Stadt der Engel von matvo (Schatten und Licht, Band 1) ================================================================================ Kapitel 26: Selbst sein ----------------------- In Gedanken versunken saß Van an seinem Schreibtisch, während über dem Palast die kalte Wintersonne aufging. Vor ihm lag der Bericht über die Gerüchteküche in Farnellia, den er gestern Abend erhalten hatte. Seine Augen blickten starr auf die Zeilen, die er eigentlich schon auswendig kannte und trotzdem immer wieder durchlas. Erinnerungen stiegen hoch. Van sah sich als kleiner Junge, wie er aufgeregt an Falkens Arm zog um ihn etwas zu zeigen, eine Entdeckung, welche damals für ihn völlig neu gewesen war. Was es war, wusste er längst nicht mehr. Doch dann war plötzlich alles anders gewesen. Er erinnerte sich, wie er am Familiengrab gestanden hatte, neben seiner weinenden Mutter, die wegen des Verschwinden seines Bruders trauerte. Deutlich spürte er das unangenehme Kitzeln der Tränen auf seiner Haut, während er versuchte seiner gebrochenen Mutter Mut zu machen und ihr etwas Stärke zu geben, die er selbst nicht einmal hatte. Kurze Zeit danach war auch sie spurlos verschwunden. Sein Vater war schon Jahre zuvor gestorben. Wäre Vargas über die ganzen Jahre nicht an seiner Seite gewesen, wäre Van nie über den Verlust seiner Familie hinweg gekommen. Wäre Merle nicht gewesen, hätte er keine mehr gehabt. Wäre Hitomi nicht gewesen, hätte er niemals den Wunsch verspürt, eine eigene zu gründen. Doch gerade sie war nicht hier. Nur ein Echo ihrer Präsenz geisterte durch sein Inneres und riss immer größere Löcher in den Panzer seines Herzens. Hinter sich vernahm Van das Tippeln kleiner Füße auf der Treppe und drehte sich um. Er sah Sophia, wie sie in ihrem Kampfanzug die Treppe runter kam. Nur zögernd kam sie auf ihn zu, lächelte zwanghaft, senkte dann ihren Kopf, während sie an ihm vorbei zur Ausgangstür ging. Sie hatte schon den Türknauf in der Hand. „Warte!“, bat er sie mit leiser, aber eindringlicher Stimme, woraufhin Sophia sich versteifte. „Was ist denn noch? Ich wüsste nicht, was wir uns zu sagen hätten.“, sagte sie verbittert. Der König erhob sich von seinem Stuhl und näherte sich der Prinzessin langsam. „Ich wüsste vieles, doch das hat Zeit.“ „Dann kann ich ja gehen.“ Angesichts der Kälte in Sophias Stimme zuckte Van innerlich zusammen, was ihn für einen Moment aus dem Konzept brachte. Er fing sich jedoch wieder. „Nein, das kannst du nicht. Es gibt da etwas, dass du vorher wissen solltest.“ „Und das wäre?“ „Bitte setz dich.“ Sophias Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und ihre Hand würgte den Türknauf. In ihren Innern wirbelten der Schmerz, die Trauer und Enttäuschung von seiner Zurückweisung gestern noch immer wild durcheinander. Eigentlich hatte sie gehofft, dies alles bei dem Training vergessen zu können. „Also gut, lass uns reden!“, stimmte sie unterkühlt zu. Van seufzte niedergeschlagen und setzte sich ebenfalls. Fieberhaft überlegte, er wie er ihr die Neuigkeiten am besten mitteilen konnte. Im Vertrauen auf ihre seelische Stärke entschied er sich für die direkte Variante. „Nach dem Attentat habe ich nach den aktuellen Gerüchten in den Wirtshäusern und Kneipen forschen lassen. Diesen Bericht habe ich gestern erhalten.“, informierte der König sie fast förmlich und hielt ihr den entsprechenden Bogen Papier hin. „Ich will dich ja nicht enttäuschen, Van, aber ich interessiere mich nicht für die Klatschpresse.“, sagte die Prinzessin Nase rümpfend und schob den Bericht von sich weg. „Glaub mir, diese Gerüchte solltest du kennen.