Strangers von NaokoSato ================================================================================ Kapitel 5: Vergangenheit ------------------------ Hallo! Also erstmal das Übliche: Alle meine. Ähnlichkeiten mit Lebenden, Toten, Orten und sonstigen Begebenheiten sind rein zufällig und keineswegs beabsichtigt. Das wäre das, und viel Spaß beim Lesen. Eure Naoko Vergangenheit Dominik Victor war schon merkwürdig. Erst am Tag zuvor hatte er so erleichtert gewirkt als ich ihm sagte, ich hätte noch etwas vor und würde nicht mit ihm nach Hause kommen. Und jetzt? Jetzt lag er da in seinem Krankenbett und wollte mir von sich aus etwas über sich erzählen, auch noch mit einem Gesichtsausdruck der mir bei ihm neu war. Es wirkte ziemlich fremd, so sanft wie er mich anschaute, irgendwie schien er froh zu sein. Worüber, weiß ich nicht. Unter anderen Umständen wäre ich vermutlich vor Freude an die Decke gesprungen, doch in diesem Moment konnte ich mich nur wundern. Ich schloss die Tür und setzte mich. Er sollte von sich aus anfangen, wenn er wollte, wenn er bereit war. „Was denkst du über mich?“ Fragte er dann plötzlich. „Ich… ähm… was… ich meine, ich…“, stotterte ich und brach schließlich ab. Keine richtige Antwort, aber was hätte ich auf eine solche Frage antworten sollen? „Schon gut.“ Er lächelte, und diesmal war es ein ehrlicheres, menschlicheres Lächeln als ich es je zuvor bei ihm gesehen habe. Ich verstand die Welt nicht mehr. „Das war eine saublöde Frage, du musst sie nicht beantworten. Es gibt Menschen, die würden mich hassen, wenn ich ihnen das erzähle, aus den banalsten Gründen. Ich weiß, dass du mich nicht hasst, sonst wärst du nicht hier. Und ich hoffe, du wirst mich nicht hassen. Wenn du jetzt vor hast mir das zu versprechen, lass es. Das hat viel mit Gefühlen zu tun, und die halten sich nun mal nicht an Versprechen.“ Ich nickte nur und versprach ihm nichts, aber innerlich wusste ich, ich könnte ihn nie hassen. Das war einfach so. Er holte noch einmal tief Luft. „Also, vor drei Jahren hatten meine Eltern einen hervorragenden Plan. Sie wollten den Urlaub mit ihrem Sohn verbringen. Zusammen mit einem damaligen Kollegen meines Vaters mieteten sie ein Ferienhaus an der Côte d’Azur. Warum sie das gemacht haben, weiß ich nicht, auch nicht wer auf diese Idee kam. Aber im Nachhinein, besonders heute, wüsste ich gern, wer derjenige war, dann würde ich ihm nämlich eine reinhauen. Der Kollege war übrigens Axels Vater. Nun, es kam wie es kommen musste. Meine Eltern verbrachten den Urlaub doch lieber mit ihren Jetset-Freunden als mit ihrem Sohn, und Axels Eltern nahmen sie gleich mit. Auf die Art waren wir die meiste Zeit zu zweit in diesem riesigen Ferienhaus, aber das störte nicht. Wir sprachen nicht einmal miteinander. Wenn unsere Eltern dann doch mal da waren, taten wir so, als verstünden wir uns. Dass es nicht so war, haben die nie mitbekommen. Sonst gingen wir unsere eigenen Wege. Axel hing den ganzen Tag am Strand rum und versuchte Mädchen aufzureißen, mit leidlichem Erfolg. Ich setzte mich meist in irgendein Café und las oder beobachtete die ganzen versnobten und weniger versnobten Leute, die durch den Ort schlurften. Am dritten oder vierten Tag lernte ich jemanden kennen. Chris. Er war Engländer und jobbte in einem der Cafés um sein Französisch zu verbessern, er wollte in Paris studieren. Und naja, wir hatten etwas miteinander. Und zwei Wochen lang lief alles gut. Da unsere Eltern nicht da waren, konnten wir ja tun und lassen, was wir wollten. Meist hielten wir uns im Ferienhaus auf, wenn Chris frei hatte. Natürlich bekam Axel davon Wind, aber was sollte er schon tun? Blöde Sprüche ließ er los, aber mehr machte er nie. Wir ignorierten ihn einfach, dachten er wäre einfach nur frustriert, weil er keinen Erfolg bei den Mädchen hatte. Die schienen da einen gewissen Anspruch zu haben, und den erfüllte