Leave this world behind von Bina-chan86 ================================================================================ Prolog: Ein Licht in dunkler Nacht ---------------------------------- Nebel legte sich über einen fast vergessenen Weg und beeinträchtigte die Sicht, doch mit Mühe konnte man noch die alte Burg erkennen, die etwas höher gelegen thronte. Das heißt jemand, der sich in Nähe gewagt hätte, könnte sie sehen. Aber bereits seit vielen Jahren wagte sich kein Bewohner des angrenzenden Tals mehr in diese Gegend... Camus stieß gegen einen der Fensterläden, welcher knarrend aufsprang. Nachdenklich schaute der Mann hinaus in die Welt, der er den Rücken zugekehrt hatte. Etwas wehmütig entzündete er die Petroleumlampe in seiner Hand. Seine Schritte hallten von den Wänden wider, als er den Gang entlang lief. „Ich könnte das wirkungsvoller machen“, meldete sich eine dunkle Stimme hinter ihm zu Wort. „Und dabei die Reste unsere Unterschlupfs verbrennen? Nein, danke. Ich mache das lieber selbst. Hast du gehört, Alvaro?“ Camus warf seinem Gegenüber dabei einen strengen, fast drohenden Blick zu. „Schon gut, ich habe verstanden“, winkte Alvaro ab. Er lehnte sich gegen die Wand und spähte nach draußen. „Dennoch... du solltest nicht darauf vertrauen, dass sich die Leute noch lange von solch billigen Tricks abschrecken lassen. Die Gerüchte über den Spuk werden in Vergessenheit geraten.“ „Die Furcht und der Aberglaube der Menschen sitzt tief“, entgegnete Camus gelassen, wobei er das Licht hin- und herschwenkte. „Dies sind dunkle Zeiten, mein Freund! Keiner traut dem anderen mehr.“ „Keiner?“ Spöttisch zog Alvaro die rechte Augenbraue hoch. „Du traust uns, oder irre ich mich da?“ Camus blickte wehmütig auf. „Ich traue euch, allerdings sehe ich mich schon lange nicht mehr als Teil dieser Welt an.“ „Wir sind alle Teil dieser Welt!“, beharrte Alvaro. „Ob uns das nun gefällt oder nicht.“ Kurzerhand nahm er dem Alten die Lampe ab und hielt sie zum Fenster hinaus. Für einen Moment lang geschah gar nichts, doch dann trennte sich das Feuer von seinem Ursprungsort und flog in die Nacht hinaus, wirkte wie ein Irrlicht, als es verschwand. Camus stützte sich mit beiden Händen auf der Fensterbank ab und der Wind strich durch sein ergrautes Haar. „Die Kleine wird nicht auf das Zeichen reagieren“, sagte er schmunzelnd. Alvaro blinzelte, errötete und sah dann schnell weg. „Das weiß ich selbst!“ „Und dennoch versuchst du es immer wieder“, lachte Camus. „Carelia ist, wie eine umher streunende Katze. Sie wird schon wiederkommen.“ „Ja, fragt sich bloß wann“, brummte Alvaro verdrossen. Kapitel 1: Der Wegweiser ------------------------ Im Gegensatz zu ihren Gefährten verließ Carelia die alte Burg oft, um zu irgendwelchen Streifzügen aufzubrechen. Sie war misstrauisch, hegte allerdings keinen Hass gegen die Menschen im Allgemeinen. Für die meisten empfand sie viel eher Mitleid, da sie vor so vielem die Augen verschlossen. Ihre eigene Neugierde trieb die junge, braunhaarige Frau selbst immer weiter voran und ohne die Treue, die sie mit Camus und Alvaro verband, wäre sie wohl schon längst aus den Tal verschwunden, das sich hier trügerisch friedlich zwischen die Berge schmiegte. Doch friedlich wirkt es nur, dachte Carelia seufzend, als sie sich einen Felsvorsprung hinabgleiten ließ. Hier gab es genau dieselben Missstände, wie überall: Armut und Verrat. Jeder lebte ohne Rücksicht auf andere Lebewesen. Unsicher trat Carelia von einem Bein aufs andere, als sie die Stimmen vernahm, die von dem nahe gelegenen Dorf zu ihr hinauf schallten. Zum Umkehren war es bereits viel zu spät, also blieb ihr nur die Flucht nach vorn. Egal, wie oft sie diesen Weg auch ging, er wurde niemals leichter. Sie hatte ebenso viele Enttäuschungen hinter sich, wie Camus und Alvaro, trotzdem ließ etwas tief in ihrem Herzen sie nicht die Hoffnung verlieren. Niemand unter den Anwohnern schenkte Carelia große Beachtung, während sie das Dorf durchquerte, in dem es bereits Abend geworden war. Nach kurzem Überlegen zog sie sich in eines der wenigen Gasthäuser zurück, setzte sich dort in eine stille Ecke, von wo aus sie das geschäftige Treiben verfolgen konnte. Inmitten des Raumes stand ein großer Mann mit langem Bart und erzählte eine Geschichte von seinen angeblichen Heldentaten. Carelia lächelte belustigt, als sie feststellte, dass sich schon viele Männer zuvor mit dieser Geschichte gebrüstet hatten. Der Mann schien Augen und Ohren, wie ein Luchs zu haben, denn er fixierte Carelia mit seinem Blick. „Erheitert Euch das, was ich zu berichten habe so sehr?“ „In der Tat!“, gab Carelia unbeeindruckt zurück. „Es ist immer wider schön eine neue Fassung dieser alten Geschichte zu hören.“ Camus hatte ihr schon früh Sagen vorgelesen, sodass es nun ein Leichtes war diesen Betrüger zu entlarven. Der Mann trat an ihren Tisch und schaute wütend hinab. „Nennt Ihr mich einen Lügner!“ „Ich nenne Euch einen Plagiator“, sagte Carelia und wollte die vorrübergehende Verwirrung ihres Gegenübers nutzen um das Weite zu suchen. Sie ahnte schon, dass mit diesem aggressivem Exemplar der menschlichen Spezies nicht zu spaßen war. Zu ihrem Pech fing er sich schnell wieder. „Bleib hier!