Nadezhdas Entscheidung von warin ================================================================================ Kapitel 5: Drachenflug ---------------------- Doch nichts passiert. Dabei ist er genau vor mir, schmerzend spüre ich seinen heißen Atem in meinem Gesicht. Vorsichtig hebe ich meine Lider – und blicke direkt in die schlitzförmigen Pupillen seiner schwefelgelben Augen. Irgendetwas ist dort, irgendetwas blinzelt in diesen Augen, irgendetwas, das ihn davon abhält, mich zu töten. Dann beginnt er wieder mit den Flügeln zu schlagen, wie Schwerthiebe zerschneiden seine Schwingen die Luft. Langsam steigt er höher, bis sein schuppiger Körper direkt über mir kreist. Als wäre ich seine Beute, lässt er seine Krallen auf meine Schultern niederfahren und reißt mich in die Höhe. Mit einem Ruck verliere ich den Boden unter meinen Füssen. Mein Puls rast, Todesangst keimt in mir auf. Der Drache fliegt so dicht über die Tribünen hinweg, dass das Publikum versucht, johlend meine Beine zu ergreifen. Dann, mit zwei, drei kräftigen Flügelschlägen, gewinnt er an Höhe und steigt über die künstliche Sonne hinaus. Im Augenwinkel sehe ich noch, wie der König einem Gefolgsmann zufrieden auf die Schulter klopft. Bilde ich mir das nur ein, oder strahlt ein Lachen in seinem bärtigen Gesicht? Der Pöbel dagegen tobt. "Buh", "Pfui" rufen sie und werfen dem Drachen nach, was ihnen in die Finger kommt. Sicherlich fühlen sie sich um das Spektakel betrogen. Was hat der Drache mit mir vor, warum hat er mich nicht gleich in der Arena getötet? Hilflos baumle ich in seinen mächtigen Krallen und versuche, die Angst zu verdrängen, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Flügelschlag wird langsamer und regelmäßiger. Aus dem Rund trägt er mich hinaus in das dunkle Tal. Aber was sage ich, es ist gar nicht mehr dunkel! Deshalb hatten sie mir die Augen verbunden! Wie ein Flickenteppich breiten sich braune und grüne Felder unter mir aus, beschienen vom Licht dutzender künstlicher Sonnen. Bewässerungsgräben mit frischen, klaren Quellwasser versorgen die Felder bis in die entlegensten Winkel. Bei den Göttern, dieser Stamm ist wahrlich gesegnet. Die Höhlenbewohner auf den Feldern blicken erstaunt zu uns auf, lassen Hacken und Schaufeln fallen und winken uns zu. Dunkle, runde Brillengläser schützen ihre trüben Augen vor dem Licht der künstlichen Sonnen. Der Drache gleitet ruhig durch den Luftstrom, der sanft das Tal durchfließt. Immer enger rücken die Talränder an uns heran, mir scheint es fast, als würden sie zu einem einzigen Punkt zusammenzulaufen. Genau darauf hält der Drache zu. Wie in einer Düse wird der sanfte Wind in diesem Trichter beschleunigt, schwillt an zu einem Sturm, der Staub und kleine Steinchen umherwirbelt, die sich schmerzend in mein Gesicht schneiden. Schaukelnd steuert der Drache durch den Luftsog. Dann, die engste Stelle haben wir gerade passiert, fliegen wir in einen senkrecht aufsteigenden, nicht enden wollenden Kamin. Meine Güte, die Wände sind grob behauen, man kann noch die Abdrücke der Spitzhacken erkennen. Dies muss Menschenwerk sein. Ich kann es kaum glauben. In Wirbeln strömt die heiße Luft nach oben, auf ein winziges Pünktchen Tageslicht zu. In Kreisbahnen gewinnt der Drache langsam an Höhe. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor, dann, plötzlich, als würde der Kamin uns ausspucken, bin ich umgeben von Licht. Die Mittagssonne! Schweiß rinnt aus all meinen Poren. Würde der Drache mich nicht mit seinem gewaltigen Körper beschatten – ich würde auf der Stelle verbrennen. Unter mir breitet sich ein vertrocknetes Tal aus. Doch was ist das? Auf hohen Türmen drehen sich Räder im Wind, dutzende und aberdutzende, der ganze öde Talboden ist damit bedeckt. Die alten Techniken, sie haben sie wiederentdeckt! Dies muss die Quelle ihrer Energie sein. Der Drache steuert auf eine im Schatten liegende Felswand zu. Den Augen eines Totenschädels gleich, starren zwei kreisrunde Höhlenöffnungen aus dem rotbraunen Gestein. Der Drache holt aus und wirft mich mit Schwung in eine der Öffnungen. Mehrfach überschlage ich mich, bis ich gegen einen Holzpfosten pralle. Verwundert blicke ich auf und reibe mir meine schmerzende Stirn: Ein Bett, ich bin gegen ein Bett geprallt! Dieser Raum scheint eher für Menschen, denn für Drachen geschaffen zu sein. Ein Felsüberhang spendet angenehmen Schatten und die besondere Thermik des Tals sorgt für eine gleichmäßige Kühlung. Neben dem Bett steht eine Kommode mit einem Kerzenleuchter, darüber hängt ein Gobelin, ähnlich dem im Thronsaal. Fasziniert betrachte ich die Bilder darauf, Bilder aus längst vergangenen Zeiten, von der Zerstörung der großen Zivilisationen, von dem im Feuersturm versunkenen Meer der Fäulnis und von einem Mädchen, das engelsgleich vom Himmel hinabsteigt. Andächtig streiche ich mit meinen Fingerspitzen über das alte, brüchige Gewebe. Die Augen des Mädchens! Sie kommen mir merkwürdig vertraut vor. Ein Knacken und Knirschen reißt mich aus meinen Gedanken. Der Drachen zwängt sich rückwärts durch die Höhlenöffnung. Erschrocken drehe ich mich um. Vom Boden bis zur Decke füllt er den Raum. Diese Höhle ist viel zu klein für ihn, warum hat er mich hier hergebracht? Ängstlich drücke ich mich mit dem Rücken an die Wand. Dann geschieht das Unerwartete. Mir scheint es, als würde der Drachen zu leuchten beginnen, eine grellgelbe Aura umgibt ihm, die immer heller, immer strahlender wird. Ich kneife die Augen zusammen. Im Inneren des Lichts glaube ich, den Drachen zusammenschrumpfen zu sehen, glaube zu erkennen, wie sein Schwanz sich in den Körper zurückzieht, seine Kopfschuppen zu braunroten Haar zerfließen, seine blauen Schuppen zu einem seidig glänzenden Kleid verschmelzen und seine krallenbewehrten Flügel und Klauen sich in die zarten Hände und Füße eines anmutigen Mädchens verwandeln. "Prinzessin Nadezhda?“ Kann es möglich sein? Mit dem Rücken zu mir, den Blick weit über das Tal gerichtet, murmelt sie leise: "Ich bin eine Drachenwandlerin.“ Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)