Days in Shibuya von abgemeldet ================================================================================ No panic?! ---------- „Hallo!“, sagte Shinya lächelnd. „Kommt rein.“ Kaoru und ich folgten Shinya durch den Flur ins Wohnzimmer, wo Die bereits lang ausgestreckt auf dem Sofa lag und wartete. Das Zimmer sah sehr gemütlich aus. An den Wänden hingen einige farbenfrohe Zeichnungen, durch das große Fenster flutete Sonnenlicht den Raum und auf dem Tisch stand eine Vase mit einigen Kirschzweigen. Ich sah mich interessiert um und Shinya bemerkte es. „Ein Wohnzimmer“, sagte er mit Reiseführer-Stimme. „Beachte bitte besonders die Staubplantagen hinter dem Sofa. Die größten Japans.“ Ich lachte und als unsere Blicke sich trafen, zwinkerte er mir kurz zu. Wir hatten uns bei Shinya verabredet, um gemeinsam zum Proberaum zu fahren. Heute sollte ich ein zweites Mal vorspielen, diesmal zusammen mit Shinya. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich nicht etwa nervös war. Kaoru war nervös. Ich war halbtot vor Angst! Kaoru und Die, besonders ersterer, regten sich derweil über Kyo auf. „Immer kommt er zu spät!“, fauchte Kaoru, „Immer! Er wird auf seine eigene Beerdigung zu spät kommen, falls er sie nicht komplett vergisst. Der Herr Sänger hat ja immer was Besseres vor!!“ Er lief erregt im Zimmer auf und ab. Die schenkte ihm keine große Anteilnahme. „Und Herr Leader macht sich viel zu viele Gedanken“, sagte er. „Er wird schon gleich kommen. Und solange bleiben wir einfach hier und schauen nach, was Frau Terachi so im Kühlschrank hat.“ „Könnte dir so passen“, entgegnete Shinya. „Schauen wir lieber mal, was Herr Andou im Kopf hat… Na so was! Ein Vakuum!“ Die schnaufte verärgert. „Blödmann.“ „Nicht so’n großer wie du.“ „Sie lieben sich“, kommentierte Kaoru trocken den Wortwechsel. „Merkt man“, grinste ich. Die erhob sich träge aus seiner bequemen Lage. „Geh wieder in den Kindergarten, Terachi“, sagte er und warf ein Sofakissen nach Shinya, welcher es geschickt auffing. „Warum? Um dich für morgen krank zu melden?“ Er warf das Kissen zurück. „Hört ihr vielleicht mal auf mit dem Scheiß?“, zischte Kaoru wütend. „Kyo ist schon zehn Minuten zu spät!“ „Lass uns doch“, sagte Die. Ich konnte nur mühsam ein Lachen unterdrücken. Es war einfach zu komisch. Um viertel nach Zwei erschien Kyo endlich auf der Bildfläche. „Kannst du eigentlich einmal pünktlich zu einem Termin kommen?“, fauchte Kaoru. „Los jetzt, ich würd das gerne vor Weihnachten noch regeln!“ Damit stiefelte er an uns vorbei und war schon fast aus der Tür, als Die ihn daran erinnerte, dass er seine Gitarre vergessen hatte. Als wir endlich am U-Bahnhof angekommen waren, war Kaoru mehr oder weniger stinksauer. Ich weiß bis heute nicht genau warum, und jedes Mal, wenn ich ihn darauf angesprochen habe, hat er mir irgendwie zu verstehen gegeben, dass er darüber nicht sprechen will. Ich wusste ja nicht, dass ich seine Stimmungsschwankungen noch über Jahre hinweg ertragen sollte. Shinya versuchte ihn zu beruhigen. „Es ist doch nicht schlimm“, sagte er. „Das Kyo zu spät gekommen ist, ist kein Weltuntergang und in der Hektik hätte jeder was vergessen können.“ „Das ist es nicht“, murmelte Kaoru. „Was denn?“, fragte Shinya. Kaoru stand energisch von der Bank auf, auf der saßen, während wir auf die U-Bahn warteten. „Tu mir einen Gefallen“, sagte er. „Und sprich nicht mit mir!“ Wir hielten uns daran, jedenfalls so lange, bis wir vor der Kellertür standen, die zum Proberaum führte. Meine Angst, die ich in den letzten Minuten komplett vergessen hatte, kehrte mit einem Schlag zurück – ein Schlag der sich anfühlte, wie ein Boxhieb von Vitali Klitschkow. Während ich mein Instrument auspackte und das Kabel ausrollte, spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Ich schaute hoch und sah Shinya. Ich legte das Kabel weg und stand auf. „Ich wollte dir nur viel Glück wünschen“, sagte Shinya lächelnd. Ich bekam weiche Knie. „Ich weiß, dass du’s schaffst.