Days in Shibuya von abgemeldet ================================================================================ Death Mask ---------- Der April ging zu Ende und ebenso der Mai. Wir trafen uns zu dieser Zeit drei bis viermal die Woche um zu proben. Während der Proben schien es, als würden wir alle zu anderen Menschen werden: Kaoru, sonst eher chaotisch und ein bisschen verrückt wurde ernst, ehrgeizig und nicht müde uns daran zu erinnern, dass die Band für uns immer die Nummer 1 sein musste. Bei Die war es ähnlich. Die war bzw. ist ein Perfektionist, wie ich schnell merkte. Alles musste perfekt sein, fast perfekt gab es nicht, allerdings nur was die Musik betraf. Kyo ging total in seinen Liedern auf, was mich sehr faszinierte. Auch er war sonst eher der Draufgängertyp, einer, der am Liebsten seine harte Seite zeigte. Aber wenn er sang kamen seine Gefühle durch, das sah man an seinen Gesichtsausdrücken. Einmal als wir einen Song von X coverten beobachtete ich, wie er sich zweimal unauffällig mit dem Handrücken über die Augen wischte. Ich habe selten einen so emotionalen Sänger erlebt wie Kyo - und er war damals sechzehn. Und dann Shinya… Ich weiß nicht, ob ihm je aufgefallen ist, wie ich ihn beim Spielen beobachtet habe. Es beeindruckte mich immer wieder, wie dieser zierliche und körperlich kaum stark wirkende Junge solche Töne aus den Drums herausholen konnte. Ich stand immer gerne in seiner Nähe. Manchmal schloss er beim Spielen die Augen und ließ sich völlig von der Musik wegtragen, irgendwohin. Ich habe Shinya nie gefragt, was ihm damals beim Spielen durch den Kopf ging. Er sah immer unglaublich aus. Einmal trafen sich unsere Blicke, er schaute mich an, so durchdringend und mit einem so einzigartigen Gesichtsausdruck, dass ich prompt meinen Einsatz verpasste. Kaoru sah mich böse an und als wir weiter spielten und ich noch einmal vorsichtig in Shinyas Richtung schielte sah ich, dass er lächelte. Die ersten zwei Monate die ich in der Band war, nutzten wir um uns aneinander anzupassen. Als wir dann Anfang Juni der Meinung waren das einigermaßen geschafft zu haben, begannen wir, die nächsten Schritte zu planen. Heute kennt man uns unter dem Namen Dir en grey, aber wir hießen nicht immer so. Unser erster Name entstand an einem verregneten Nachmittag, an dem Kyo kein Geld hatte um sich ein U-Bahn-Ticket zu kaufen und wir keins hatten, das wir ihm leihen konnten. „Fuck“, murmelte Kyo. „Ihr solltet doch ohne mich fahren. Ich kann bis nächsten Mittwoch Geld auftreiben, aber heute geht’s einfach nicht.“ „Nein“, sagte Kaoru. „Wir haben die letzten zwei Tage jeweils vier Stunden geprobt… Wir können heute auch mal abschalten.“ „Mach dir keinen Vorwurf“, sagte Shinya, aber wir sahen Kyo an, dass er es doch tat. Wir saßen bei Die zu Hause im Wohnzimmer, draußen regnete es in Strömen und keiner von uns hatte eine Idee, was wir machen könnten. „Sollen wir pokern?“, fragte Kyo. Da aber niemand von uns pokern konnte, ließen wir es sein. Es herrschte gähnende Langeweile. Die hatte den Fernseher eingeschaltet, aber keiner von uns schaute wirklich hin und mitten in dieser Langeweile erinnerte ich mich plötzlich an die Frage, die ich seit Ewigkeiten hatte stellen wollen. „Kaoru?“ Kaoru murmelte eine unverständliche Antwort. „Sag mal… Was ist eigentlich mit einem Bandnamen?