Sei nicht traurig! von Hoellenhund (Ein Wintermärchen) ================================================================================ Kapitel 3: Die goldenen Vögel ----------------------------- Am Morgen wurde Lysander durch ein lautes Pochen an seiner Zimmertür aus dem Schlaf gerissen. „Das Frühstück steht bereit“, dröhnte eine harsche Frauenstimme, die nur Lorena zuzuordnen war. Lysander setzte sich auf und stützte den Kopf in die Hände. Kam es ihm doch vor, als hätte er die gesamte Nacht kein Auge zugetan. Geträumt hatte er; geträumt von einer grauen und einsamen Welt, in der es keinerlei Freude gab. Nun, da er darüber nachdachte, kam es ihm zudem so vor, als hätte sich jemand in der Nacht in sein Zimmer geschlichen. Irritiert blickte er zum Fenster hinüber – es war verriegelt. Draußen war es bereits hell und Schneewogen wirbelten vor dem Fenster umher, sodass man außer weißen Schleiern nichts zu erkennen vermochte. Langsam, sehr langsam stand Lysander auf, kleidete sich an und bändigte sein langes Haar mit einer Bürste, die für ihn bereit lag. Als er nun gleich darauf auf den Flur hinaustrat, wohl in der Absicht sich zum Speisesaal zu begeben, traf er auf Fynn, welcher bereits auf dem Weg nach unten war. Sobald Lysanders Zimmertür ins Schloss fiel, wandte er sich um: „Guten Morgen.“ Ein kurzes Kopfrucken war Lysanders Antwort. „Wir werden gleich nach dem Frühstück aufbrechen“, teilte er Fynn mit. Der Angesprochene hob eine Augenbraue: „Du scheinst noch nicht aus dem Fenster gesehen zu haben. Der Schneesturm hat wieder eingesetzt – wenn wir jetzt weitergehen, werden wir uns erneut verirren: Und dieses Mal wird uns das Glück nicht so hold sein.“ „Wir sollten nicht hier sein, dies ist kein gewöhnlicher Ort, das spüre ich. Zudem riskieren wir den Untergang unseres Dorfes; die Menschen haben weder Feuerholz noch Nahrung“, gab Lysander grob zurück, während er Fynn auf der Treppe überholte. In Wahrheit war dies nicht der einzige Grund, der Lysander zu einem schnellen Aufbruch trieb. Tatsächlich spürte er in diesem Schloss eine seltsame Anwesenheit, die ihm nicht geheuer war – doch noch ungeheurer erschien ihm der Schlossherr. Nicht nur sein Gebaren, nein, vor allem der Einfluss, den er auf seinen Freund Fynn auszuüben schien. „Wenn wir tot sind, nutzt das unserem Dorf auch nicht“, antwortete Fynn schon etwas energischer. Dieses törichte Verhalten war er von seinem Begleiter nicht gewohnt und es begann seine Nerven zu strapazieren. „Nun gut. Wir brechen sofort auf, wenn der Schneesturm sich gelegt hat“, setzte Lysander mit tonloser Stimme fest und wies Fynn den Weg zum Speisesaal. Am frühen Nachmittag schlenderte Fynn durch die ewig gleichen Gänge des Schlosses. Bedingt durch die Jahreszeit war es draußen bereits dämmrig und an den Wänden waren die ersten Kerzen entzündet worden. Fynn blickte in jeden Raum, an dem er vorbei kam – er war auf der Suche nach jemandem, doch gab er sich alle Mühe sein Tun wie einen gewöhnlichen Erkundungsgang aussehen zu lassen. Ein Zimmer, das Fynn noch nie gesehen hatte, besaß keine Tür. Es war lediglich durch einen runden Bogen vom Gang abgetrennt und als Fynn wie zufällig hineinblickte, entdeckte er die gesuchte Person. Silencius saß in eine Art dunkelblauen Morgenmantel gekleidet vor einem Schachbrett und schien gegen sich selbst zu spielen. In seinem Rücken loderte ein fröhliches Feuer hinter dem Kamingitter. Er hob den Kopf, als Fynn wie angewurzelt stehen blieb. „Komm her, mein Junge, setz dich“, sagte er ruhig und wies auf den leeren Sessel sich gegenüber auf der anderen Seite des Schachbretts. Fynn tat wie geheißen und blickte dem Schlossherrn anschließend verwundert in die durchdringend blauen Augen; was erhoffte er sich davon? „Mach doch bitte deinen Zug für Schwarz.