Stadt der Engel von matvo (Schatten und Licht, Band 1) ================================================================================ Kapitel 38: Geschwisterliebe ---------------------------- Hitomi starrte durch das kleine Fenster ihres Gefängnisses hinaus in den Himmel. Sie dachte noch immer voller Sehnsucht an ihren letzten Traum zurück. An die Schmerzen erinnerte sie sich genauso gut wie an die Wärme von Vans Händen. Noch immer fühlte sie Vans Tränen, wie sie an ihrer Wange herunter liefen. Noch immer stieg der süße Geruch seiner Haut ihr in die Nase und ließ sie vor Erregung zittern. Die Intensität, mit der ihr Körper nach seinem lechzte, löste in ihr gleichzeitig Angst und freudige Erwartung aus. Hitomi sehnte sich nach seiner Nähe und je näher er kam, desto größer wurde ihr Verlangen. Jetzt, da sie spürte, dass Van nur noch wenige Minuten entfernt war, hielt sie es kaum noch aus. „Er ist also gleich hier.“, stellte Siri hinter ihr fest. Erschrocken drehte sich Hitomi um. Gelassen lehnte Siri am Türrahmen und grinste Hitomi an. „Natürlich ist er das. Was für einen anderen Grund könnte das heftige Aufflammen eurer Aura haben?“ „Es wäre besser für dich, wenn du gehst.“, forderte Hitomi sie so ruhig und freundlich auf, wie es nur ging. „Warum sollte ich, Fräulein?“, fragte Siri erstaunt. „Schließlich möchte ich es doch mit meinen eigenen Augen sehen, wie euch euer eigener Bruder umbringt.“ „Warum tust du das?“, schrie Hitomi verzweifelt. „Ich dachte, du hättest mir den Tod deines Vaters verziehen.“ „Wenn eure Geschichte wirklich stimmt, Fräulein, gibt es da nichts zu verzeihen.“, erwiderte Siri kalt. „Es war doch Kaiser Dolunkirk, der die Kriege angefacht hat, oder etwa nicht?“ „Ja, natürlich, aber warum…?“ „Wenn ich Trias… meinem Meister nicht gehorche, spüre ich so große Schmerzen, wie kein Mensch sie sich je vorstellen könnte und ein Befehl lautet nun einmal, dass ich euch quälen soll.“ „Aber…“ „Erst lehnt ihr sein äußerst großzügiges Angebot ab, dann stößt ihr ihn mit einem Schild aus reiner Gedankenenergie von euch weg und schlagt ihn somit mit seinen eigenen Waffen. Kein Wunder, dass mein Meister sauer auf euch ist.“ Hitomi verstand die Welt nicht mehr. Was hatte sie getan? Langsam ging Siri auf das Bett zu und setzte sich auf den Rand. Sanft strich sie den bewusstlosen Ryu durch sein zerzaustes Haar. „Ich bin wirklich überrascht, dass ihr es geschafft habt, ihn in das Bett zu schleppen, obwohl ihr nach eurem Erwachen so schwach wart. Es ist vor allem erstaunlich, dass ihr gegenüber jemandem, der euch töten wird, so zuvorkommend seid.“ „Er ist und bleibt mein Bruder.“ „Schon bevor ich ihn gebissen habe, war er sehr schön, doch das Virus hat ganze Arbeit geleistet. Jetzt hat er nicht nur ein hübsches Gesicht, sondern ist auch sehr gut gebaut.“, meinte Siri und zog die Decke und die Kleidung über seinen Oberkörper zurück. „Seht euch nur seine Bauchmuskeln an. Die sind der Hammer!“ „Er ist mein Bruder!“, bekräftigte Hitomi entrüstet. „Und das hindert euch daran, ihn attraktiv zu finden oder etwas für ihn zu empfinden?“ Hitomi starrte Siri ungläubig an, welche abwehrend die Hände hob. „Ich bin ein Einzelkind und kann so etwas nicht wissen, daher frage ich.“ „Ständig provoziert er einen Streit mit mir und am Ende bin immer ich die Dumme. Liebe sieht anders aus!“ „Trotzdem sorgt ihr euch um ihn und über die letzten Tage habt ihr mit ihm sogar das Bett geteilt. Habt ihr das aus Pflichtgefühl getan oder empfindet ihr nicht doch etwas für euren Bruder?“ „Natürlich liebe ich meinen Bruder, aber hierbei handelt es sich um reine Geschwisterliebe.