Am Rande der Nacht von Lethal ================================================================================ Kapitel 8: Am Boden ------------------- Blitzschnell griffen zwei Hände durch den Scherbenregen aus brechendem Fensterglas, zerrten mich bis zum Bauchnabel zwischen den gezackten Rändern der zerbrochenen Scheibe hinaus, dass ich mir Arme und Bauch aufriss. Indes wurde der Flur hinter mir von fragenden Stimmen und dem Klicken von Türen belebt. „Jazz, bleib draußen!“, brüllte ich. Der vorwitzige Riese, der mich am Kragen hielt, lachte höhnisch. „Wie heldenhaft.“ Mit einem Ruck legte auch der Rest von mir den Weg nach draußen zurück. Der Riese ließ sich im Sturzflug zu Boden fallen, um mich dort festzunageln. Die Wucht des Aufpralls trieb mir Tränen in die Augen und die Luft aus den Lungen, zusammen mit einer grellen Flamme, deren Entstehung ich nicht einmal bemerkt hatte. Zwei schnelle Handgriffe und ich hatte meinen Maulkorb wieder. Über mir tauchte die ausdruckslose Miene des zweiten auf. Der Junge mit der Eismagie lächelte nichtssagend höflich, so unnahbar, als käme er aus einem anderen Universum. Seine Wange wurde von einer langen Schnittwunde verunstaltet, die dort vor einigen Stunden noch nicht gewesen war, sein Blick war so stechend, dass ich es für klüger hielt, ihn nicht direkt anzusehen. Ich richtete mein Augenmerk auf das Küchenfenster weit oben, aus dem zwei Köpfe lugten. Jene von Yasemins Eltern. Doch wo war Jazz? „Ich mag keine Zuschauer“, erklärte der junge Anführer. Ein eisiger Windstoß fegte zu den Beiden hinauf. Ich hörte sie aufschreien, sah, wie sie nach hinten fielen, glaubte sogar, das Knirschen der Scherben dort oben zu vernehmen. Wo war Yasemin? Ich hoffte inständig, sie hatte sich in Sicherheit gebracht. Der Eismagier hockte sich neben den Riesen, dessen Knie und Hände mich am Boden hielten. Was hätte ich jetzt für den von Eliphas erwähnten Schutzwall gegeben! Doch nein, ich lag hier, hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken. „Es war nicht besonders nett von dir, uns geradewegs in eine Falle laufen zu lassen“, sagte die freundliche Stimme, die mich schon am Mittag so beunruhigt hatte. Ich stutzte. Falle? Ich wollte diese Asche doch genauso dringend loswerden, wie sie sie haben wollten. Was für eine Falle sollte ich ihnen gestellt haben? Anscheinend stand mir die Frage ins Gesicht geschrieben. „Du hättest uns sagen können, dass du einen Zentauren zu Hause hast. Dann wären wir jetzt noch zu dritt“, sagte der Junge mit der Nettigkeit eines umsichtigen Gastgebers. Von Mitgefühl für seinen Kameraden keine Spur. Ich riss die Augen auf. Rick hatte das Muskelpaket erledigt? Aber warum? Was hatte ihn dazu bewogen, die Asche nicht herzugeben, ja sogar dafür zu kämpfen? Und wie war der Kampf ausgegangen? Ging es ihm gut? War er verletzt? War er noch am Leben? Meine Gedanken rasten plötzlich. Vor meinem inneren Auge spielten sich duzende verschiedener Kampfszenen ab, von denen mir nicht eine gefiel.. „Du wirkst überrascht“, bemerkte mein Gesprächspartner richtig, „Spielst du einfach gut, oder hast du wirklich nicht an ihn gedacht?“ Sag mir, ob er noch lebt, dachte ich panisch. Doch meine zusammengehaltenen Kiefer machten es mir unmöglich, die Frage zu stellen. Das einzige, was ich zur Antwort bekam, war dieses grässliche, dünne Lächeln. „Nun, wir haben nicht viel Zeit, wenn wir nicht von noch mehr Menschen gesehen werden wollen. Hör also gut zu, ich werde mich nicht wiederholen.