Days in Shibuya von abgemeldet ================================================================================ Kisaki ------ „Willst du uns jetzt verarschen?“ Die starrte Kaoru an als hätte dieser soeben seine Gitarre zertrümmert. „Wieso sollte ich“, grinste Kaoru. Er stand in der Tür, öffnete und schloss die Hände immer wieder in einem unregelmäßigen Rhythmus. Einen Moment lang standen wir nur da, ziemlich überrumpelt. „W-wie denn? Wo denn?“, stammelte Die endlich. „In knapp drei Wochen“, sagte Kaoru und man merkte ihm an, dass er sich zusammen reißen musste, um nicht auszuflippen, „bei mir in der Nähe wird ne neue Kneipe eingeweiht und na ja… Wir sind der Live-Act!“ Einen Moment herrschte Stille. Dann stießen Die und Kyo gleichzeitg einen schrillen Schrei aus und umarmten sich, wobei es mehr aussah, als würden sie sich anspringen. Dann ließ Die Kyo los und fiel Kaoru um den Hals. „Verfluchte Scheiße!“, schrie er. „Alter, ich liebe dich.“ „Ich weiß“, sagte Kaoru, ehe sie wieder in lautes Lachen ausbrachen. Shinya schaute zu mir rüber und lächelte. Er schien wie immer ganz gelassen. „Irre!“, schrie Kyo und schlug Kaoru so fest auf die Schulter, dass dieser nach vorne taumelte. „Du taugst ja doch was als Leader!“ Normalerweise hätte Kaoru ihn dafür vorläufig gehasst, aber heute nicht. „Kannst du mal sehen“, sagte er und der Stolz war nicht zu überhören. Shinya saß immer noch hinter den Drums und ich stand einfach nur da und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Ein Auftritt vor Publikum. Ich konnte es nicht fassen. Irgendwas in mir weigerte sich strikt, es zu glauben. Shinya stand auf, immer noch lächelnd. „Wie hast du das so schnell hinbekommen?“, fragte er Kaoru. „Tja… Connections“, sagte Kaoru. Shinya grinste. „Wahnsinn“, sagte er und versetzte Kaoru einen leichten Stoß in die Rippen. „Du hast es echt geschafft.“ „Nein, wir haben es geschafft“, sagte Kaoru. „Jeder einzelne hat gleichviel dazu beigetragen…“ „Gehen wir hoch in die Bar“, sagte Die. „Das müssen wir doch feiern! Das ist so irre, ich… ich…“ Er verhaspelte sich vor lauter Aufregung. „Ich weiß überhaupt nicht was ich sagen soll…“ Die nahm Kaorus Hände und strahlte ihn an. „Ich warte ewig auf diesen Tag“, grinste er. Kaoru lachte. Dann sagte er, dass wir jetzt wirklich hochgehen und die Probe heute ausfallen lassen sollten. Es war ungefähr vier Uhr nachmittags, als wir den Proberaum verließen und hoch in Keis Bar gingen. Ich lief neben Shinya die Stufen hoch und konnte regelrecht fühlen, wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss. War das die Erfüllung meines Traums? Ein Auftritt? Ein Schritt in die Richtung zur Berühmtheit, dem umjubelten Star? War das jetzt das, wofür ich lebte…? Ich fühlte mich, als würde ich schweben. In den letzten vier Monaten hatte mein Leben sich so unglaublich schnell verändert… Ich hatte Kaoru, Die, Kyo und Shinya kennen gelernt und ihnen vier wirklich gute, wunderbare Freunde gefunden. Ich habe in meinem Leben keine besseren mehr gefunden als sie. Dann war ich in der Band. Konnte das ausleben, was ich am Liebsten tat: Musik machen. Ich war kein Mitglied der Masse mehr, ich hob mich von den anderen ab. Und jetzt würden wir also das, was wir uns mühsam erarbeitet hatten, an ein Publikum weitergeben… Die Texte, die wir mit Schweiß und Blut geschrieben hatten und die Melodien, die, wie Kaoru es manchmal betonte, die Stimmen unserer Seelen waren. Ich war gleichzeitig unglaublich aufgeregt und einfach nur glücklich. Kaoru riss die Tür der Bar auf und schrie durch den ganzen Raum: „Kei! Hol den Champagner raus, wir haben einen Auftritt!!