Am Rande der Nacht von Lethal ================================================================================ Kapitel 5: Chefsache oder Mein Besuch im Irrenhaus -------------------------------------------------- Die Gelassenheit, mit der ich das Vorzimmer zu Tanakas Büro betrat, war mir beinahe schon selbst zu groß. Stand ich möglicherweise einfach unter Schock? Na Hauptsache, es half. Missmutig zupfte ich ein letztes Mal an meiner Krawatte herum – wie ich das Ding hasste! - bevor mich die Sekretärin weiterschickte, mit der Mitteilung, ich solle im Büro warten, Tanaka käme gleich. Etwas verspätet fiel mir ein, dass ich immer noch keine Ausrede hatte. Nun ja, jetzt musste es eben ohne gehen. Ich atmete tief durch, schob die Tür auf und trat ein. Seit meiner Einstellung hatte sich hier so einiges geändert. Als ich vor anderthalb Jahren bei Kodansha Tech. angefangen hatte, da hatte anstelle des großen Massivholzschreibtisches noch ein klappriges Plastikmöbel im Büro des Personalchefs gestanden und auch die Besprechungsecke mit dem niedrigen Tisch, dem kleinen Sofa und den unbequem aussehenden Designersesseln war noch nicht da gewesen. Ganz zu schweigen von dem jungen Mann, der die Füße auf der Tischplatte abgelegt hatte und das Sofa für sich beanspruchte. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig, doch dieser Eindruck konnte täuschen. Er mochte wesentlich jünger aussehen, wenn er die schmale Brille abnahm, die das lässige Gesamtbild gewaltig störte, das er mit seinem zwei Knöpfe weit offenstehenden Hemd und den lose zurückgebundenen, dunkelroten Haaren abzugeben versuchte. Um den Hals hingen ihm ein paar Stöpselkopfhörer, aus denen ich leise Musik hören konnte. Irgendetwas Klassisches, nicht ganz leicht für die Ohren, aber auch nicht so schief, dass ich hätte flüchten wollen. Ich begrüßte ihn knapp und ließ mich dann auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch fallen. Stille trat ein, getragen von dem dezenten Rauschen und Zirpen aus den Kopfhörern. Auf Dauer würde sich der Rothaarige die Ohren verderben, wenn er seine Musik so laut hörte, dass sie sogar noch hier drüben beim Schreibtisch ankam. Als wollte er mich darin bestätigen, stöpselte er sich einen seiner Gehörgänge zu, was die Musik etwas leiser, aber auch unvollkommen werden ließ. Was wollte er hier? Ich spürte seine Blicke deutlich in der Seite und es ging mir auf die Nerven. Umso beharrlicher schwieg ich weiter, brütete vor mich hin, ohne wirklich an etwas Bestimmtes zu denken. Meine Exfreundin hatte immer gesagt, ich sähe am konzentriertesten aus, wenn ich überhaupt nicht dachte. Yasemin, Jazz... Nach all dem Stress heute, könnte ich ihr vielleicht einen Besuch abstatten. Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen, schien die von mir ausgehenden Wellen aber keineswegs freundlicher zu machen, wie die nervösen Rutschbewegungen auf der Couch verrieten. Schließlich ließ er mir den Sieg in diesem stummen Tauziehen darum, wer den anderen besser ignorieren konnte, und stand geräuschvoll auf. Ärgerlicherweise gewann ich das Spielchen nur teilweise, denn sein plötzliches Hochschnellen ließ mich kurz zusammenzucken. Mit vier gemessenen Schritten legte er die Distanz zwischen uns zurück, blieb unvermittelt vor mir stehen und schaute auf mich herunter. „Okay, nun reicht’s!“, donnerte er völlig aus dem Nichts. Aus demselben kam auch die Ohrfeige, die er mir ins Gesicht klatschte. „Das muss ja ne tolle Seele sein, wenn du mich hier so auflaufen lässt!