Drachenherz von Xanderle (Ein kleiner Zujin Roman) ================================================================================ Kapitel 9: Zeitreise -------------------- Im Türrahmen stehend sah Zuko sich um. So Vieles hatte sich verändert. So Vieles war gleich. Das betagte Teehaus war zwar ein wenig schäbig gewesen, aber niemals ungepflegt. Dem Geruch nach, der jetzt in seine Nüstern stieg, traf dies auf die Suppenküche nicht mehr ganz zu; sie glich eher einer Spelunke, als einem Lokal. Sich vorzustellen, wie SIE hier ... Sein Blick glitt unweigerlich zu dem kleinen Tisch, links vom Eingang. Nein, der Duft von Orangenblüten wäre hier fehl am Platz! „Hey, Langer, was dagegen, der Menschheit ein wenig aus dem Weg zu gehn?" Zuko starrte verständnislos auf den Mann hinab. „Ja, Du! Park Dein Gerippe woanders, Lulatsch!" Zuko blinzelte. „Also echt! Mittlerweile lassen sie hier auch jeden rein!", brummte der Moppsige und rempelte den Gebieter der Flammen aus dem Weg. Dieser, in jeder anderen Situation äusserst tollkühne Akt der Impertinenz wurde ignoriert. Zuko betrachtete die Szene vor sich, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Eine andere hatte sich vor sein inneres Auge geschoben. Das war er also? Der Ort seiner größten Erniedrigung? Seltsam, jetzt, da er hier war, löste sich die ehemalige Schmach mit einem Mal auf, um anderen Erinnerungen Platz zu machen. An die alte Dame, die ihm manchmal Pasteten mitgebracht hatte.  An das Ehepaar, das seit Zwanzig Jahren jeden Tag seinen Nachmittagstee hier eingenommen hatte. An ein junges Mädchen mit Jadeaugen ... Und er sah sich selbst, als Siebzehnjährigen. Rückblickend konnte er sein früheres Ich kaum begreifen. Dieses undurchdringliche Dickicht aus Wut, Hochmut, Stolz, Verletztheit und Einsamkeit. Die blinde Wut von damals war fort. Heute hatte er Gründe, wenn er wütete. Meistens jedenfalls! Der Hochmut war neuen Aufgaben und vor allem neuen Freunden gewichen. Und der Stolz? Er war noch da, hatte nun aber einen völlig anderen Ursprung. Hatte er ihn damals als Schild benutzt, hinter dem er verzweifelt die eigene Unzulänglichkeit zu verbergen trachtete, so entsprang er heute der Erkenntnis, dass er ebendiese Unzulänglichkeit überwinden konnte. Zuko wusste, wer er war. Weder Umstände noch Orte, sei es nun ein Palast oder eine Suppenküche, konnten daran etwas ändern. Er war Zuko Tatzu, ein kämpferischer, zäher, eigenwilliger Bastard, mit Gerechtigkeitssinn und Opferbereitschaft. Dies war der Kern seines Wesens. War es immer gewesen. Dieser Drache in ihm, den er so oft verflucht hatte, weil er ihn weiter und weiter getrieben hatte, über jedes Maß hinaus, nie zur Ruhe kommend, bevor ein Ziel erreicht war. Der Drache. Die Essenz seiner Seele. Mit einem Mal konnte der Teil von ihm, der versucht hatte sein altes Selbst zu verleugnen, diesen Siebzehnjährigen verstehen. Er konnte ihm vergeben. Vergab ihm die vertanen Chancen, die verweigerten Freunde und die Einsamkeit. Die Einsamkeit! Auch sie hatte sich verändert.  Damals war es der eigene Wille gewesen, der ihn einsam gemacht hatte. Heute waren es unzählige Pflichten. Schmerzhaft war sie dennoch. Doch es gab eine Person, die immer da gewesen war, um ihm in der Einsamkeit beizustehen. Eine Person, die sie gelindert hatte: Seinen Onkel. Zuko schluckte. Hatte er es ihm je gesagt? Eher nicht.  