“ „Jedoch frage ich mich, wie groß der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Liebe ist…“, erklärte Siri und fuhr mit ihrer Hand über Ryus Stirn. Schlagartig öffneten sich seine Augen und bewegten sich verwirrt hin und her. „…und wie schnell aus Geschwisterliebe heißes Verlangen wird.“ Fast schon hektisch verließ Siri den Raum und ließ dabei eine panisch zitternde Hitomi zurück. Nachdem sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, torkelte sie zur gegenüberliegenden Flurwand und stützte sich schwer atmend ab. Die bisher langsam anschwellenden Kopfschmerzen waren mittlerweile unerträglich geworden. Erschöpft und die Zähne zusammenbeißend sank Siri auf ihre Knie. „Was sollte dieses belanglose Gespräch eben? Wolltest du etwa Zeit schinden?“, dröhnte Trias Stimme aus ihrem Unterbewusstsein heraus. „Bitte, Meister!“, flehte Siri leise. „König Van ist doch praktisch schon hier. Der Köder hat funktioniert. Es gibt keinen Grund sie zu töten!“ „Du hast mir zu Diensten zu sein. Ich habe dich erwählt. Das Leben dieser minderwertigen Kreatur hat dich nicht zu interessieren! Meinen Willen zu erfüllen hat deine einzige Sorge zu sein! Sag deinem Schüler, er soll sie töten, oder mach es selbst! Es ist mir egal. Hauptsache, sie stirbt.“, donnerte Trias. Daraufhin explodierte Siris Kopf. Von den Schmerzen überwältigt, gruben sich beide Hände in ihr Haar und Siri wälzte sich schreiend auf dem Boden hin und her. Schließlich gab sie ihren Widerstand auf, woraufhin ihr Kopf sofort wieder klar wurde. Ein warmer Strom aus Tränen floss über den kalten Stein, auf dem sie lag. „Tu es endlich! Mach es kurz und schmerzlos!“, wimmerte sie und schickte den Gedanken an Ryu. Deutlich spürte sie, wie er sich verwirrt aus dem Bett erhob. Zwischen der Liebe zu seiner Schwester und dem Pflichtgefühl gegenüber seiner Meisterin hin und her gerissen, verharrte seine rechte Hand über dem Griff seines Schwertes. Hitomis lautstarkes und verzweifeltes Flehen, er möge doch wieder der Alte werden, und Ryus innerlicher Konflikt weckten in Siri erneut Zweifel, die Ryu in seinem Widerstand gegenüber ihrem Befehl bestärkten. Wieder schnitt ein gleißend heller Blitz durch ihre Gedanken. Der Ohnmacht nahe packte sie ihren Kopf und schickte ihre Schmerzen an Ryu weiter, der ohne Zurückhaltung aufschrie. „Siehst du nicht, wie ich leide?“, flüsterte sie und schickte ihm ein Bild von sich selbst, wie sie zusammengekauert auf dem Boden lag. „Siehst du nicht, wie deine Schwester leidet?“ Mit dem Rest an gedanklicher Kontrolle zwang sie ihn sich auf das vor Angst erstarrte Gesicht seiner Schwester zu konzentrieren. „Du kannst dem ein Ende machen! Tu es für uns beide!“ Ryu fasste den Griff seines Schwertes und zog es aus der Scheide. „Mach es kurz und schmerzlos!“ Er ging schwankend auf Hitomi zu und holte aus. Mit erhobenem Schwert stand ihr kleiner Bruder drohend vor ihr. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske aus Schmerz und Verwirrung. Panik lähmte Hitomis Körper und ließ sie nicht zurückweichen. Unerträglich langsam und zitternd senkte sich sein Schwert diagonal ihren Schultern entgegen. Instinktiv ging Hitomi dann doch zwei Schritte rückwärts, woraufhin Ryu den Schlag schnell und entschlossen durchzog. Fast ohne Widerstand durchschnitt die Spitze seiner Klinge ihre Fellkleidung und das Fleisch ihres linken Oberarmes. Brennendes Leid breitete sich über ihren ganzen Arm aus. Geschockt stolperte sie über ihre eigenen Füße und fing sich mit den Ellbogen beider Armen auf, wobei eine weitere Welle heißen Schmerzes ihr für einen Moment das Bewusstsein raubte. Als sie sich wieder gefangen hatte, presste sie ihre rechte Hand auf die stark blutende Wunde und robbte sich von Ryu weg, bis sie