“ Mir blieb kaum etwas anderes übrig. Er ließ einen Zettel in der Brusttasche meines Hemdes verschwinden. „In der kommenden Nacht ist die Asche an dieser Adresse. Dämmert es und sie ist nicht dort, verlieren wir alles. Und diesen Verlust werden wir ohne Abzüge an dich weitergeben. Ich denke, du weißt, was ich dir damit sagen will.“ Mein Kopf ruckte auf und nieder. Lavande hatte mir beigebracht, was das bedeutete. Mit viel Liebe zum Detail. Der Riese, der mich festhielt, beugte sich zu mir hinunter. Sein Atem streifte meinen Hals und einen Moment lang dachte ich, er würde mich erneut beißen. Stattdessen brachte er seine Lippen so nah an mein Ohr, dass es unangenehm kitzelte. „Wir fangen mit dem Mäd - “ Ich meinte, mein Trommelfell würde jeden Moment reißen, als er plötzlich wie ein Besessener in mein Ohr schrie. Ohne darauf zu achten, dass er mich damit freigab, warf er sich zur Seite, presste die Hände auf seine eigenen Ohrmuscheln, so fest, als wollte er seinen Kopf zerdrücken, und kreischte wie von Sinnen. Seinen Mitstreiter traf es noch schlimmer. Aus dem entspannten Lächeln war eine schmerzverzerrte Grimmasse geworden. Tränen rannen ihm die Wangen hinunter, während auch er versuchte, sämtliche Geräusche aus seinem Gehörgang zu verbannen. Ich vernahm nicht einen Laut, der dafür verantwortlich sein konnte. Jedoch erkannte ich sehr wohl, was die Quelle des Übels war, als ich mich aufrichtete. Der Schlüssel klemmt noch etwas, denn das Schloss ist neu, doch nachdem ich ein wenig daran gerüttelt habe, öffnet sich die Tür. Wir betreten das kahle Wohnzimmer. Selbst die Stereoanlage, der einzige Hinweis darauf, dass hier jemand wohnt, steht erst seit einigen Stunden darin. Ein Ellenbogen wird mir unsanft in die Seite gestoßen. Der Zettel folgt der Geste auf den Fuß. „Findest du das witzig? Ich kann nicht hören, falls du das vergessen hast!“ Er hat wirklich keine Ahnung, was ich vorhabe. Umso besser. „Das werden wir sehen“, antworte ich knapp und hole die Ohrenstöpsel aus der Tasche. Es reicht ja, wenn einer von uns taub ist. Eine Stelle des nagelneuen Laminatbodens der Wohnung, in die einige Monate später Rick einziehen wird, ist mit farbigem Klebeband markiert. Hier funktioniert es am besten. Mein Begleiter will schon wieder eine verärgerte Nachricht auf den Zettel schreiben, doch ich nehme ihm den Stift weg. „Hinlegen. Am besten auf den Bauch“, verlange ich und deute auf das Klebeband, „Beschweren kannst du dich hinterher.“ Er zögert, zieht die Stirn in Falten, zuckt mit den Achseln und tut schließlich wie geheißen, mit einem Blick der in etwa sagt: „Lasse ich dem armen Irren eben seinen Spaß.“ Ich nehme die CD aus der Jackentasche. Beethoven. Was besseres ist mir nicht eingefallen. Immerhin ist die fünfte Symphonie schön laut. Ich bin auf dem Gebiet nicht gebildet genug, um zu sagen, ob es gute Musik ist, geschweige denn eine gute Aufnahme des Stücks, doch das ist wohl auch nicht so wichtig. „In Ordnung?“, frage ich, als ich mich hinhocke und ihm das Cover vor die Nase halte. Er zeigt mir einen Vogel, kann sein Interesse aber nicht ganz verbergen, als ich die Anlage bestücke, mir mit viel Sorgfalt die Ohren zustöpsle und den Lautstärkeregler bis zum Anschlag aufdrehe. Es war nicht leicht, den Nachbarn zu erklären, dass es in diesem Zeitraum – zum zweiten Mal, denn ich musste es ja vorher ausprobieren - sehr, sehr laut werden würde, aber sie haben sich überreden lassen. Also drücke ich feierlich die Play-Taste. Kurze