“ Außer dem Barkeeper waren zwei ältere Männer da, die an einem Einzeltisch saßen und Bier tranken, ein Mann und eine Frau sowie zwei weitere jüngere Männer und ein Mädchen an der Bar. Alle drehten sich zu uns um und starrten uns einen Moment lang an, dann sahen sie wieder weg, als hätten sie nichts gehört. Als wir an der Bar ankamen, schenkte Kei uns ein Lächeln, was bei ihm nur alle Jubeljahre mal vorkam. „Na dann herzlichen Glückwunsch“, brummte er in seinen Bart und stellte uns eine Flasche Sake hin mit fünf Gläsern. „Bedient euch.“ Kaoru bedankte sich überschwänglich, dann stellte er die Gläser eng zusammen und schüttete die Sake ein, ohne die Flasche abzusetzen. Dass die Hälfte daneben ging, störte ihn nicht. „Auf den Auftritt“, sagte er. „Auf Death Mask“, sagte Die. „Und auf unseren Leader“, sagte Kyo. Wir prosteten uns zu und tranken die Gläser in einem Zug leer. Als ich das Glas absetzte, fühlte ich mich leicht benebelt, aber gut. Ich hatte mich ehrlich nie besser gefühlt. Ich tauschte einen kurzen Blick mit Shinya und als er mich zulächelte, fühlte ich erneut Adrenalin durch meinen Körper strömen. Kaoru bestellte eine zweite Runde. „Kei, es tut mir Leid dir das sagen zu müssen, aber wir werden bald einen sehr viel geileren Proberaum haben!“, schrie er. „Cheers mein Freund!“ Kei schenkte uns keine Bewunderung, aber die Art wie er Kaoru ab und zu ansah zeigte, dass er sich insgeheim für uns freute. „Willst du eine?“ Kyo hielt mir die Kippen unter die Nase. Ich fiel aus allen Wolken. „Danke“, sagte ich und schüttelte den Kopf. „Komm schon!“, beharrte Kyo. „Du hast es doch noch nie ausprobiert, oder?“ „Ich will nicht“, sagte ich. „Machs doch einmal und dann nie wieder“, schaltete sich Die ein. Ich verdrehte die Augen. „Lasst’s gut sein“, sagte Shinya. „An mir habt ihr euch auch die Zähne ausgebissen.“ „Bitte“, sagte Kyo ohne Shinya zu beachten. „Nur wenn du’s probierst kannst du sicher sagen, dass du es nicht magst.“ Leider war da was dran und… irgendwie reizte es mich schon. Irgendwas musste daran sein, sonst würden Kyo, Die und Kaoru es ja nicht ständig machen. Mit spitzen Fingern fischte ich eine Zigarette aus der Schachtel. Begeistert hielt Kyo mir sein Feuerzeug hin. „Du musst sofort dran ziehen, wenn sie an ist“, sagte er fachmännisch. Ich schielte kurz zur Seite und sah, wie Shinya neben mir den Kopf schüttelte. Ich fühlte mich nicht besonders gut dabei, aber jetzt einen Rückzieher machen wäre auch nicht der beste Weg gewesen. Also nahm ich das Ding zwischen die Lippen und hielt das Feuerzeug ans andere Ende, bis die Kippe anfing zu glimmen. Ich atmete ein und fühlte einen seltsamen Geschmack im Mund. „Nochmal“, sagte Kyo. „Schnell, sie geht aus!“ Ich zog noch mal, atmete ein und dachte im selben Moment, dass meine Lungen platzten. Ich fing an zu Husten, bekam mich gar nicht mehr ein. Meine Lungen schmerzten, mein Hals kratzte und mir war übel. „Verflucht“, keuchte ich. „Das ist ja…“ Ich konnte nur phasenweise sprechen, da ich immer stärker hustete. „Das ist ja widerlich…!“ Kyo bog sich vor Lachen. „Das geht jedem am Anfang so“, grinste er. „Aber… mein Gott, jetzt kannst du wirklich mal langsam aufhören mit dem Husten!“ „Nein“, hustete ich, ich hatte immer noch das Gefühl, dass jede Menge Rauch in meinen Lungen zurückgeblieben war. „Verflucht… Das mach ich nie wieder!