“, fragte ich. Kaoru öffnete die Augen. „Wie?“ „Ein Name“, wiederholte ich. „Wir können doch nicht namenlos bleiben. So werden wir nie berühmt.“ „Wir werden so oder so nicht berühmt werden“, knurrte Kaoru. „Aber irgendwie… hast du Recht.“ Er hüllte sich wieder in Schweigen. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass Kaoru wetterfühlig ist. Wenn es regnet, ist seine Laune im Keller. Wenn die Sonne scheint, ist er total abgedreht. Wir waren oft ziemlich genervt davon. „Hallo, Leader?“ Die stieß Kaoru mit dem Fuß an. „Vielleicht sollten wir wirklich endlich über den Namen nachdenken. Wieso haben wir eigentlich keinen?“ „Weil wir noch nie ernsthaft drüber nachgedacht haben“, erklärte Kaoru gelangweilt. „Und eine Möglichkeit aufzutreten hatten wir auch nicht. Weißt du doch. Also… Meinetwegen, hat jemand Vorschläge?“ „Hm, vielleicht… X 2?“, fragte Kyo. „Das wäre eine Kopie“, sagte Kaoru. Er sah aus dem Fenster, sein Blick war etwa so finster wie der Himmel. „Vielleicht was ausländisches“, sagte Shinya. „Französisch oder Deutsch zum Beispiel.“ „Ein Name sollte eingängig sein, und jeder sollte ihn verstehen“, murmelte Kaoru. „Also… vielleicht hat jemand einen konstruktiven Vorschlag?“ „Wie wär’s mit The Band without a Name?“, fragte Kyo. Wir schüttelten den Kopf. „Hat deine Oma nicht noch irgendeinen Hund mit einem stylischen Namen?“, fragte Die. Kyo schüttelte den Kopf. „Sie hatte aber noch einen Wellensittich, der hieß Paul.“ „Warum Paul?“ Kyo zuckte mit den Schultern. „Mein Großvater war mal in Deutschland, geschäftlich, und da hat er einen kennen gelernt, der Paul hieß. Wollen wir Paul heißen?“ „Nein“, sagte Kaoru entschieden. „Wollen wir nicht.“ Es entstand eine lange Pause. Die griff nach einer Weile nach der Fernbedienung und schaltete um. Er zappte kurz die Kanäle durch und landete schließlich auf einem Musiksender. Eine thailändische Heavy-Metal-Band fetzte über die Bühne. Alle trugen seltsame Masken, die die Musiker tot aussehen ließen. „Interessante Bühnenshow“, kommentierte Kaoru. Shinya sah auf. „Das sind Totenmasken“, sagte er. Kyo betrachtete die Masken eine Weile und sagte dann nachdenklich: „Wär das nicht ein Name? Death Mask?“ Stille. Wir brauchten eine Weile um darüber nachzudenken, aber niemandem fiel ein Argument ein, das dagegen sprach. Es war nicht der außergewöhnlichste Bandname den man je gehört hatte, aber irgendwie gefiel er uns. „OK“, sagte Kaoru. „Ab sofort heißen wir Death Mask.“ Er hörte sich immer noch gelangweilt an. „Weißt du was?“, fragte Die. „Hm?“, machte Kaoru desinteressiert. „Leute die wetterfühlig sind“, erklärte Die, „pissen mich echt total an.“ „Hm“, machte Kaoru noch einmal. So kamen wir zu unserem ersten Namen. Shinya war nicht besonders begeistert davon, da es seiner Meinung nach nichts Besonderes war. „Jede x-beliebige Band kann sich Totenmaske nennen“, sagte er einmal zu mir. „Es klingt nach Metal, nicht nach zweitklassigem Rock mit Ich-reiß-mir-die-Organe-raus-Texten und Coverversionen. Das was wir machen ist kein Metal, der Name beschreibt uns, unsere Musik, einfach nicht.