Der letzte Drache von Karen_Kasumi ================================================================================ Kapitel 7: Namuren ------------------ Der nächste Morgen verlief in klirrend kalter Stille, denn der Wind hatte aufgefrischt und trug nun schon den Geruch nach Schnee von den Gipfeln der Berge hinunter. Ohne viele Worte frühstückten sie und sogar Physales sagte kaum etwas, als sie sich gleich danach zum Aufbruch bereit machten. Schon gestern Abend hatten sie ihre Mäntel aus den Bündeln ausgepackt, die jeder von ihnen bei sich trug und nun waren sie dankbar dafür, nicht noch lange danach suchen zu müssen. Es war zwar noch nicht so kalt, dass sie gefroren hätten, aber wirklich warm war auch niemandem mehr, so dass sie ihre wärmenden Kleidungsstücke lieber jetzt als später überzogen. Dann machten sie sich endgültig auf den Weg, immer die Flanke des Berges hinauf, an dessen Fuß sie übernachtet hatten. Dieser stieg steil gen Himmel auf und sein Gipfel war mit Wolken bedeckt, so dass sie ihn von ihrem Standort aus nicht erkennen konnten. Aber schon nach ein paar Metern hatten sie auch nicht mehr die Kraft, auf solche Dinge zu achten, denn die Flanke schob sich immer steiler der niedrigen Wolkendecke entgegen. Bald wurde ihnen warm, obwohl der Wind nun immer kräftiger blies und sie aufpassen mussten, dass ihnen ihre Sachen nicht einfach so fortgeweht wurden. Auch Physales hatte es dadurch immer schwerer, ihnen voraus zu fliegen oder zu folgen, denn er wurde immer wieder fortgeblasen und sie mussten warten, bis er zu ihnen aufgeholte hatte. Schließlich wurde es Yelin und Korell zu viel. Abwechselnd gönnten sie dem kleinen Gúdo einen Platz unter ihrem Mantel oder ihrer Kapuze, so dass er sich von der anstrengenden Fliegerei erholen konnte. Und die paar Gramm mehr, die sie dadurch zu schleppen hatten, machten nun auch keinen Unterschied mehr. Schon bald war die Erinnerung an die Sonne in der Mamuraebene verblasst unter den grimmig sausenden Böen. Zur Mittagszeit blieben sie nicht einmal stehen, sondern aßen im Gehen und so schnell wie möglich, damit sie ihre klammen und eisigen Hände wieder unter ihren Umhängen verstecken und wärmen konnten. Noch war es einfach nur kalt, aber Yelin hatte das unbestimmte und schlimme Gefühl, dass der Schnee auch nicht mehr lange auf sich warten lassen würde...er betete nur, dass sie dann den größten Teil ihrer Überquerung hinter sich haben mochten. Das hieß, so lange Thame sie auch auf den richtigen Weg führte. Es war ihm schon die ganze Zeit über ein Rätsel gewesen, wie sie den richtigen Berg hatte ausmachen können, an dessen Seite der angebliche Übergang verlief. Selbst er hatte noch nie etwas davon gehört. Doch sie war, schon seit die Bergkette in ihre Sicht gekommen war, immer strikt auf diesen einen Gipfel zugegangen und hatte sich durch nichts von ihrer Behauptung, hier läge der Durchgang, abbringen lassen. Vorsichtshalber hatten Korell und Yelin danach geschwiegen, was ihre Zielsicherheit anging, denn es hätte ihnen sowieso nichts genützt. Entweder sie hatten Glück und Thame hatte richtig gelegen oder sie würden auf ewig in dieser Einöde in den Bergen herum irren müssen, bis sie auf das richtige Tal trafen. Doch sie war so felsenfest davon überzeugt gewesen, sich auf dem richtigen Weg zu befinden, dass sie ihr unmöglich hatten wiedersprechen können... Außerdem, so hatte sie gemeint, müssten sie wenigstens nach zwei Tagen wissen, ob sie richtig waren, denn so lange dauerte ihren Angaben nach der Aufstieg, bis man in das Tal sehen konnte. Yelin hatte schon in den ersten Stunden des frühen Nachmittags mehr als genug davon. Der eisige Wind schien ihm förmlich die Haut vom Gesicht schneiden zu wollen und auch um seine Gefährten stand es kaum besser. Es wunderte ihn, dass Thame überhaupt noch so gut mir ihnen mithielt....aber sie schien tatsächlich die einzige von ihnen zu sein, die noch einigermaßen gut in Form war. Am zweiten Tag wurde es noch schlimmer. Gegen Mittag brachten die Windstöße den ersten Schnee mit sich, der sich in fantastischer Geschwindigkeit auf die karge Landschaft legte, die nun mehr fast nur noch aus Felsen und vereinzelt ein paar verkrüppelten Sträuchern zu bestehen schien. Er überzog die rauen Felsen unter ihnen mit einer glitschigen Schicht, die einem das Gefühl gab, auf Öl oder Seife zu laufen. So liefen sie zu allem Übel noch alle paar Meter die Gefahr, auszurutschen und in die Tiefe zu stürzen. Und noch immer stiegen sie an, keinerlei Ende in Sicht. Schon nach den ersten Stunden liefen sie vollkommen automatisch, immer stur einen Fuß vor den anderen setzend und alle am Rande der Erschöpfung. Hätten sie nicht gewusst, dass diese Quälerei irgendwann ihr Ende haben würde, so hätten sie vermutlich schlicht und einfach aufgegeben. Zu dem dichten Schneetreiben kam jetzt auch noch der Nebel hinzu, der eine Sicht weiter als ein paar Schritte vollkommen unmöglich machte. Doch es war ohnehin sinnlos, sich umsehen zu wollen. Die Schneeflocken fielen nun so dicht aufeinander, dass sie schon nach etwa einer Stunde eine fast geschlossene Schneedecke bildeten, auf der das Laufen gefährlich wurde. Korell und Yelin wären ein paar Mal beinahe abgestürzt und bei Thame verhinderte nur der glückliche Zustand, dass Korell direkt hinter ihr ging und so beherzt zugreifen konnte, dass sie in dem Abgrund hinter ihnen verschwand. Doch Physales war derjenige von ihnen, dem die Kälte ohne Zweifel am meisten zu schaffen machte. Schon am