mit dem Nacken an die Zimmerecke neben dem Fenster stieß. Hilflos musste sie mit ansehen, wie Ryu langsam und bedrohlich mit der blutgetränkten Schwertspitze näher kam. Sie kreischte, schrie panisch auf, rief mit aller Kraft nach Van und verlangte nach seiner Hilfe. Wieder hob Ryu sein Schwert und als in sie schon fast alle Hoffnung gestorben war, schoss Van durch das Fenster in ihr Gefängnis. Während sich die Fingerspitzen seiner Hände so gut es ging in den heißen Stein der Außenwand über dem Fenster gegraben hatten, trafen seine Füße Ryu in die Rippen und schleuderten ihn gegen die Tür, die krachend aus dem Rahmen fiel. Das laute Geräusch mehrer Propeller wurde schnell leiser und verstummte schließlich ganz. Aufrecht und kampfbereit stand Van im Zimmer, während ihm ein paar Federn in das Zimmer folgten und andere sacht zu Boden glitten. Angesichts seines nackten, Muskel bepackten Oberkörpers vergaß Hitomi alle Furcht. Beeindruckt verfolgte sie, wie Van sein Schwert aus dem Rückenhalfter zog und in Kampfstellung ging. Im nächsten Augenblick trat Ryu durch den Türrahmen und schlug waagerecht mit dem Schwert nach Vans Rippen. Dieser parierte, wurde jedoch von Ryus Kraft und Geschwindigkeit vollkommen überrascht, hob ab und flog im hohen Bogen auf das Bett, wo er weich landete. Zum Ausruhen blieb ihm jedoch keine Zeit. Ryu sprang ihm gleich hinterher, Van rollte zur Seite und Ryus Klinge teilte das Bett in zwei Hälften. Inzwischen hatte Van sich wieder gefasst und schob Ryu mit einem Bein von sich weg, während er das andere aufrichtete. Den gewonnenen Abstand nutzte Ryu erneut für einen waagerechten Schwertstreich, doch seine Klinge spaltete nur Luft. Van hatte sich erst mit seinen Händen, dann mit dem aufgestellten Bein von der harten Matratze abgestoßen, flog mit einer 180° Rolle über Ryu und seinen Schlag hinweg und noch während der Landung führte er einen senkrechten Schlag gegen die Wirbelsäule seines Kontrahenten. Plötzlich hatte Ryu seinen Gegner im Nacken, also machte er einen Hechtsprung nach vorne auf das zertrümmerte Bett um Vans Klinge zu entgehen. Die Zeit, die Ryu brauchte um aufzustehen und sich umzudrehen, nutzte Van zum Verschnaufen und zu einer Analyse seines Gegners. Dieser war zwar sehr schnell, doch war auch ein blutiger Anfänger und hatte wahrscheinlich zum ersten Mal ein Schwert in der Hand. Durch das weite Ausholen waren seine Schläge frühzeitig erkennbar. Somit war der Geschwindigkeitsvorteil praktisch vernichtet und seine übernatürliche Stärke würde dem Jungen auch nichts nützen, wenn er nicht traf. Im Hinterstübchen registrierte Van, dass Hitomi ihm etwas zurief, doch er verstand es nicht. Es spielte sowieso keine Rolle. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte seinem Gegner. Sie musste warten. Wieder stürmte Ryu auf ihn zu und schlug nach ihm, doch Van wich den Schwertstreichen nur noch aus statt sie zu parieren. Dabei fiel er über seine eigenen Füße und landete auf seinem Rücken. Ryu war sofort bei ihm, baute sich vor ihm auf und trieb seine Klinge senkrecht Vans Kopf entgegen. Dieser versuchte zu blocken, konnte jedoch der Kraft seines Gegners nichts entgegensetzen. Die Spitze seines eigenen Schwertes rammte sich neben seinen Kopf in den Boden, während Ryus Schwert an dessen schiefen Klinge abrutschte und er so aus dem Gleichgewicht kam. Reingefallen, dachte Van und ließ sein Schwert los. Wieder rollte er sich von Ryu weg, zog dabei ein Bein an und kam wieder hoch. Der Dolch, der sich noch eben in einem seiner Stiefel befunden hatte, war nun in seiner rechter Hand. Noch während Ryu um sein Gleichgewicht kämpfte, überbrückte Van die Distanz zwischen den beiden mit nur einem Schritt, rammte den Dolch in Ryus Rippen und schlug mit der anderen Faust Ryu ins Gesicht. Zum Abschluss packte er dessen Kopf mit beiden Händen und drosch sein Knie in den Unterkiefer seines Kontrahenten, der daraufhin bewusstlos niedersank. „Es reicht, Van!