Strangers von NaokoSato ================================================================================ Kapitel 6: Vorfreude -------------------- Hallo! Also erstmal das Übliche: Alle meine. Ähnlichkeiten mit Lebenden, Toten, Orten und sonstigen Begebenheiten sind rein zufällig und keineswegs beabsichtigt. Das wäre das, und viel Spaß beim Lesen. Eure Naoko Vorfreude Victor Als ich aufwachte brauchte ich einige Augenblicke, um zu realisieren, wo ich war. Dominik lag quer im Bett, benutzte meine Schulter als Kopfkissen und hatte einen Arm über meine Brust gelegt. Seine Decke hing halb vom Bett runter. Vorsichtig schob ich ihn auf ein anderes, bequemeres Kissen, deckte ihn wieder zu und schlich mich aus dem Zimmer. In dieser Nacht hatte ich das erste Mal, seit ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, durchgeschlafen. Es war noch ziemlich früh und außer mir kein Mensch wach. Das gesamte Haus schien zu schlafen, die ganze Welt. Zu solchen Zeiten, wenn alles still ist, versuche ich immer, so leise wie möglich zu sein, wohl um die Ruhe nicht zu vertreiben. Immer und immer wieder fragte ich mich, warum ich in der vergangenen Nacht zu dem Kleinen gegangen war. Warum hatte ich das Gefühl gehabt, bei ihm Ruhe zu finden? Warum gerade bei ihm, der mich in den letzten Monaten fast ununterbrochen genervt hat, um mir dann in den letzten Tagen aus dem Weg zu gehen? Ich fand keine Antwort. Ich sah ihm allerdings an, dass er mich nicht hasste, wenn er überhaupt seine Meinung über mich geändert hatte. Vielleicht hatte er mehr Probleme, meine Vergangenheit zu bewältigen als ich. Im Krankenhaus, als ich abends dann allein dalag, hatte ich mich fast schon darauf gefreut, dass er mich wieder nerven würde, wenn ich zu Hause war. Eine leicht masochistische Ader hatte ich schon immer. Im Nachhinein fragte ich mich allerdings, ob das wirklich der Grund war, oder ob nicht doch etwas mehr hinter diesem merkwürdigen Wunsch, dieser unerklärlichen Vorfreude steckte. Und als er mich dann mied, hatte ich schon Angst, ihn irgendwie verkrault zu haben, aber an diesem Abend stellte ich erleichtert fest, dass dem nicht so war. Während der Ferien blieb Dominik immer noch etwas auf Distanz, auch wenn diese ständig kleiner wurde. Seinen Kampf gegen das Laub gab er auch irgendwann auf, nachdem ein Herbststurm alle Arbeit zunichte gemacht hatte. Als dann die Schule wieder lief, ‚normalisierte’ sich alles wieder irgendwie. Frau Schäfer ließ langsam davon ab, mich wie ein rohes Ei zu behandeln, und Dominik quasselte bald wieder fast ununterbrochen. Wenn ich ihn in der Schule sah, grinste Axel wie ein Breitmaulfrosch. Wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass der IQ eines Breitmaulfrosches wesentlich höher ist als Axels. Ich ignorierte ihn. Eines allerdings war nicht wirklich normal, wenn es so etwas wie ‚normal’ überhaupt gibt. Jedes Mal, wenn ich nicht schlafen konnte, schlich ich mich zu Dominik ins Zimmer, setzte mich auf einen Sessel, der in der Ecke stand und lauschte. Wahrscheinlich zog mich etwas in meinem Unterbewusstsein dahin, aber was es genau war, konnte ich nicht herausfinden. Irgendwie beruhigte es mich, einen anderen atmen zu hören. Es gab mir merkwürdigerweise das Gefühl am Leben zu sein. Manchmal schlief ich in diesem Sessel ein, um am nächsten Morgen unter einer Decke aufzuwachen und festzustellen, dass der Kleine schon wach war. Einige Male lag ich auch unter der Decke und er schlief noch, beziehungsweise wieder. Dann schlich ich mich leise in mein eigenes Zimmer. War er allerdings wach, wünschte er mir jedes