letzten Abend war er zitternd zu Yelin unter seine Decke gekrochen, um nicht vollständig zu erstarren. Seine Flügel fühlten sich schlaff und kalt an, das kleine Gesicht war seltsam grau und eingefallen und er schien irgendwie ständig zu husten und zu niesen, mit tränenden Augen. Und nun getraute er sich nicht einmal mehr, seine Nase aus dem wärmenden Stoff von Yelins Mantel hindurch zu stecken. Er war ohne Zweifel kein Wesen das für eine solche Umgebung geschaffen war, geschweige denn hier leben konnte. Doch nicht nur er wünschte sich zur Zeit einen wahrhaft dicken Pelz oder zumindest etwas, womit man die grimmige Kälte noch ein wenig besser in Schach halten konnte als mit ihren zwar dicken, aber doch nicht wirklich gut isolierenden Mänteln. Der Kleine war bei weitem nicht der einzige, der das Gefühl hatte, alle Extremitäten seien ihm schon abgefroren. Mit blauen Lippen und vereisten Augenbrauen kämpften sich auch die anderen durch den immer tiefer werdenden Schnee. Am Abend waren sie alle so müde, dass sie nicht sehr lange Zeit mit der Suche nach einer Nische verbrachten, sondern sich gleich an dem erstbesten, halb geschützten Platz nieder fallen ließen. Dort fielen sie, trotz der Kälte, die sie bis auf die Knochen durchdrang, beinahe augenblicklich in tiefen Schlaf. Doch selbst in seinen Träumen war es Yelin, als würde die Kälte ihn bis hierher verfolgen. Er sah sich in einer einzigen, weißen Ebene. Mit einem Mal überkam ihn das plötzliche Gefühl, sie unbedingt durchqueren zu müssen, doch schon als er den ersten Schritt machte, sank er bis zur Hüfte ein. Der Schnee drang ihm in die Augen, durchfloss seinen Mund, seine Nase, gab ihm keine Möglichkeit zu entkommen und raubte ihm jegliche Wärme aus dem starren Körper bis er schließlich nur noch eine Statue aus Eis war. An diesem Punkt erwachte er mit einem plötzlichen Keuchen. Doch es schien, als hätte ein Teil des Traumes seinen Weg in die Wirklichkeit gefunden, denn er stellte tatsächlich fest, dass er nicht sehen, nichts hören und nichts riechen konnte. Der Schnee war Realität geworden! Und nun machte er sich mit Feuereifer daran, sein Blut wirklich in Eis zu verwandeln. Mit einem Schrei bewegte er sich endlich und durchbrach damit die Schneedecke, die sich während der Nacht auf ihn gelegt hatte, als wolle sie ihn in ihre kalte Umarmung nehmen und unbarmherzig das Leben aus seinem Leib pressen. Dennoch, nach dem ersten Schrecken stellte er fest, dass es durchaus auch einen Vorteil geboten hatte: Der kalte Schnee hatte ihn wie eine Isolierschicht vor der noch viel stärkeren Kälte gerettet, die ihn womöglich in einen Schlaf gezwungen hätte, aus dem er wahrscheinlich nicht mehr erwacht wäre...... Geweckt von seinen plötzlichen Bewegungen steckte nun auch Physales seinen kleinen Kopf unter Yelins Hemd hervor, nur um ihn dann zähneklappernd sofort wieder zurück zu ziehen. Beruhigend streichelte der ehemalige Prinz über die kleine Beule, die sich nun auf seiner Brust abzeichnete. Dann sah er sich erst einmal um. Schon im ersten Moment, als der Schnee von ihm herunter gefallen war, hatte er bemerkt, dass etwas komplett anders war als am gestrigen Tag. Und nun erkannte er auch sofort, was los war.....die Sonne schien. Der komplette Sturm schien abgezogen zu sein und hatte lediglich eine meterdicke Schneeschicht zurück gelassen, deren unberührte Oberfläche nun glänzte, als bestünde sie aus tausend kleiner Diamantsplitter. Fast fühlte er sich wie ein Eindringling. Schnee. Schnee und blauer Himmel, so weit sein Auge reichte. Und jetzt war er auch zum ersten Mal wirklich im Stande dazu, das Panorama zu genießen, dass sich seinen erstaunten Augen bot. Er sah die gesamten Namuren, die sich als verwaschene Linie immer weiter zu seiner rechten Seite hin erstreckten und die Mamuraebene begrenzten, die sich nun noch einmal in voller Pracht vor ihm erstreckte. Dort unten war nur wenig von dem weißen Nass gefallen, wie er erkennen konnte. Weiter hinten erkannte er sogar noch schemenhaft die Hügelebenen, in denen sie Thame kennen gelernt und den Palyn angetroffen hatten. Nur den Osaki konnte er nicht sehen. Doch er musste irgendwo zwischen den letzten Ausläufern der Namuren und den Hügeln liegen, die dort anfingen. Ein dumpfes Geräusch neben ihm riss ihn von dem bezaubernden Anblick los. Er sah, wie sich mehrere Hände neben ihm aus dem Schnee kämpften, deren Besitzer genau so wie er realisiert haben mussten, dass sie über Nacht eingeschneit worden waren. Doch schon nach wenigen Sekunden kamen ihre dazugehörigen Gesichter zum Vorschein und zeigten dasselbe Erstaunen beim Anblick der Sonne wie es sich auch auf Yelins abgemalt haben musste, als er das Wetter realisierte. In Korells Augenbrauen hingen noch vereinzelte Schneeflocken, die er mit einem ärgerlichen Laut beiseite wischte, als er der herrlichen Landschaft vor ihnen gewahr wurde und sie mit weit aufgerissenen Augen betrachtete. Yelin gab ihm genügend Zeit, um den Anblick in seiner ganzen Schönheit und Weite angemessen in sich aufzunehmen, dann bedeutete er ihm mit einem leichten Schulterklopfen, sich nach den Vorräten umzusehen, die er irgendwo gelagert haben musste. Nun ja, vermutlich hatten sie inzwischen Tiefkühlkost, wenn sie hier irgendwo vergraben zu finden war.... Auch Korell machte ein ziemlich ratloses Gesicht, als ihm das Problem bewusst wurde. Fast gleichzeitig sprangen die beiden auf und durchwühlten jeden Haufen, der so aussah, als könnten darunter ihre Sachen sein, zusammen mit