“ „Bedaure! Meine Zeit ist knapp bemessen, mein Herr.“ Carelia verbeugte sich. „Aber, wenn Ihr Euch das nächste mal mit fremden Federn schmückt, werde ich da sein, um Euch zu durchschauen.“ Sie verpasste dem Tisch einen kräftigen Tritt, damit dieser umkippte. Der Mann taumelte erschrocken ein paar Schritte zurück, was ihr die Gelegenheit bot durch die Hintertür zu verschwinden. Carelia knallte die Tür hinter sich zu und blickte hastig nach links und rechts. Als sie bereits Schritte hinter sich hören konnte, lief sie in einen Stall. Durch ein Loch im Holz konnte sie erkennen, dass der Mann und einige seiner Kumpane ihre Verfolgung aufgenommen hatten. Sie nehmen den falschen Weg, stellte sie mit Erleichterung fest. Just in dem Moment, in dem Carelia sich umdrehte, drückte ihr jemand eine Hand aufs Gesicht und verhinderte Schreie ihrerseits. Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, dass sie unmöglich einem Menschen gegenüberstehen konnte, denn sie spürte Fell. Als sich ihre Augen an die vorherrschende Dunkelheit gewöhnten, erwartete sie eine Überraschung. Vor ihr hockte ein Katzenmensch, ein Wesen, welches sie nur aus Büchern kannte. Zitternd und mit schreckensweiten Augen sah er sie an, schüttelte dabei den Kopf. Ich bin also nicht die Einzige, die hier vor irgendetwas auf der Flucht ist, kam es ihr in den Sinn. Es kam Carelia wie eine Ewigkeit vor, dass sie sich gegenseitig so anstarrten. Endlich hob sie langsam ihre Hand und legte sie auf das Handgelenk des Katzenmenschs, drückte es leicht nach unten, um wieder sprechen zu können. „Ich tue dir nichts!“ Der Angesprochene machte einen abrupten Satz nach hinten und zog sich ängstlich ans andere Ende des Stalls zurück. Seufzend setzte sich Carelia auf den Boden und musterte ihn. Der Katzenmensch hatte hellbraunes Fell und dunkelbraune Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht. Seine Augenfarbe konnte Carelia bei dem schummrigen Licht nicht feststellen. Sie wurde unsanft aus ihren Gedanken gerissen, als jemand das Scheunentor aufriss. Eilig sprang sie auf und erkannte mit Schrecken den Mann, den sie soeben im Gasthaus beleidigt hatte. Einen weiteren Fluchtweg gab es nicht, also griff sie ohne groß darüber nachzudenken nach einer Forke und stieß sie ihrem Gegner in die Rippen. Keuchend ging dieser zu Boden, wodurch sie zwischen ihm und seinen Freunden hindurchschlüpfen konnte. Nachdem sie bereits um einer Ecke gerannt war, ließ eine Erkenntnis sie unvermittelt stehen bleiben: Der Katzenmensch. Sie konnte Camus’ Worte fast hören: „Lasse niemals jemand anderen durch deine Fehler leiden!“ „Verdammt!“, fluchte Carelia und lief zurück zum Ort des Geschehens, wo sich ihre Befürchtung leider bestätigte. Die kleine Gruppe hatte den Katzenmenschen tatsächlich entdeckt und ganz offensichtlich war er interessant genug, um sie vorläufig von Carelia abzulenken. Unbemerkt konnte die Braunhaarige zwischen eine Häusernische huschen. Die Männer hatten den Katzenmenschen derweil grob vor das Gebäude, ins Licht einer Laterne gezogen. „Was haben wir denn da?“, murmelte ihr Anführer, die Mundwinkel zu einem sadistischen Grinsen erhoben. „So was, wie dich habe ich noch nie gesehen.“ „Wirst du auch nie wieder!“, rief eine Stimme von weiter oben und schon zerbrach ein Dachziegel auf dem kahlen Schädel des Mannes. Carelia war auf das Dach geklettert, hatte von dort aus die Unruhestifter angegriffen. Geschickt sprang sie von dem Dach und zog den Katzenmenschen auf die Beine. „Wir müssen hier weg!“, drängte sie und musste das zutiefst verängstigte Wesen hinter sich herziehen, um nicht erwischt zu werden. Nach Luft schnappend stützte sich Carelia gegen einen Baum. „Das ist heute wirklich nicht mein Tag...“, keuchte sie. Sie wusste, dass Alvaro mit Sicherheit wütend sein würde, wenn er von ihrem Leichtsinn erfuhr. Langsam drehte sie sich um. „Es tut mit leid“, sagte sie an den Katzenmenschen gewandt, der einige Schritt von ihr entfernt im Gras saß und sie verwirrt ansah. „Ich hätte mich nicht mit diesen Männern angelegt, wenn ich gewusst hätte, dass ich damit jemanden in Schwierigkeiten bringe“, fuhr sie fort. „Aber so, wie es aussah, stecktest du auch in Schwierigkeiten.“ Wieder keine Antwort. Der Katzenmensch stieß lediglich ein leises Wimmern aus. „Ich bin Carelia“, stellte sich die Braunhaarige vor, in der Absicht mit etwas Unverfänglicherem anzufangen. „Re... Remi“ Das Wort war fast zu leise, um es zu verstehen - aber nur fast. Die Stimme zitterte leicht, klang aber ansonsten angenehm. Nachdenklich musterte Carelia ihn. Sie hatte keine Ahnung, was sie als nächstes tun sollte, denn die übereilte Flucht hatte ihr nicht die geringste Zeit zum Nachdenken gegeben. Ohnehin machte sie sich über ihr Handeln oftmals erst später Gedanken. Remi wich unbehaglich zurück. „Starr mich nicht so an.“ Das hörte sich schon weit weniger ängstlich an, wie zuvor. „Hm...“ Carelia schreckte blinzelnd aus ihren Gedanken hoch und wandte dann den Blick ab. „Entschuldige bitte.