. „Dieses leere Gefühl im Magen verursacht Übelkeit, aber sie ist nicht sehr schlimm.“ „Du lügst mich an.“ Omis Stimme war leise, enttäuscht und eine Spur kälter als sonst. Er machte keine Anstalten, sich Nagi zu nähern, sondern setzte sich nun ganz auf und ging zu seiner Reisetasche. Er öffnete sie und nahm eine Packung Kräcker heraus und warf sie zu Nagi auf das Bett. Einem Hund warf man so sein Fressen zu. Einem Straßenhund. „Ich habe seit heute Mittag nichts gegessen.“ Er fühlte die Unruhe in sich aufkommen. Der Wunsch nach Einsamkeit und Abschottung wurde fast übermächtig, aber er drängte ihn zurück. Seine linke Hand kribbelte und er verbarg sie unter dem Kissen, begann damit sie ein wenig auf dem Futon zu reiben. Nagi setzte sich gänzlich auf, betrachtete sich das ihm hingeworfene herzhafte Gebäck und nahm es zögerlich in seine Hände. „Du sorgst gut für mich.“ Deinen Hund. Er stand damit auf und ging zur Terassentür um sich hinzusetzen, die Beine zu unterschlagen und die Packung zu öffnen. Schräg zum Raum sitzend blickte er nach draußen, als er den ersten Kräcker herausnahm. Das war Ironie… brutale Ironie. Omi kam zu Nagi und war für kurze Zeit versucht, dem anderen noch einen Spruch zu geben. Doch als er diese Gestalt einsam dort sitzen sah, überkam ihn Traurigkeit. „Nein, das tue ich nicht, sonst hätte ich dir schon längst etwas zu essen besorgt“, sagte er und nahm Nagi den Kräcker aus der Hand und setzte sich vor ihn. „Aber ich kann Lügner nicht leiden. Vor allen Dingen will ich von DIR nicht angelogen werden, denn ich MAG dich.“ Nagi sah dem dahinschwindenden Essen nach und sah von dem Kräcker auf zu Omi. „Es war keine Falschheit. Du sorgst für mich. Ich hätte etwas sagen können, aber der Tag war schön und hat Spaß gemacht, ich habe nicht daran gedacht, etwas zu essen. Und jetzt merke ich es. Ich weiß, dass du keine Lügner magst.“ Er sah wieder auf den Kräcker hinab. „Kann ich weiter essen?“ „Ich will dich nicht verletzen, Nagi“, grollte Omi und packte den anderen aus einem plötzlichen, verzweifelten Impuls am Hinterkopf, drängte ihm seine Lippen auf und küsste ihn bestimmend. „Du bedeutest mir etwas, mehr als andere.“ Er reichte Nagi den Kräcker. „Du hast ein Problem damit, dass wir wegziehen werden… nicht wahr?“ Nagis Blick hielt Omis fest. Die Lippen etwas aufeinanderlegend um den harschen Kuss nachzuschmecken nahm er den Kräcker an sich, biss aber nicht davon ab. Offenbar hatte Takatori junior kein Problem damit. Brad hatte Recht. Und er lag… falsch. „Dieser Schritt ist nötig. Es ist unabdinglich, dass ihr das Land verlasst. Prioritäten zu setzen gehört zu meinen Primäraufgaben. Ich verstehe die Notwendigkeit.“ Die Worte kamen selbst ihm sehr monoton vor und er senkte den Blick auf den Kräcker. „Einsamkeit schmerzt umso mehr, wenn man das Gegenteil erfahren hat.“ „Ich will dich nicht alleine lassen“, sagte Omi schlicht. „Dazu mag ich dich zu sehr.“ Sein Blick ruhte auf Nagi, schweigend und ruhig. „Ihr tut ständig Dinge, die ihr nicht wollt. Es liegt in dem, was du tust. Deiner Rolle.“ Nagi biss von dem Kräcker ab und schmeckte den würzigen Geschmack auf seiner Zunge nach. Er hatte keinen Hunger. Es waren nur Ausflüchte und Lügen gewesen, die ihn zu dieser Behauptung gebracht hatten. Doch es fiel ihm leicht sich zu schützen, das hatte es schon immer. Sein Körper schützte ihn vor physischen Gefahren, warum sollte es sein Geist nicht ebenso tun? Nagi machte dicht… „Meine Rolle“, sinnierte Omi nachdenklich. „Ich bin aber gerade nicht in meiner Rolle.“ Er blieb noch einen Moment schweigend sitzen und erhob sich dann. Ihm war kalt, wirklich kalt, sowohl innerlich als auch äußerlich. Sich in die Decke einmummelnd, legte er sich auf den Futon und wartete… auf was auch immer. Ja, auf was auch immer… Nagi blieb sitzen und aß noch weitere Kräcker. Die Zeit verging, in der wenige Geräusche von draußen zu ihnen hereindrangen, so füllten nur die Laute seines zaghaften und vorsichtigen Essens die Stille. Er dachte nach. Über vieles. Vor allem aber über die Möglichkeiten die ihm zur Verfügung standen. Omi war währenddessen immer wieder weggedöst… im Hintergrund Nagis Geräusche mit der Versicherung, dass der andere noch da war. Doch er war unruhig und unzufrieden… ja, traurig zum guten Teil. Es war ein untypisches Schlafverhalten, welches Omi in Nagis Beobachtung bot. Als er fertig war mit seinem Imbiss, ließ er die Packung auf den Boden gleiten und erhob sich geräuschlos. Er kam zum Futon und legte sich nach einem kurzen Innehalten nieder. Mit ruhiger Hand griff er zu Omi hinüber und bettete diesen an sich, in dem er ganz nah an ihn heranrutschte und ihn umarmte. Er würde regenerieren. So schloss er die Augen und begann um sie beide ein Energiefeld zu erschaffen. Es war schwach, nicht zu sehen, nur zu spüren. Fortsetzung folgt… Vielen Dank für’s Lesen. Bis zum nächsten Mal! Coco & Gadreel Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter http://gadreel-coco.livejournal.com Viel Spaß beim Stöbern! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)