ihrem gesamten Proviant. Zum Glück fanden sie auch nach relativ kurzer Zeit ihre Vorräte und genehmigten sich ein kleines Frühstück, für das sogar Physales sein kleines Köpfchen aus Yelins Kleidung steckte und ein wenig die klare Luft schnupperte, die sich nun ausbreitete. Und immerhin war es sogar noch genießbar, auch wenn sie sich an dem Fleisch fast die Zähne ausbissen. Die Luft war schien ihnen so sauber und frisch zu sein wie schon lange nicht mehr. Der Schneesturm am vergangenen Abend musste auf sie wie eine Vollreinigung gewirkt haben, denn so klar hatten sie diese nur selten erlebt. Gestärkt von dem kleinen Essen rappelten sie sich endgültig auf und klopften sich erst einmal sorgsam den Schnee aus der Kleidung, bevor sie dazu übergingen, sich wieder mit ihrem Gepäck zu beladen. Physales verschwand erneut irgendwo in den vielen Stoffschichten, in die Yelin gehüllt war. Mit kleinen Wölkchen vor ihrem Gesicht, die von ihrem Atem gebildet wurden, machten sie sich weiter an den Anstieg, der, wenn man Thame Glauben schenken wollte, nicht mehr allzu lange dauern konnte. Und tatsächlich: nach nur eine Stunde sahen sie, dass der Hang lange nicht mehr so glatt weiter vor ihnen aufstieg. Stattdessen war etwas höher und weiter links gelegen, eine Art Einschnitt zu sehen, der die beiden Gipfel über ihnen trennte. Yelin fragte sich vergeblich, warum er ihnen nicht schon früher aufgefallen war....doch dann fiel ihm ein, dass es ja Dutzende von diesen geben musste. Nun konnten sie also nur hoffen, dass dies auch der Richtige war. Doch aus irgendeinem Grund war es ihm, als könne er Thame vertrauen...nun ja, spätestens wenn sie ein paar Tage durch das Gebirge gewandert waren, würden sie ja sehen, ob sein Vertrauen berechtigt gewesen war. Auch die Gesichter der anderen erhellten sich, als sie den Einschnitt bemerkten und schon fast automatisch beschleunigten sie ihre Schritte. Nach einer weiteren guten Stunde kamen sie fast außer Atem an und konnten nun endlich über die Kante sehen. Wieder eröffnete sich ihnen ein Ausblick, der ihnen fast den Atem stocken ließ. Zum zweiten Mal sahen sie über eine weite Landschaft hinweg, die dieses Mal aber nicht von der Weite der Mamura bestimmt wurde sondern von dem glänzenden Weiß frischgefallenen Schnees, das vereinzelt von zerklüfteten Felsen durchbrochen wurde, die in hartem Grau erstrahlten. Doch das, was mit Sicherheit am atemberaubendsten und erstaunlichsten war, war bestimmte das Tal, das sich vor ihnen ausbreitete: Von der Kante, wo sie standen, fiel es recht steil ab, um sich dann immer weiter abzuflachen und breiter zu werden. Der Fluss, der es geschnitten hatte, entstand augenscheinlich an der Rückseite des Berges, dessen Flanke sie gerade erklommen hatten. Zuerst nur aus mehreren kleinen Strömchen bestehend, schlängelte er sich immer weiter zwischen den einzelnen Gipfeln hindurch und wurde schlussendlich breiter und breiter, bis er schließlich ein sanftes, u-förimges Tal bildete. Fast alles war von einer frischen Schneeschicht durchzogen, die allem einen strahlenden Glanz gab, der sie geblendet die Augen zusammen kneifen ließ. Aber darüber hinaus bereitete Yelin eines noch große Sorgen: Der Abgang in das Tal hinunter war wirklich recht steil. Zum Glück lief er nach unten hin etwas flacher aus. Aber nichtsdestotrotz würde der Abstieg zu einer gefährlichen Schlitterpartie werden - schon alleine deswegen, weil der Schnee alles gefährlich glatt und abschüssig machte, einer riesengroßen Rutschbahn vergleichbar. Als er zur Seite blickte, erkannte er, dass es den anderen ähnlich ging. Vor allem Thame schien nicht allzu begeistert davon zu sein, diesen Hang unbedingt hinunter zu müssen. Doch ihre Schilderung, dass hinter den letzten Spitzen, die zu sehen war, das Gebirge bereits wieder zu Ende sein musste, spornte sie alle an. Keiner von ihnen hatte große Lust, noch lange hier in der eisigen Wüste zu verweilen, war sie auch noch so malerisch und wunderschön. Fast im selben Moment setzten sie ihre Füße auf die rutschige Kante, die sie noch von dem steilen Abhang trennte. Yelin seufzte leise. Jetzt würden sich seine ohnehin spärlich ausgebildeten Schneeläufer-Fähigkeiten beweisen müssen. Die ersten paar Meter ging es auch noch halbwegs gut, aber dann stolperte er über einen besonders großen Felsbrocken, den er unter all dem Schnee nicht hatte ausmachen können und strauchelte. Die weiße Masse unter seinen Füßen gab nach und er verlor endgültig das Gleichgewicht und schlitterte haltlos hin und her kugelnd dem Fluss entgegen. Das Weiß verklebt ihm Mund und Augen, seine Haut wurde von harten Eiskristallen aufgeschürft, die wie Schmirgelpapier wirkten. Die Welt schien sich in alle möglichen und unmöglichen Richtungen zu drehen. Nur mit Mühe konnte er noch sein Schwert festhalten, damit es ihm nicht auch noch entglitt. Immer schneller und schneller sauste er nach unten, begleitet von einer größer und größer werdenden Wolke aus Eissplittern und Schneemassen, die hinter ihm zu Tale rollte. Verzweifelt versuchte er, sich irgendwo festzukrallen, doch er war schon zu schnell. Das einzige, was er erreichte, waren abgeschmirgelte Fingerkuppen. