Stadt der Engel von matvo (Schatten und Licht, Band 1) ================================================================================ Kapitel 2: Böses Erwachen ------------------------- Das Knarren einer Tür holte Hitomi unsanft aus ihrem Schlaf. Noch immer von ihrer Müdigkeit betäubt, öffnete sie ihre Augen. Hitomi sah direkt durch die Scheibe eines kleinen, kreisrunden Fensters hinaus auf ein Meer aus Baumkronen, das durch blendend weiße Felsenwände eingegrenzt wurde. Hinter sich hörte sie das fast lautlose Auftreten von nackten Füßen. Mühsam drehte sie sich auf ihrem weichen Lager um. Erst jetzt merkte sie, dass beide Knöchel und Unterarme mit einem Verband versehen waren und sie nichts weiter als ein Nachthemd am Leibe trug. Vor ihr zwang sich Merle gerade in ihren hautengen Fliegeroverall. Zum ersten Mal seit ihrer erneuten Ankunft auf Gaia fand Hitomi die Zeit um Merle ausgiebig zu betrachten und was sie sah, versetzte sie in Staunen. Vor ihr stand nicht mehr das niedliche Katzenmädchen, das sie einst kannte, sondern eine junge, athletische Frau mit Schwanz und Katzenohren. Beeindruckt verfolgte Hitomi die kontrollierte Spannung von Merles drahtigen Muskeln und den Ausdruck reiner Konzentration auf ihrem Gesicht. Bisher hatte sie diese Art der Vorbereitung nur bei Sportler vor einem Wettkampf und bei Kriegern vor einer Schlacht gesehen. Schließlich merkte Merle, dass beobachtet wurde. „Was glotzt du denn so?“, fragte sie Hitomi gereizt. „Ist irgendetwas?“ „Nein, es ist nichts.“, beruhigte Hitomi sie schnell und drehte sich weg. Das war nun wirklich nicht die Merle, die sie kannte. Was war nur aus dem Mädchen geworden, das während der Entscheidungsschlacht vor drei Jahren vor Angst um Van nicht schlafen konnte und bei ihr Trost gesucht hatte. Eigentlich gab es sie noch. Es war jenes Mädchen im viel zu kurzem Kleid gewesen, welches Hitomi von der Erde abgeholt und hierher nach Gaia gebracht hatte. Ja, entschied Hitomi, dieses Mädchen war noch da, auch wenn es jetzt von der Maske einer Kriegerin überdeckt wurde. Und von der Maske einer jungen Frau. Eine Frau, so wurde Hitomi klar, die Van schon von klein auf sehr gut kannte. Eine Frau, die vielleicht sogar in Van verliebt war. Hatte Hitomi etwa Konkurrenz bekommen? Eigentlich war es eine logische Schlussfolgerung, eine Notwendigkeit, dass nicht nur sie um Vans Hand kämpfte. Schließlich war er König und musste daher von allen Junggeselle in seinem Reich der begehrteste sein. War er überhaupt noch Junggeselle? Vielleicht, so dachte sich Hitomi, war er schon längst in eine andere verliebt und verheiratet. Drei Jahre sind schließlich eine lange Zeit, in der viel geschehen kann. Vielleicht war es sogar Merle selbst, der sein Herz gehörte. Dies würde erklären, warum die Gedankenverbindung zwischen ihr und Van nicht mehr bestand. Hitomi drohte wieder in die Dunkelheit abzurutschen und versuchte sich dagegen zu wehren. Sie klatschte sich sogar selbst auf die Wangen, doch es half alles nichts. Schon war sie wieder in der schwarzen Leere gefangen, aber dieses Mal trug sie es mit Fassung. Ihre Verteidigung bröckelte, als sie Van vor sich sah. Wie die vorherigen Male auch, schien er sich in den letzten Jahren kein bisschen verändert zuhaben und blickte wieder durch Hitomi hindurch. Was jedoch Hitomi den Atem verschlug, war das Baby auf seinem Arm. Es lächelte und streckte jemanden seinen freien Arm entgegen. Das Kind schien wirklich da zu sein und hatte zu allem Überfluss Engelsflügel, Katzenohren und ein kleinen, buschigen Schwanz. Dann erschien Merle an Vans Seite. Sie nahm die angebotene Hand und küsste seine Wange, während sie das Baby an seinen Ohren kraulte. Das Kind lachte vergnügt. Hitomi konnte das Glück, dass ihr entgegen schwappte, nicht mehr ertragen. Sie wollte ihre Augen schließen, schaffte es aber nicht. Stattdessen tauchten weitere Erscheinungen Vans um sie herum auf, jede mit einem Baby im Arm und einer Frau an seiner Seite. Frauen, die Hitomi schon einmal gesehen hatte, Frauen, die sie nicht einmal ansatzweise kannte. Sie alle wurden zu einer unüberschaubaren Menge. Hitomi wollte schon schreien, da rüttelte Jemand an ihrem Körper und schlug ihr auf die Wange. Endlich schaffte sie es, die Augen aufzumachen. „Was ist es?