“ Die Neugier hatte sie ganz offensichtlich ihre Manieren vergessen lassen. Sie erinnerte sich daran, dass sie Alvaro vor Jahren genauso vorwitzig beäugt hatte. Der Schwanz des Katzenmenschen peitschte nervös hin und her, während er Carelia keine Sekunde aus den Augen ließ. Er hockte in gebeugter Haltung ein paar Meter von ihr entfernt. „Nun...“, begann Carelia und zog eine Augenbraue hoch. „Du starrst mich aber genauso an.“ Remi zuckte zusammen und landete auf seinem Hinterteil. Diese Aussage überraschte ihn fast so sehr, wie Carelias leicht amüsierter Tonfall. Noch nie hatte sich ein Fremder ihm gegenüber zu so einer unbefangenen Aussage hinreißen lassen. Alle hatten mit Misstrauen oder Furcht reagiert und einige versuchten gar ihn gefangen zu nehmen. Und schon ist er wieder sprachlos, stellte Carelia kopfschüttelnd fest. Auch Remi machte sich seinerseits Gedanken über diese unerwartete Begegnung. Was war das nur für ein ungewöhnlicher Mensch. Als ein Knacken im Unterholz die Stille des Waldes durchbrach, stellten sich Remis Ohren auf und er lauschte erschrocken. „Sie kommen näher“, flüsterte er angsterfüllt. „Bei meinem Glück war es ja klar, dass sie uns verfolgen würden“, murrte Carelia und wandte sich dann erneut an Remi. „Komm mit!“ Von der Aufforderung vollkommen überrascht, brachte dieser seine nächsten Worte nur mühsam hervor. „Was... wieso?“ „Ich nehme ganz einfach mal an, dass du nicht aus dieser Gegend bist, weil es hier keine Katzenmenschen gibt“, erwiderte Carelia. „Diese Männer aber kennen das Gelände. Sie würden dich mit Sicherheit fangen. Was ich dir anbiete, ist ein Ort, an dem du vorerst Schutz findest.“ Sie sprach bedächtig, denn ihr war klar, dass eine falsche Entscheidung sie in Teufels Küche bringen konnte. Andererseits machte Remi auf sie keinen besonders gefährlichen Eindruck. Remi schüttelte verwirrt den Kopf und wich ein paar Schritte zurück. „Warum solltest du das tun? Es gibt keinen Grund, weshalb ich dir trauen sollte. Du würdest mich bestimmt genauso hereinlegen, wie alle anderen“, fauchte er. Carelia blickte gelassen drein, zuckte lediglich mit den Schultern. „Wenn dir die Gesellschaft dieser Männer lieber ist, gehe ich allein“ Und das tat sie auch. Remi rang mit sich selbst. „Warte!“, rief er plötzlich und hielt sie am Stoff ihres Mantels zurück. Er war so geschwind hinter Carelia gewesen, sodass sie nicht umhin kam von seiner Schnelligkeit beeindruckt zu sein. „Hm?“ „Ich komme mit dir“, sagte Remi, was ihn nicht gerade wenig Überwindung kostete. Natürlich, seine Furcht vor diesen Männern ist größer, als die vor mir, dachte Carelia. So schlugen sich die beiden gemeinsam durch das Geäst, dicht gefolgt von den aufgebrachten Männern. Carelia brauchte nicht lange, um festzustellen, dass Remi fast am Ende seiner Kräfte angelangt war. Seine flinken Bewegungen von zuvor, sprach sie reiner Willenskraft zu. Bei dem Tempo werden sie uns bald erwischen, schoss es der Braunhaarigen durch den Kopf. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als von dem gewohnten Pfaden abzuweichen, auch wenn dies bedeuten konnte, dass sie sich verliefen. „Wo willst du hin?“, wollte Remi wissen, nachdem er ihr misstrauisch eine Böschung hinunter nachgekommen war. „Wir müssen einen anderen Weg nehmen, sonst schnappen sie uns“, erwiderte Carelia, in der Hoffnung, er würde nicht merken, dass sie alles weitere improvisierte. Das Gestrüpp wurde dichter, umso weiter sie kamen. Nasses Herbstlaub bedeckte den Boden und man musste Acht geben, wohin man trat. Jeder unbedachte Schritt konnte zum jähen Ende der Flucht führen. Der Ast einer knorrigen, alten Eiche ließ seine Spuren auf Carelias Gesicht zurück. Missmutig betastete sie die Schramme. Es ist zu dunkel. Ich kann immer schlechter sehen, stellte sie mit wachsender Besorgnis fest. „Pass auf!“ Remi konnte sie gerade noch rechtzeitig Arm packen und somit verhindern, dass sie in eine Felsspalte stürzte. „Danke“, murmelte Carelia verlegen und ärgerte sich über ihre eigene Fahrlässigkeit. Remi ließ sie los. Er starrte noch immer auf seine Hand, als Carelia schon längst weitergegangen war. Warum hab ich das gemacht? Weil ich den Weg nicht kenne, fragte sich der Katzenmensch verwirrt. Er hatte dieser Frau nicht trauen wollen, also kam Hilfe doch gar nicht in Frage. Dessen ungeachtet, wäre ihm aber alles andere schäbig vorgekommen. „Du kennst den Weg nicht?“, erkundigte Remi sich nun laut, um die Gedanken zu verscheuchen. „Nicht genau“, gab Carelia zu. „Hier bin ich nie gewesen und durch die Wolken kann ich mich auch nicht anhand der Sterne orientieren.“ Beiläufig schaute Remi zum Himmel hinauf und blieb dann unvermittelt stehen. „Was... was ist das?“, keuchte er. Interessiert spähte Carelia in dieselbe Richtung. Über ihnen schwebte ein kleines Feuer inmitten des Nachthimmels. Nachdem sie erkannt hatte, wessen Werk sie dort vor sich sah, schlich sie ein leichtes Lächeln auf ihre Gesichtszüge. „Was gibt es da zu grinsen?“ Remis Stimme überschlug sich beinahe vor Angst. „Ist das ein Irrlicht?