“ Fynn nickte leicht irritiert und verschaffte sich einen groben Überblick über die Situation der schwarzen Spieler. Beide Mannschaften hatten nicht mehr viele Figuren im Spiel, es sah recht ausgeglichen aus. Fynn fiel ein schwarzer Springer ins Auge, der günstig stand und mit dem er seinen Zug vollführte, um den weißen König ins Schach zu setzen. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf Silencius' Gesicht aus. Rasch griff er nach seinem weißen Turm, schlug den schwarzen Springer und setzte im selben Zuge den schwarzen König schachmatt. Zufrieden lehnte er sich zurück und faltete die Hände: „So, mein Junge. Was führt dich zu mir?“ Jäh fühlte sich Fynn, als sei es ihm nicht gestattet zu Silencius aufzublicken; als stünde er tatsächlich als Springer dem ehrwürdigen weißen König gegenüber. Den Blick auf seine Finger fixiert antwortete er: „Fragen. Ich habe so viele Fragen, die ich Euch stellen möchte; nichts ergibt einen Sinn für mich.“ Silencius lächelte auf Fynn hinab, es schien ein mitleidiges Lächeln zu sein: „Nun denn: Stelle deine Frage. Eine einzige will ich dir beantworten, warst du mir doch ein guter Gegner in meinem Spiel.“ Immer noch wagte es Fynn nicht aufzublicken. Einige Sekunden lang überlegte er, welche der Fragen, die ihm im Kopf herumschwirrten, wohl die wichtigste sei. Dann fragte er: „Bei unserm ersten gemeinsamen Mahl am vorigen Abend… Ihr habt von goldenen Vögeln gesprochen, die nicht gekommen seien. Was meintet Ihr damit?“ Erneut lächelte Silencius, doch dieses Mal, weil er froh über Fynns Wahl war. Langsam stand er auf und trat an ein Fenster heran, wobei er seinem Gast den Rücken zuwandte; den Blick fest auf die wirbelnden Schneeflocken gerichtet, als würden sie ihm eine Geschichte erzählen. Nun endlich wagte es Fynn den Kopf zu heben und blickte auf Silencius' Rücken, über den sein Silberhaar hinabfiel, während er zu erzählen begann: „Einst, da die Welt noch jung war, lebten vier mächtige Magier auf der Erde. Sie untereinander waren die einzigen, die sich verstanden, die einzig guten Gesprächspartner. Macht besaßen sie, mehr Macht, als es sich die meisten Menschen nur erträumen konnten, doch ihr Sein fand keine Erfüllung; schien keinen Sinn zu haben. Den verzweifelten Magiern erschien ein heller Bote, mitten in einer finsteren Nacht, der freundlich zu ihnen sprach: ‚Ihr Magier, ihr. Tag um Tag und Nacht um Nacht reihen sich aneinander – ihr, die ihr so viel Macht besitzt, spürt die Trostlosigkeit dieser Abfolge, fühlt, es kann mehr geben. Da ihr wisst und erleben wollt, möchte ich euch ein Geschenk machen. Ich gebe euch vier Zeiten, jedem eine andere, die von nun an das Jahr gliedern sollen. Dir, Winter, übertrage ich die finstere und kalte Zeit, dir, Frühling, die Zeit der sprießenden Blüten. Du, Sommer, sollst die warme und helle Zeit erhalten und zuletzt du, Herbst, dir schenke ich die feuchte Zeit der Ernte. Mit eurer Macht sollt ihr diese Zeiten einleiten und über sie herrschen, um den Menschen und Tieren, als auch den Pflanzen mehr Abwechslung zu schenken.’ Von diesem Tage an, wurde jeder der Magier an einen geheimen Ort gebunden, unfähig ihn zu verlassen, zu Einsamkeit verdammt. Winter leitete seine Zeit des Jahres ein, indem er tiefe Trostlosigkeit und Trauer empfand. Dieses Gefühl, welches die dunkle Zeit in sich barg, verhinderte, das Überhand Gewinnen der nächsten Zeit: Frühlings Zeit. Frühling leitete ihre Zeit des Jahres ein, indem sie goldene Vögel über das Land fliegen ließ, die den Schnee zum Schmelzen und die Blumen zum Blühen brachten. Doch diese Vögel konnten nur fliegen, wenn Winter nicht mehr in tiefer Dunkelheit versank – denn sie waren aus Lebensfreude gemacht - wodurch Winters Zeit Bestand hatte, bis sich sein Seelenzustand verbessert hatte.