“, fragte Merle, die Hitomi berechnend ansah, während auf der Bettkante saß. „Was ist was?“, fragte Hitomi verwirrt. „Ständig kippst du weg.“, antwortete Merle besorgt. „Dich beschäftigt doch etwas. Geht es König Van gut? Ist er in Gefahr?“ „Oh, dem geht’s gut.“, erwiderte Hitomi säuerlich. „Dann ist Farnelia in Gefahr.“, schlussfolgerte Merle. „Warum sollte es?“, wunderte sich Hitomi. „Na, immer wenn du eine Vision hast, ist irgendwer in Gefahr. Also rück endlich mit der Wahrheit raus!“ „Meine Visionen handelten nicht über Gefahren für Van, Farnelia oder sonst wen. Sie waren rein privater Natur.“ „Was hast du gesehen?“, verlangte Merle plötzlich mit kindlicher Neugier zu wissen. „Privat, Merle! Das heißt, dass dich etwas nicht angeht.“, wiegelte Hitomi ab. Eingeschnappt wandte sich Merle ab und wollte gerade die Koje verlassen. „Warte, Merle! Wo gehst du hin?“, fragte Hitomi. „Auf dem Weg zu uns hat das Luftschiff eine Lichtung mit Spuren von einem landenden Guymelef entdeckt. Ich sehe mir das genauer an.“ „Sei vorsichtig!“, bat Hitomi. „Ich kann auf mich selbst aufpassen.“, erwiderte Merle trotzig. „Das meinte ich nicht, Merle.“, flüsterte Hitomi. Das Katzenmädchen schien es zu überhören. „Übrigens solltest du König Van mit seinem Titel anreden, so wie jeder andere auch.“, mahnte sie Hitomi stattdessen und schlug hinter sich die Tür zu. Hitomi dachte einen Moment darüber nach, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Fenster zu. In Gedanken ging sie noch einmal alles durch, was ihr in den letzten Stunden widerfahren war. Erst hatte Merle sie nach Gaia gebracht, dann war sie von einem Zaibacher Guymelef entführt worden, dann hatte Merle die Entführer abgeschlachtet und sie schließlich auf dieses Luftschiff gebracht. Was war das überhaupt für ein Luftschiff? Hitomi sah sich um. Die Wände waren in einem hellen Rot gestrichen und mit goldenen Tüchern geschmückt worden. Außer ihrem Bett gab es noch einen Kleiderschrank und einen Schreibtisch. Der Fußboden wurde von einem aus blauen und vereinzelt goldenen Fäden gewobenen Teppich bedeckt, in dessen Mitte das Zeichen Farnelias abgebildet war. Ein solches Design wie in ihrem Zimmer war Hitomi völlig unbekannt, doch die Zugehörigkeit zu Farnelia war offensichtlich. Hitomi war noch immer in Gedanken versunken, als sich die Tür zur ihrer Koje öffnete. Hindurch trat eine Frau mittleren Alters mit langem, schwarzem Haar. Sie trug ein hellblaues Kleid mit einer weißen Schürze. Es folgte ihr ein etwa 15-jähriges Mädchen, ähnlich gekleidet, hatte jedoch dunkelbraunes Haar, eine unterwürfiger Haltung und einen Topf voll mit Wasser in der Hand. „Wie geht es euch?“, fragte die Frau barsch. „Gut, nehme ich an.“, antwortete Hitomi ein wenig überrumpelt. „Da ihr jetzt wach seid, hat man mir aufgetragen, euch noch einmal zu untersuchen. Dürfte ich eure Füße sehen?“ Ohne eine Antwort nickte die Frau dem Mädchen zu, welches sogleich die Decke über Hitomi zurückschlug und einen nach dem anderen die Verbände entfernte. Hitomi atmete bei der Abnahme der Unterarmverbände scharf ein. Inzwischen war die Frau schon mit der Untersuchung der Fußgelenke beschäftigt. „Sagen sie Bescheid, wenn es weh tut.“, sagte die Frau trocken und riss an Hitomis linken Fuß. Hitomi brüllte ihren Schmerz hinaus. „Nicht schreien! Nur sagen, wo es weh tut.