“ Kyo sah sehr zufrieden aus. „Sag einfach Bescheid, wenn du eine willst“, sagte er und nahm mir die Kippe aus der Hand, um sie selbst zu Ende zu rauchen. Ich beruhigte mich wieder, aber das Gefühl und der Geschmack im Mund waren einfach zu widerlich. Und Shinyas missbilligender Blick ging mir auch nicht mehr aus dem Kopf. Viele, viele Gläser Alkohol und eine Schachtel Zigaretten später, erklärte Shinya, dass er gehen musste. „Ich ähm… Ich komm mit“, sagte ich schnell. „Ich soll um neun zu Hause sein.“ Es war kurz nach acht. „Hey, ihr könnt jetzt nicht gehen!“, protestierte Die. „Wir fangen doch grad erst an zu feiern!“ „Anfangen?“, fragte Shinya, während er seine Jacke anzog. „Ihr habt doch bestimmt schon zwei Flaschen leer getrunken, vom Tequila ganz zu schweigen.“ Die zuckte mit den Schultern. „Wenn schon“, meinte er nur. Ich glaube, Kaoru und Kyo merkten gar nicht, dass wir gingen. Sie waren damit beschäftigt herauszufinden, wer ein volles Bierglas schneller exen konnte. Ich folgte Shinya nach draußen. „Ich hasse es“, murmelte er. „Wieso müssen sie sich immer so zu saufen? Ich würd vielleicht sogar mitmachen, aber… Himmel, ich bin vierzehn!“ Er sah ziemlich abgenervt aus. „Du hättest ruhig bleiben können“, fuhr er fort. „Nein, ich… ich wollte sowieso bald zu Hause sein“, log ich. Ich hätte nichts dagegen gehabt zu bleiben, aber nicht ohne Shinya und außerdem hatte ich absolut keine Ahnung, wie ich mit Betrunkenen umgehen musste. Und selber trinken wollte ich auch nicht. Nicht so viel jedenfalls. „Ehrlich“, sagte ich noch mal. Shinya nickte nur. Schweigend liefen wir zur U-Bahnstation und auch während der Fahrt sagten wir kein Wort mehr zueinander. Erst als wir uns trennen mussten, brach Shinya das Schweigen. „Ich…“, fing Shinya an und stockte. „Was denn?“ Er winkte ab. „Ach nichts“, murmelte er. „Bis morgen.“ Wir umarmten uns und Shinya streichelte mir dabei sanft über den Rücken. Dann ließ er mich los, drehte sich um verschwand wortlos. Und ich blieb etwas verwirrt zurück, mal wieder ohne Ahnung, was ich denken sollte. Die ersten Tage nachdem wir erfahren hatten, dass wir einen Auftritt hatten, verbrachte ich größtenteils in einem Zustand angenehmer Betäubung. Meiner Mutter verschwieg ich, dass wir zur Eröffnung einer Kneipe auftreten sollten, denn sie hätte garantiert ein Problem damit gehabt. Ich hatte einige meiner alten Freunde aus Nagano angerufen, aber ihre Reaktionen waren nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Anstelle wenigstens so zu tun, als würden sie sich richtig für mich freuen oder zu zeigen, dass sie es gut fanden, dass wir so weit gekommen waren, bekam ich Sachen wie Oh, das ist echt cool. Hast du diesen einen Film letzten Sonntag gesehen von dem alle reden? zu hören. Mir verging die Lust daran, es den Leuten zu erzählen. Trotzdem ließ ich mir selbst die Freude und den Stolz nicht verderben, denn ich wusste, dass wir stolz auf uns sein konnten, dass es für uns eine wichtige Sache werden würde, auch wenn nur dreißig Leute kommen sollten. Ich ließ mir meine Vorfreude durch nichts und niemanden verderben. Dann aber geschah etwas, was alles kräftig durcheinander brachte: Wir bekamen abermals einen neuen Schüler in die Klasse. Kisaki. Er stolzierte erhobenen Hauptes und mit einem Blick wie ein Pfau in die Klasse und als ich ihn sah, wusste ich sofort: Dieser Typ hat sich nicht gleich am ersten Tag verlaufen. Hizuki erbleichte förmlich bei seinem Anblick. Er versuchte nicht, sich sofort an ihn ranzuschmeißen, dazu hatte er vom ersten Moment an zu viel Respekt vor ihm. Und nicht nur er. Innerhalb