Am Rande der Nacht von Lethal ================================================================================ Prolog: Wachtraum ----------------- Dunkelheit, so allumfassend, dass ich glaube, sie berühren zu können. Noch einen Augenblick zuvor war die Stadt hell erleuchtet, doch nun kann ich die eigene Hand nicht vor Augen sehen. Ein Stromausfall? Wie blind taumele ich durch die Straße. Ich bin auf dem Weg nach Hause, denn inzwischen habe ich wieder ein eigenes Heim. Nur finde ich es nicht. Bin ich betrunken? Und wo zur Hölle ist der Mond, wenn man ihn mal braucht? Wie auf ein Stichwort Kinderlachen aus der Schule um die Ecke. Jetzt? Um diese Zeit? Im Fenster steht kein Mondeslicht Des Mondes grau umwölkt Gesicht In jeder Nacht ein O es spricht Denn furchtbar ist’s, was er hier sieht Dass er den Mund vor Schreck verzieht Wie ist die Welt voll Furcht und Feuer Zu töten was ihm lieb und teuer. Du findest dich am Rande der Nacht, Du, der dich selbst dir hast ausgedacht. Sie singen und lachen und scheinen keine Angst zu kennen, trotz des skurrilen Kinderliedes, das dort aus ihren Mündern erklingt. Ich laufe weiter. Langsam erkenne ich Schemen in der Dunkelheit. Häuser. Straßenlaternen. Die Bank am Rande des winzig kleinen Parks, direkt gegenüber meiner Haustür. Meine Haustür! Endlich! Ich wühle nach dem Schlüssel in meiner Tasche, taste nach dem Schloss, doch meine Finger berühren Beton, dort wo eigentlich die Tür hätte sein sollen. Wo verdammt nochmal ist mein Zuhause? Plötzlich Schritte in der Dunkelheit, die schnell näher kommen und mir dennoch weit weniger bedrohlich scheinen, als die singenden Kinder. Licht. Licht, das lebt. Eine kleine, lebendige Flamme, (... voll Furcht und Feuer zu töten, was ihm lieb und teuer.) die Wasser zu trinken scheint, aus der Hand der schlanken, fast dünnen Gestalt, zu der die Schritte gehören. Ich kann das stetige Tropfen des Wassers vernehmen, wenn es durch das undichte Gefäß der Handfläche entweicht und auf den Boden klatscht. „Dein Zuhause ist hier, aber du bist wohl immer noch ein wenig blind“, höre ich den braungebrannten Jungen sagen. Er hat die Stimme meines Bruders, doch darin fehlt der leise, nachdenkliche Unterton, der sich stets in jede seiner Bemerkungen zu schleichen pflegte. „Marco?“ frage ich trotzdem. „Nicht ganz. Versuch’s noch mal. Blaue Augen, keine grünen.“ Er hält das Feuer zwischen unsere Gesichter. Lavandes Kerze, schießt es mir durch den Kopf. Ihr viel zu nahes Gesicht fällt mir wieder ein und ich schaudere. Muss sie mich denn auch nach ihrem Tod noch verfolgen, obwohl sie auf mein physisches Wesen nun keinen Zugriff mehr hat? Seine Augen sind blau, genau wie ihre, aber sie sind nicht unergründlich wie ihre und nicht eiskalt wie ihre. Eher lassen sie mich an das angenehm kühle Meerwasser im Sommer denken. Seine Züge (müsste er nicht blasser sein?) gehören nicht dem Jungen, mit dem ich aufgewachsen bin. Wie denn auch? Der ist schließlich tot. Jedoch kenne ich ihn, kann mich nur nicht entsinnen woher. „Ich komm nicht drauf“, sage ich resigniert. „Welche Stimme hast du mir gegeben?“ „Was...? Tut mir leid, ich kann dir nicht folgen...“ Er drückt mir einen Stein in die Hand. Flaschengrün. Das Auge des Orion, doch es sieht anders aus. Die freie, runde Form ist einem geschliffenen Stein gewichen, in der Grundfläche rund, zu den Rändern hin aber schräg abgeschliffen, sodass ein Sechseck um den Kreis herum entstanden ist. Auf der glatten, runden Fläche stehen Buchstaben, die aussehen wie ein Alphabet aus Schlangen. Ich kann sie nicht lesen. „Du liest von meinen Lippen. Es kommt dir nur so vor, als würde ich sprechen. Stumm wie ein Fisch. Erinnerst du dich jetzt?“ Ich muss grinsen und schäme mich gleichzeitig ein wenig, jemanden vergessen zu haben, der mir auf so angenehme, unaufdringliche Weise beigestanden hat, als ich dringend die Nähe eines aufrichtigen Menschen brauchte. Ich mache zwei unbeholfene Gebärden mit den Händen, überrascht darüber, dass ich sie überhaupt noch beherrsche. „Wasser“ und „Ratte“. „Genau, die chinesische Wasserratte.“ Er grinst seinerseits, schwenkt die Flamme zum Haus und die Tür ist wieder da. „Willkommen zu Hause.“ Das Licht verschwindet, doch das Wasser in seiner Hand verrinnt nicht, sondern läuft weiter, als käme es aus ihm selbst. Er hebt beide Hände vor’s Gesicht, in einer Haltung, als wollte er es trinken. „Und jetzt sieh zu, dass du aufwachst, bevor das hier auch noch ein Alptraum wird. Oh, und übrigens... Du hast süßes Blut, aber es ist giftig.“ Er pustet über die offenen Handflächen hinweg, sodass mir das Wasser ins Gesicht spritzt. Einer der Tropfen läuft meinen Hals hinunter, wo er sich irgendwie verkehrt anfühlt. Zu... dünn, zu warm, zu... pulsierend? Meine Kehle ist wie zugeschnürt, als der einzelne Wassertropfen zu einem kleinen Rinnsal wird. Ich weiß, dass die Flüssigkeit nicht mehr klar, sondern rot ist. Blutrot. Die Nacht und die Häusersilhouetten weichen meiner Zimmerdecke, die fast fühlbare Dunkelheit entpuppt sich als mein Bettzeug und über mir hockt etwas, das eindeutig einen menschlichen Hinterkopf hat, in dessen Haar ich meine Finger verkrallt habe, im verzweifelten Versuch, ihn wegzuziehen und damit meinen Hals frei zu bekommen, denn dieses Etwas, dieser Jemand, beißt mich. Mein ungebetener Gast trinkt mein Blut, wie die lebendige Flamme das Wasser getrunken hat. Und fängt mit einem Mal furchtbar an zu zittern, wie von heftigen Krämpfen geschüttelt. Die Umklammerung der fremden Kiefer löst sich. Alles, was davon bleibt ist ein schwacher, pochender Schmerz und eine leichte Übelkeit, die wohl auf den Blutverlust zurückzuführen ist. Mit Gewalt scheint sich mein Angreifer loszureißen, während ich immer noch nicht recht weiß, wie mir geschieht. „Verflucht, ein... Drache...“ dringt es an mein Ohr. „Ja, ein Drache. Wohl bekommt’s“, erwidere ich gehässig, zu benommen, um zu begreifen, was ich sage. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)