Unkaputtbar von abgemeldet (Kapitel 23: Nachdenken) ================================================================================ Kapitel 1: 304 -------------- Der Schwarzhaarige ging langsam die Stufen des kleinen Wohnblocks nach oben, und mit jedem Schritt hatte er das Gefühl, dass seine Beine mit tonnenschwerem Blei gefüllt waren. Sein Kommen wurde durch das protestierende Quietschen der morschen Stufen -und das bei seinem wirklich geringen Gewicht- angekündigt. Von den trist-grauen Wänden, auf denen sich schon viele vermeindliche Bewohner verewigt hatten, bröckelte der Putz. Im Treppenhaus war es angenehm kühl, allerdings sorgte der penetrante Geruch nach einer Mischung aus Moder, Verwesung und Urin dafür, das sich niemand hier freiwillig länger als nötig aufhielt um vielleicht Schutz vor der sommerlichen Hitze zu suchen. Diese Treppe, auf der er gerade lief, führte zu der Wohnung, in der er mit seiner Familie lebte. Zu seinem Zuhause. Auch wenn es ihm wiederstrebte es so zu nennen. Und das, seitdem seine Mutter sie verlassen hatte. Ein zufälliger Beobachter (oder aufmerksamer Leser) würde nun aus all dem schließen, dass dieser schmächtig anmutende Junge nicht gerne ‚zuhause’ war. – Und er hätte Recht. Er überwand die letzten Stufen und blieb schließlich vor einer Tür stehen, die genauso wie der Rest des Hauses alt und verfallen aussah. Die rote Farbe war schon längst abgeblättert und ließ die sowieso durch die Zeit etwas blasser gewordene Nummer nurnoch erahnen. >304< ... er zögerte. Er wollte nicht hier sein. Er wollte nicht in diese kleine, verdreckte Wohnung gehen. Der Unzug vor etwas mehr als einem halben Jahr hatte daran auch nichts geändert. Und wenn er damals noch gedacht hätte, dass es nicht schlimmer kommen konnte, so würde er jetzt liebend gerne die Gelegenheit nutzen und diese Vorstellung revidieren. Nach unten ging es immer. Und so nehmen die Tage ihren gewohnten Gang. Die Zustände hatten sich kontinuierlich verschlechtert - und taten es noch immer. Seine anfängliche Hoffnung ‚neue Stadt, neues Glück?!’ , wurde ihm schon am ersten Tag zerschlagen. In der Schule ignorierte oder moppte man ihn meistens, wobei ihm ersteres noch lieber war. Er mochte auch ihre Fragen nicht. Er mochte ihre Blicke nicht. Und so versuchte er weiterhin die Tage irgendwie alleine totzuschlagen – nur nicht hier, an diesem Ort sein. Hierher musste er immer noch früh genug. Und hinter dieser Tür war ER. Und ER war wütend, das wusste der Junge. Denn er war zu spät. Er seufzte. Wie immer hatte er mal wieder etwas falsch gemacht und musste nun auf seine Bestrafung warten. Schon oft hatte er die Chance gehabt abzuhauen. Einfach zu verschwinden und den ganzen Dreck hier hinter sich zu lassen. Sie bot sich ihm jeden Tag. Und trotzdem kehrte er immerwieder an diesen Ort zurück und ließ alles über sich ergehen. Er hatte sich mit seinem, seiner Meinung nach, unausweichlichem Schicksal abgefunden. Dabei war er wie immer in der Opferrolle. Menschen waren überall gleich. Und so sehr er es auch versuchen würde, er konnte sich doch nicht vor ihnen verstecken. Auf der Schule gab es nur einen Menschen der normal mit ihm umging. Aber selbst die Sympatie zu diesem Menschen drohte zu verschwinden, wenn er daran dachte das es auch bei ihm wahrscheinlich nur geheucheltes Mitleid war, was er aber meistens, zumindest bei ihm, zu verdrängen versuchte. Er seufzte erneut als er realisierte das er schonwieder träumte und immernoch vor der geschlossenen Tür stand. Träume waren etwas wunderbares. Man konnte sich mit ihnen vor der Realität verkriechen. Der Realität, die ihn nun unweigerlich in wenigen Sekunden wieder einholen würde. Vielleicht war ER ja garnicht da? So leise es ging drehte er den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür. Schon vom Flur aus nahm er das Flimmern des Fernsehers war. Hoffen durfte man ja noch – auch wenn sich diese Hoffnung nicht bestätigt hatte. Schnell schlüpfte er aus seinen Schuhen und huschte mit eingezogenem Kopf zu seinem Zimmer. Wenn er ihn nicht bemerken würde, dann... „TOSHIMASA!!!“ , donnerte es aus dem Wohnzimmer. Er erstarrte und drehte sich langsam zu dem Mann um, der nun mit wutverzerrten Gesicht auf ihn zuwankte. Eine Fahne schlug ihm entgegen. Instinktiv wich er ein paar Schritte zurück, und noch bevor er überhaupt richtig nachgedacht hatte, drehte er sich um und stürmte in sein Zimmer. Er verschloss die Tür und ließ sich mit klopfendem Herzen an ihr herunterrutschen. „Toshimasa“, drang die rauhe Stimme nun leise und bedrohlich durch das dünne Holz, „Hanami ist in der Küche!“ In ihm verkrampfte sich alles. Hektisch sah er sich um, konnte sie aber tatzächlich nirgendwo entdecken. „Drecksack“, dachte er sich, während er langsam aufstand und die Tür öffnete. Er hatte den Kopf gesenkt als er aus dem Zimmer trat, konnte aber trotzdem das Grinsen seines Erzeugers geradezu spüren. „Du bist so ein erbärmliches Stück Scheiße!