Am Rande der Nacht von Lethal ================================================================================ Prolog: Wachtraum ----------------- Dunkelheit, so allumfassend, dass ich glaube, sie berühren zu können. Noch einen Augenblick zuvor war die Stadt hell erleuchtet, doch nun kann ich die eigene Hand nicht vor Augen sehen. Ein Stromausfall? Wie blind taumele ich durch die Straße. Ich bin auf dem Weg nach Hause, denn inzwischen habe ich wieder ein eigenes Heim. Nur finde ich es nicht. Bin ich betrunken? Und wo zur Hölle ist der Mond, wenn man ihn mal braucht? Wie auf ein Stichwort Kinderlachen aus der Schule um die Ecke. Jetzt? Um diese Zeit? Im Fenster steht kein Mondeslicht Des Mondes grau umwölkt Gesicht In jeder Nacht ein O es spricht Denn furchtbar ist’s, was er hier sieht Dass er den Mund vor Schreck verzieht Wie ist die Welt voll Furcht und Feuer Zu töten was ihm lieb und teuer. Du findest dich am Rande der Nacht, Du, der dich selbst dir hast ausgedacht. Sie singen und lachen und scheinen keine Angst zu kennen, trotz des skurrilen Kinderliedes, das dort aus ihren Mündern erklingt. Ich laufe weiter. Langsam erkenne ich Schemen in der Dunkelheit. Häuser. Straßenlaternen. Die Bank am Rande des winzig kleinen Parks, direkt gegenüber meiner Haustür. Meine Haustür! Endlich! Ich wühle nach dem Schlüssel in meiner Tasche, taste nach dem Schloss, doch meine Finger berühren Beton, dort wo eigentlich die Tür hätte sein sollen. Wo verdammt nochmal ist mein Zuhause? Plötzlich Schritte in der Dunkelheit, die schnell näher kommen und mir dennoch weit weniger bedrohlich scheinen, als die singenden Kinder. Licht. Licht, das lebt. Eine kleine, lebendige Flamme, (... voll Furcht und Feuer zu töten, was ihm lieb und teuer.) die Wasser zu trinken scheint, aus der Hand der schlanken, fast dünnen Gestalt, zu der die Schritte gehören. Ich kann das stetige Tropfen des Wassers vernehmen, wenn es durch das undichte Gefäß der Handfläche entweicht und auf den Boden klatscht. „Dein Zuhause ist hier, aber du bist wohl immer noch ein wenig blind“, höre ich den braungebrannten Jungen sagen. Er hat die Stimme meines Bruders, doch darin fehlt der leise, nachdenkliche Unterton, der sich stets in jede seiner Bemerkungen zu schleichen pflegte. „Marco?“ frage ich trotzdem. „Nicht ganz. Versuch’s noch mal. Blaue Augen, keine grünen.“ Er hält das Feuer zwischen unsere Gesichter. Lavandes Kerze, schießt es mir durch den Kopf. Ihr viel zu nahes Gesicht fällt mir wieder ein und ich schaudere. Muss sie mich denn auch nach ihrem Tod noch verfolgen, obwohl sie auf mein physisches Wesen nun keinen Zugriff mehr hat? Seine Augen sind blau, genau wie ihre, aber sie sind nicht unergründlich wie ihre und nicht eiskalt wie ihre. Eher lassen sie mich an das angenehm kühle Meerwasser im Sommer denken. Seine Züge (müsste er nicht blasser sein?) gehören nicht dem Jungen, mit dem ich aufgewachsen bin. Wie denn auch? Der ist schließlich tot. Jedoch kenne ich ihn, kann mich nur nicht entsinnen woher. „Ich komm nicht drauf“, sage ich resigniert. „Welche Stimme hast du mir gegeben?“ „Was...? Tut mir leid, ich kann dir nicht folgen...