“ „Nein. Das ist mein Wegweiser.“ Kapitel 2: Die Zuflucht ----------------------- Alvaros grollende Stimme konnte man nahezu in der gesamten Burg hören. „Was ist bloß in dich gefahren? Denkst du denn niemals nach?“, herrschte er Carelia an. Strähnen seiner dunkelgrünen Haare fielen ihm ins Gesicht und immer wieder warf er sie ungeduldig zurück. Trotz dieser Strafpredigt war Carelia alles andere als kleinlaut. „Was hätte ich sonst tun sollen?“, fragte sie stur zurück. „Du musst dich nicht in alles einmischen. Wenn jemand herausfindet, dass wir hier leben ist alles aus. Das musst du doch begreifen?! Das ist unsere einzige Zuflucht.“ „Genau deswegen ja...“, sagte Carelia, plötzlich ganz leise. „Ich kann niemanden seinem Schicksal überlassen. Wir können das nicht.“ Darauf wusste Alvaro keine Antwort. Er ließ die Schultern hängen und musterte Carelia streng, die ihn aus traurigen, saphirblauen Augen ansah. „Ist ja gut!“, gab er sich schließlich geschlagen. „Aber hör auf mich mit diesem Hundeblick anzusehen!“ Carelia verkniff sich ein Schmunzeln. Sie wusste genau, dass auf Alvaro die Redensart „harte Schale, weicher Kern“ zutraf. Dabei hätte sie einen Dämon, wie ihn eigentlich fürchten müssen... Im Nebenraum hatte sich Remi unter einen Tisch geflüchtet. Der lautstarke Streit hatte ihn sosehr erschreckt, dass er nun zitternd unter dem Tischtuch hervorlinste. Sein Blick war starr auf die Tür gerichtet und als jemand die eisenbeschlagene Türklinke nach unten drückte, legte er argwöhnisch die Ohren an. Carelia runzelte die Stirn. „Was tust du da?“ „Dieser Mann... er ist gefährlich“, erwiderte Remi. „Alvaro?“ Darauf gab Remi keine Antwort, sondern fuhr mit Anschuldigungen fort. „Du hast etwas von Schutz gesagt und jetzt muss ich feststellen, dass er hier noch viel gefährlicher ist“, fauchte er erzürnt. „Ich glaube dir kein Wort mehr!“ Die Vorwürfe trafen Carelia, wie ein Schlag. „Alvaro tut niemandem etwas, also rede nicht schlecht von ihm“, verteidigte sie ihren Freund. „Ich rede, wie ich will!“, meinte Remi bockig. Wut überwog in diesem Moment die Angst. „Außerdem wäre ich ohne dich niemals in diesen Schlamassel geraten.“ Das kastanienbraune Haar verdeckte einen Teil von Carelias Gesicht, sodass man ihren Blick nicht erkennen konnte. „Denkst du wirklich so?“, fragte sie ruhig und beherrscht. „Ja!“ Ohne ein weiteres Wort verließ Carelia das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Zum ersten mal, seit dem Besuch im Dorf kamen Zweifel bei ihr auf. War sie vielleicht zu selbstgefällig gewesen? Zu naiv? Zu gutmütig? Sie wusste keine Antwort darauf. Remi saß still auf dem steinernen Fußboden und legte die Arme um seine Knie. Die Anklagen dienten dem reinen Selbstschutz, doch fühlte er sich keinen Deut besser, als zuvor. Er zitterte am ganzen Körper, fühlte sie mit einem mal sehr einsam. „Verdammt...“ Eine einzelne Träne lief über seine Wange, ehe er das Gesicht in den Händen vergrub. „Es scheint nicht so gelaufen zu sein, wie du es dir vorgestellt hast, nicht wahr?“, fragte Camus, als Carelia die Küche betrat. Grübelnd tippte er mit den Fingerkuppen gegen den Tonkrug, der vor ihm auf dem Tisch stand. Carelia kniete vor dem Ofen nieder und legte langsam ein wenig Holz nach, wobei sie nahezu reglos ins Feuer schaute, welches groteske Schatten in den Raum warf. „Du hast recht“, seufzte sie. „So war das wirklich nicht geplant. Es tut mir leid.“ „Es sollte dir aber nicht leid tun. Ich würde es lieber sehen, wenn du hinter deiner Entscheidung stehst.“ „Selbst, wenn ich damit unser Schicksal besiegelt haben sollte?“ „Selbst dann.“ Camus hatte keine Sekunde mit dieser Erwiderung gezögert. Carelia setzte sich ihm gegenüber auf eine Holzbank. „Bist du in deinem Leben jemals einem Katzenmenschen begegnet?“ „Eine ähnliche Frage hast du mir schon einmal gestellt. Damals betraf sie Alvaro.“ Camus hielt kurz inne, bevor er weitersprach. „Aber... ja, ich bin schon vielen Lebewesen begegnet und auch Katzenmenschen waren darunter.“ Carelia umklammerte den Becher Tee, den er ihr zugeschoben hatte. Camus konnte ihre Gedanken bereits erraten. „Du erkennst dich selbst in diesem Jungen wieder.“ Das war keine Frage, sondern eine sachliche Feststellung. Er erinnerte sich noch genau daran, wie feindselig Carelia bei ihrer ersten Begegnung gewesen war. Die Braunhaarige nickte. „Dann hast du erkannt, wofür ich Jahrzehnte gebraucht habe“, sagte Camus lächelnd. Verständnislos blickte Carelia ihn an, bekam aber nur ein Kopfschütteln als Antwort. Wenig später gesellte sich auch Alvaro zu ihnen. „Der Raum, in dem das Bürschchen sitzt, ist nicht beheizt. Er wird sich erkälten“, meinte er ohne Umschweife an Carelia gewandt. „Du hast ihn hergebracht, also kümmere dich um ihn.“ Seine streng formulierten Worte hielte Carelia von Widerworten ab und so kehrte sie mit gemischten Gefühlen zu Remi zurück. „So folgsam ist sie äußerst selten. Du kannst stolz auf dich sein, Alvaro“, lachte Camus. Alvaro schnaubte. „Wenn sie das öfter tun würde, müssten wir nicht immerzu streiten.