Mal einen guten Morgen, genauso wie er es sonst tat, wenn wir uns vorm Bad trafen oder beim Frühstück. Es schien fast, als hätten wir stillschweigend eine Vereinbarung getroffen, dass alles zwischen uns in Ordnung ist. Wann, kann ich nicht genau sagen, vielleicht im Krankenhaus, vielleicht später. Ich hatte aber nichts dagegen und war sogar froh darüber. Wenige Wochen zuvor hätte ich mich noch selbst geohrfeigt bei diesem Gedanken, aber ich freute mich regelrecht darüber, dass wir miteinander auskamen, auch wenn ich das nicht ganz verstand. Sein Gequassel raubte mir nicht mehr den letzten Nerv und seine gute Laune ließ mir keine kalten Schauer mehr über den Rücken laufen. Da soll doch mal einer behaupten, man könne sich nicht an alles gewöhnen. Noch Anfang Dezember, mehr als einen anderthalben Monat nach Klein-Axels Ausraster, hätte Frau Schäfer uns am liebsten nicht allein aus dem Haus gelassen. Und sollte dann doch mal einer von uns beiden alleine von der Schule oder sonst woher kommen, wäre sie jedes Mal fast vor Sorge gestorben bis alle wieder gesund zu Hause waren. Eines Tages Mitte Dezember kam ich alleine nach Hause, da bei mir ein Kurs ausgefallen war. Ich hatte keine Hausaufgaben und wollte mich eigentlich mal einen Nachmittag vom Fernsehprogramm berieseln lassen, einfach mal das Gehirn abschalten. Aber ich hatte meine Rechnung ohne Frau Schäfer gemacht. Bevor ich mich wehren konnte, musste ich mit einem Karton Weihnachtsdekoration in der Hand ihren Anweisungen folgen. Das Positive daran: Sie sprach mehr über die Deko als über die Sorgen, die sie sich um Dominik machte. Das Negative: Es war Weihnachtsdekoration. Schon in den vergangenen Wochen war ich jedes Mal fast ausgeflippt, wenn ich in einem Schaufenster eine blinkende Lichterkette gesehen hatte. Und nun durfte ich in jedem Fenster Lichterbögen aufstellen, Keramikweihnachtsmänner auspacken und die Christbaumkugeln auf Vollständigkeit überprüfen. Aber ich tat es ohne zu murren. Wahrscheinlich, weil ich mich schuldig fühlte. Sie hatte sich solche Sorgen um mich gemacht und ich verschwieg ihr, was hinter dem Überfall wirklich steckte. Meine eigenen Eltern hatten genau einmal angerufen um mir ziemlich deutlich zu verstehen zu geben, dass ich ja sowieso an allem selbst schuld sei. Irgendwas hatte ich bestimmt wieder falsch gemacht. Diesen Anruf hatte ich einfach hingenommen, da ich nichts anderes erwartet hatte, außer vielleicht, dass sie sich gar nicht meldeten. Zum Geburtstag hatte ich schließlich auch nur eine einfache Karte bekommen, in der Geld lag, sie hatten allerdings sogar selbst unterschrieben. Und so war dieser Anruf zu erwarten gewesen. Der Inhalt ebenfalls. Immerhin war ich der verkorkste Sohn perfekter Eltern. So dachten sie, und nichts und niemand hätte sie von dieser Meinung abbringen können. Jetzt stand ich da, eine ewig lange Lichterkette in der Hand und die Aufgabe, sie um einen Tannenbaum im Vorgarten zu wickeln. Es war eiskalt, ich fror mir fast die Finger ab, meine Nase fühlte sich schon seit einer Weile wie Tiefkühlgemüse an und ich bekam diese blöde Kette nicht um den verdammten Baum. Auch wenn mich Weihnachten kalt ließ, störte es mich, das nicht hinzubekommen. „Du siehst nicht besonders glücklich aus.“ Der Kleine hatte mich so erschreckt, dass ich doch glatt einen Teil der Kette wieder vom Baum riss, obwohl es gerade ganz gut gelaufen war. „Herzlichen Dank auch! Willst du das nicht lieber machen?“ Wütend drückte ich ihm die Kette in die Hand und sah zu, wie er das Teil er innerhalb von fünf Minuten perfekt platzierte. „Heute ist der 14., das hatte ich doch glatt vergessen“, meinte er lächelnd als er fertig war. „Wie meinst du das?