“, widersprach Van ernst . Sein eindringlicher Blick stach ihr ins Auge, woraufhin ihre Wut durch Sorge, aber auch durch Neugierde ersetzt wurde. Sie nahm den Bericht an und begann ihn zu lesen. Plötzlich weiteten sich ihre Augen und Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Der König merkte sofort, dass sie am Knackpunkt des Schreibens angekommen war. „Ich habe dafür noch keine offizielle Bestätigung bekommen. Es könnte sein, dass…“, versuchte er sie zu beruhigen. „Du hättest mir den Bericht nicht gezeigt, wenn du nicht glauben würdest, dass er der Wahrheit entspricht.“, schluchzte das Mädchen. „Ich wollte nur nicht, dass du es von den Dienern erfährst.“ „Warum? Damit ich vor ihren Augen keine Schwäche zeige? Darf ich in der Öffentlichkeit nicht einmal weinen? Warum soll niemand sehen, dass ich genauso über den Tod meines Bruders weine wie jeder andere Mensch auch?“, schrie sie. Nach diesen Worten stürmte sie die Wendeltreppe hinauf in das Kuppelzimmer und warf sich auf das Bett. Der Herrscher folgte ihr nicht, blieb regungslos sitzen, während er auf Farnelia blickte. Ja, warum eigentlich nicht? Van wusste, dass jedes Zeichen von Schwäche in der Öffentlichkeit das Vertrauen seines Volkes in ihn erschütterte und seinen Feinden einen weiteren Trumpf zuspielte. Für sein Volk hatte er perfekt zu sein, als Vorbild musste er alle Tugenden in sich vereinen, einfühlsam sein und nicht die kleinste Regung von Emotionen zeigen. Sie könnten ja sein Urteilsvermögen trüben. Zeit seines Lebens hatten die Erwartungen anderer sein Verhalten geprägt und geschliffen. Wo sein eigenes Selbst dabei geblieben war, wusste er nicht mehr. Wann er es verloren hatte, konnte er auch nicht sagen. Aber er wusste, wann er es wieder gefunden hatte. Hitomi hatte ihm sein Wesen wiedergegeben, als sie ihm gesagt hatte, wie sehr sie seine Flügel mochte. Als sie ihn angenommen hatte, so wie er war. Dann kam ihm das Gespräch mit Merle auf dem Dach der Mühle in den Sinn und ihm wurde klar, dass Merle seine Menschlichkeit die ganze Zeit über in ihrem Innern bewahrt hatte. Dank Hitomi hatte sie ihm davon auch wieder etwas zurückgeben können. Natürlich warf diese Erkenntnis die Frage auf, ob sie seine Entwicklung zu einer seelenlosen Puppe unter der Krone schon vor Jahren geahnt hatte. Ob sie es die letzten Jahre auch so beobachtet hatte. Er betrachtete verhalten die Wendeltreppe und fragte sich, ob es für Sophia auch eine Person gab, die ihr Selbst für sie bewahrte? War diese Person vielleicht ihr Bruder gewesen, der allem Anschein nach einem Attentat zum Opfer gefallen war? Das leise Heulen aus dem Kuppelzimmer war noch immer nicht verstummt und der Van begann sich ernsthaft Sorgen zu machen. Er hielt Sophia in jeder Hinsicht für ein starkes Mädchen, doch der Laufpass, den er ihr gestern gegeben hatte, und die heutige Nachricht von dem Tod ihres Bruders wäre wohl für jeden zu viel. Leise betrat Van das Kuppelzimmer. Die Prinzessin lag noch immer auf dem Bett und vergrub ihr Gesicht in ihr Kissen. Langsam trat er an sie heran, setzte sich auf das Bett und legte seine Hand über ihre Schulter. Ihr Körper verkrampfte sich und wehrte sich für einen Moment gegen den sanften Druck seiner Hand, entspannten sich dann doch zusehends und akzeptierten seine Nähe. Jedoch dauerte es noch eine viertel Stunde, ehe sie sich ihm zuwandte. Ihre Wangen waren rot und zeigten Spuren der vergangenen Tränen. Ihr Blick hingegen strahlte stählerne Entschlossenheit aus. „Bist du dir sicher, dass du mich nicht lieben kannst?“, fragte sie ihn. „Ich bin das einzige noch lebende Kind meines Vaters. Wenn du mich heiratest, ist dir der Thron von Chuzario sicher.“ „Du weißt, für mich zählen solche Dinge nicht.“, gab Van sanft zurück. „Aber du würdest der Herrscher eines der mächtigsten Königreiche werden. Das wäre nicht nur für dich, sondern auch für Farnellia das Beste.