“ Silencius riss den Blick von den tanzenden Schneeflocken los und wandte sich zu Fynn um, der Blick erneut traurig und fern, wie bei ihrer ersten Begegnung. „Du weißt nun“, sagte er leise und senkte den Blick, „Doch ich frage mich, ob du auch verstehst.“ Noch verstand Fynn nicht, doch wollte er es auch nicht zugeben. Ohne weiter auf die indirekte Frage einzugehen, verabschiedete er sich höflich und machte sich auf den Weg zurück in sein Zimmer. Die goldenen Vögel sind noch nicht gekommen – also war der Frühling noch nicht angebrochen. Doch das war Fynn auch schon vor dieser Geschichte klar gewesen. Er hatte das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein; er musste nur weiter denken. Warum war der Frühling immer noch nicht angebrochen? Die Vögel waren aus Lebensfreude gefertigt, sie konnten nicht fliegen, wenn Winters Zustand sich nicht verbesserte. Natürlich, dieses Jahr musste der Magier, der für die kalte Jahreszeit zuständig war, noch immer tief betrübt sein. Doch wer war dieser Magier und wo konnte man ihn finden, wenn die vier Magier der Jahreszeiten doch über die Welt verteilt waren? Und entsprach diese alte Geschichte überhaupt der Wahrheit? Vielleicht bildete sie auch nur eine Metapher für die Umstände der Jahreszeiten. Ja, so musste es sein, wer glaubte schließlich an Magier…? Doch an dieser Stelle wurde Fynn aus seinen Gedanken gerissen, da er auf jemanden aufprallte. „Verzeihung“, sagte er bedauernd und rieb sich die Stirn. Erst jetzt blickte er auf und bemerkte, mit wem er kollidiert war: „Lysander!“ „Ich habe dich gesucht, wo bist du gewesen?“, wollte der Leidtragende wissen und rieb sich das Haar aus der Stirn. „Ich habe mich ein wenig im Schloss umgesehen.“, war Fynns knappe Antwort. Kurz entschlossen nahm er seinen Freund bei der Hand und zog ihn die Treppe hinauf und in sein Zimmer. „Und rate, wem ich begegnet bin“, fuhr er fort, nachdem er sich auf seinem Bett niedergelassen hatte. „Die Auswahl ist nicht sehr groß“, gab Lysander wesentlich weniger enthusiastisch zurück. Fynn nickte verständnisvoll: „Das ist wohl richtig. Ich begegnete Silencius und konnte die Chance nutzen, ihn etwas zu fragen.“ Lysander hörte nur mit halbem Ohr zu, während er aus dem Fenster blickte. Eigentlich wollte er nicht hören, was die beiden in seiner Abwesenheit besprochen haben mochten, doch wollte er nicht unhöflich sein. „Leider habe ich immer noch nicht herausgefunden, was ihn so deprimiert. Aber dafür, was er mit den „goldenen Vögeln“ meinte - Lysander? Glaubst du an Magier?“, fuhr Fynn fort, der offenbar nichts vom Desinteresse seines Freundes mitbekommen hatte. „Hm? Ach so, ja, wieso nicht. Ich habe schon allerhand Übernatürliches gespürt, wieso nicht auch Magier“, gab Lysander gelangweilt zurück „Und… Hast du schon einmal etwas Übernatürliches gesehen? Vielleicht… Einen Geist?“ „Nein. Wieso fragst du mich das alles?“ Fynn zuckte die Achseln und wandte sich ab: „Aus keinem bestimmten Grund, es interessiert mich einfach.“ Der seltsame Unterton fiel Lysander zwar auf, beunruhigte ihn allerdings nicht weiter. „Keine Angst, wenn dich ein übernatürliches Monster fressen will, beschütze ich dich“, grinste er neckisch. „Sehr lustig“, gab Fynn trocken zurück. In diesem Moment ließ ein lautes Geräusch die beiden Gäste zusammenzucken. „Was war das?“, fragte Fynn und ließ die Augen blitzschnell durch den Raum wandern. Er bemerkte kaum, dass er sich mit den Fingernägeln in seinem Bettlaken festgekrallt hatte. „Hier, die Kerze ist samt Halter von der Wand gefallen. Hat sich vermutlich im Laufe der Zeit gelockert – wer weiß, wie lange sie dort schon hängt“, beruhigte Lysander ihn und las die halb heruntergebrannte Kerze und den metallenen Halter vom Steinboden auf. Doch Fynn hatte eine ganz andere These. ‚Aydin?’, fragte er sich in Gedanken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)