“, wütete er weiter, „Weißt du, wie schwer es war, dich überhaupt zu finden? Ist das der Dank, dafür, dass ich - “ Erschrocken wich er zurück, als ich meinerseits blitzschnell aus meinem Stuhl sprang. Ich hatte es geahnt, aber verdrängt: Ich war kleiner als er. Doch mein abruptes Aufstehen verfehlte seine Wirkung dennoch nicht. Er verstummte, funkelte mich mit den dunklen Augen nur böse an. Dasselbe tat auch ich und ein paar Lidschläge lang standen wir einfach da, stachen uns mit unseren Blicken gegenseitig die Augen aus. Die Geräusche aus den Kopfhörern waren wieder lauter, jetzt wo sie näher waren. Die Musik gefiel mir, doch das linderte meinen Ärger nur geringfügig. Für heute hatten nun wirklich mehr als genügend Leute an meinen Nerven gesägt. „Zwei Fragen“, giftete ich, „Erstens: Was hörst du da? Zweitens: WAS SOLL DIE SCHEISSE, DU VOLLIDIOT?!“ Wie vom Schlag getroffen taumelte er einige Schritte weiter zurück. Die Wut in seinem Gesicht hatte einer nervösen Anspannung Platz gemacht. Ich konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn hektisch zu arbeiten begann. Na auf die Erklärung war ich doch sehr gespannt. Schnell schienen seine Überlegungen zu einem Ergebnis gekommen zu sein, was sich darin äußerte, dass er sich die Ohrstöpsel etwas weiter aus dem Hemd zog, unter dem sie verborgen waren, und mir einen davon hinhielt. Ich sah den kleinen Lautsprecher an, als käme er von einem anderen Stern. Mit vielem hatte ich gerechnet, aber nicht damit. „Wenn du jetzt erwartest, dass ich mir deinen Schmalz ins Ohr stopfe, hast du eindeutig nicht mehr alle Tassen im Schrank“, stellte ich klar. Kurz blitzte es in seinen Augen auf, doch dann lächelte er einfach – und sehr asymmetrisch. „Ich erklär’s dir beim nächsten Mal. Er kommt.“ Am liebsten hätte ich mit dem Fuß aufgestampft und losgeschrieen. Verdammt, ich wollte JETZT eine Erklärung dafür, dass die ganze Welt um mich herum seit der letzten Nacht vollkommen verrückt spielte. War denn das zuviel verlangt? Und dieser Kerl, offenbar in der Lage, mir einen Teil dieses Wahnsinns begreiflich zu machen, hatte nichts Besseres zu tun als sich wie von der Tarantel gestochen auf das Sofa zu werfen und... Was machte er da eigentlich? Sein ganzes Auftreten war plötzlich total verändert. In Embryohaltung hockte er auf der Couch, die Arme schützend um die Beine geschlungen. Die Brille steckte in der Brusttasche seines Hemdes, die Stöpsel in seinen Ohren und seine Hand halb in seinem Mund wie ein überdimensionaler Schnuller. Im Takt der immer noch leise zu vernehmenden Symphonie wiegte er sich vor und zurück. „Klick-klick“, nuschelte er zwischen den Fingern hervor. „Klick-klick-klick. Piep!“ Gerade noch rechtzeitig, bevor Tanaka die Tür seines Büros ganz geöffnet hatte, gehorchte meine heruntergeklappte Kinnlade mir wieder. Wo immer sie den jungen Mann hier rausgelassen hatten, wenn es nach mir ging, sollte er dorthin schleunigst wieder zurück. Ich war hin und hergerissen zwischen einem unhaltbaren Lachanfall und dem Wunsch, einfach aus dem Raum zu stürzen, um von irgendwem lautstark und notfalls mit Gewalt ein Stück Normalität zu verlangen. Sofort und mit Garantie. Ausgerechnet Rongas magisches Siegel war es, das mich halbwegs auf dem Boden der Tatsachen hielt, denn meine nervösen Finger fanden darin ein willkommenes Spielzeug, um mich wenigstens ein bisschen zu beruhigen. Peinlich berührt sah Tanaka zuerst den jungen Mann, dann mich, dann wieder ihn an, rannte fast durch’s Zimmer und riss ihm die vollgesabberten