“, versuchte die Prinzessin es erneut. „Hör bitte auf! Ich würde in einer Lüge leben. So etwas kann ich nicht. Könntest du es?“ „Für mich wäre es keine Lüge! Ich liebe dich wirklich!“ „Du denkst also, was du für mich fühlst, ist Liebe?“ Er schüttelte mit dem Kopf und erhob sich. „Willst du etwa schon gehen?“, fragte Sophia fassungslos. Anstatt zu antworten, drehte er sich von ihr weg und machte sich auf den Weg zur Treppe. „Warum gehst du? Willst du mich jetzt etwa alleine lassen? Jetzt, wo ich dich am dringendsten brauche?“, schrie sie ihn wütend hinterher. Doch alles Keifen half nichts. Als Van nicht mehr zu sehen war, brach sie erneut in Tränen aus. „Warum?“, flennte sie. „Warum? WARUM?“ Das Mädchen war allein. Um sie herum erstarben alle Geräusche. Nur ihr eigenes, leiser werdendes Wimmern drang noch in ihr Ohr, bis auch Tränen endgültig versiegt waren. Totenstille. Sie ließ sich zurück auf das Bett fallen und starrte mit leerem Blick auf die vielen Sterne an der Wand. Ihre Gedanken wanderten umher zu längst vergangenen Zeiten und vergessen Orten. Plötzlich sah sie sich selbst vor dem Grab ihrer Familie stehen. Ein dunkelgrauer Himmel ließ einen laut prasselnden Regen auf die Erde los. Sophias Kleidung war durchnässt und ließ sie frösteln, doch sie merkte es nicht einmal. Um sie herum war eine große, schwarz gekleidete Trauergemeinde versammelt, welche natürlich nur aus den engsten Freunden und Familienmitgliedern bestand. Sophia brauchte sich nicht umzusehen um zu wissen, dass nur die wenigsten mit echter Trauer auf das Grab vor ihren Augen sahen. Die meisten Blicke waren kühl, berechnend. Wieder spürte sie einen sanften Druck auf ihren Schultern. Sie dachte schon, Van wäre zurückgekommen, aber als sie sich umsah, empfing sie das sanfte Lächeln ihres großen Bruders. Tapfer lächelte sie zurück. Seine Mundwinkel verzogen sich einen Moment lang zu einem breiten Grinsen, dann aber sah er wieder mit einem ernsten und durch Trauer geprägten Gesichtsausdruck auf das Familiengrab, in dessen Kammer gerade eine Urne eingelassen wurde. Bald wird es die meines letzten Bruders sein. Einmal gedacht, ließ der Gedanke Sophia nicht mehr los. Erst verschwand das sanfte Gewicht seiner Hände von ihren Schultern. Sie drehte sich panisch um und konnte gerade noch beobachten, wie er schnell durchsichtig wurde und sich in Luft auflöste. Mit einem Schlag war auch von der Trauergemeinde keine Spur mehr zu finden und Sophia war ganz alleine vor dem Grab. Die Kammer stand noch immer offen, in ihrem Innern jedoch lagen fünf Urnen. In Sophia regte sich plötzlich der Wunsch, ihre eigene wäre mit dabei. Daraufhin verschwanden auch das Grab und die ganze Landschaft. Um sie herum war nur eine erstickende, undurchdringliche Finsternis. Sie spürte weder Boden unter ihren Füßen noch irgendwelche Kleidung an ihrer Haut. Sie fror, fühlte sich bedrängt und entblößt. Schutzlos ausgeliefert kauerte sie sich zusammen und wartete. Sie hatte keine Ahnung, worauf. Alles, was sie wusste, war, dass etwas passieren musste, sonst würde sie nicht mehr lange durchhalten und dann… Wieder einmal berührte eine Hand ihre Schulter. Sophia hielt es für eine Illusion, für eine weitere Einbildung ihrer verzweifelten Seele, doch dann rüttelte die Hand ihre Schulter. Langsam erwachte Sophia aus ihrer Trauer und fand sich auf den Bett im Kuppelzimmer wieder. Neben ihr saß Van und er zeigte das sanfte Lächeln, welches die Prinzessin so an ihren jüngst verstorbenen Bruder erinnerte. „Hast du Lust auf einen Ausritt? Ich habe die Pferde bereits satteln lassen.“, fragte er freundlich. „Keine Lust!“, nörgelte sie. „Einen König versetzt man nicht.“, mahnte Van verspielt und plusterte sich auf. „Wenn ich mitkomme, hältst du dann die Klappe?“ „Abgemacht!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)