“ Camus konnte man so leicht nichts vormachen. „Du hast sie viel zu gern, als dass du jemals ernsthaft böse auf sie sein könntest.“ „Man hätte einem Dummschwätzer, wie dir schon vor Jahren die Zunge herausschneiden sollen“, entgegnete Alvaro nüchtern, ohne jegliche Aggression. „Also lag ich vollkommen richtig“ Camus’ Augen blitzten belustigt auf. Unschlüssig stand Carelia auf dem Gang. Sie war sich nicht sicher, ob sie schon wieder als Zielscheibe für Remis schlechte Laune dienen wollte. Allerdings erwiesen sich diese Befürchtungen als überflüssig, denn sie fand den Katzenmenschen unter dem Tisch schlafend vor. Seine Kraft hatte ihn verlassen und auf diese Weise wirkte er eigentlich ganz friedlich. So leise, wie nur irgend möglich entzündete Carelia das Feuer im Kamin und legte eine Decke über Remi, der sich inzwischen zusammengerollt hatte. Sie nutzte diese erste reelle Chance, um ihn etwas näher zu begutachten. Remi war dünn, aber nicht abgemagert. Seine Statur wies darauf hin, dass er ziemlich wendig und geschickt sein musste. Das Kopfhaar war dunkler und grenzte sich somit von dem restlichen Fell ab, das seinen Körper bedeckte. Sie zupfte die Decke ein wenig zurecht und berührte dabei flüchtig das Fell, welches im Lichtschein wie Gold glänzte. Weich, dachte sie lächelnd. Als Remi am darauffolgenden Tag erwachte, war die Mittagsstunde bereits weit überschritten. Orientierungssuchend blickte er in dem Raum umher, bis ihm wieder einfiel, wo er sich befand. Etwas wackelig kam er auf die Beine. Zum ersten mal nahm er seine Umgebung bewusst war. Er inspizierte das Zimmer mit einer ähnlichen Neugier, wie auch Carelia sie an den Tag legte. Die Kammer war nicht übermäßig groß, aber sie besaß dennoch einen Kamin zum Heizen. Die Regale waren bis zum Bersten mit Büchern und alten Schriftrollen gefüllt. Eine davon zog Remi hervor, konnte damit allerdings nicht viel anfangen, da sie in einer – ihm unbekannten – Sprache verfasst. Seufzend legte er das Schriftstück an seinen rechtmäßigen Platz zurück. Er strich langsam mit den Fingerkuppen über das dunkle Holz und stellte überrascht fest, dass offenbar jemand penibel genau Staub gewischt hatte. Eine Tür zwischen zwei Regalen erweckte die Aufmerksamkeit des Katzenmenschen. Auf leisen Sohlen schlich er über den kalten Fußboden und linste durch den Spalt des Durchgangs. Dahinter befand sich ein weiteres, helleres Zimmer. Eine Bewegung ließ Remi zusammenzucken und als er Carelia letztendlich erkannte, machte er einen Schritt zurück. Jetzt spioniere ich schon in den Schlafgemächern fremder Leute, wurde ihm schlagartig bewusst. Zu seinem Glück schlief Carelia noch tief und fest, weswegen sie ihn nicht bemerken konnte. Stattdessen kuschelte sie sich in aller Seelenruhe in ihre Bettdecke. Etwas mutiger geworden, trat Remi näher und ging im Halbkreis um das Bett, welches auf einem Holzpodest stand. Eben jene Anhöhe erstreckte sich durch die halbe Kammer. Deswegen musste er gesondert darauf achten, dass keines der Bretter unter seinen Füßen ein verräterisches Geräusch von sich gab. Dies stellte sich jedoch als eine seiner leichtesten Übungen heraus. Wenn man sie so anschaut, wirkt sie gar nicht so dickköpfig, stellte der Katzenmensch fest, wobei er nicht mal im entferntesten ahnte, dass Carelia in der vorhergegangen Nacht ähnliches über ihn gedacht hatte. Remi war so in Gedanken versunken, dass er zunächst gar nicht bemerkte, wie es immer heller um ihn herum wurde. Das Tageslicht fiel durch einen schmalen Spalt zwischen den Gardinen und breitete sich nun aus. „Was hast du hier zu suchen?“ Erschrocken riss Remi die Augen auf und blickte sich um. „Ich... es tut mir leid. Ich wollte nicht...“ Ihm gegenüber stand Alvaro. Er lehnte gegen die Wand und zog mit der linken Hand beiläufig die Vorhänge auf. „Raus hier!“, befahl er ruhig. Das ließ Remi sich nicht zweimal sagen und so floh er förmlich aus dem Zimmer, zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Mit einem Seufzer auf den Lippen schob Alvaro die letzten Stoffbahnen zur Seite. „Wach endlich auf, Carelia! Es ist schon helllichter Tag.“ Wie auf Kommando zog sich Carelia die Decke über den Kopf – allerdings noch immer im Halbschlaf. „Jetzt reicht es aber!“ Unbarmherzig beraubte Alvaro sie um diese Zufluchtsmöglichkeit. „Genug geschlafen!“ Carelia erwachte blinzelnd und schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die Helligkeit ab, während sie sich zusammenrollte. „Hat dir schon mal jemand gesagt, wie niederträchtig du bist“, schimpfte sie leise. „Des öfteren“, gab Alvaro gelassen zurück. Die Braunhaarige rutschte zur Bettkante und setzte sich auf. „Ich wünschte, du würdest dir mal merken, dass andere Lebewesen ihren Schlaf brauchen.“ Suchend tastete sie mit den Zehenspitzen über den Fußboden, ehe sie ihre Schuhe fand. „Ich komme mit wenig bis gar keinem Schlaf wunderbar aus.