Finger wieder aus dem Mund. Den Kopfhörer entfernte er mit solcher Grobheit, dass er sich von seinem Endgerät trennte und davonflog. Die Reaktion darauf war ein gellendes, spitzes Winseln seitens des Jüngeren, das mir durch Mark und Bein ging. Meine Verwirrung war komplett, als mein Vorgesetzter begann, dem Irren sanft über den Kopf zu streichen und beruhigend auf ihn einzureden. „Shhht, ist ja gut“, murmelte er und sagte gleich darauf, bei weitem nicht so freundlich, zu mir: „Virgin, fahren Sie bitte den Computer auf meinem Schreibtisch herunter.“ Sein Wunsch war mir Befehl. Dankbar ergriff ich die Gelegenheit beim Schopfe, die Beiden nicht mehr ansehen zu müssen. „Klick-klick“, erklang es wieder vom Sofa. Ich schaute dem Rechner so krampfhaft beim Herunterfahren zu als hinge mein Leben davon ab, versuchte nur auf die leisen Umdrehungen von dessen Lüftung zu lauschen. Der Computer ging aus und das leise Surren verstummte. Dasselbe tat auch der verrückte junge Mann. Nun starrte er ausdruckslos auf einen nur für ihn sichtbaren Punkt hinter mir. „Na siehst du, ist doch schon wieder vorbei“, beschwichtigte Tanaka ihn weiter, als spräche er zu einem kleinen Kind, wobei er ihm eine weiße Tablette auf die heraushängende Zunge legte. Ein Stoßseufzer entfuhr ihm, als der Rotschopf diese schluckte und sich auf der Couch zusammenrollte, wo er fast augenblicklich einschlief. „Und dabei sah es doch so aus, als würde es dieses Mal klappen“, sagte Tanaka wehleidig zu sich selbst. Gern hätte ich gefragt, was gerade geschehen war, doch ich befand mich hier in Japan, dem Land der guten Sitten und Manieren und mein Arbeitsplatz stand auf dem Spiel. Keine guten Vorraussetzungen also, um meinen Chef noch mehr in Verlegenheit zu bringen, indem ich ihn löcherte. Stattdessen nahm ich wieder auf meinem Stuhl platz, wo ich tat, als sähe ich Tanakas hochroten Kopf nicht. Ebenso höflich ignorierte ich die Familienähnlichkeit, die mir auffiel, jetzt wo der Junge friedlich auf dem Sofa schlummerte. Geduldig wartete ich, bis auch Tanaka sich gesetzt und ein wenig gefasst hatte. „Sagen Sie mir nur eins, dann bin ich auch schon weg und wir können uns alle von dem Schrecken erholen“, versuchte ich ihm – nicht ganz uneigennützig – entgegenzukommen, „Hab ich den Job noch?“ „Ja ja, haben Sie“, antwortete er noch ein wenig zerstreut. Er räusperte sich, wischte sich mit einem blütenweißen Stofftuch einige Schweißperlen von der Stirn und warf mir einen fast flehenden Blick zu. Ich kannte ihn eigentlich als sehr autoritären, wenn nicht gar herablassenden Zeitgenossen. Umso mehr musste ihn der Vorfall mitgenommen haben. „Nun... eh... Würden Sie in einer Stunde nochmal wiederkommen?“, bat er. „Natürlich“, kroch ich ihm in den Hintern. Er hatte sich’s verdient. Immerhin durfte ich in der Firma bleiben, „Bereiten Sie in Ruhe Ihre Standpauke vor und ich denke derweil über ein paar gute, aber garantiert gelogene Erklärungen nach, die Sie sowieso nicht hören wollen, einverstanden?“ „Einverstanden“, erwiderte er matt. Mit einer Geschwindigkeit, als hätte es in der Schule zur Pause geläutet, sprang ich auf und marschierte auch schon auf die Tür zu. „Oh, und Virgin...?“, rief er mich noch einmal zurück. Ich neigte wissend den Kopf. „Es bleibt unter uns, wenn Sie sich endlich angewöhnen, mich beim Vornahmen zu nennen.“ Na also. Der alte Mann lächelte schon wieder. Meine gute Tat hatte ich damit für heute getan. Das kam nun wahrlich nicht oft vor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)