kürzester Zeit war Kisaki unglaublich beliebt. Die Jungen der Klasse wollten ihn als besten Kumpel, denn weil er älter aussah, konnte er Alkohol beschaffen. Er war aufgeschlossen, hatte massig Selbstbewusstsein und wirkte auf die meisten einfach cool. Natürlich war er gleich nach einem Tag alleiniger Mädchenschwarm geworden. Die Mädchen redeten über nichts anderes, es gab richtige Wettbewerbe, wer zuerst ein Date mit ihm ergatterte. Und er war sehr intelligent. Er war die Sorte Mensch, die ich hasste. Ich gab mir die größte Mühe ihn zu ignorieren und ich glaube genau das war der Grund, weshalb Kisaki mich genauso hasste wie ich ihn. Später erfuhr ich, dass es dafür auch andere Gründe gab, aber dadurch, dass er von mir als fast Einzigem keine Bewunderung bekam, sah er in mir sofort einen Feind. „Wer ist dieser neue Typ?“, fragte Kaoru mich gleich am ersten Tag, den Kisaki an unserer Schule verbrachte. „Ich weiß nicht“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Er heißt Kisaki. Er scheint sehr… intelligent zu sein. Und alle Mädchen finden ihn total umwerfend.“ „Oh mein Gott“, Kyo stöhnte und tat als müsste er sich übergeben. „Find ihn jetzt schon unsympathisch. Klingt nach einem totalen Durchschnittsmädchenschwarm. Widerlich!“ „Du musst dich ja nicht mit ihm abgeben“, sagte Die. „Am besten tut das keiner von uns“, sagte Kaoru. „Er ist für uns uninteressant. Er wird zu klug sein um sich erpressen zu lassen und zu gut aussehend um ihn wegen seinem Aussehen fertig zu machen. Aber wir haben sowieso Besseres zu tun… Kyo, hast du den Text geschrieben?“ Kaoru drängte Kyo seit Wochen einen Text auf eine Melodie zu schreiben, die ihm eingefallen war und die er unbedingt in einen Song einbauen wollte. „Ja, eigentlich schon“, sagte Kyo. „Aber ich weiß nicht ob es das ist, was dir vorschwebt…“ „Hast du’s dabei?“ „Klar“, Kyo reichte Kaoru einen zusammen gefalteten Zettel. Kaoru las eine Weile, dann sah er Kyo ernst an. „Angenommen, ein Kritiker würde dich fragen, was es bedeutet“, sagte er langsam, „was würdest du antworten?“ Kyo machte große Augen. „Woher soll ich das wissen? Mir ist das eingefallen, als im Fernsehen die Wiederholung von irgend so einem Wrestlingkampf lief.“ „Das ist sinnfrei“, sagte Kaoru. „Tut mir Leid, aber…“ „Dann schreib deine verfluchten Texte doch selber!“, zischte Kyo und riss den Zettel wieder an sich. „Hast du’s mal versucht?“, fragte ich. „Sicher“, erwiderte Kaoru. „Aber ich mach es nicht gerne. Ich mag meine eigenen Texte nicht… Ich schreibe lieber Melodien. Ich mag Kyos Texte, aber… Na ja. Jedenfalls meistens.“ Er räusperte sich umständlich. Ich nahm Kyo den Zettel aus der Hand und überflog den Text und plötzlich kam mir eine Idee. „Spiel die Melodie mal bei der nächsten Probe vor“, sagte ich. „Bis jetzt hast du sie ja nur Kyo gezeigt. Vielleicht… fällt einem von uns dann ein Text ein.“ Zum Beispiel Shinya, fügte ich im Geist hinzu. „Ja“, murmelte Kaoru. Es klang nicht sehr überzeugt. „Vielleicht.“ Am Abend rief ich Shinya an um ihm davon zu erzählen. „Na großartig“, sagte Shinya. Er klang sehr müde. „Ich hab doch gesagt, ich will ihm meine Texte im Moment nicht geben.“ „Musst du ja nicht“, erwiderte ich. „Aber vielleicht fällt dir ja spontan was ein. Kyo hat wohl so was wie ne Blockade.“ „Ja“, sagte Shinya. Wir schwiegen uns eine Weile an. Ich war kurz davor vorzuschlagen, endlich aufzulegen, als Shinya plötzlich sagte: „Komm nach der Probe mit zu mir, OK?“ „Ja!“, sagte ich sofort. „Gerne!