“ „Danke“, sagte ich. Meine Zunge fühlte sich an, als sei sie am Gaumen festgeklebt. Ich schluckte mehrmals, aber das Gefühl blieb. Als jeder seinen Platz eingenommen hatte, wandte Kaoru noch einmal das Wort an uns. „Ich weiß nicht, ob wir diesen Raum nachher als Band verlassen“, sagte er. „Oder ob alles beim Alten bleibt. Ich mache dir keine Hoffnungen…“, hier sah er mich direkt an, „…und mir auch nicht. Also. Gebt euer Bestes.“ Ich hielt den Hals meines Basses fest umklammert. Ich musste mehr als nur mein Bestes geben, das wusste ich. Ich musste wirklich alles geben, was ich hatte. Kurz vor Beginn schaute ich mich noch einmal nach Shinya um. Hinter dem großen Schlagzeug wirkte er noch kleiner, als er sowieso schon war. Als wir begannen, wurde ich allerdings von den Drums fast umgehauen und ich entfernte mich einige Schritte von ihnen. Ich beobachtete Shinya ab und zu. Er spielte mit einer unglaublichen Hingabe, seine dunklen Haare flogen im Rhythmus der Musik auf und ab. Er sah unglaublich aus. Wir spielten einige altbekannte Stücke, die ich aus dem Musikunterricht kannte, dann das Cover von dem Song, den ich geübt hatte. Es lief alles einwandfrei. Glaubte ich jedenfalls. Während wir spielten, hatte ich das erste Mal das Gefühl, meinen Platz gefunden zu haben, meinen Platz in der Welt. Es mag seltsam klingen, aber so war es. Vielleicht können es wenigstens die nachvollziehen, die genauso im Verschwommenen herumgetappt sind wie ich, die ein bisschen hierhin und ein bisschen dorthin gehört haben, bis sie gemerkt haben, was ihre Aufgabe ist und wo sie wirklich hingehören. Immer wenn ein Song zu Ende war, rief Kaoru den Titel des nächsten in den Raum und wir spielten. Wir spielten bestimmt eine Dreiviertelstunde lang ununterbrochen. Dann sagte Kaoru plötzlich: „OK. Genug für heute.“ Er legte seine Gitarre weg und stand einen Moment lang ganz still da, ehe er sich Shinya zuwendete. „Shinya?“ „Was soll ich sagen…“ Shinya kam hinter seinen Drums hervor, er legte mir eine Hand auf die Schulter und seine Mundwinkel zuckten. „Er passt super zu uns.“ Mir wurde heiß. Kaoru tauschte einen Blick mit Die und Kyo, beide nickten ihm kurz zu. „Eine eindeutige Abstimmung“, sagte Kaoru müde lächelnd. Er sah plötzlich sehr geschafft und ausgepowert aus. „Wenn du noch willst und meinst, es mit uns aushalten zu können…“ „Ja!“, unterbrach ich ihn und konnte meine Aufregung kaum noch verstecken. „Ja!“ „Ich hab dir gesagt, worauf es ankommt“, sagte Kaoru jetzt etwas lauter. „Die Band würde an erster Stelle stehen!“ Ich nickte. In diesem Moment fühlte ich mich, als würden in meinem Bauch Silvesterraketen hochgehen. Ich meinte, jeden Moment abheben zu müssen. Ich bekam das Lachen nicht mehr von meinen Lippen. „Dann…“, Kaoru fasste mich an den Schultern und sah schon viel glücklicher aus als zuvor, seine Augen leuchteten richtig. „Herzlich Willkommen!“ Er grinste, dann fing er plötzlich lauthals an zu lachen und umarmte mich sehr stürmisch. Kyo schlug mir auf den Rücken und erklärte, wenn ich noch etwas an meinem Aussehen feilte, würde ich wirklich perfekt zu ihnen passen. Und Shinya umarmte mich, nur nicht so stürmisch wie Kaoru. „Ich wusste, dass du es schaffen würdest“, sagte er. Als er an mir vorbei ging, streifte seine Hand meine Hand. Nur zufällig natürlich. Und trotzdem dachte ich, dass jeder von uns es im Unterbewusstsein darauf angelegt hatte. Kann natürlich sein, dass ich falsch lag. „Wir sollten hochgehen“, sagte Kaoru nachdem die Umarmerei zu Ende war. „Und auf unseren neuen Bassisten anstoßen!