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass sich nicht zufällig ein Felsen in seiner Sturzbahn befand... Endlich schien sich sein rasender Sturz ein wenig zu verlangsamen, als das Tal flacher wurde. Doch noch immer war seine Geschwindigkeit so groß, dass er erst viele Meter weiter zum Stillstand kam. Schweratmend und mit geschlossenen Augen blieb er liegen und horchte erst einmal in sich hinein, ob noch wenigstens halbwegs alles in Ordnung war. Außer diversen Prellungen, Hautabschürfungen und dem Gefühl, durch eine Mühle gedreht worden zu sein, war tatsächlich alles mehr oder weniger intakt. Er dankte welchen Göttern auch immer dafür, dass er ohne ernsthafte Schäden davon gekommen war. Das letzte, was sie jetzt gebraucht hätten, wäre ein gebrochener Knochen oder etwas ähnlich Schlimmes gewesen. A propos ernsthafte Schäden...siedendheiß fiel ihm ein, dass ja noch jemand anders diesen Sturz mitgemacht hatte. Hastig griff er zwischen seinen Mantel und suchte nach irgendeinem Zeichen des kleinen Gúdo. "Physales?" fragte er leise und hoffte, dieser noch da war und ebenfalls so glimpflich davon gekommen war wie er selbst. Oh bitte, bitte..... Endlich spürte er etwas warmes, weiches unter seinen Fingern und zog hastig den kleinen Erdgeist hervor. Zumindest äußerlich konnte er keine Verletzungen erkennen. Außer seinen Flügeln, die sehr zerknittert und abgeknickt waren, sah er noch relativ gesund aus. Doch seine Augen blieben geschlossen....sein Herz verkrampfte sich, als Yelin hastig zur Seite in den Schnee griff und ein bisschen davon aufraffte. Dann legte er den Kleinen zärtlich auf seine ausgestreckte Handfläche und träufelte ihm ein wenig von dem eisigen Nass auf seine Stirn, in der Hoffung, ihn dadurch aufwecken zu können. Und tatsächlich: nach wenigen Sekunden bewegte sich Physales ein wenig und öffnete langsam die Augen, als wäre er eben aus einem tiefen Schlaf aufgewacht. "Yelin?" murmelte er leise. "Ich dachte, ich hätte eben irgendetwas Seltsames geträumt.....alles bewegte sich und rüttelte und schüttelte.....irgendwie bin ich mit dem Kopf gegen etwas Hartes gekommen und dann wurde alles auf einmal schwarz. Was ist den passiert?" Langsam und ungelenkt richtete er sich auf und schlang sofort die Arme und seinen winzigen Körper, als er der Kälte gewahr wurde, die hier herrschte. Noch immer voller Erleichterung, dass es ihm gut ging, erklärte Yelin ihm, was geschehen war. Prompt sah Physales sich um, den Abhang hinauf, auf dem er noch immer zwei schwarze Punkte erkennen konnte, die schnell näher kamen und dabei Unverständliches riefen. Auch Yelin hatte sie inzwischen bemerkt und winkte mit einem Arm, um ihnen verständlich zu machen, dass er unverletzt war. Physales fror immer mehr, so dass er sich schließlich wieder in den Kleidern vergrub, nicht ohne allerdings vorher noch einmal betont zu haben, dass es ihm auch wirklich gut ging. Sein Freund hingegen versuchte langsam, sich aufzurichten. Dies gelang ihm auch zwar mehr schlecht als recht, doch immerhin stand er. Und sein von dem Sturz malträtierter Körper schien nun wirklich an sämtlichen Stellen zu schmerzen....doch davon abgesehen konnte er sogar laufen. Die Schmerzen würden vorbei gehen, das wusste er. Dafür war er schon zu oft gestürzt oder vom Pferd gefallen, als dass er sich davon wirklich behindern ließ. Nachdem er die ersten paar Schritte erfolgreich absolviert hatte, überprüfte er schnell, ob auch alle seine Sachen noch vorhanden und mehr oder weniger unbeschädigt waren. Als er diese Musterung zu seiner Zufriedenheit erfüllt hatte, waren Thame und Korell auch schon bei ihm angekommen. Die echte und tiefe Besorgnis, die er in ihren Augen erkennen konnte, rührte ihn und er beeilte sich, ihnen zu versichern, dass es Physales und ihm gut ging und sie alles so gut wie unbeschadet überstanden hatten. Immer noch mit fürsorglichen Blicken von der Seite her beschützt, gingen sie endlich weiter. Yelin war gar nicht weit vom Flussufer zum Stehen gekommen und nun nutzten sie diese Gelegenheit gleich dazu, ihre etwas karg gewordenen Wasservorräte mit dem klaren, sauberen Bergwasser wieder aufzufüllen. Dann machten sie sich endgültig auf den Weg, immer weiter dem Flusslauf abwärts folgend. Sie liefen den gesamten restlichen Tag ohne jedoch etwas anderes zu erblicken als immer nur das eintönige Gemisch aus weißem Schnee, grauem Fels und blauem Himmel. Daneben regte sich nichts, so dass ihnen die Augen nach einer Weile von dem ewigen Weiß zu schmerzen anfingen und sie nach irgendeinem Blickfang suchten, der ihnen vielleicht ein wenig Ablenkung gewähren mochte. Doch es war nichts zu finden, was diese Strenge hätte durchbrechen können. Wieder nahmen sie ihr Mittagessen im Laufen ein, um so wenig Zeit wie möglich weiter an diesem Ort verbringen zu müssen. Nach Thames Erzählung und der Berücksichtigung, dass sie jetzt wesentlich schneller waren als an den Tagen zuvor, als sie aufgestiegen waren, dürften sie in etwa drei bis vier Tagen die andere Seite dieses Ausläufers der Namuren erreicht haben. Dieser Erkenntnis spornte sie nur noch zu mehr Eile an, denn alle hatten das Gefühl, hier richtig zu sein. Der Fluss musste ja irgendwo hinfließen, er konnte nicht einfach so aufhören....das gab ihnen die Hoffnung, die Berge bald hinter sich lassen zu können. Denn obwohl es niemand von ihnen ernsthaft zugab, klang ihnen immer noch die Warnung des Abenteurers, von dem Thame erzählt hatte, in den Ohren. Bei Schnee kommen noch andere Dinge von den Bergen hinunter... Dies erfüllte alle mit einem gewissen Gefühl des Unwohlseins, so dass sie lieber heute als morgen diese unheimliche Gegend verlassen wollten. Über diesen Überlegungen verging der Tag und ein rotgoldener Schimmer am Himmel kündigte den Abend an. Sie hatten schon eine recht gute Strecke