“ „OK“, sagte Shinya und wir legten auf. Ich atmete einmal tief durch. Shinya benahm sich seltsam. Er wirkte gleichzeitig abweisend und auch wieder nicht, denn immer wenn wir uns sahen, dauerte unsere Umarmung zur Begrüßung deutlich länger als die mit den übrigen. Wir hatten die Probe am Freitag so gelegt, dass wir direkt nach der Schule zusammen zum Proberaum fahren konnten. Als ich in die Klasse kam, die Tasche mit meinem Bass in der Hand, ließ Kisaki mich plötzlich nicht mehr aus den Augen. Und als ich mich setzte, stand er auf und kam auf mich zu. „Du spielst Gitarre?“, fragte er übertrieben überrascht. Bevor ich antwortete, musterte ich ihn möglichst unauffällig. Diesem Kerl konnte man doch nur misstrauen. Er war zu perfekt. Irgendwas stimme mit ihm nicht, da war ich mir sicher. „Nein“, sagte ich. „Bass.“ „Echt?“ Kisaki betrachtete meine Tasche, als hätte er etwas Derartiges noch nie gesehen. „Das überrascht mich jetzt etwas.“ „Warum? Was soll dieses Verhör?“, fragte ich verärgert. „Reg dich nicht so auf“, sagte er. „Es ist so… Ich bin auch Bassist. Das ist doch ein cooler Zufall.“ Mir fiel die Kinnlade runter. Dieser Kerl da, der so megaoberhypercool tat und, wenn er gewollt hätte, jedes einzelne Mädchen und 80% der Jungen der Schule hätte flach legen können, der ein Einserzeugnis abkassieren und später mal eins dieser 0-8-15-Leben mit Frau, zwei Kindern, Hund und Hausmädchen (mit dem er eine Affäre haben würde, was seine Frau allerdings nie merken würde) leben würde sollte Bassist sein? Man brauchte ihn nur genau anzusehen um zu wissen, dass dieser Typ die Musik nicht liebte. Er mochte zwar gut sein und er war gut, wie ich später herausfand, aber er liebte die Musik nicht. Was Kisaki machte war vom Blatt spielen. Ich glaube nicht, dass er durch die Musik seine Gefühle verarbeitete, für ihn war es nichts als Business. „In der Tat“, sagte ich und hoffte, dass er meinen Schock nicht bemerkte. „Das ist… Na ja. Was soll ich sagen.“ Meine wunderbare Ignoranz brachte ihn zur Weißglut. Aber er versuchte es zu verbergen. „Wie lange spielst du?“, fragte er. „8 Jahre“, erwiderte ich. „Ungefähr. Und du?“ Er sollte bloß nicht auf die Idee kommen, dass ich mich mit ihm unterhalten wollte, aber das interessierte mich dann doch. „Zehn“, sagte Kisaki und ich ahnte, welche Genugtuung ihm die Tatsache verschaffte, dass er zwei Jahre länger spielte als ich. „Was du nicht sagst“, erwiderte ich gelangweilt. Mir war klar, dass er mich am liebsten erwürgt hätte. „Und? Hast du eine Band?“, fragte er. Sein Tonfall erschreckte mich - so kalt und berechnend. So als sei das ein Vorwurf… Oder eine Drohung? Ich schluckte. „Ja“, sagte ich und dann noch mal „Ja, habe ich. Und wir haben einen Auftritt.“ Ich sah ihm starr in die dunklen Augen. Er lächelte eisig. „Viel Erfolg“, raunte er mir zu, dann stolzierte er davon. Das war meine erste Begegnung mit Kisaki die mir eine leise Ahnung davon verschaffte, was für ein Mensch er war. Ich sollte ihn später noch besser kennen lernen, aber fürs Erste reichte mir das völlig. Während der Probe am Nachmittag war ich unkonzentriert und verspielte mich immer wieder. „Was ist los mit dir?“, fauchte Kaoru mich an. „Nichts“, sagte ich jedes Mal. „Ich fühl mich heute nicht so gut.“ „Wenn ich nicht wüsste, dass ich mich eigentlich auf dich verlassen kann, würde ich dich einen Kopf kürzer machen“, drohte Kaoru mir. Ich nickte ergeben. Was genau los war, kann ich auch nicht sagen, aber das Gespräch mit Kisaki belastete mich. Ich war mehr als froh, als die Probe zu Ende war und ich mit Shinya auf den Weg zu ihm nach Hause machte. Es war der Abend des 10. August 1992. „Was war denn heute mit dir los?