Gestohlenes Lächeln von ArtyFowly („Sie wollten mir mein Lächeln nicht nehmen, doch sie wussten nicht, dass ich ohne die Erinnerung an ihn nicht fähig war zu fühlen…“) ================================================================================ Kapitel 1: Die Opferstelle – „Mir ist es egal, was ich fühle – Hauptsache, ich fühle irgendetwas…“ -------------------------------------------------------------------------------------------------- Ich blickte mich nicht um, als ich Tsumei verließ. Viele Erinnerungen hingen an dem kleinen Dorf, das sich zwischen die Felsen schmiegte und mir früher immer ein Gefühl von Geborgenheit gegeben hatte – gegeben hätte, wäre ich fähig gewesen zu fühlen. Ich seufzte. Noch so eine Geste, die ich nur tat, weil sie zu der Stimmung passte, die ich eigentlich haben müsste. Mir begegnete niemand, als ich auf die Opferstelle zuschritt. Der Wind blies mir den vertrauten Geruch von Kerzen und Räucherstäbchen entgegen. Die Gegend schien wie ausgestorben. Ich kniete mich vor den kunstvoll verzierten Schrein und lauschte den sphärischen Klängen, die an diesem Ort immer gespenstisch in der Luft hingen, ohne dass jemand wusste, was sie erzeugte. Manche behaupteten, die Götter würden sie den Menschen schicken, um ihnen die Falschheit ihres Handelns klarzumachen. Doch ich fand die Melodien zu schön, als dass sie zu irgendetwas anderem hätten dienen können, als den Menschen die Herzen zu öffnen. Ich lächelte. Tränen liefen meine Wangen hinab. Gierig fing ich das Salzwasser auf, das aus meinen Augen rann. Ich lechzte nach jeder Art von Gefühl, ob es Glück war oder Trauer. Es war mir egal, was ich fühlte, Hauptsache, ich fühlte irgendetwas. Überrascht keuchte ich auf, als mich eine Woge von Gefühlen erreichte, die so stark war, dass ich die Hände fest aufs Herz pressen musste, weil es zu zerspringen drohte. Ich würde mich nie an die Intensive gewöhnen, mit der die Magie dieses Ortes in meinen Körper drang und meiner Seele zeigte, was es hieß zu fühlen. Ich saugte alle Gefühlseindrücke in mich auf, die ich erhaschen konnte, die die Götter meiner Seele preisgaben. Dann erhob ich mich und setzte meinen Weg fort, ohne ein genaues Ziel zu haben. Der Sinn dieser Aktionen, zu denen es mich immer öfter trieb, war stets der Gleiche: Seit ich einmal von dem süßen Geschmack des Fühlens gekostet hatte, zog es mich mindestens einmal alle paar Tage zu diesem Ort, der meine ernüchterte Seele mit einer Fähigkeit lockte, die sie scheinbar verlernt zu haben schien. Ich schlenderte den gepflasterten Weg entlang, der mich ins Dorf Kaitan führte, das mehr ein bunt zusammen gewürfelter Haufen Häuser, Felder und Tiergehege als ein Dorf war. Wäre ich nicht so anders gewesen – hätte ich die Fähigkeit besessen zu fühlen – hätte ich damals, als ich noch ein Kind war, hier wahrscheinlich Freunde gefunden. Ich erblickte einen Mann, der mich aus zusammengekniffen Augen musterte und, als ich seinen Blick freundlich erwiderte, ein erstauntes Gesicht machte und zurücklächelte. Der Wind hatte meine Tränen längst getrocknet, doch ich wusste, dass er mich gesehen hatte, als ich weinte. Er stand immer dort und doch war er jedes Mal erstaunt, wenn er mich mit steifen, festen Schritten und kaltem Blick zum Opferschrein laufen sah und dann beobachtete, wie ich ihn, vollkommen verwandelt, mit leichtem Gang und einem Leuchten in den Augen, wieder verließ. „Und? Hast du heute etwas für mich?“, fragte er. Wie immer. „Ich habe dir schon oft genug gesagt, dass ich mir nichts daraus mache, den Purpurschädeln ihre kleinen kupfernen Münzen aus den Taschen zu ziehen und als Trophäen mit mir herumzuschleppen! Wie kommst du überhaupt auf die Idee, diese hässlichen Dinger zu sammeln?!