er bei weitem nicht, zumal er keine goldene American Express oder so hatte mit der herumwedeln konnte. An unserem letzten Abend musste Chris arbeiten und da unser Flug ziemlich früh ging würden wir uns nicht noch einmal sehen können, also verabschiedeten wir uns schon am Nachmittag von einander. Das ganze war nie etwas wirklich Ernstes gewesen, das stand von vornherein fest, also tat es auch nicht sonderlich weh. Am Flughafen aber sah dann ich am Kiosk in einer Regionalzeitung eine kleine Meldung. Ein junger Mann sei am Abend im dem Ort, in dem wir gewesen waren, krankenhausreif geschlagen wurden. Die Polizei wusste nicht wer es war, auch fehlte ihnen ein Motiv, sein Geld war noch da, nur kein Ausweis. Gerade als ich mit der Meldung fertig war, tauchte Axel neben mir auf und zischte, so leise, dass nur ich es hören konnte: ‚Dich mach ich auch noch fertig, Schwuchtel.’ Jetzt wusste ich, wer der junge Mann war, und wer der Täter. Aber wer hätte mir geglaubt? Axel ist ziemlich gut darin den Unschuldigen zu spielen und er verstand sich sowohl mit seinen wie auch mit meinen Eltern, ein klarer Vorteil. Etwas später folgte ich ihm auf die Toilette. ‚Was denn, was denn? Willst du deine Abreibung schon jetzt?’, fragte er mit seinem blöden Grinsen. Ich sagte nichts dazu und wartete bis er sich die Hände gewaschen hatte, dann stellte ich mich vor ihn, rammte ihm mein Knie in die Weichteile und sagte: ‚Sollten wir uns noch einmal begegnen, werde ich dich kastrieren.’ Ruhig und irgendwie beruhigt ließ ich ihn da zurück. Fünf Minuten später kam auch er wieder und tat so als wäre nichts passiert. Unsere Eltern wissen bis heute nichts davon.“ Er sah mich das erste Mal seit er angefangen hatte zu erzählen direkt an. „So, jetzt weißt du, warum ich hier liege. Natürlich spielt die Tatsache, dass Axel ein homophober Volltrottel ist, eine nicht zu unterschätzende Rolle.“ „Wieso hast du es nicht deinen Eltern erzählt?“ Ich fragte einfach das erstbeste, was mir durch den Kopf ging, um irgendetwas zu sagen. Victor lachte leise auf. Es war ein bitteres Lachen. „Weil sie sich auf Axels Seit gestellt hätten und das alles ihre schlimmsten Befürchtungen wahr gemacht hätte, ein Sohn, der nicht so tickt wie sie. Alles, was von der Norm abweicht, hassen sie. Und ich funktioniere sowieso schon nicht richtig in ihren Augen, heute noch weniger als damals, aber damals dachten sie, bei mir wäre noch etwas zu retten.“ „Hasst du sie?“ Diese eine Frage hatte ich schon so lange stellen wollen, aber nie den richtigen Moment gefunden. „Nein. Wahrscheinlich sollte ich, es wäre nur verständlich. Aber ich kann es nicht, ich kann sie nicht hassen. Das verstehe ich selbst nicht, aber es ist so. Dennoch, je weniger ich mit ihnen zutun habe umso besser.“ Es setzte eine Stille ein, die weder angenehm noch peinlich war, sie schien einfach nur richtig. Wie lange wir schwiegen, weiß ich nicht. Aber als die Schwester das Abendessen brachte, war es, als durchbreche sie die unsichtbare Mauer, die uns hatte schweigen lassen. Bevor sie das Zimmer verließ, bat sie mich noch darauf zu achten, dass Victor etwas aß. Dieser sah ihr nur zweifelnd hinterher, dann noch zweifelnder auf das Essen. „Hilfst du mir?“, fragte er schließlich. „Warum lässt du es nicht einfach liegen?“ Das Zeug sah ungenießbar aus und ich konnte ihn verstehen. „Weil ich den ganzen Tag schon nichts gegessen habe, und glaube, dass die hier erst dann richtig fies werden, wenn man nicht isst.“ Er sah mich bittend an. „Na gut, aber nur ausnahmsweise.