“ „Jedes Jahr am 14. Dezember holt meine Mutter die Weihnachtsdekoration raus. Warum gerade an diesem Tag, weiß ich nicht, aber sie lässt andere Terminvorschläge nicht zu. Es muss der 14. sein, auch wenn es einigen zu spät erscheinen mag. Normalerweise muss ich ihr immer helfen, aber dieses Jahr scheint sie ja dich eingespannt zu haben. Und wenn der Baum dran ist, war es eigentlich auch schon. Oder hat sie irgendwas von Gestecken gesagt?“ Mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen sah er mich an. „Gestecke? Nein, nicht dass ich wüsste.“ Erleichtert atmete Dominik auf. „Sehr gut.“ „Wenn ihr beiden da draußen fertig seid, kommt rein. Ihr wollt doch nicht festfrieren, oder?“ Frau Schäfer hatte den Kopf nur kurz aus dem Fenster gesteckt und ihn schon wieder zurückgezogen. War ja klar, erst wird man in die Kälte geschickt und dann soll man nicht auch noch erfrieren. Wie ich so was liebe. Dass ich Weihnachten nicht mit meinen Eltern verbringen würde, war schon klar im Vornherein klar. Auch dass ich stattdessen bei den Schäfers bleiben würde. Aber wo wir Weihnachten verbringen würde, wurde uns erst an diesem Abend mitgeteilt. Ein Ferienhaus in Dänemark. Wie schön. Herr Schäfer erzählte, er habe ein Haus direkt an der Ostsee gemietet, irgendwo in der Nähe von Kopenhagen. Mir war das so ziemlich egal, und Dominik gefiel die Idee sogar, also war die Sache klar: Zwei Wochen Ostsee mitten im Winter. Zwei Tage vor Weihnachten fuhren wir dann mit dem Familienkombi nach Dänemark. Da alle Flüge ausgebucht waren, saßen wir stundenlang in Feiertagsstaus fest, und waren dementsprechend froh, als wir endlich ankamen. Weniger froh war ich allerdings, als ich sah, dass das gesamte Haus in Weihnachtsdeko unterzugehen schien. Ich wünschte mir ernsthaft, ich hätte ein Zelt, das ich am Strand aufbauen könnte um darin zu bleiben. Mit einem warmen Schlafsack sollte das eigentlich möglich sein, noch etwas Holz für ein kleines Lagerfeuer vielleicht. Noch vor dem Auspacken sammelte ich den Dekokram in meinem Zimmer ein und verstaute das ganze Zeug im Kleiderschrank. Nur den Lichterbogen im Fenster ließ ich stehen, aber es wäre aufgefallen, da der von draußen sichtbar war. Auf diese Weise ließ es sich eigentlich aushalten. Bis Heilig Abend. Schon als ich aufwachte, hing ein penetranter Plätzchengeruch im ganzen Haus und Herr Schäfer hievte gerade einen Weihnachtsbaum vom Autodach. Ich hatte schon gehofft, der zu Hause im Wohnzimmer reichte völlig aus. Wie töricht. Aber nach dem Abendessen wurde es erst richtig lächerlich. Wir sollten singen. Und diesmal schien selbst Dominik ganz und gar nicht einverstanden, er protestierte sogar. Leider blieb der Protest ohne Erfolg. Das war der Zeitpunkt, an dem ich es nicht mehr aushielt. Ich entschuldigte mich, ich müsse mal kurz ins Bad. Im Flur nahm ich allerdings meinen Mantel vom Hacken und schloss die Haustür so leise wie möglich, von außen. Die kalte Luft war wie tausend Stiche im Gesicht, und ich liebte dieses Gefühl. Ich lief los in Richtung Strand, in der Hoffnung, dass mich keiner vom Fenster aus sah. Unwillkürlich wurde ich immer schneller, bis ich so schnell rannte, wie ich konnte. Durch die Dünen, den Strand entlang, immer weiter. Bis eine Hand meinen Arm festhielt und mich dazu zwang, anzuhalten und mich umzudrehen. Ehrlich gesagt, hätte ich bis dahin nicht gedacht, dass Dominik so schnell war. Ende Kapitel 6 Hoffe es gefiel ^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)