geschafft und waren vor kurzem auf einen weiteren Zufluss dieses Fluss gestoßen, der direkt aus den Bergen links von ihnen zu kommen schien. Glücklicherweise war er nicht besonders breit und auch recht flach, so dass sie ihn, von Stein zu Stein hüpfend, leicht überqueren konnten. Als sich der goldene Horizont langsam tiefrot zu verfärben begann, horchte Korell mit einem Mal auf. "Was ist los?" fragte Yelin ihn mit einem leichten Stirnrunzeln. "Schhhhh..." winkte sein Freund ab. "Ich höre etwas....es klingt wie ein leises Rascheln, so etwas wie ein unterschwelliges Raunen im Wind. Ich glaube, jemand kommt. Hörst du denn nichts?" Yelin schüttelte den Kopf und strengte sich noch einmal stärker an, um zu hören, wonach Korell so intensiv lauschte. Dann bemerkte auch er es: es war wie ein leises Knistern, vermischt mit einem Geräusch, was man am ehesten mit einer Zusammensetzung aus Schritten und dem Tapsen von weichen Pfoten beschreiben konnte. Gleichzeitig machte sich auch etwas vor seinen Augen bemerkbar: ein leises Leuchten in der Luft, wie er es schon um Physales oder Norai hatte beobachten können, seit er bei dem Drachen und der alten Yonami gewesen war. Die Dunkelheit warf immer tiefere Schatten, so dass er am Anfang nicht sehen konnte, was sich ihnen da so verstohlen nährte. Aber irgendwie erfüllte es ihnen mit einem starken Gefühl des Unwohlseins.....es war, als läuteten tausend Alarmglocken in seinem Kopf, die jedoch alle stumm waren. In einer unbewussten Geste legte er die Hand auf sein Schwert und zog es halb. Norai schien fast ein wenig zu vibrieren, als er den kalten Stahl geräuschlos durch seine Finger gleiten ließ. Auch Korell tastete nach den Windungen seines Bogens und einem Pfeil. Und Thame streckte ebenfalls ihre alten Hände nach dem Griff ihrer Waffe aus, zog sie jedoch noch nicht. So standen sie da, jede kleinste Faser ihres Körpers in einer fast unerträglichen Spannung, bereit, sofort loszuschlagen, sollte es wieder eines jener magischen Wesen sein, das ihnen gefährlich werden konnte. Endlich war er/sie/es nahe genug, um erkannt zu werden. Im gleichen Moment, in dem sich die Gestalt ihnen nährte, kniff Yelin geblendet die Augen zusammen. Sie erstrahlte in einem unerträglich hellen Licht, einem Licht, dass die tausendfache Verstärkung zu sein schien von dem, was er vorhin schon aus den Augenwinkeln hatte beobachten können. Als er endlich wieder ein wenig klarer sah, war er sich im ersten Moment nicht sicher, ob er jetzt schlicht und einfach den Verstand verloren hatte. Vor ihnen stand eine Frau. Sie war in ein einfaches, weißes Gewand gekleidet, dass sie von ihren Schultern bis auf den Boden erstreckte und somit ihre Füße verdeckte. Darüber lag ein dichter, ebenfalls weißer Mantel, der aussah, als wäre er aus den Pelzen von Schneehasen gefertigt worden. In dieser Kleidung hätte sie eigentlich schon längst tot sein müssen. Als wolle sie diese These noch unterstützen, war auch ihre Haut weiß und blass, so wie frischgefallener Schnee. Und auch ihre Lippen ließen sich von der Farbe her kaum von ihrem restlichen Gesicht unterscheiden. Das einzige, was regelrecht aus ihrer Erscheinung herausstarrte, waren die geschwungenen Augenbrauen und ihre langen, schwarzen Haare und die ungewöhnlich dunklen, auch fast schwarzen Augen, die aussahen wie zwei in der Dunkelheit glühende Kohlestückchen. Alles in allem war sie wie eine jener perfekten, exotischen Schönheiten, wie sie sich die meisten jungen Männer in ihren Träumen vorstellten. Vielleicht sogar ein wenig zu überirdisch und perfekt.... Denn je länger Yelin sie anstarrte, desto seltsamer kam sie ihm vor. Er hatte das Gefühl, dass irgendetwas an ihr falsch war, als trüge ihn der wunderschöne Schein vor seinen Augen. Als wäre dieser Gedanke so etwas wie ein Signal gewesen, begann sie, sich zu verändern. Nicht etwa großartig, aber schon sehr bald erkannte er, dass das Flimmern, das er beobachtete, von der Gestalt ausging, ja, dass sie sogar selbst aus diesem Glanz gemacht zu sein schien. Hinter dieser Fassade aus Licht lauerte jedoch etwas anderes, etwas, das fiel boshafter war, als es die Erscheinung erahnen ließ. Er hatte den Eindruck von einer langen, spitzen Schnauze, aus der zwei große Fangzähne ragten, schweren, krallenbewehrten Pfoten, und einem geschmeidigen Körper. Dieser schien ihm weiß, mit schwarzen Flecken zu sein, die sich bei genauerem Hinsehen aber andauernd zerflossen und in neuen Formen wieder zusammen fügten. Nur die Augen waren dieselben, bloß dass er nun eine bösartigen Ausdruck, ein Schimmern einer uralten, hungrigen Intelligenz in ihnen beobachten konnte. Mehr und mehr wunderte er sich, wie er zuvor auf diese Täuschung hatte hereinfallen können. Das, was da vor ihnen stand, war alles andere als eine Frau. Es benutzte ihr Bild nur, um sie zu täuschen und war in Wahrheit etwas anderes, hundertmal schlimmeres und gefährlicheres. Mit einem Schrei zog er Norai vollends und wollte sich auf das Wesen vor ihm stürzen. Doch schon nach dem ersten Schritt fiel ihm jemand in den Arm und hielt so seinen Schlag auf, den er gerade hatte ausführen wollen. Es war Korell. Er sah ihn mit einem ungläubigen Blick und fragte ihn: "Yelin, was machts du da? Du kannst doch nicht einfach so eine Frau angreifen, die hier mitten vor uns auftaucht! Du hast ja nicht einmal eine Ahnung wer sie ist oder was sie von uns will!" Yelin starrte ihn ungläubig an. Sah er es denn nicht?! Konnte sein Freund denn etwas nicht erkennen, was für ein