Stille, während die CD gelesen wird. Dann kracht das erste Motiv aus den Lautsprechern. RababaBAM, RababaBAM. Der Boden bebt unter den Paukenschlägen, jeder Ton geht direkt ins Zwerchfell. Ich weiß, dass auch die späteren leisen Töne noch als leichte Vibrationen zu spüren sein werden. Für ihn mit seinem feinen Tastsinn wahrscheinlich noch mehr als für mich, der ich es nur halbherzig getestet habe. Die Wirkung des Lärms zeigt sich sofort. So platt wie nur irgend möglich liegt er auf dem Boden, hat sogar ein Ohr daran gedrückt, als lausche er auf die Geräusche unter der Erde. Nur die Hände sind nicht flach. Jede der Fingerspitzen berührt einzeln den Grund, nimmt jede noch so kleine Nuance in sich auf, die sich dort ertasten lässt. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist völlig entrückt. Man müsste schon die Musik wieder ausmachen, damit er sich daran erinnert, wo er ist. Ich werde der Letzte sein, der ihm das antut. Beantwortet das deine Frage?, denke ich zufrieden, Kannst du’s jetzt nachempfinden? Es war verwirrend, diese konzentrierte, doch irgendwie ferne Miene jetzt ausgerechnet bei dem Rotschopf wiederzuentdecken, der mich in Tanakas Büro geohrfeigt hatte. Die Augen halb geschlossen stand er da, vielleicht zwei Meter von mir entfernt, entspannt aber aufrecht, auf der linken Schulter die Geige, in der rechten Hand den Bogen. Die Finger der Linken, auf denen er am Mittag noch herumgekaut hatte, ruhten auf den zwei dünneren, hohen Saiten, über die der Bogen beständig strich. Während ich nichts von dem Akkord hörte, musste das, was er dort spielte für meine beiden Angreifer schrecklicher sein als ein rückwärts gespielter Trauermarsch, ja vielleicht sogar noch haarsträubender als Nicks Karaokeversion von Unbreak my Heart es für Yasemin und mich gewesen war, als wir ihn einmal zum Singen überredet hatten. Auf mich hatten sie jedenfalls keinen Einfluss. Vielleicht lagen sie außerhalb meines Frequenzbereichs, waren zu hoch für mich, etwa wie der Ton einer Hundepfeife, den man ja als Mensch auch nicht hörte. Die Misstöne zwangen die beiden Stück für Stück in die Knie, bis sie nur noch als zwei winselnde, um Gnade flehende Gestalten auf dem Boden kauerten. Inzwischen weinten sie beide, doch den Rothaarigen schien dies nicht zu berühren. Erst als zwischen den auf die Ohren gedrückten Händen Blut hindurchsickerte, setzte er endlich den Bogen ab. Neben ihm tauchte Jazz auf, die verwirrt zwischen uns hin und her schaute. Ohne eine Erklärung klappte er den zu seinen Füßen liegenden Geigenkasten auf und legte behutsam das Instrument wieder hinein, wobei er Yasemin gänzlich ignorierte, obwohl sie direkt neben ihm stand. Vielmehr richtete er seine Aufmerksamkeit auf die zitternden Wesen am Boden, neben jene er trat. Mit der Anmut eines in Zeitlupe tanzenden Balletttänzers hob er das Kinn des Eismagiers. „Willst du... uns umbringen?“, röchelte dieser. Ein feines, rotes Rinnsal sickerte aus seinem Mundwinkel, lief ihm über das Kinn, hielt sich kurz als Tropfen an dessen Rand und perlte ab. Kleine, rote Flecken bildeten sich auf seinem Sweatshirt, als sich das Schauspiel weitere Male wiederholte. Auch die Schnittwunde auf seiner Wange war von den verkrampften Fratzen, die er geschnitten hatte, wieder aufgebrochen. Plötzlich tat mir der Kerl leid. Die geflüsterte Antwort, die der verrückte Musiker ihm gab, konnte ich nicht verstehen, denn im gleichen Moment sprach mich Jazz von der Seite an: „Was wollen die?