“ Weswegen du deine Zeit lieber damit vertreibst mich jeden morgen zu wecken, überlegte Carelia, sprach diesen Gedanken aber nicht aus. Freilich wusste sie genau, dass Alvaros Taten darüber hinaus gingen. Er war fast immer an ihrer Seite gewesen und bewachte sogar ihren Schlaf seit nunmehr vier Jahren. Und bereits davor... Kapitel 3: Flammen aus der Vergangenheit ---------------------------------------- Ein kleines Mädchen von etwa fünf oder sechs Jahren hockte auf dem grasbedeckten Boden und hatte den Blick starr geradeaus gerichtet. Neben ihm stand mit unbewegter Mine ein hochgewachsener Mann. Abschätzend musterte er die Umgebung. Alles, sowohl der Wald, als auch das Dorf, welches vor ihnen lag, sah aus als wäre es in rote Farbe getaucht. Er konnte das Knistern des Feuer deutlich hören und auch die Wärme, die davon ausging spürte er auf seinem Gesicht. „Wie heißt du?“, fragte er plötzlich mit rauer Stimme. Es verstrichen einige Augenblicke, bis sich die Angesprochene langsam zu ihm umwandte. „Carelia“, antwortete sie. Der Mann nickte zum Zeichen der Kenntnisnahme. „Willst du an diesem Ort streben?“ Die Kleine ließ sich keinerlei Furcht anmerken, dennoch schüttelte sie den Kopf. „Nein!“ Alvaro stupste Carelia ungeduldig gegen die Stirn. „Träumst du schon wieder mit offenen Augen vor dich hin?“ Carelia schreckte aus ihren Gedanken und strich sich nervös die Haare aus dem Gesicht. „Nein, ich... habe mich nur an etwas erinnert.“ Sie atmete einmal tief durch, ehe sich ihre Mundwinkel zu einem munteren Lächeln verzogen und sie aus dem Bett sprang. Verständnislos zog Alvaro eine Augenbraue hoch. „Und woran, wenn ich fragen darf?“ Die Braunhaarige hatte ihre Hand bereits auf die Türklinke gelegt, drehte sich aber noch einmal zu ihm um. „An dich“, erwiderte sie schlicht und ließ den Dämon dann mit seiner Verwunderung allein, indem sie das Zimmer verließ. Alvaro hatte die bernsteinfarbenen Augen weit aufgerissen. „An mich...“, murmelte er und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, während er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Er stieß einen traurigen Seufzer aus, bevor auch er letztendlich den Raum verließ. „Guten Morgen!“, rief Carelia beschwingt, als sie die Küche betrat. Camus hatte sich über die Feuerstelle gebeugt, um etwas Holz nachzulegen und schaute nun mit einem milden Lächeln zu ihr auf. „Du meinst wohl eher: Guten Tag!“ „Ja, meinetwegen auch das.“ Carelia ließ sich auf einer Bank neben dem Feuer nieder und streckte die Beine aus. „Kalt“, murrte sie und rieb die Hände aneinander. „Wenn du nicht immer barfuss herumrennen würdest, wäre dir vielleicht auch nicht so kalt“, meinte Camus. Sein Tonfall war wie üblich väterlich und sanft. Carelia mochte den Klang seiner Stimme, weswegen sie selbst Belehrungen von ihm gelassen zur Kenntnis nahm. „Eine schlechte Angewohnheit von mir“, gab sie mit einem entschuldigenden Schmunzeln zu. „Zieh dich erst mal an! Bis dahin sollte ich das Essen fertig haben“, wies Camus sie an. Remi kauerte wieder in seinem Zimmer und hatte sich die Decke halb über den Kopf gezogen. Aus irgendeinem Grund hatte er schreckliche Angst vor Alvaro. Was hat er da gemacht? Er benimmt sich ja fast, wie ein Wachhund, dachte der junge Katzenmensch verdrossen. Er fühlte sich von dem Dämon ertappt, obgleich er eigentlich nichts getan hatte. „Warum musste ich auch so neugierig sein“, brummte er leise vor sich hin. Er wusste selbst nicht mehr, was ihn dazu getrieben hatte Carelia zu beobachten. Verzweifelt schlang er sich die Arme um den Körper. Er wollte von hier fort und dann auch wieder nicht... Wenig später klopfte jemand zaghaft an die Tür. Carelia blickte in die Kammer hinein und versuchte dabei einen zuversichtlichen Eindruck zu machen. „Ich habe dir was zu Essen gebracht.“ Remi beäugte jede ihrer Bewegungen voller Misstrauen, als müsste er fürchten angegriffen zu werden. Langsam trat Carelia näher und stellte zu ihrer großen Überraschung fest, dass Remi zumindest nicht vor ihr zurückwich und so platzierte sie das Tablett, das sie bei sich trug neben ihm ab. Remi beugte sich vor und schnupperte. „Ich will dich schon nicht vergiften“, meinte Carelia sarkastisch. Der Katzenmensch sah sie verärgert an, nahm dann aber tatsächlich eine der Schüsseln in die Hand. Der Hunger hatte ganz offensichtlich über seine Vorsicht gesiegt. Es verstrichen schier endlose Minuten, ohne dass einer von beiden etwas sagte. Jedoch schien Remi sich nicht daran zu stören, während sich Carelia unbehaglich fühlte. Remi ergriff als erster wieder das Wort. „Wie kommst du dazu mit einem Dämon unter einer Decke zu leben?“, fragte er ohne jegliches Feingefühl. Die Entgegnung Carelias klang nicht wütend, eher traurig und müde. „Meine Heimat wurde von Dämonen zerstört...“ „Was für eine dämlich Begründung“, entfuhr er Remi. „Das war keine Begründung! Lass mich gefälligst ausreden!“ Für einen Moment lang funkelten beide einander erbost an. Schließlich seufzte Carelia und setzte erneut an. „Nachdem mein Zuhause andren Dämonen zum Opfer gefallen war, hat er mich gerettet“, erzählte sie so ruhig, wie sie es vermochte. „Er hat dir geholfen?“ Ungläubig runzelte Remi die Stirn. Das konnte nicht sein! Dennoch würde es Alvaros jetziges Verhalten durchaus erklären. In der kurzen Zeit, in der er hier war, war ihm schon aufgefallen, dass der Grünhaarige nur selten von Carelias Seite wich, als müsse er sie gegen alle Widrigkeiten verteidigen. „So was höre ich zum ersten mal.