schreckliches, hungriges Wesen hier vor ihnen stand? Dabei war es doch mehr als offensichtlich....jetzt, wo er sie wieder ansah, erschien sie ihm nicht einmal mehr im entferntesten auch nur irgendwie menschlich. Mit einem wütenden Keuchen machte er sich von Korell los, der offensichtlich nicht mit einer solch heftigen Bewegung gerechnet hatte und rücklings in den Schnee fiel. Dann schwang er seine Klinge, um das schreckliche Trugbild endgültig zu zerschlagen. Doch obwohl er genau wusste, dass er richtig gezielt hatte, durchschnitt Norai nur leere Luft. Die Gestalt hatte sich in einem plötzlichen Nebel aufgelöst und war nun hinter ihm wieder aufgetaucht und setzte nun ihrerseits zu einem Angriff an. Um Haaresbreite entkam Yelin den zupackenden Krallen/Fingern der Kreatur und stürzte zur Seite, wo er sich plötzlich umdrehte, um so einen Treffer anzubringen. Doch wieder war die seltsame Erscheinung weitaus schneller als er, hatte sich im Nebel verflüchtigt und war nun auf einmal nahe bei Korell aufgetaucht, der sich soeben wieder aufgerappelt hatte und mit ungläubigem Blick den seltsamen Kampf beobachtete, der sich vor seinen Augen abspielte. Für ihn ging Yelin einfach auf jemanden los, den er schon allzu lange nicht mehr gesehen hatte...der aber noch immer in seinem Herzen wohnte und es bluten ließ. Was tat er da?! Schützend stellte er sich vor sie, als sein Freund mit einem Mal wieder heran geeilt kam und erneut zu einem Schlag gegen sie ausholen wollte. Hilfesuchend sah er zu Thame, konnte sie aber nirgendwo sehen. Fast in Gedankenschnelle ließ er also seinen Bogen fallen und zog sein Schwert, das er ebenfalls immer bei sich trug. Auch Yelins Augen weiteten sich ungläubig, als er begriff, was Korell da tat. Er beschützte sie! Er wandte sich gegen ihn, nur um ein Wesen zu schützen, das nicht einmal ein Mensch war. Für ihn war es schlichtweg unbegreiflich, wie man sich so stark irren konnte. Doch bevor er den Irrtum beseitigen konnte, sauste Korells Klinge schon auf ihn herab. Mit einem knappen Satz brachte er sich in Sicherheit und konterte seinerseits mit einer blitzschnellen Abfolge von Bewegungen, für das bloße Auge kaum sichtbar. Allerdings achtete er noch immer darauf, Korell nicht zu verletzen. Das wäre das Letzte, was er tun konnte. Doch sein Freund schien nicht dieselben Skrupel zu haben: er kämpfte verbissen und mit all seiner Kraft und Kunst, die er aufbringen konnte. Mit gnadenloser Wildheit in den Augen zeigte er, was er während ihrer Trennung gelernt hatte - Yelin bereitete es zunehmend Mühe, so zu kämpfen, dass er seinen Freund nicht gefährdete. Fast hatte er den Eindruck, dass dieser nicht mehr Herr seiner selbst war.... Doch schließlich kam es, wie es kommen musste: Die Rücksichtslosigkeit von Korell gab letztendlich den Ausschlag. Sein Schwert deutete einen gerade Stoß nach vorne an, bezog die Ausweichbewegung seines Gegenübers mit ein, setzte ihm mit einem kleinen Schlenker nach und schaffte es so, die Spitze in seinen linken Oberarm zu bohren. Sie durchdrang mit Leichtigkeit die verschiedenen Stoffschichten und stach tief in seine Haut. Yelin stolperte ein paar Schritte zurück und starrte dann aus schreckerfüllten Augen auf seine Wunde und die blutige Klinge in Korells Hand. Dieser stand schweratmend da, noch immer mit diesem unbestimmten, wilden Feuer in den Augen, das ihm so angst machte. Selbst Thame war wieder da und sah wie erstarrt auf die beiden Konkurrenten, von denen der eine verzweifelt und der andere von einer rasenden Hoffnungslosigkeit ergriffen dastand. Doch es gab jemanden, der sich bewegte: Das Wesen, das Korell zu schützen versucht hatte, war nicht mehr da. Stattdessen materialisierte es sich vor dem Verletzten. Mit schreckgeweitetem Blick sahen alle, dass es damit begann, das Blut aus seiner Wunde aufzusaugen. Yelin wollte sich verzweifelt wehren, doch in dem Moment, wie ihre Lippen seinen Arm berührten, wurde er unglaublich schwach und taumelte. Jede Kraft schien aus seinem Körper zu schwinden und Kälte bereitete sich immer schneller in ihm aus. Er sank in die Knie und versuchte mit immer schwächer werdenden Bewegungen, die Bestie von sich wegzustoßen. Doch ihre Kraft schien in demselben Maße zuzunehmen, wie die seine schwand. Kaum hatten die ersten Tropfen seines Blutes den Weg in ihren Mund gefunden, verschwand auch die Illusion der Frauengestalt und sie zeigte sich in ihrer ganzen schrecklichen Schönheit. Korell war wie erstarrt, als er auf einmal bemerkte, wen er da eigentlich gerade beschützt hatte. Konnte das wirklich sein? Hatte er nicht gerade...er schüttelte den Kopf, versucht, das Schreckensbild zu vertreiben, das sich ihm bot, doch es nützte nichts. Sie war verschwunden; er sah nur noch diese grausame Bestie, die gerade eben das Leben aus seinem Freund aussaugte. Doch den Bruchteil einer Sekunde blickte sie auf einmal zu ihm auf. Der Anblick der böse glitzernden schwarzen Augen riss ihn endgültig aus der Erstarrung und mit einem Schrei hob er wieder die blutbedeckte Klinge und drang dieses Mal auf seinen wahren Gegner ein: das bestialische Wesen, dass sich soeben die gesamte Kraft seines Freundes einverleiben wollte. Wieder kämpfte er mit jener kompromisslosen Härte, die er vorhin schon angewandt hatte. Dieses Mal jedoch kam er nicht soweit, sein Schwert erneut mit Blut zu besudeln: schon nach den ersten paar Schlägen löste die Gestalt sich wieder in wirbelnden Nebel auf, der sofort zerfloss. Mit fliegendem Atem blickt Korell