“ Furcht ließ ihre Stimme beben, dennoch fand ich, sie beherrschte sich bewundernswert gut. Ich wollte etwas erwidern, ihr sagen, dass ich es auch nicht so genau wusste, doch die Schnalle hinderte mich daran. Wütend öffnete ich den Verschluss und zerrte mir das Ding aus dem Gesicht. Mein Mitleid war auf der Stelle vergessen. „Keine Ahnung, was er will, aber die beiden wollen nur einen Haufen Asche, den ich sowieso nicht behalten will“, erklärte ich leise, woraufhin sie den Kopf hängen ließ. Kurz harrte sie aus, dann zog sie ihre Mundwinkel angestrengt nach oben. „Na Hauptsache, du bist okay. Alles noch dran?“ Was war nur los mit ihr? Diese aufgesetzte Fröhlichkeit kannte ich von ihr gar nicht. „Ich äh... bin soweit heil, denk ich“, bestätigte ich unsicher. Sie legte den Arm um meine Schulter und stützte sich ab, sodass wir wieder wie das komisch anmutende Pärchen aussahen, das wir einmal gewesen waren. Eine riesige Japanerin mit grünen Haaren und ein zu klein geratene Ausländer, der trotzdem den Macho herauskehrte. Unterdessen hatten der Rotschopf und der Vampir, oder was immer er war, ihre Unterhaltung beendet. Den Geigenkasten unterm Arm wandte er sich zum Gehen, während die Kreideweißen sich mühsam aufrappelten, ihre Schwingen verschwinden ließen und sich geknickt von dannen. Flügel... Ein Stich ging durch meine Brust, nun da sie mir auffielen. Nur zweimal in meinem Leben war ich bisher richtig geflogen. Nun war es damit vorbei. Meine Flügel hatte ich nicht mehr. Sie fehlten mir, wie ich verbittert feststellten musste. Einen Augenblick lang sahen wir ihnen alle drei nach. Jazz fröstelte in dem T-Shirt und schmiegte sich enger an mich. „Jemand wird das meinen Eltern erklären müssen“, flüsterte sie nach einer Weile abwesend. „Ich kümmere mich morgen darum. Halt sie hin, okay?“, bat ich sanft, „Du weißt doch, wenn ich etwas kann, dann lügen.“ „Warum morgen? Wo willst du hin?“ Ihr Tonfall hatte etwas Bittendes. Sie wollte nach diesem Schrecken nicht allein sein, was ich nur allzu gut verstehen konnte. Mir stand selbst der Sinn nach etwas Ruhe, um das alles zu verarbeiten. Doch bevor ich nicht Gewissheit darüber hatte, dass es Rick gut ging, war dafür keine Zeit. „Ich muss nach Rick sehen, jetzt gleich“, entschied ich, „Tut mir leid, das kann nicht warten.“ Sie nickte, wie immer verständnisvoll. „Schon gut. Ich hol deine Sachen.“ Der Rotschopf, der die ganze Zeit einfach dagestanden und zugehört hatte, kam nun zu uns herüber, suchte meinen Blick und setzte ihm ein selbstgefälliges Grinsen entgegen, das in mir den Wunsch aufkommen ließ, ihn nach Kräften zu vermöbeln. „Dann muss die Erklärung, die ich dir schulde wohl hinten anstehen.“ Der überlegene Gesichtsausdruck sagte mir deutlich, dass er darüber nicht im geringsten böse war. Doch er hatte die Rechnung ohne meine Exfreundin gemacht. „Ach, du willst was erklären?“, platzte sie heraus, „Na dann erklär’s meinen Alten.“ Schon sah der arme Kerl sich am Arm gepackt und davongeschleift. Ich folgte ihnen schadenfroh, nahm meine Sachen in Empfang und überließ den Fiedler seinem Schicksal. Dass ein wildfremder, leider verflucht gutaussehender, Kerl sich nun mit einer leicht bekleideten Jazz in der Wohnung aufhalten würde, störte mich herzlich wenig, denn er würde es sich gleich mächtig mit ihren Eltern verscherzen. Vielmehr galt meine Sorge Rick, dessen Zustand weiß Gott nicht der beste sein konnte. Auf kürzestem Wege fuhr ich nach Hause. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)