“, fragte Shinya, als wir später am Abend bei ihm Zimmer saßen. „Nichts, eigentlich“, sagte ich. „Aber… vorhin in der Schule hab ich mit Kisaki geredet und erfahren, dass er auch Bassist ist. Und es war offensichtlich, dass er mich um die Band beneidet hat. Oder besser, dass er es mir nicht gönnte.“ „Das ist doch nicht dein Problem“, meinte Shinya. „Natürlich nicht“, sagte ich. „Aber irgendwas ist an diesem Kerl, was mir nicht gefällt… In seiner Nähe hab ich ein schlechtes Gefühl. So was wie eine böse Vorahnung… Ich bild mir das wahrscheinlich bloß ein, aber…“ „Nein“, sagte Shinya. „Das kann doch möglich sein. Aber solang du nichts mit ihm zu tun hast, ignorier seine Sprüche oder was auch immer. Wenn er uns beneiden will, soll er es tun.“ „Ja du hast wahrscheinlich Recht…“ Es entstand eine Pause. „Sieh dir diesen Regen an“, sagte Shinya plötzlich in die Stille hinein. Ich sah aus dem Fenster und erst jetzt fiel mir auf, dass es draußen wie aus Eimern schüttete. „Oh scheiße…“, murmelte ich. „Bei dem Wetter kann ich nicht nach Hause laufen… Da würde mir sogar ein Schirm wegwehen und… Scheiße, es ist schon halb zehn!“ Ich hatte vollkommen vergessen auf die Uhr zu sehen. Shinya zerrte mich in den Flur und drückte mir das Telefon in die Hand. „Sag deiner Mutter, dass sie dich abholen soll“, sagte er. „Bei dem Wetter wirst du ganz bestimmt nicht zu Fuß gehen.“ „Zu Fuß?“, schaltete sich auch noch Shinyas Mutter aus der Küche ein. „Auf gar keinen Fall, sie haben im Radio schon gesagt, dass Äste runter krachen könnten! Und hier in der Gegend stehen so viele Bäume.“ Sie schüttelte den Kopf und ging in die Küche zurück. „Du hast es gehört“, Shinya grinste mich an. Ich wählte die Nummer und wartete, bis meine Mutter abhob. Dann fragte ich sie, ob sie mich bei Shinya abholen konnte. „Schön, dass ich das jetzt erfahre!“, giftete sie. „Du weißt doch, dass Noriko noch hier ist… Wir haben Wein getrunken, ich werde heute auf keinen Fall mehr fahren!“ Noriko war eine Arbeitskollegin meiner Mutter, die ab und zu vorbei kam um den neusten Bürotratsch zu berichten und Wein zu trinken. Sie fuhr gewöhnlich mit dem Taxi zurück. „Kannst du nicht Shinyas Mutter fragen, ob sie dich ausnahmsweise fahren würde?“, fragte sie. Ich verzog das Gesicht, dann legte ich eine Hand auf den Hörer und raunte Shinya die Frage zu. „Kleines Problem“, erwiderte er. „Meine Ma hat keinen Führerschein.“ „Das klappt nicht“, erklärte ich meiner Mutter am Telefon. „Dann musst du eben über Nacht dort bleiben“, erwiderte sie genervt. Ich brauchte eine Weile, um diesen Vorschlag zu verarbeiten, dann drehte ich mich erneut zu Shinya und wiederholte die Worte meiner Mutter. „Moment“, sagte er und verschwand in der Küche. Als er zurückkam, nickte er mir zu. „OK“, sagte ich. „Dann komm ich morgen so um…“ „Du stehst um spätestens elf Uhr auf der Matte“, unterbrach meine Mutter mich. „Klar?“ „Klar“, wiederholte ich resigniert. Es klickte in der Leitung. „Tut mir Leid, das war nicht…“, fing ich an, aber Shinyas Mutter unterbrach mich. „Das ist kein Problem“, sagte sie. „Mir ist es lieber, morgen mal mehr zum Frühstück zu machen, als das du noch von einem Ast erschlagen wirst!