“ Da aber keinem von uns ein annehmbarerer Titel einfiel und Kaoru nicht diskutieren wollte, blieb es vorerst dabei. Kyo hatte damals übrigens tatsächlich einen Text in dem es um einen Typ ging, der besessen war und sich die Organe aus dem Leib riss. Kaoru weigerte sich dazu einen Song zu machen. Kyo hatte den Text geschrieben, nachdem er mit zwölf einen Splatter gesehen hatte, anscheinend um das Gesehene zu verarbeiten. Die anderen Texte von ihm waren besser, aggressiv, aber nicht schlecht. Shinya weigerte sich nach wie vor Kaoru von seinen Texten zu erzählen und ich konnte ihn nicht dazu zwingen. Neunzig Prozent der Songs die wir spielten, waren gecovert, aber wir gaben uns Mühe, einige eigene Stücke zu schreiben. Keine Meilensteine, keine Hits, nicht einmal besonders einfallsreiche Melodien, aber wir gaben unser Bestes. Es dauerte eine ganze Weile, fast den ganzen Sommer um genau zu sein, bis wir unser Repertoire an eigenen Songs auf zwölf erweitert hatten, mit denen wir zufrieden waren. Wir mussten einsehen, dass wir keine zweiten X waren und unsere Ansprüche etwas herunterschrauben mussten. Im Schreiben eigener Songs war keiner von uns geübt und für wirklich großartige Songs fehlte uns schlichtweg die Erfahrung. Dadurch dass wir unsere Ansprüche weniger hoch stellten, schafften wir es immerhin die zwölf Songs zu schreiben, die uns am ehesten akzeptabel und publikumstauglich vorkamen. Als Kaoru das erste Mal von publikumstauglich sprach, waren wir alle mehr oder minder geschockt. Und unsicher. „Bist du sicher, dass wir das Zeug dazu haben?“, fragte Die. Kaoru warf ihm einen giftigen Blick an. „Ich jedenfalls fahre ich nicht dreimal pro Woche in diesen verfluchten Barkeller, nur um dann nicht das Zeug dazu zu haben, vor Publikum zu spielen“, sagte er. Aus seinem Tonfall ging deutlich heraus, dass Widerworte absolut unerwünscht waren. Er war gereizt. „Hast du dich denn mal umgehört, wo es Möglichkeiten gäbe?“, fragte Shinya. Ich sah zu ihm. Er wirkte nervös, drehte die Drumsticks in den Händen und biss sich auf die Unterlippe. „Sicher“, sagte Kaoru. „Aber es hat sich bis jetzt nichts ergeben.“ „Wenn wir Vorband von X werden können, reicht das vollkommen aus“, sagte Kyo sarkastisch. „Haben die vom Tokyo Dome sich immer noch nicht gemeldet? Wenn nicht, sag dem Termin in der Budokan endlich zu.“ Kaoru verdrehte die Augen. „Was soll das?“, zischte er. „Du weißt genau, dass ich die Vorraussetzung stelle, 100% für die Band zu geben, also gib mir bitte das Gefühl, dass du das auch tust!“ Shinya zog scharf die Luft ein. Wir wussten alle, dass das kein gutes Ende nehmen würde, denn Kaoru hatte Kyos wunden Punkt getroffen. „Erzähl mir nicht, wie ich mich zu verhalten habe!“ Kyo, der vorher auf einem alten Barhocker gesessen hatte, war aufgesprungen und funkelte Kaoru wütend an. „Du bist nur unser Bandleader, weil du von Anfang an gesagt hast, den ganzen organisatorischen Kram würdest du übernehmen, und weil du es bist, der sich von uns am Meisten wie ein Diktator aufführt, nicht weil du mehr Einsatz zeigst als wir!“ „Wenn du meinst, dass du es besser kannst, dann mach du es doch!“, warf Kaoru zurück. „Ein Tag mit dir als Leader, und wir können einpacken!“ „Leute, das hat doch keinen Sinn“, sagte Die. „Wir sind alle gerade etwas angespannt, aber…“ „Angespannt?“ Kyo spuckte das Wort regelrecht aus. „Und noch mal, Kao, wenn du meinst ich wäre nicht gut genug hierfür, dann sag es mir sofort und ich gehe!“ „Wenn du gehen willst, hält dich niemand auf!