“ Am liebsten wäre ich die Wand hoch gerannt. Ich hatte tonnenweise Adrenalin im Blut und das schreckliche Bedürfnis, sofort und auf der Stelle zu schreien, zu rennen oder eben die Wand hoch zu laufen. Da das alles sehr merkwürdig ausgesehen hätte, blieb ich still stehen und hoffte, dass das Adrenalin sich bei Gelegenheit wieder verflüchtigen würde. Es war der bislang geilste Tag meines Lebens. Wir gingen in die Bar, zu der der Keller mit dem Proberaum gehörte. Kaoru war bester Laune und verkündete lautstark, dass er die Drinks bezahlen wollte. „Er ist ein Buch mit sieben Siegeln“, antwortete Shinya nur auf meine Frage, ob er öfter solche Stimmungsschwankungen hatte. Wir nahmen an der Bar Platz. Der Barkeeper war ein knapp fünfzigjähriger, hoch gewachsener Mann, der außer einem Drei-Tage-Bart einen stattlichen Bierbauch aufzuweisen hatte. Er trug eine Schürze und polierte gerade ein Glas, als wir kamen. Die Kneipe war recht leer, nur vereinzelt saßen Leute an den Tischen, rauchten oder tranken. „Hey, Kei!“, rief Kaoru, dann zog er mich neben sich auf den Hocker und legte mir den Arm um die Schultern. „Darf ich vorstellen? Kei, unser Manager, Toshimasa Hara, unser Bassist!“ Er strahlte Kei an. Dieser brachte nur ein mühsames Lächeln zustande. „Dann seit ihr ja jetzt komplett“, sagte er mit einer sehr kratzigen, rauen Stimme. Er sprach undeutlich, so als bekäme er den Mund nicht richtig auf. Er stellte das Glas seelenruhig ins Regal, nahm das nächste und polierte es ebenfalls. „Ich geb die Runde aus, Kei!“, rief er dem Barkeeper zu. „Fünfmal… Was immer ihr trinken wollt.“ Er kramte die Zigaretten aus seiner Tasche und reichte sie dann an Die und Kyo weiter. Dass Shinya nicht rauchte, fand ich sehr positiv. Auf Dauer der einzige Nichtraucher zu sein, war irgendwie blöd. „Viel Erfolg“, brummte Kei und stellte fünf Gläser Sake auf den Thresen. Kaoru zückte seinen Geldbeutel, aber Kei winkte ab. „Geht aufs Haus“, sagte er und wir bedankten uns. „Seht zu, dass ihr aus diesem Kellerloch rauskommt“, murmelte Kei in seinen Bart, ehe er sich wieder dem Polieren der Gläser zuwandte. Kaoru nahm sein Glas und ließ es gegen meins klirren. „Auf uns!“, sagte er und wir antworteten alle zusammen. „Auf uns!“ Dann stürzten wir das Zeug runter. Unser ungeschriebener Vertrag war besiegelt. Als ich mein Glas abstellte, verspürte ich ein eigenartiges Brennen im Hals. Ich verzog das Gesicht. „Hast du noch nie Alkohol getrunken?“, lachte Kaoru. Ich schüttelte den Kopf. Kaoru bestellte ein zweites Glas Sake für mich. „Du gewöhnst dich dran!“ Ich trank auch dieses Glas in zwei Zügen leer. „Trink lieber nicht zu viel“, sagte Shinya. „So wie…“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Kaoru. Dieser hatte für sich, Die und Kyo irgendein anderes Zeug in Pinchen bestellt. „OK“, sagte ich. Shinya bestellte für sich und mich Wasser, dann lehnte er sich ein bisschen über den Thresen und sah mich schief an. „Du warst früher nicht mit Leuten wie Kaoru zusammen, nicht?“, fragte er. Ich fühlte mich ertappt. „Woher weißt du das?“ Shinya lachte. „Erstens hab ich Augen im Kopf“, sagte er, „und zweitens ist es bei mir genauso. Ich bin viel jünger als die anderen und komme erst nächstes Jahr auf die Oberschule. Auf meiner Schule gibt es so was wie eine rebellische Clique gar nicht.“ „Und woher kennst du Kaoru?“ Shinya strich sich ein paar Haare aus der Stirn. „Die ist mein Nachbar“, erzählte er. „Und irgendwann hat er mitbekommen, dass ich Schlagzeug spiele. Da hat er mich angesprochen, ob ich nicht bei ihnen in der Band mitmachen will. Als Kaoru mich das erste Mal gesehen hat, hat er mich ausgelacht…“ Shinya lachte. „Ich versteh gut, wenn du dich noch etwas unwohl fühlst.“ „Es ist schon…“, fing ich an, aber Kyo unterbrach uns. Ihn und die anderen hatte ich total vergessen, während ich mit Shinya geredet hatte. „Hey!“, johlte er und man merkte, dass er schon einiges mehr intus hatte, als nur Sake. „Du musst dir noch einen Künstlernamen aussuchen!“ „Wieso?