“ Sie lächelte mich an. Ich habe sie immer sehr gemocht, aber an diesem Abend war ich ihr besonders dankbar. Nicht nur, dass sie mich nicht den Ästen auslieferte, ich konnte bei Shinya bleiben. Die Vorstellung die ganze Nacht zu bleiben, ließ mich zwar mentale Schweißausbrüche erleiden und ich wollte mir wirklich nichts davon erhoffen, aber… Himmel, ich starb tausend Tode. Shinyas Mutter schaffte es mich davon abzubringen, ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich ungeplant über Nacht blieb. Shinya selbst schien der ganzen Sache relativ gleichgültig gegenüber zustehen. Ich dachte die ganze Zeit, dass ich mir eine andere Reaktion erhofft hatte, aber ohne sagen zu können, welche. Freudensprünge? Wohl kaum. Als wir ins Bett gingen, sagte Shinya mit entschuldigendem Tonfall, dass wir uns zusammen aufs Bett quetschen mussten, er könnte aber auch auf dem Boden schlafen. „Du spinnst wohl“, sagte ich. „Wenn dann werde ich auf dem Boden pennen.“ „Das wär noch schöner, wenn meine Besucher auf dem Boden schlafen müssten“, widersprach Shinya. So ging es eine Weile hin und her und schließlich quetschten wir uns doch zusammen auf Shinyas Bett. Es war breiter als meins, aber richtig viel Platz hatten wir trotzdem nicht. Ich war mental tot. Bei jeder kleinen Bewegung berührte Shinya mich. „Hör mal, erzähl bloß den anderen nichts davon“, sagte Shinya. „Die denken dann nur wieder… was sie sowieso schon denken.“ „Was denn?“, fragte ich naiv. „Egal“, wehrte Shinya ab. „Aber wenn zum Beispiel Kao hier pennt oder Die oder Kyo dann schläft eigentlich immer einer auf dem Boden.“ Ich nickte. Ich lag ziemlich angespannt unter der Decke und wagte kaum mich zu bewegen, aus Angst ich könnte Shinya zu nah kommen. Als ich zu ihm herüber schielte sah ich, dass auch er starr an die Decke blickte. „Was wäre so schlimm daran?“, fragte ich, wie aus einem Impuls heraus. „Wenn wir ihnen erzählen würden, dass wir in einem Bett gepennt haben?“ „Du kennst sie, es wäre einfach nervig wenn sie ständig mit ihren Andeutungen kommen würden“, murmelte Shinya. „Ich hab dir ja mal erzählt, dass sie mir gerne unterstellen, homosexuell zu sein. Noch denken sie es nicht von dir. Lass es nicht drauf ankommen.“ Er holte einmal tief Luft und ließ mir keine Zeit darüber nachzudenken, was er mit dem letzten Satz gemeint haben könnte. „Nicht nur sie“, fuhr er fort. „Ein paar dumme Witze, Andeutungen, so was kann jeder Vertragen. Sie meinen es ja nicht wirklich böse. Aber gib den Leuten keinen Grund, etwas von dir zu denken, was sie nicht wissen sollten… Es gibt Dinge, die besser im Verborgenen bleiben. Es bleibt oft nicht bei den dummen Sprüchen. Und ehe du dich versiehst, kannst du dir nur noch wünschen, gewisse Dinge niemals an die Öffentlichkeit gebracht zu haben.“ Shinya drehte sich auf die Seite und stützte den Kopf mit der Hand auf. Ich erwiderte nichts darauf und konnte mir auch keinen wirklichen Reim darauf machen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Gehirn hatte sowieso längst ausgesetzt. „Ich will nicht, dass du meinetwegen noch Probleme bekommst. Ich… ich mag dich wirklich sehr“, sagte Shinya leise. Er streckte die Hand aus und berührte meine Schulter. „Man…“, während er sprach, glitt seine Hand langsam abwärts zu meinem Hals, „…könnte fast sagen…“, er unterbrach sich und lächelte. Ohne es wirklich zu bemerken waren wir immer näher aneinander gerutscht und nun trennten uns nur noch wenige Zentimeter. Seine Finger streichelten langsam über meinen Hals und plötzlich beugte er sich vor und küsste mich ganz sanft auf die Lippen, sah mich wieder an und lächelte immer noch. „…ich sei in dich verliebt“, beendete er endlich seinen Satz. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)