“ „Es ist aber die Wahrheit“, erwiderte Carelia ernst. „Deswegen dulde ich auch nicht, dass du schlecht von ihm sprichst!“ „Trotzdem begreife ich es nicht.“ Carelia ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder. „Interessiert dich das denn wirklich?“ Das Mädchen, mit den verwuschelten, kastanienbraunen Haaren hielt sich lange Zeit schweigend an Alvaros Umhang fest, ehe sie leicht daran zupfte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. „Warum brennt unsere Stadt?“ Alvaro biss die Zähne zusammen. „Euer Stadtvorsteher hat jemanden erzürnt, mit dem er sich besser nicht angelegt hätte.“ „Sind Mama und Papa deswegen nicht mehr da?“ Der Dämon musste die Kleine nicht ansehen, um zu wissen, dass sie weinte. „Ja“, antwortete er leise. „Es tut mir leid... Ich konnte sie nicht davon abhalten.“ „Wohin gehen wir jetzt?“ Die Kleine wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und trocknete so ihre Tränen. „An einen sicheren Ort!“ Carelia hatte zwei volle Tage durchgeschlafen und als sie wieder erwachte, brannte ihre Lunge förmlich. Sie hustete, versuchte aber gleichzeitig sich daran zu erinnern, was geschehen war. Jäh traten ihr alle Ereignisse ins Gedächtnis. Keuchend setzte sie sich auf und da spürte sie schon, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. „Sachte, sachte“, ermahnte sie eine Stimme freundlich. „Du hast viel Rauch eingeatmet und musst dich erst mal ausruhen.“ Carelia klammerte sich an dem Laken fest, mit dem man sie zugedeckt hatte und starrte den Mann erschrocken und feindselig an. Ihr Gegenüber hatte sanfte, grau-blaue Augen und sein Haar war auch bereits ergraut. Dennoch wirkte er im ersten Moment nicht alt. „Wo ist Alvaro?“, schluchzte die Kleine unvermittelt. „Nicht mehr hier, aber er hat versprochen dich wieder besuchen zu kommen.“ Der Mann neigte höflich sein Haupt und reichte ihr ein Glas Wasser. „Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bin Camus!“ Carelia erzählte mit verhältnismäßig gefasster Stimme, wie Alvaro sie gerettet und zu Camus gerbacht hatte. Das alles war vor gut 15 Jahren passiert. „Und warum wurde die Stadt zerstört?“, wollte Remi wissen. „Das sollte ich erst elf Jahre später erfahren.“ Carelia wandte das Gesicht ab und sagte nichts weiter dazu. Remi verstand. Darüber wollte sie anscheinend nicht sprechen und so schwieg auch er. Kapitel 4: Einsamkeit --------------------- Auch in den nächsten Tagen sollte sich nicht viel ändern. Remi blieb feindselig und misstrauisch, obwohl die Verbindung zwischen Carelia und Alvaro tatsächlich ein wenig Interesse bei ihm geweckt hatte. Doch leider war das auch der Grund, warum er sich keinem der beiden näherte. Anfangs hatte Carelia zwar noch versucht sich mit ihm anzufreunden, aber ihre Versuche waren allesamt erfolglos geblieben, sodass sie ihn nun erstmal entmutigt allein ließ. Bis zu dem Tag, an dem die Braunhaarige eine überraschende Entdeckung machen sollte. Eigentlich war es ein Vormittag, wie jeder andere auch... Carelia stieß die Tür zu ihrem Gemach vorsichtig mit dem Fuß auf, da ihre Arme mit Bettlaken bepackt waren. Sie musste bei jedem Schritt aufpassen, weil sie nur knapp über die Tücher hinweglinsen konnte. „Ich bin vielleicht die einzige Frau hier, aber das heißt nicht, dass ich mich ständig um alles kümmern muss“, murrte sie leise und legte die Laken über die Lehne eines Stuhl mit dunkelgrünem Samtbezug, welcher neben ihrem Schreibtisch stand. Bevor sie den Bezug ihres Bettes abzog, strich sie einmal flüchtig mit der Hand über den weichen Stoff und stutzte: Darauf befanden sich einige Haare. Bekomme ich jetzt schon Haarausfall, fragte sie sich in Gedanken, bis ihr auffiel, dass die Farbe gar nicht zu ihren kastanienbraunen Strähnen passte. Prüfend hielt sie eines der Haare ins Licht und als sie ihre Hand wieder sinken ließ, blickte sie als erstes nachdenklich zu der Verbindungstür, die ihr Zimmer und das von Remi trennte. Carelia seufzte traurig. “Ich bin ja so blind…” Als Remi hörte, dass die Tür geöffnete wurde, legte er die Ohren an und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Der Tag war bereits weit vorrangeschritten. Das Licht der untergehenden Sonne verlieh dem Fell des Katzenmenschen wieder diesen unverkennbaren, goldfarbenen Ton. Carelia ließ sich von seinem mürrischen Blick nicht aus der Ruhe bringen, als sie den Raum betrat, sondern lächelte ihm freundlich zu. Immerhin hatte sie lange mit sich gehadert, bevor sie diesen Schritt wagte. Was will sie den so plötzlich? In dem letzten Tagen hat sie doch kaum ein Wort mit mir gewechselt, wunderte sich Remi im Stillen. Einige Meter von ihm entfernt nahm Carelia auf dem Boden platz. „Ich... ich wollte dich ein paar Dinge fragen, wenn ich darf“, setzte sie vorsichtig an. Missmutig rümpfte Remi die Nase. Eigentlich hatte er keine besonders große Lust sich irgendwelchen Fragen zu stellen, aber aus purer Lageweile ließ er sich trotzdem darauf ein. „Was willst du denn wissen?