“, schrie Kaoru. „Schön“, Kyo ging zielstrebig auf die Tür zu. „Wenn du dir einbildest, du seiest hier der Einzige, der 100% gibt, dann irrst du dich gewaltig“, sagte er gefährlich leise. „Es würde dir nicht mal reichen, wenn wir 200% geben würden!“ Kaoru explodierte. „Halt verdammt noch mal die Fresse Kyo!“ „Lern du erstmal richtig deinen Job zu machen!“, schrie Kyo zurück und knallte die schwere Tür hinter sich zu. Der Knall war so gewaltig, dass wir dachten, das Gebäude würde einstürzen. Das Echo hallte sekundenlang in unseren Ohren nach, der Raum schien zu zittern. Keiner von uns sagte ein Wort. „Ah… Kao…“ Die machte ein paar Schritte in Kaorus Richtung, aber dieser brachte ihn mit einer Handbewegung zu Stehen. „WEHE“, sagte er langsam und betont, „es spricht mich jetzt einer an.“ Damit verließ er den Raum, knallte die Tür mit noch mehr Kraft zu als Kyo. Wir hörten seine Schritte auf der Treppe. „Ich geh ihm besser nach“, sagte Die. „Sonst macht er noch irgendwas, was er später bereut…“ Er bemerkte meinen verunsicherten Blick. „Mach dir ma keine Sorgen“, er grinste. „Er hat manchmal solche Ausraster. Besser ich rede ich jetzt mit ihm, als dass ich ihn nachher besoffen nach Hause schleifen muss. Hatten wir alles schon.“ Ich nickte nur kurz. Kaorus und Kyos Streit war recht eindrucksvoll gewesen, vor allem da sie beide sehr laute und kraftvolle Stimmen hatten. Ich wünschte mir nur, dass keiner der Beiden mich je so anschrie. Man konnte echt Angst bekommen, wenn man es nicht gewohnt war. Die Tür fiel ein drittes Mal, diesmal leiser, ins Schloss, und plötzlich war ich mit Shinya allein im Proberaum. Shinya lehnte lässig an der Wand, die Hände in die Hosentaschen geschoben und sah mich wartend an. Sein Ausdruck war unergründbar. „Ich hoffe, er kriegt sich bald wieder ein“, sagte ich, um irgendwas zu sagen. Shinya nickte. „Aber es ist wie Die schon sagte, er fängt sich genauso schnell wieder wie er ausrastet. Aber plötzlich haben wir gute Chancen, wirklich einen Auftritt zu bekommen… In den letzten Monaten haben wir uns unheimlich viel weiter entwickelt. Vielleicht ist das einfach zu viel für ihn.“ „Er ist ein seltsamer Typ“, sagte ich. Shinya grinste mich an und sofort bereute ich, das gesagt zu haben. „Also, er ist nicht…“ „Schon gut“, sagte Shinya. „Es stimmt schon, Kaoru ist Exzentriker. Aber er ist vor allem unglaublich ehrgeizig. Er hat sich halt in den Kopf gesetzt, irgendwann mal zu den ganz Großen zu gehören… Und daran hält er fest.“ Ich ging langsam zu Shinya und lehnte mich neben ihm gegen die Wand. „Er spricht nie darüber, warum er es so unbedingt will, oder wieso er überhaupt angefangen hat Musik zu machen. Er war schon in der Grundschule sehr rebellisch, er hat sehr viel Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen und er sagt jedem seine Meinung ins Gesicht. Er hätte Macht über die anderen haben können, aber er wollte keine Macht. Er wollte lediglich Ansehen. Er färbte sich die Haare und kaufte sich schließlich die Gitarre. Als er auf diese Schule hier kam, fing er an, seine Uniform zu bemalen und zu zerschneiden. Privat ist er immer schon etwas abgedreht rumgelaufen.“ Shinya machte eine Pause, holte tief Luft. „Woher weißt du das alles?“, fragte ich. „Du scheinst ihn unheimlich gut zu kennen.