“ Er drückt mir einen Stein in die Hand. Flaschengrün. Das Auge des Orion, doch es sieht anders aus. Die freie, runde Form ist einem geschliffenen Stein gewichen, in der Grundfläche rund, zu den Rändern hin aber schräg abgeschliffen, sodass ein Sechseck um den Kreis herum entstanden ist. Auf der glatten, runden Fläche stehen Buchstaben, die aussehen wie ein Alphabet aus Schlangen. Ich kann sie nicht lesen. „Du liest von meinen Lippen. Es kommt dir nur so vor, als würde ich sprechen. Stumm wie ein Fisch. Erinnerst du dich jetzt?“ Ich muss grinsen und schäme mich gleichzeitig ein wenig, jemanden vergessen zu haben, der mir auf so angenehme, unaufdringliche Weise beigestanden hat, als ich dringend die Nähe eines aufrichtigen Menschen brauchte. Ich mache zwei unbeholfene Gebärden mit den Händen, überrascht darüber, dass ich sie überhaupt noch beherrsche. „Wasser“ und „Ratte“. „Genau, die chinesische Wasserratte.“ Er grinst seinerseits, schwenkt die Flamme zum Haus und die Tür ist wieder da. „Willkommen zu Hause.“ Das Licht verschwindet, doch das Wasser in seiner Hand verrinnt nicht, sondern läuft weiter, als käme es aus ihm selbst. Er hebt beide Hände vor’s Gesicht, in einer Haltung, als wollte er es trinken. „Und jetzt sieh zu, dass du aufwachst, bevor das hier auch noch ein Alptraum wird. Oh, und übrigens... Du hast süßes Blut, aber es ist giftig.“ Er pustet über die offenen Handflächen hinweg, sodass mir das Wasser ins Gesicht spritzt. Einer der Tropfen läuft meinen Hals hinunter, wo er sich irgendwie verkehrt anfühlt. Zu... dünn, zu warm, zu... pulsierend? Meine Kehle ist wie zugeschnürt, als der einzelne Wassertropfen zu einem kleinen Rinnsal wird. Ich weiß, dass die Flüssigkeit nicht mehr klar, sondern rot ist. Blutrot. Die Nacht und die Häusersilhouetten weichen meiner Zimmerdecke, die fast fühlbare Dunkelheit entpuppt sich als mein Bettzeug und über mir hockt etwas, das eindeutig einen menschlichen Hinterkopf hat, in dessen Haar ich meine Finger verkrallt habe, im verzweifelten Versuch, ihn wegzuziehen und damit meinen Hals frei zu bekommen, denn dieses Etwas, dieser Jemand, beißt mich. Mein ungebetener Gast trinkt mein Blut, wie die lebendige Flamme das Wasser getrunken hat. Und fängt mit einem Mal furchtbar an zu zittern, wie von heftigen Krämpfen geschüttelt. Die Umklammerung der fremden Kiefer löst sich. Alles, was davon bleibt ist ein schwacher, pochender Schmerz und eine leichte Übelkeit, die wohl auf den Blutverlust zurückzuführen ist. Mit Gewalt scheint sich mein Angreifer loszureißen, während ich immer noch nicht recht weiß, wie mir geschieht. „Verflucht, ein... Drache...“ dringt es an mein Ohr. „Ja, ein Drache. Wohl bekommt’s“, erwidere ich gehässig, zu benommen, um zu begreifen, was ich sage. Kapitel 1: Rausch und Gift -------------------------- Minutenlang blieb ich liegen, ohne auch nur einen Finger rühren zu können. Ich spürte, wie mein Körper zitterte, fühlte das Gewicht der jungen Frau auf mir und doch kam es mir vor, als wäre ich irgendwo anders, als betrachtete ich diese jämmerliche Gestalt, die dort unter einer Fremden begraben lag aus weiter Ferne. Schließlich, nach einer Ewigkeit rollte ich das Mädchen unter großen Anstrengungen von mir herunter. Leise entwich Luft durch ihren halb geöffneten Mund und verursachte ein Geräusch, das ein wenig wie ein Ausatmen klang. Dennoch glaubte ich nicht, dass sie noch lebte. Die ganze Zeit, die sie auf meinem Oberkörper gelegen hatte, hatte sich nichts an ihr gerührt. Auch kein Bauch, der sich hob und senkte. Vorsichtig richtete ich mich auf und wurde dafür prompt mit einer heftigen