“ „Was ist mit deiner Familie und deinen Freunden?“, fragte Carelia geradeheraus, sprach ihre Worte aber bedacht auf. Remi zuckte zusammen. „Wie kommst du auf einmal darauf?“ „Du vermisst jemanden!“ Keine Frage, nur eine Feststellung. Der Katzenmensch starrte Carelia sichtlich verwundert an. „Das... das kannst du überhaupt nicht wissen!“, fauchte er aufgebracht. Die Innenseiten seiner Ohren röteten sich, ob nun vor Wut oder aus Scham blieb fraglich. „Vielleicht hast du recht. Ich kann es nicht wissen, aber ich kann es vermuten“, entgegnete Carelia ruhig. „Ob du es nun zugeben willst oder nicht, aber du suchst trotz deiner abweisenden Art die Nähe zu jemanden.“ Sie ließ ihm keine Gelegenheit, um zu protestieren. „Ich hab deine Haare gefunden, was beweist, dass du in meinem Bett gelegen hast.“ Remi brauchte ein paar Augenblicke, damit er begreifen konnte, was sie damit andeuten wollte. Er rutschte ein wenig zurück und lehnte sich an die kühle Wand, nachdem ihn die Erkenntnis getroffen hatte. Zunächst war er nicht in der Lage irgendetwas zu antworten und nur ganz langsam konnte er Carelia wieder in die Augen sehen. „Ich habe nur Wärme gesucht“, flüsterte er leise, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. „Leider hast du mich ertappt... ich bin es einfach nicht gewohnt allein klarzukommen.“ Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. „Aber ich habe gar nicht das Recht meine Angehörigen zu vermissen.“ Carelia blickt ihn verständnislos an, doch der Katzenmensch schüttelte den Kopf. „Vergiss lieber, was ich gesagt habe. Denn würdest du die Wahrheit kennen, würdest du mich bestimmt hassen.“ Carelia schnaubte und verzog dabei das Gesicht. „Ich kann dich auch so nicht besonders gut leiden! Du bist ein kratzbürstiger, egoistischer Sturkopf, der anfangs nichts besseres zu tun hatte, als zu meckern. Und nun willst du mir erzählen, dass ich dich theoretisch hassen müsste, wegen einer Sache, von der ich gar nichts weiß. Das ist absolut lächerlich!“ „Du hast doch keine Ahnung“, brummte Remi. „Eben! Und genau deswegen zerbreche ich mir auch nicht den Kopf darüber.“ Carelia musterte ihn nachdenklich. „Ich mag dich nicht und ich hasse dich nicht, aber... Ich glaube, dass ich dich mögen könnte!“ Sie schmunzelte zaghaft. „Nein, da bin ich mir sogar sicher, denn wir sind uns gar nicht so unähnlich.“ „Jetzt nimmst du mich aber auf den Arm“, murmelte Remi perplex. „Ganz im Gegenteil, das war mein voller Ernst. Camus, Alvaro und ich sind doch auch nur hier, weil wir etwas zu verbergen oder unsere Vergangenheit hinter uns gelassen haben“, erklärte Carelia. Sie hatte sich wieder vom Boden erhoben und entzündete ein Feuer im Kamin, denn die Sonne bot inzwischen nicht mehr ausreichend Licht. Außerdem war es deutlich kälter geworden. „Du bist wirklich seltsam!“ Remi lachte unsicher, bis sich das Lachen in ein Schluchzen wandelte. Carelia senkte schuldbewusst die Stimme. „Entschuldige, ich war wieder mal zu direkt.“ „Schon in Ordnung...“ Remi wischte sich einmal übers Gesicht und schaute sie dann traurig und mit wehmütigem Lächeln an. „Ich fürchte, für das, worum ich dich jetzt bitte, wird der Dämon mich am nächstbesten Baum aufknüpfen.“ Das entfernte Läuten einer Standuhr ließ Carelia aus ihrem Schlaf erwachen. Stumm zählte sie die Schläge mit und seufzte dann schließlich leise. Zwei Uhr, es war mitten in der Nacht. Nachdem sich ihre Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie den Körper neben sich ausmachen. Zaghaft hatte sich Remi an sie gekuschelt und schlummerte ruhig. Im Nachhinein war es so offensichtlich gewesen, dass er irgendjemanden vermisste und es nur schlecht ertrug allein zu sein. Doch zu spüren, wie Carelia in seiner Nähe war, schien ihn vorerst zu beruhigen. Obgleich die beiden die meiste Zeit über miteinander zankten, war sie die einzige, die für Remis Suche nach Wärme überhaupt in Frage kam. Carelia spähte in das finstere Zimmer. Alvaro war nicht da, wie sonst immer. Natürlich nicht, denn immerhin war Remi hier. Ich hätte vielleicht besser mit ihm reden sollen, grübelte Carelia reumütig. Alvaro war vermutlich höchst überrascht gewesen, die zwei zusammen anzutreffen. Bei dem Gedanken wurde Carelia rot und hoffte, dass Alvaro nun nichts Falsches von ihr dachte. Sie hatte Remi zur Seite stehen wollen, aber selbstverständlich wusste auch sie, wonach die Situation aussehen musste. Sie versuchte nicht weiter darüber nachzudenken und stattdessen wieder einzuschlafen. Doch wie immer, wenn man so einen Vorsatz fasste, klappte es nicht sonderlich gut. Dabei war sie tatsächlich sehr müde. Unvermittelt murmelte Remi etwas im Schlaf, was aber zu fast leise war, um es zu verstehen. Überrascht lauschte Carelia und hielt sogar für einen kurzen Moment die Luft an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. „Warm...“, wiederholte sie ganz leise und lächelte dann. Nicht zum ersten mal stellte sie fest, wie niedlich Remi manchmal sein konnte, wenn er sich nicht gerade mit ihr stritt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)