“, fragte ich. Kyo guckte mich an, als hätte ich gefragt, warum der Himmel blau ist. „Weil’s cooler ist“, sagte er. In der Hand hielt er eine Flasche mit durchsichtigem Inhalt. Ich ahnte, dass es kein Wasser war. „Ich hab auch keinen“, mischte Shinya sich ein. „Du bis auch nich cool!“, prustete Kyo, dann wandte er sich um und stolzierte zu Kaoru und Die zurück. „Komm“, sagte Shinya und wir folgten Kyo an den Tisch, den Kaoru und Die umgezogen waren. Als sie uns sahen, stand Kaoru auf und stieß mich auf den Stuhl. Er reichte mir eins von den Pinchen. „Auf dich!“, rief er und hob sein Glas. Ich traute mich nicht abzulehnen und kippte das Zeug, was immer es war, runter. Es schmeckte sehr eigenartig und brannte viel stärker und länger als die Sake. Shinya setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl und sagte nichts mehr. Ich trank noch ein Glas von dem durchsichtigen Zeug. Es verursachte eine angenehme Wärme im ganzen Körper und ein sehr merkwürdiges Gefühl im Kopf, ein bisschen wie Schwindel, aber nicht schlecht. Nach dem dritten Glas jedoch fühlte ich mich plötzlich gar nicht mehr wohl. Hinter meiner Stirn klopfte es und als ich aufstand, taumelte ich gegen Die. Der Raum drehte sich leicht. „Wollen wir nicht bald gehen?“, fragte ich. Keiner hörte es. Sie waren damit beschäftigt, immer mehr zu bestellen und zu trinken. Sie waren längst in ein anderes Universum entschwebt. „Shinya?“, fragte ich und klang ein bisschen verzweifelt. Shinya stand auf und winkte mir, ihm zu folgen. „Ich hab dir doch gesagt, übertreib’s nicht“, sagte er. „Vor allem, wenn du früher nie getrunken hast. Ist dir schlecht?“ „Geht“, sagte ich. Ich wollte auf keinen Fall, dass Shinya dachte, ein bisschen Alkohol würde mich schon umhauen. Leider war es aber so. „Ich bring dich nach Hause“, sagte Shinya. „Die anderen können sehen, wie sie nach Hause kommen.“ Die Tatsache, dass Shinya mich nach Hause bringen wollte, machte meine Lage nicht gerade erträglicher. Was er jetzt wohl von mir dachte? Schweigend liefen wir nebeneinander her. Es war schon recht spät, aber nicht dunkel. „Trink zu Hause viel Wasser“, meinte Shinya nach einer Weile. „So viel wie möglich, das hilft.“ Er musterte mich und schien zu bemerken, wie peinlich mir die ganze Sache war. „Hey!“, lachte er und stieß mich mit dem Ellbogen leicht an. „Das ist doch kein Weltuntergang, ich war auch schon mal betrunken!“ Ich sagte, ich hatte es nicht vermutet, woraufhin Shinya noch mehr lachte. Ich bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging. Plötzlich standen wir vor unserem Haus. „Hier ist es“, sagte ich. Shinya betrachtete das Haus anerkennend. „Hübsch“, sagte er. „Also, nicht vergessen: Wasser trinken!“ Ich nickte. „Wir sehen uns dann am Freitag bei der Probe“, sagte er und mir fiel abermals nichts Besseres ein, als zu Nicken. Intelligent, wirklich. „Bis dann“, meinte Shinya noch, dann drehte er sich um. Aber kaum war er zwei Schritte gegangen, kam er wieder zurück und umarmte mich. Ich stolperte einen Schritt zurück, weil ich damit nicht gerechnet hatte. „Ich find’s echt toll, dass du bei uns bist!“, sagte er lächelnd. Dann ging er. Ich blieb noch einen Moment lang draußen stehen und fühlte mich leicht überrumpelt. Dann ging ich rein und ließ mich in meinem Zimmer aufs Bett fallen. Alles um mich herum drehte sich, aber es lag nicht am Alkohol, sondern daran, dass ich von dem ganzen Tag wie berauscht war. Sollte es letzten Endes wirklich mein Schicksal sein, Musik zu machen? Meine Aufgabe? Meine erste Band… Kaum zu glauben. Ich wurde nicht müde, mir die einzelnen Phasen des Tages immer wieder ins Gedächtnis zu rufen und vor meinem inneren Auge ablaufen zu lassen. Damals hatte ich zwar noch keine Ahnung, wie dieser Tag wirklich unser aller Leben beeinflusste, aber für mich war es der größte Schritt, den ich jemals getan hatte. Und Shinya… der war wirklich… nett. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)