sich um, doch außer Thame, die erst jetzt herbeeilte, konnte er kein anderes Lebewesen erkennen. Und sein Gefühl sagte ihm, dass sie auch nicht wiederkommen würde... Doch nun war ihm Yelin weitaus wichtiger als die Frage, wohin sie verschwunden sein mochte. Besorgt wandte er sich seinem Freund zu. Dieser sah bleich aus und atmete flach, aber regelmäßig. Die Wunde in seinem Arm hatte schon aufgehört zu bluten, aber Korell verschwendete jetzt keinerlei Gedanken an diesen seltsamen Umstand, sondern berührte ihn sanft an seinem unverletzten Arm. "Yelin?" fragte er leise. Nach einem kurzen, unendlich lang scheinenden Moment sah dieser zu ihm auf und blickte in ein besorgtes, trauriges Gesicht. Er fühlte sich noch immer sehr schwach, doch er merkte, wie langsam wieder Kraft durch seine Adern strömte und die Wunde an seinem Arm zu heilen begann. Und als er in das Gesicht seines Freundes blickte, erkannte er, dass Korell wieder er selbst war. Der gleiche, melancholische, besorgte Korell, wie er ihn schon seit Anbeginn dieser Reise zum Gefährten hatte. Mittlerweile war auch Thame gekommen und beugte sich mit einem rührenden Ausdruck in den Augen über ihn. Darum beeilte er sich schließlich zu versichern, dass es ihm schon wieder halbwegs gut ging. Nach den Blicken in ihren Augen zu urteilen, glaubten die beiden ihm das jedoch nicht wirklich. Schließlich griffen sie ihm aber beide gleichzeitig unter die Arme und halfen ihm auf. Yelin hatte erst gedacht, er wäre schon längst wieder kräftig genug zum Laufen, aber ein kurzer Moment des Schwankens belehrte ihn rasch eines besseren. Er war noch immer so schwach, dass er wohl schon nach ein paar Metern zusammen gebrochen wäre, hätten ihn seine Freunde nicht gestützt. So entschieden sie, dass es wohl weitaus klüger war, gleich hier ihr Nachtlager aufzuschlagen und nicht noch ein wenig weiter zu gehen. Die kurze Strecke, die sie heute noch geschafft hätten, erforderte dafür ein viel zu großes Opfer. Sie ließen sich kurzerhand auf ihren ausgebreiteten Decken nieder und begannen damit, ihre Abendessen zu verspeisen. Noch immer mied Korell seinen Blick ein wenig, denn er machte sich schreckliche Vorwürfe wegen dem, was geschehen war. Aber für einen Moment hatte er wirklich geglaubt... Nach diesem anstrengenden und nervenraubenden Tag waren sie schließlich am Abend alle zu müde, um noch lange zu reden. Physales war der einzige, der noch ein kleines Gespräch anfangen wollte, denn da er nichts von dem bemerkt hatte, was geschehen war, erzählten sie ihm noch einmal schnell alles. Danach schien auch er zu nachdenklich, um noch großartig reden zu wollen. Stattdessen legten sie sich nach dem kurzen Abendessen relativ schnell schlafen, um für den morgigen Tag ausgeruht zu sein. Als Yelin am nächsten Morgen erwachte, fühlte er schon im ersten Moment, als er die Augen aufschlug, dass seine Kraft fast vollends wieder zurück gekehrt war. Rasch verscheuchte er die Gedanken, die sich ihm aufdrängen wollten als ihm bewusst wurde, wem er das zu verdanken hatte... Gestern war er noch zu müde und verwirrt dazu gewesen, doch nun fragte er sich, warum nur er das Trugbild dieses seltsamen Wesens hatte enttarnen können....und überhaupt, was war das eigentlich gewesen, was sie so sehr an der Nase herum geführt hatte? Nach dem Frühstück machten sie sich daran, weiter zu reisen. Die Frage beschäftigte Yelin und so stellte er sie schließlich laut. Ausnahmsweise war es dieses Mal Physales, der wieder seinen Kopf aus Yelins Mantel steckte und ihnen eine Antwort gab. "Nach dem, was ihr mir erzählt habt, war es einer der sogenannten "Weißen Dämonen". Als die Welt noch jünger war, gab es angeblich sehr viele von ihnen, doch mit der Zeit sind sie immer weniger geworden. Keiner weiß genau, warum das so ist; manche behaupten, sie hätten sich selbst getötet und ihre Artgenossen. Aber es ist Tatsache, dass es heute höchstens nur noch ein oder zwei von ihnen gibt. Der Weiße Dämon hat die Fähigkeit, ein Trugbild hervorzurufen, das seine wahre Gestalt verbirgt und seine Opfer verwirrt. Angeblich erscheint er immer als eine weibliche menschliche Gestalt. Kann er in den Köpfen seiner Opfer die Vorstellung von einer idealen weiblichen Figur finden, so nimmt er ihre Gestalt an. Wenn nicht, dann wird er zu einer sehr blassen, weißen Frau mit langen schwarzen Haaren, die sehr verführerisch aussieht. Klar ist, dass er eine recht hohe Intelligenz besitzt. Das würde auch erklären, warum er euch drei nicht sofort angegriffen hat sondern erst warten wollte, bis ihr beide ihm die Arbeit abgenommen hättet. Aber als er Yelins Blut gesehen hat, da konnte er wohl nicht mehr widerstehen. Weiße Dämonen nehmen ihren Opfern das Leben, indem sie ihn erst seiner ganzen Kraft berauben und dann schlussendlich auch seiner Lebensenergie. Sie bevorzugen menschliche, elbische oder andere Opfer, die höher entwickelt sind und eine Intelligenz aufweisen. Trotzdem können sie sehr lange überleben, wenn sie kein Essen bekommen. Ansonsten sind sie praktisch unsterblich..." Langsam aber sicher hatte Yelin das Gefühl, magische Wesen regelrecht anzuziehen. Der Drache, Yonami, der Palyn, der Weiße Dämon....und natürlich nicht zu vergessen Physales, der ja behauptet hatte, dass er "interessant" wäre. Woran konnte es nur liegen, dass auf einmal so viel Magie um ihn herum herrschte...die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten war bestimmt, dass all dies etwas mit dem Erbe der Drachen zu tun hatte, das er in sich