“ Shinya zuckte mit den Schultern. „Einiges hat er mir selbst erzählt, den Rest weiß ich von Die und Kyo. Die kennt ihn ja schon fast sein Leben lang, die zwei hingen schon im Kindergarten zusammen. Kyo haben sie erst hier auf der Schule kennen gelernt, er war vorher immer ein Einzelgänger, weil er noch exzentrischer ist als Kao. Er hat einigen wohl manchmal mit seinem Hang zum Makabren Angst gemacht und damit, dass er so auf hart tut… Dabei ist er so ein emotionaler Mensch, wenn man ihn kennt.“ „Ich weiß“, sagte ich, „ich hab ihn beim Singen beobachtet.“ „Viele haben vielleicht ein falsches Bild von ihm“, sagte Shinya nachdenklich. Er betrachtete seine Schuhspitzen, als gäbe es nichts Spannenderes. „Er, Die und Kaoru sind alle sehr emotionale Persönlichkeiten“, fuhr Shinya fort. „Auch wenn sie es nicht gerne zeigen. Ich denke, dass sie deshalb Musik machen, um einfach die überspielten Gefühle raus zu lassen.“ Es hörte sich wie ein Monolog an und ich fragte mich, ob Shinya vergessen hatte, dass ich noch neben ihm stand. „Und du?“, fragte ich nach einer Weile. „Warum hast du angefangen?“ Shinya sah auf und es hatte wirklich den Anschein, als sei er innerhalb der letzten Minuten in ein völlig anderes Universum entwichen. Dann lächelte er. „Um ein paar angestaute Aggressionen loszuwerden“, grinste er. „Unter anderem. Das Schlagzeug hat mich immer schon fasziniert, weil es so aussagekräftig ist… Es kann gefühlvoll sein und leise, es kann Spannung innerhalb der Stücke erzeugen und es kann laut sein wie Donner… Viele Stücke würden sich ohne Schlagzeug ganz seltsam anhören. Es ist sehr ausschlaggebend für den Charakter eines Stücks.“ Shinyas Worte hatten meine Knie in Wackelpudding verwandelt. Seine Augen funkelten und ich wünschte mir, dass er weiter redete, meinetwegen noch Stunden. „Wie war es bei dir?“, fragte er stattdessen. „Ich hab eine Live-Band gesehen… Und ich wusste irgendwie Das ist es, was du auch machen willst. Eigentlich wollte ich Gitarre lernen, aber dann dachte ich Bass sei leichter, weil er nur vier Saiten hat.“ Shinya lachte sein perlendes Lachen. „Ein bisschen Bass spielen kann ich auch“, sagte er. „Aber nicht so gut wie du.“ Ich lachte nervös. „Ähm, willst du mal?“, fragte ich. „Klar“, sagte Shinya sofort, „wenn ich darf.“ Ich holte meinen Bass aus der Tasche und reichte ihn an Shinya. Er legte sich den Gurt um und setzte sich auf den Barhocker. „Halt ich das Teil richtig?“, fragte er und ich nickte. „Warte mal… Mein Cousin hat mir mal den Anfang von kurenai gezeigt…“ Unsicher suchte Shinya auf dem Griffbrett herum, schlug ein paar Töne an. „Geht das so?“, er lachte. „Ja“, sagte ich anerkennend. Er spielte noch ein bisschen weiter, dann hörte er auf. „Weiter komm ich nicht“, lachte er. „Warte“, sagte ich. „Ich kann kurenai eigentlich auch, nur… ich kann die einzelnen Töne nicht benennen. Ich spiel das ohne nachzudenken.“ Ohne zu wissen was ich tat trat ich hinter Shinya und nahm ihm das Plek aus der Hand. Ich zögerte einen Moment, dann fing ich da an, wo er aufgehört hatte und spielte das Stück weiter. „OK, ich versuchs mal…“, murmelte Shinya. Die Tatsache, dass ich so dicht hinter ihm stand, dass ich die Härchen auf seinem Nacken hätte zählen können, schien ihn nicht zu interessieren. „So?“ Seine Hand ruhte auf dem Griffbrett. „Du bist auf der B-Seite“, sagte ich. „Und dann musst du ziemlich schnell wechseln… Ein Bund höher.