“, forderte die Frau. Hitomi nickte bestätigend und ließ weitere mehr oder weniger schmerzhafte Untersuchungsmethoden über sich ergehen, doch sehnte sie sich nach nichts mehr als dem Ende der Folter. Fünf Minuten später war die Visite abgeschlossen und die Frau verließ ohne ein Wort des Abschieds, sondern nur mir einer kurz angebundenen Diagnose und Befehlen für ihre Assistentin den Raum. Das Mädchen machte sich daran die Schürfwunden an den Unterarmen auszuwaschen. Der Schmerz ging weiter. Ab und zu sah sie Hitomi neugierig an, senkte ihre Augen aber schnell wieder. Der Patientin entgingen ihre Blicke nicht. „Wie heißt du?“, fragte sie. Sie versuchte trotz der Tortur freundlich zu wirken. „Siri Riston, Fräulein.“, antwortete das Mädchen verlegen. „Bitte nenn mich Hitomi. Ist es in Ordnung, wenn ich dich mit deinem Vornamen anspreche?“, fragte Hitomi, wobei sie mehr Vertraulichkeit in ihre Stimme legte. „Ja, Fräulein.“ „Warum so schüchtern? Du kannst mich ruhig mit meinem Namen ansprechen.“ „Das ist leider nicht möglich, Fräulein.“ „Wieso nicht?“, hakte sie nach. „Weil König Van höchstpersönlich den Kommandant dieses Luftschiffes befohlen hat, dass ihr mit größten Respekt zu behandeln seid, Fräulein.“ Einen Moment lang durchfloss Hitomi ein Gefühl der Genugtuung. „Und das hindert dich daran meinen Wunsch zu entsprechen?“ „Ja, Fräulein.“ „Warum hält sich deine Vorgesetzte nicht daran?“ „Ich weiß es nicht, Fräulein.“ Inzwischen verband Siri Hitomis Arme. „Kann ich den Kommandanten sprechen?“ „Das ist nicht möglich, Fräulein.“ „Siri, bitte lass wenigstens das Fräulein beiseite!“ „Ich darf nicht, Fräulein.“ Verärgert schüttelte Hitomi mit dem Kopf. Sie hatte das Gefühl gegen eine Wand anzurennen. „Warum kann ich den Kommandant nicht sprechen?“ „Weil sie gerade mit ihrem Guymelef gestartet ist, Fräulein.“ „Merle ist der Kommandant?“, wunderte sich Hitomi. „So ist es, Fräulein.“ „Warum hast du mich vorhin so neugierig angestarrt?“, versuchte es Hitomi weiter. Siri wechselte zu Hitomis Füßen und fing an jeden Knöchel mit einem Stützverband zu versehen. „Nun?“, fragte Hitomi weiterhin freundlich. Siri zögerte, doch dann gewann ihre Neugier. „Sind die Gerüchte wahr?“, wollte sie wissen. „Welche Gerüchte?“ Siri sah Hitomi nun direkt in die Augen. „Ihr stammt vom Mond der Illusionen, nicht wahr?“ „Nun, weißt du...“ „Ihr sollt die Gefährtin unseres Königs gewesen sein, als er gegen die Zaibacher in die Schlacht zog.“, erzählte Siri leise. „Ich habe ihn damals begleitet, ja, aber ich war nicht die einzige.“ „Dennoch sollt ihr etwas besonderes gewesen sein. Angeblich haben die Zaibacher nur wegen euch Farnelia, Fraid, und Astoria angegriffen.“ „Wie bitte?“ „Böse Zungen behaupten gar, dass ihr es wart, der König Van dazu veranlasst hat einen Präventivschlag gegen das Zaibacher Imperium zu führen, dessen Folge die Zerstörung Farnelias war.“, führte sie weiter aus und verdrehte dabei schmerzhaft Hitomis Bein. „Das ist kompletter Unsinn.“, verteidigte sich die junge Frau. „Ich habe meinen Vater beim Angriff der Zaibacher auf Farnelia verloren.“ Verachtung spiegelte sich in Siris Augen wieder. Hitomi blieb die Luft weg. „Geht wieder dorthin zurück, wo ihr hergekommen seid! In unserem Land werdet ihr keinen Platz finden.“, informierte Siri sie mit eiskalter Stimmlage, dann beendete sie schnell und präzise ihre Arbeit. „Übrigens, die Frau, die ihr für meine Vorgesetzte gehalten habt, ist meine Mutter.“, erklärte sie mit Tränen in ihren Augen und mit Wut verzerrter Stimme. Daraufhin stürmte Siri aus der Koje und ließ ihre Patientin allein in der Stille zurück. Hitomi verstand die Welt nicht mehr. Warum war sie hier? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)