Dann musste er dies wohl nachholen, denn dem sentimentalen alten Kerl würde das mit Sicherheit gefallen. „Hey! Willst Du jetzt was Essen, oder nur meinen Fussboden abnutzen?" Zuko warf dem Sprecher aus frostiger Höhe einen Blick zu. Suppenküchen schienen wirklich der beste Nähboden für impertinente Individuen zu sein. „Essen?", fragte er eisig. „Hier?" Er schauderte leicht. Der Wirt schniefte und wartete. Zuko, der Erhabene, öffnete den Mund. „Ja, warum nicht?" Krankhafte Neugier konnte er von nun an also auch zu seinen Schwächen zählen? Na wunderbar! Der ungepflegte Kerl schlurfte voraus. „Da is was frei!" Ah, Tisch 9! Zuko setzte sich. Tisch 9 neigte immer noch zur Schieflage. Er hob die Tischplatte an und richtete mit einem gezielten Tritt das Tischbein wieder aus. Perfekt. Tisch 9 war immer noch durchschaubar. Der Wirt warf ihm einen seltsamen Blick zu. „Hast schon gewählt?" Sah er so aus, als hätte er die Karte schon bekommen? „Welches ist die schärfste Suppe auf der Karte?" „Des Kaisers siebte Hölle!"  Wie ... passend. „Hervorragend. Die nehme ich." „Was? Die HÖLLE?" „Ja, und sagen Sie dem Koch bitte, er soll noch eingelegten Sonnenpfeffer hineingeben!" „Was solln das werdn? Ne Mutprobe?" „Eine Suppe, will ich doch sehr hoffen!" In eingeweihten Kreisen hätte die gezückte Augenbraue als eindeutige Warnung gegolten. „Hmpf! Sin ja Deine Eingeweide!" Fünf Minuten später wurde eine dampfende Schale vor Zuko abgestellt. Er war gerade im Begriff, sie an den Mund zu führen, als er den starrenden Blick des Lokalbesitzers bemerkte. Und nicht nur seinen. Den des Kochs, der Küchenjungen und aller anwesenden Gäste. Die Augenbraue kam versuchsweise wieder zum Einsatz, jedoch ohne Erfolg. Die Leute starrten ungeniert weiter. Von weiter hinten kam die Stimme einer alten Frau. „Hat der Bekloppte seine Suppe schon probiert?" Ein grobschlächtiger Kerl aus Reihe eins brüllte zurück. „Nein! Oder hörst Du schon Würgen oder Keuchen?" Zuko ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Der erhabene Diener der Sonne war es nicht gewohnt, zur Volksbelustigung beizutragen. Na ja, wenn man von Krönungen, Sonnwend-Reden und der Einweihung einiger Tempel einmal absah. Aber ein unerkannter Feuerlord muss tun, was ein unerkannter Feuerlord tun muss! Er begann zu essen. Das Publikum holte kollektiv Luft. Er ass weiter. Kollektives Luftanhalten. Die Suppe war gar nicht so schlecht, wie die vorherrschenden Gerüche hätten vermuten lassen. Kollektives Starren. Wirklich, gar nicht so schlecht, außer ... Zuko setzte Schale und Stäbchen ab. Kollektive Erwartung! „Ob ich wohl noch etwas Pfeffer haben könnte?" Stille. Zuko runzelte die Stirn. Hatte der Wirt ihn nicht gehört? „Da brat mir doch einer nen Kranich!", hauchte der Grobschlächtige aus Reihe eins. „Das Jüngelchen schwitzt noch nicht mal!" Eine halbe Stunde später trat das Jüngelchen wieder auf die Strasse. Zuko holte tief Luft. Er wusste, wo er nun hingehen würde. Sollte er es wirklich tun? Oder hatte er heute Abend schon genug selbstquälerische Erinnerungen ausgegraben? Wem versuchte er etwas vorzumachen? Er würde so oder so dort landen. Wenn nicht heute, dann morgen. Es war nur drei Häuserecken entfernt. Drei Häuserecken und fünfeinhalb Jahre. Drei Häuserecken, fünfeinhalb Jahre und ein komplettes Leben, wie es schien. Sie würde ohnehin nicht mehr dort wohnen! Wahrscheinlich wohnte sie nicht einmal mehr in der Stadt. Jeder seiner Schritte war langsamer, als der vorangegangene, bis Zuko schließlich an einer Strassenecke stand. Dort, schräg gegenüber stand ein kleines, niedriges Haus.  