“ Ich legte meine Hand auf Shinyas. Sie war ganz weich. Vorsichtig schob ich sie in den richtigen Bund, brachte seine Finger in Position. „Hier“, sagte ich leise. Shinya strich mit dem Plek über die Seiten ohne hinzusehen, seine Finger verrutschten wieder, aber das machte nichts. Ich hielt seine Hand immer noch fest. Keiner von uns sagte was. Hätte Shinya den Kopf gedreht und mich angesehen, hätten unsere Gesichter sich berührt, aber er schaute fest auf den Boden. Ein Schauer rieselte meinen Rücken runter. Die Situation war mit nichts vergleichbar, was ich je erlebt hatte. „Toshi?“ Er hob den Kopf etwas und stieß mit der Stirn gegen meine Nase. Sah mir unendlich lang tief in die Augen. Ich glaubte wirklich, dass er mich jeden Moment küssen würde, aber dazu kam es nicht. Auf der Treppe waren Schritte zu hören und ich machte erschrocken einen Satz zurück. Shinya blieb etwas verdattert mit meinem Bass auf dem Schoß auf dem Barhocker sitzen. Sekunden später erschien Die auf der Bildfläche. „Kaoru hat sich eingekriegt“, sagte er. Er sah erschöpft aus. „Kyo ist nach Hause und da will ich jetzt auch hin, also raus hier oder ich schließ euch ein. Was macht ihr hier eigentlich?“ Er wedelte ungeduldig mit dem Schlüsselbund. „Los jetzt, zu Hause warten Sake und ein paar Kippen auf mich.“ Ich beeilte mich, mein Instrument einzupacken, darauf achtend, Shinyas Blicken zu entgehen. Es war zwar nichts gewesen, aber es hatte spürbar geknistert. Das hätte ein Blinder gesehen. Nachdem Die sich von uns verabschiedet hatte, liefen wir schweigend nebeneinander her. Als wir an die Kreuzung kamen, wo auch wir uns trennen mussten, umarmte Shinya mich ziemlich lange. Als er mich losließ, lächelte er. „Ciao“, sagte er leise, dann drehte er sich um und ging. Ich sah ihm nach, bis er außer Sichtweite war. Den Rest des Weges schlich ich nach Hause, verschwand dort sofort in meinem Zimmer und wollte nicht gestört werden. Vor meinem inneren Auge ließ ich die Situation noch mal ablaufen, und noch mal, und jedes Mal ein bisschen weiter, bis ich mir schließlich vorstellte, wie Shinya mich küsste. Völlig absurd. Er hatte mir nach den komischen Andeutungen von Kyo und Die noch gesagt, er sei ganz normal und absolut nicht homosexuell. Und ich war es auch nicht. Shinya war ein toller Mensch, aber verliebt? Niemals. Und es war ja nichts gewesen. Die reine Vorstellung hieß nicht, dass ich wirklich schwul war. Es war nichts passiert, worüber ich mir den Kopf zerbrechen musste. Am Wochenende und am Montag hörte ich nichts von Shinya. Als wir uns Dienstag vor dem Proberaum trafen, begrüßte er mich wie immer, auch wenn ich mir einbildete, dass irgendwas Neues in seinem Ausdruck war. Irgendwas unergründliches, ein seltsames Leuchten in den Augen, ein minimales Zucken der Mundwinkel, ich kann es nicht erklären. Kaoru erschien an diesem Tag zu spät zur Probe. Niemand, nicht mal Die, wusste, wo er steckte. Wir warteten geschlagene dreißig Minuten, ehe wir polternde Schritte auf der Kellertreppe hörten. Kurz darauf riss Kaoru die Tür auf. Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Haare waren zerzaust, sein offenes Hemd schien ihm am Körper zu kleben. „Hört zu Jungs“, keuchte er. „Wir haben einen Auftritt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)