“ Während wir das Zeug aßen, oder besser runterwürgten, führten wir wahrscheinlich die banalste Unterhaltung, die es zu führen gab. Bis zum Ende der Besuchszeit sprachen wir übers Essen und unsere schlimmsten Erfahrungen damit. Und selbst Victor lachte, ohne dass es deplatziert oder gar unwirklich klang. Es schien ihm gut zu gehen. Ich schätze, mit dieser Unterhaltung haben wir unbewusst versucht, dem Nachmittag etwas von seiner Last zu nehmen, die er durch Victors Geschichte auf sich geladen hatte. Kurz bevor ich ging, gab ich ihm das Versprechen, niemandem davon zu erzählen, weder meinen Eltern noch sonst jemandem. Er wolle keine Probleme, auch nicht mit der Polizei, sondern einfach nur seine Ruhe. Natürlich fragten meine Eltern mich noch am selben Abend aus, schließlich war ich ziemlich lange bei Victor gewesen und sie dachten er hätte mir etwas erzählt. Nachdem ich ihnen dann zum zwanzigsten Mal versichert hatte, dass dem nicht so war, nervten sie dennoch weiter, also ging ich. Worum sich meine Gedanken in dieser Nacht und am nächsten Tag drehten, kann ich nicht einmal mehr sagen. Ich war einfach nur verwirrt, so viel steht fest. Ich war froh darüber, dass er es mir erzählt hatte, aber gleichzeitig ließ mich das an diesem Nachmittag Gesagte nicht los. Ein wirklich merkwürdiges Gefühl, als ob man beim Tauziehen das Seil ist. Wahrscheinlich dachte er, ich könne ihn nicht sehen, wie er da am Fenster saß und in den Garten sah. Seit er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, schlich er sich jeden Tag in mein Zimmer sobald ich es verlassen hatte, setzte sich ans Fenster und beobachtete mich. Ich hatte mich der Aufgabe verschrieben, den Rasen vom Laub zu befreien, und da jeden Tag neues fiel, hatte ich auch immer etwas zu tun. Eigentlich war es sinnlos, aber ich hielt es im Haus nicht aus. Meine Mutter fragte ständig nach Victor und er selbst schien mir noch abwesender als sonst. Auf Drängen meiner Eltern hatte er Anzeige erstattet, gegen Unbekannt. Keiner von uns hatte gesagt, wer es war, und die Polizei selbst meinte, die Chance, das Ganze aufzuklären sei gering. Alles lief also wie geplant, niemand sollte etwas erfahren und niemand würde es erfahren. Mittlerweile war eine Woche seit dem Überfall vergangen und meine Mutter hätte Victor am liebsten in Watte gepackt, damit ihm auch ja nicht noch mehr passiert. Das wiederum bedeutet: Familienintergration erfolgreich abgeschlossen. Sie tat ihr möglichstes, uns das Leben so angenehm wie es nur ging zu gestalten, fast schon zu angenehm. Mich wollte sie ständig davon abhalten, auch nur einen Finger zu rühren, und das obwohl sie mir zuvor ständig vorgehalten hatte, ich würde ihr im Haushalt zu wenig helfen. Victor hätte sie am liebsten ans Bett gefesselt, wäre er nicht immer schon rechtzeitig geflüchtet. Abends fiel ich eigentlich immer todmüde ins Bett. Laub konnte doch störrischer sein, als ich es für möglich gehalten hätte. Aber an diesem Tag wollten meine Eltern etwas Zeit mit mir verbringen und überredeten mich dazu, mir das Fernsehprogramm anzutun. Aber selbst die sinnloseste Sendung konnte mich nicht davon abhalten, fast im Sessel einzuschlafen. Mein Vater erkannte das Scheitern ihrer Unternehmung und schickte mich dann doch ins Bett. Ich schlief so schnell ein, dass ich nicht einmal mehr meine Nachttischlampe ausmachen konnte. Es klopfte und ich wachte auf. Langsam öffnete sich die Tür und da stand Victor, in Boxershorts und T-Shirt, die Bettdecke um die Schulter gewickelt wie Superman seinen Umhang. „Ich kann nicht schlafen.“ Er flüsterte fast. „Könnte ich vielleicht… vielleicht hier schlafen?“, fragte er schüchtern, fast wie ein Kind, dass gern einen Keks hätte und sich nicht wirklich traut zu fragen. „Ja“, murmelte ich und rückte etwas zur Seite. Mein Bett war gut und gerne groß genug für zwei, zumal meine Mutter sowieso ständig sagte, wir müssten mehr essen und wir seien doch nur Haut und Knochen. Und zurechnungsfähig war ich im Halbschlaf noch nie. „Danke.“ Er machte die Tür zu und legte sich neben mich. Schnell machte ich noch das Licht aus und war innerhalb weniger Sekunden wieder eingeschlafen. Ende Kapitel 5 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)