“ Ich fragte ihn das so gut wie jedes Mal und wie jedes Mal bekam ich auch jetzt als Antwort nur ein unschlüssiges Schulterzucken. „Aber könntest du nicht… nur einmal? Für mich? Ich habe…“ „Nein, danke, ich habe auch kein Interesse an deinen Masken! Die kannst du vielleicht den Neulingen vom Kloster andrehen! Nicht mit mir, mein Freund!“, fuhr ich ihn an. Dann musste ich grinsen und – er grinste zurück. Es war das Gleiche, jedes Mal. Ich genoss es im Rausch der in mir neu geweckten Gefühle, meine Reaktionen ein wenig zu übertreiben, und er wusste, wie ich es meinte. Doch ich war mir bewusst, dass dieses Gefühl – so wie alle meine Gefühle – nicht mehr lange anhalten würde und so verabschiedete ich mich schnell von ihm und setzte meinen Weg fort, um die Schönheit der Halbinsel, auf der ich mich befand, wenigstens noch für eine Weile durch andere Augen zu genießen als sonst. Ich wanderte durch die Weiten Panjiangs und betrachtete den Himmel, der mich mit seiner schier unendlichen Weite überwältigte. In normalem Zustand hätte mich das alles völlig kalt gelassen. Ich seufzte – ein echtes Seufzen dieses Mal. Immerhin schaffte ich es, seit ich die Möglichkeit entdeckt hatte, für kurze Zeit meine Gefühle zu wecken, auch im normalen Zustand, natürliche Reaktionen zu imitieren. Ein falsches Lachen, vorgetäuschte Freude, künstliche Tränen, ein gespieltes Seufzen. Das war mein Alltag. Seit ich das erste Mal richtig gefühlt hatte, konnte ich mich nicht mehr damit abfinden, wie die anderen mich ansahen – oder nicht ansahen, je nachdem, ob sie stark genug waren, meinen Anblick zu ertragen, der Kälte hinter meinem Blick standzuhalten. Ich lachte bitter auf. War ich nicht eine geborene Mesmerin? Die Kunst des Mesmers war es, die eigenen Gefühle zu verstecken, falsche aufzusetzen und die Gefühle und Sinne des Gegners zu manipulieren. Ich konnte nicht fühlen, hatte also nichts zu verstecken, und war Meisterin darin, Gefühle vorzutäuschen, denn es war das, was ich jede Sekunde meines Lebens tat, in der ich nicht mit leerem Blick vor mich hinstarrte und mir die Frage stellte, ob ich überhaupt eine Seele hatte. Dann war es plötzlich vorbei. Ich spürte es noch, bevor ich es fühlte. Das Fühlen bestand im Allgemeinen darin, dass ich auf einmal nichts mehr fühlte. Die Götter streckten ihre Finger nach meiner Seele aus und griffen nach dem, was nicht zu ihr gehörte, nahmen sich zurück, was sie mir vorher am Schrein so bereitwillig gegeben hatten. Das Glück holten sie sich zuerst. Es war immer so. Der Kummer, der daraufhin von mir Besitz ergriff, schien mich beinahe zu ersticken. Er legte sich wie eine schwarze Decke über mich und drückte mir alle Tränen aus den Augen, die ich noch hatte. Ich stöhnte auf und sank zu Boden. Schlimmer als der Schmerz jedoch war das Wissen, gleich nichts mehr fühlen zu können. Mein Herz war erfüllt von Trauer, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung – und ich genoss es. Unermüdlich rissen verborgene Kräfte an meinem Innersten. Stück für Stück blätterten die Gefühle von meiner Seele ab, als könnten sie nicht mehr an ihr haften, hinterließen sie als Schmuckstück in meinem Körper zurück, ohne dass dieser ihr eine Funktion hätte zuschreiben können. Das letzte, was ich fühlte, war Enttäuschung darüber, nichts mehr fühlen zu können. Dann war auch dieses Gefühl verschwunden und ich war nicht einmal mehr fähig, dem Verlust nachzutrauern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)