“, sagte dieser leise. Dann schrie er wieder: „DU BIST ZU SPÄT!“ >WUMMS< Der Junge taumelte von der Wucht des Schlages zur Seite. Noch ein Schlag. Und noch einer. Er ließ die Protzedur still über sich ergehen. Nur ab und an entwich ihm ein schmerzerfüllte Stöhnen. Er rutschte langsam an der Wand herunter und als er schließlich nach Luft ringend auf dem Boden lag und zusätzlich noch ein paar Tritte kassiert hatte, verlor sein Vater wohl das Interesse an ihm. Oder ihm war einfach entfallen, wie er ihn als nächstes quälen wollte, was in so einem stark alkoholisierten Zustand ja mal passieren konnte, und so machte er sich zurück auf den Weg zum Sofa. Dabei stütze er sich mit einer Hand an der Wand ab, an der die Tapete in Fetzten herunterhing. Außerdem war das einstige Weiß schon einem dreckigen Gelb gewichen. Das lag wohl weniger am Alter der eigentlich dekorativen Papiertstreifen, als an den Exzeessen des Hausherren der mal wieder einen über den Durst getrunken hatte, oder seinen Sohn für irgend etwas ‚bestrafen’ wollte. So schlimm sah die Wohnung nämlich nichtmal aus, bevor sie eingezogen waren. Er rümpfte ein wenig die Nase als er feststellte das sich diese soeben in einen Haufen aus alten Sachen und abgetragenen Unterhosen drückte. Vorsichtig rappelte er sich wieder auf. Er brauchte keinen Spiegel um zu wissen wie scheiße er aussah. Er konnte spüren, wie das Blut aus seiner Nase quoll, kümmerte sich aber erstmal nicht weiter darum. Er ging in die Küche. Als er den Raum mit den einst grünen, nun dank dem Dreck bräunlich gewordenen Fließen betrat, sahen ihm zwei große mandelförmige Augen erwartungsvoll entgegen. Das kleine Mädchen sprang, als sie ihn erkannte, sofort auf, und lief freudestrahlend zu ihm. „Toshiya, du bist wieder da!“, plapperte sie los. „Ich hab auf dich gewartet. Schau mal, was ich für dich gemalt habe!“ und sie wedelte mit einem bunt beschmierten Blatt Papier vor ihm rum. Toshiya schloss sie lächelnd in die Arme, auch wenn sein Körper diese Handlung mit einem stechenden Schmerz quittierte. „Heute war wieder dieser tolle Junge da, den musst du auch mal kennen lernen!“ Damit meinte sie wohl diesen einen Aushilfskindergärtner, der den Nachmittagshort betreute und von dem sie in letzter Zeit sehr viel erzählte. Er löste sich von ihr und stand auf, um sich nun endlich einen nassen Lappen auf die Stirn zu legen. Dann setzte er sich auf einen der Stühle die hier standen und lehnte zurück. Ursprünglich waren es mal 4 gewesen. An den 4. Stuhl erinnerten jetzt nurnoch ein paar Holzsplitter auf dem Boden und einige Narben auf seinem Rücken. Hanami sah ihn mit ihren großen unschuldigen Kinderaugen an. „Hat Papa dir weh getan?“ Er rang sich zu einem verzerrten Lächeln durch. „Nein, Papa würde mir doch niemals weh tun!“ „Aber es war so laut, und er hat geschrien...“ Toshiya schüttelte müde den Kopf und sah sie liebevoll an. „Er hatte bestimmt einen anstrendenden Tag hinter sich. Außerdem bin ich doch zu spät gekommen. Du weißt doch, das Papa uns niemals etwas tun würde, er hat uns doch ganz doll lieb!“, sagte er leise. ‚LÜGE!’, schrie alles in ihm und er verkrampfte sich. ‚Zumindest sollte das so sein’, dachte er bitter. „Na komm, wir gehen ins Zimmer.“ Freudig hoppste sie aus der Küche. Er folgte ihr langsam. Als er an der Stube vorbeiging, hörte er es wieder grummeln. „komm her!“ – er gehorchte. Das Zittern welches ihn ergreifen wollte ignorierend stellte er sich neben den Sessel in dem der Mann saß, den er auf dieser Welt am meisten hasste und verachtete. Bei dem Schlag der folgte, verlor er das Gleichgewicht und fiel krachend mit dem Rücken auf den Boden, wo er erstmal kurz liegenbleiben musste, da eine leichte Schwärze nach ihm griff und er Probleme damit hatte wieder genügend Luft in seine Lungen zu pumpen. „Dafür, das du du so schamlos lügst!“, zischte er leise, ohne seinen Blick noch einmal vom Bildschirm abzuwenden. Toshiya schluckte die aufkommenden Tränen nach unten und legte schnell die letzten Schritte zu seinem Zimmer zurück. Als er die Tür hinter sich verschloss und den Blick hob, sah er seine kleine Schwester schon im Schlafanzug auf dem Bett sitzen. „Ja, gehen wir schlafen!“, antwortete er leise auf die ungestellte Frage. Vorsichtig zog er den alten Pullover aus, entblößte damit seinen geschundenen Oberkörper. Schnell schlüpfte er in seine Schlafsachen und lagte sich zu Hanami ins Bett, die sich auch gleich an ihn kuschelte. Wieder seufzte er. Zuminest waren es heute nur Schläge. Sanft streichelte er durch Hanamis weiches Haar, während sich eine einzelne Träne aus seinen Augen stahl. SIE war der Grund, warum er immerwieder hierher zurückkehren würde. Für sie wollte er die Illusion einer heilen Welt so gut es ging aufrecht erhalten. Solange sie noch an das Leben glaubte, hatte er einen Grund weiterzumachen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)