trug. Die Offenbarung der Gestalt ließ sich ihn insgeheim fragen, wie sie für Thame ausgesehen hatte. Auch eine blasse, schwarzhaarige Frau, wie bei ihm? Und bei Korell? Er sah zu seinem Freund hinüber und merkte, wie sich seine Augen ein weiteres Mal schmerzvoll verdüsterten. Das, was er gesehen hatte, musste irgendetwas in ihm aufgewühlt haben, das ihm nun mehr als große Trauer bereitete. "Aber eines wundert mich..." meinte er nun langsam. "Woher wusste Yelin denn, dass dieses Wesen nur ein Trugbild erschaffen hatte? Also für mich sah das vollkommen echt aus..." Mit einem leichten Stirnrunzeln sah Yelin auf. Vollkommen normal? Hatte er denn nicht dieses seltsame Leuchten...ein Verdacht keimte in ihm auf. "Korell, Thame, Physales...ich muss euch etwas fragen: Seht ihr nicht auch so ein seltsames Flimmern oder Leuchten in der Luft? Hier, um Norai oder um Physales ist es besonders stark...." Langsam zog er sein Schwert und zeigte es ihnen, doch alle schüttelten einhellig den Kopf. Nur in Thames Augen vermeinte er so etwas wie ein zugleich amüsiertes wie freudiges Funkeln zu erblicken. "Wieso fragst du das?" kam es fast gleichzeitig zurück. "Nun ja...es ist so: bei verschiedenen Dingen kann ich immer diesen seltsamen Glanz erkennen...gerade bei Norai, Physales oder auch dem Palyn. Im Alten Wald war es sogar so, dass die ganze Luft davon durchzogen schien. Und hier...je länger ich den Weißen Dämon angesehen habe, desto mehr sah ich, dass das Trugbild aus eben diesem Licht zusammen gesetzt war. Es überstrahlte einfach alles, so dass ich das Ungeheuer dahinter nur schemenhaft erkennen konnte..." seine Stimme versagte ihm, als er endlich den Zusammenhang erkannte, für den er so lange Zeit blind gewesen war. Schließlich sprach Thame aus, was nun für ihn offensichtlich war. "Magie...du kannst Magie [i[sehen. Das ist unglaublich. Ich weiß ja, dass die Sanuki ungewöhnliche Fähigkeiten haben, aber jemand, der Magie sehen kann...davon habe ich noch nie etwas gehört. Fantastisch..." Korell hatte es anscheinend die Sprache verschlagen, denn er starrte ihn nur an. Physales blickte mit großen Augen zu seinem Gesicht empor, aber Yelin war es, als hätte sich in seinem Inneren ein Tor geöffnet. Er war ungeheuer erleichtert. Nun endlich wusste er, was sein besonderes Talent als Sanuki war! Eigentlich hätte er es gleich wissen müssen... Die Begegnung mit dem Drachen hat den schlummernden Samen in dir geweckt; er fängt schon langsam an zu wachsen, merkst du es nicht? Wieder kamen ihm die Worte der Dryade in den Sinn. Sie hatte also gewusst, was er konnte...aber irgendwie war er ich auch dankbar dafür, dass sie ihm nichts gesagt hatte. Dies war eine Sache gewesen, die er nur durch sich selbst hatte entdecken können. Die nächsten zwei Tage verbrachten sie damit, die Namuren ganz zu durchqueren. Doch noch bevor sie wieder die grüne Fläche einer weiten Ebene vor sich sahen, stellten sie fest, dass sie kaum noch genug zu essen hatten, um sich in dieser Zeit versorgen zu können. Ihre Vorräte waren, obwohl sie am Anfang so viel mitgenommen hatten, schon fast aufgezehrt und in dieser weißen Wüste aus Fels, Eis und Schnee konnten sie nichts finden, was auch nur im Entferntesten essbar gewesen wäre. Außerdem zehrte das viele Laufen durch den Schnee mehr an den Kräften als es die grünen Wiesen der Mamuraebene getan hatten. Schon zuvor hatten sie ihre Rationen immer mehr verkleinert, in der Hoffung, dass sie bis ans Ende reichen würden. Doch schon am Mittag des zweiten Tages waren sie trotz ihrer Sparsamkeit endgültig aufgebraucht. Das einzige, was sie nun noch hatten, um ihre körperlichen Bedürfnisse zu stillen war das klare, saubere Trinkwasser aus den mittlerweile zu einem breiten Fluss angewachsenen Bach, mit dem sie täglich ihren Durst stillen konnten. Aber auf Dauer schwächte sie das Fehlen von fester Nahrung sehr. Physales war derjenige, der wieder einmal am meisten darunter litt. Sein kleiner Magen knurrte so oft und so laut, dass Yelin manchmal besorgt nachsah, ob mit seinem kleinen Freund noch alles in Ordnung war. Sein winziges Gesicht wurde immer blasser und sogar noch ein wenig eingefallener als es sonst ohnehin schon war. Aber auch den drei anderen fiel das Gehen zunehmend schwerer und in dieser Nacht schliefen sie alle kaum, da sie immer wieder von dem bohrenden Hungergefühl in ihrem Magen wach gehalten wurden. Erst der Mittag des dritten Tages nach ihrem Abstieg in dieses Tal brachte wenigstens eine kleine Erlösung: Der Schnee, der schon die ganze Zeit immer dünner und dünner geworden war, je tiefer sie gegangen waren, verschwand an einigen Stellen ganz. Damit wurde der Boden dort ein wenig von den Strahlen der Sonne erwärmt, so dass sie tief genug graben konnten, um Wurzeln zu finden. Diese machten zwar nicht sonderlich satt, aber sie füllten immerhin ein wenig ihren leeren Bauch. Und als wäre dies nicht genug, konnten sie auch am Abend dieses Tages endlich wieder eine freie Fläche erkennen, nachdem sie einer kleinen Biegung des Tales gefolgt waren. Vor ihnen erstreckte sich eine große, weite Fläche, die links noch immer von den Namuren begrenzt wurde und nahe dem Horizont in einen großen Wald überging. Das Gewässer, dem sie bis jetzt immer so treu gefolgt waren, durchfloss sie in leicht westlicher Richtung. Seufzend und erleichtert sahen sie einander an. Endlich hatten sie dieses große, weiße Gebirge und seine Dämonen hinter sich gelassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)