Wie schon früher baumelten vom Dach des Hauses bunte Lampions, hing Wäsche an den Fenstern. Flache Stufen führten auf eine schmale Veranda mit zwei Eingangstüren. Die Linke! Es war die Linke gewesen.  Zuko gestattete sich Äonen des Selbstmittleids. Er starrte die Tür an, bis sich ihre Konturen in seine Netzhaut gebrannt hatten. Bei Agni, er hätte nicht herkommen sollen! Doch nun konnte er sich einfach nicht mehr dazu zwingen, zu gehen. Auch nicht, als ein großer orangefarbener Kater die Stufen hinaufrannte, um vor der Tür ein entsetzlich theatralisches Geheul zu veranstalten. Ein paar Augenblicke später wurde die Tür aufgeschoben, um den tierischen Bewohner einzulassen. Zukos Hand krampfte sich um den Holzpfosten, auf dem sie gelegen hatte. NEIN! Eine junge Frau bückte sich, um die Katze, die um ihre Knöchel streifte zu streicheln. Ein langer, kaffeebrauner Zopf fiel über ihre Schulter. Das konnte nicht sein! „Hallo Ratte!" Das konnte nicht SIE sein!  „Auch mal wieder da, Du Flohsack?" Unter Zukos Hand drang Qualm hervor.  „Ja doch, Du kriegst ja was zu fressen ..." Ihre Stimme war geschmolzene Schokolade, in die er seine Finger tauchen wollte. Qualm stieg Zuko in die Nase und er nahm hastig die Hand vom Holz. Die Tür schloss sich wieder. Reglos stand er da. Wie konnte das sein? Nach dieser langen Zeit? Es waren fast sechs Jahre vergangen, seit er diese Tür zuletzt gesehen hatte. Wieder und wieder war er damals hergekommen, um sie belauern. Sie hatte einst zwei Welten getrennt. Jin schaufelte Futter in Rattes Napf. Er hatte mal wieder Glück gehabt. Sie hatte grade zu Bett gehen wollen, als er gemaunzt hatte. Geistesabwesend strich sie über sein weiches Fell und fragte sich, wie es wohl wäre, nur Katzengedanken im Kopf zu haben. Keine Sorgen zu haben, außer Fressen, Rennen, Spielen, Revierkämpfen und Schlafen. Sie sollte wirklich ins Bett! Die Hoffnung auf richtigen Schlaf hatte sie zwar nicht, aber man konnte ja nie wissen. Langsam schlurfte Jin zum Bett und löste die Verschlüsse ihres Oberkleids.  Bevor sie es ablegte nahm sie ein kleines Schildchen aus der Tasche, strich mit den Fingern zärtlich darüber und legte es dann vorsichtig auf ihren Nachttisch. Hätte Sela gewusst, dass sie diesen Coupon, seit er wieder aufgetaucht war mit sich herumschleppte, hätte sie mit Sicherheit einen Holzhammer geholt, um ihren Dachschaden zu beheben! Jins schlechtes Gewissen hielt sich allerdings in Grenzen. Sie hatte anfangs auch gedacht, es wäre besser, den Coupon so schnell wie möglich loszuwerden. Aber irgendwie hatte er etwas tröstliches, warmes.  Er erinnerte sie an Lees Blick, kurz bevor er ihr das Ding gegeben hatte.  Der Moment, in dem sie gedacht hatte, der Drachenjunge könnte vielleicht das Gleiche fühlen wie sie. Damals hatte sie versucht es abzustreiten, aber sie war hoffnungslos, kopflos und zur Gänze verliebt gewesen. Sie hatte gedacht, sie hätte dieses Gefühl mit den Jahren überwunden, aber jedes Mal, wenn sie an ihn dachte, war da dieser Knoten in ihrem Inneren, der sich nicht lösen ließ. Doch, nicht an ihn zu denken fühlte sich noch tausendmal leerer und hohler an, als ihr Unglück. Unglücklich zu sein bedeutete wenigstens, etwas zu fühlen. Zuviel zu fühlen! Bevor sie das Licht löschte, strich Jin noch einmal zärtlich über den verhassten Schatz, den sie vor einem Monat zurückgewonnen hatte. „Schlaf gut, Drache!", flüsterte sie ins Dunkel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)