“, schrie Hitomi verzweifelt. Erst jetzt bemerkte Van, dass sie ganz bleich im Gesicht war. „Er wollte dich umbringen!“, rechtfertigte er sich. „Und du hast ihn erfolgreich daran gehindert. Jetzt lass ihn in Ruhe!“, befahl sie und rappelte sich auf. Verärgert zog Van seinen Dolch aus dem Körper seines Gegners und wischte das Blut an der Klinge mit der Bettdecke ab. „Du könntest ruhig etwas dankbarer für deine Rettung sein!“, beschwerte er sich. „Noch ist es nicht vorbei.“, konterte sie. „Doch, ist es.“, behauptete er. „Ich muss dich jetzt nur noch in meine Arme zu nehmen und zur Katzenpranke fliegen.“ „Und was wird aus Merle? Willst du sie hier einfach so verrecken lassen?“, erwiderte Hitomi empört. „Merle ist hier?“, wunderte sich Van. „Sag bloß, du wusstest das nicht. Du scheinst ohne sie vollkommen blind zu sein. Was dachtest du denn, wo sie wäre?“ „Sie kann nicht hier sein. Ich kann ihre Aura nicht spüren. Es gibt zwar eine Person, die sich abschirmt und deren Unbeweglichkeit auf eine Gefangenschaft schließen lässt, aber die befindet sich schon seit Jahren hier.“ „Merle schirmt sich nicht ab. Ihre Aura ist offen wie ein Scheunentor.“ „Warum kann ich sie dann nicht fühlen?“ Hitomi bedachte Van mit einem stechenden Blick. „Weil ihre Aura nur noch aus Leid und seelischen Schmerzen besteht. Sie wird förmlich von Einsamkeit überrannt, aber gegen solche negativen Gefühlen schirmst du dich ja ab.“ Van verfluchte sich im Stillen selbst, während Hitomi sich zu ihrem Bruder herunter beugte. „Wo ist sie?“, erkundigte er sich. „Unten. Irgendwo unterhalb des Erdgeschosses.“, teilte ihm Hitomi mit. Van griff nach seinem Funkgerät an seinem Gürtel, während er verwundert beobachtete, wie Hitomi dem Jungen einen Kuss auf die Stirn gab und ihm dann Lebewohl sagte. „Was soll das denn? Dieser Junge wollte dich töten, falls du es schon vergessen hast.“ „Hab ich nicht.“, versicherte Hitomi. „Ich erkläre es dir später. Erst müssen wir Merle retten.“ Er nickte und sprach dann in sein Funkgerät. „Katzenpranke, hier Sturmfalke. Brechen sie den Rundflug ab und landen sie im Hof des Tempels! Die Soldaten sichern den Hof und das Erdgeschoss des Tempels! Ich stoße im Erdgeschoß zu ihnen.“ Daraufhin gab das Funkgerät etwas von sich, was sie jedoch nicht verstand. „Sagen sie ihr, sie soll die Rampe zu Schiff bewachen! Wehe, ich sehe sie im Tempel!“, antwortete Van und steckte das Gerät weg. „Gehen wir?“ fragte er, woraufhin Hitomi nickte. „Befreien wir den anderen Gefangenen ebenfalls?“, erkundigte sie sich. „Wenn wir Zeit dafür haben.“, versprach Van und schob sie durch den Türahmen in den Flur hinein. Als Siri aus ihrer Ohnmacht erwachte, sah sie gerade noch, wie Hitomi zusammen mit Van den Flur hinab schritt. Ihre Erleichterung wurde gleich mit einer Welle aus Schmerz beantwortet. Mühsam stand sie auf und ging in Hitomis ehemaliges Gefängnis. Über das kaputte Bett und die herausgerissene Tür wunderte sie sich schon gar nicht mehr. Besorgt beugte sie sich über Ryu, ihren neuen Schüler. Großzügig versuchte sie dabei die Tatsache zu ignorieren, dass der Junge wahrscheinlich genauso alt war wie sie. Ein kurzer Blick in sein Gedächtnis verriet ihr, was passiert war. In Stiefeln versteckte Dolche retten einem doch immer wieder den Tag, dachte sie und auch der wiedereinsetzende Schmerz konnte Siri ihr Lächeln nicht nehmen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)