Übelkeit belohnt, die mich daran erinnerte, dass ich wohl doch einiges an Blut verloren hatte. Reiß dich zusammen, du kannst nicht einfach ihre Leiche voll kotzen, dachte ich grimmig, während ich neben ihr saß und trocken würgte. Es schien mir ewig zu dauern, bis der Brechreiz nachließ, doch er tat es gnädigerweise. Zurück blieben nur ein bitterer Geschmack und eine gewisse Trockenheit im Mund. Auch das Zittern verebbte langsam, wenngleich ich fror, obwohl es draußen Sommer und meine Klimaanlage nie sonderlich hoch eingestellt war. Ich nahm mir Zeit, die reglose Gestalt, die nun neben mir auf dem Rücken lag, eingehender zu betrachten. Ein etwa sechzehnjähriges Mädchen mit schlohweißer Haut, pechschwarzem Haar und von meinem Blut roten Lippen. Wäre ihr Haar nicht von unzähligen Strähnchen in Neonfarben durchzogen gewesen, hätte sie die Hauptrolle in jeder Aufführung von Schneewittchen übernehmen können, vorausgesetzt, sie trennte sich von ihrem 0815-Punkoutfit. Ihr Gesicht hatte sich zu einer erschrockenen Grimasse verzerrt, um dann zu erstarren, wie ein Standbild aus einem Gruselfilm. Die dunklen Augen, noch weit aufgerissen, waren blicklos, matt und schielten, als wüssten sie bereits, dass sie sowieso nicht mehr gebraucht würden und somit machen konnten, was sie wollten. Zwischen den leicht geöffneten Lippen schauten mit roten Schlieren bedeckte Zähne hervor. Es überraschte mich nicht, dass die Eckzähne ungewöhnlich lang und spitz waren. Reflexartig griff ich mir an den Hals. Dort, wo ich jedoch den Biss vermutete war nichts. Meine Kehle war völlig unversehrt. „Was...?“ flüsterte ich mir selbst zu, vielleicht nur, um herauszufinden, ob ich überhaupt noch sprechen konnte angesichts des dicken Kloßes, den ich im Hals hatte. Meine Gedanken überschlugen sich. Warum war sie umgekommen, obwohl ich ihr doch nichts hatte anhaben können? Was war sie überhaupt? Ein Dämon? Ein Vampir? Und was war ich infolgedessen? Oh, und übrigens... Du hast süßes Blut, aber es ist giftig, durchschnitt es mein Denken. Ich schüttelte leicht den Kopf. „Ein Traum“, murmelte ich. „Du hast geträumt. Das hier ist real, okay, aber das davor war ein Traum. Nichts weiter.“ Im Grunde wusste ich es besser. Ebenso wie ich wusste, dass es sinnlos war, nach dem Puls des Mädchens zu tasten. Ich tat es trotzdem, mit dem erwarteten Ergebnis. Ich mochte kein Arzt sein, aber für meine Begriffe war sie tot. Dennoch wollte ich Bestätigung und ich wusste auch, woher ich sie bekommen würde. Als ich meine Füße auf den Laminatboden setzte, hatte ich das Gefühl, sie auf Watte zu stellen, aber zu meiner großen Erleichterung konnte ich ohne weiteres aufstehen. Ich wankte ins Wohnzimmer, von dem sowohl meine als auch Ricks Tür abzweigten und klopfte an die seine. „Rick“, krächzte ich mit müder Stimme. „Wach auf, ich hab hier n kleines Problem.“ Welch maßlose Untertreibung, höhnte mein Verstand, während ich horchte, ob sich hinter der Tür etwas tat. Tatsächlich hörte ich zwei nackte Füße auf glattem Grund, gefolgt von einem lauten Poltern und leisem Fluchen. Hatte ich meinen zurückhaltenden, stets höflichen Mitbewohner jemals zuvor fluchen gehört? Wenn ja, so konnte ich mich nicht daran erinnern. Vielleicht wird er endlich normal, dachte ich, ein wenig verwundert darüber, dass ich mich tatsächlich mit solchen Gedankengängen beschäftigen konnte, während in meinem Bett eine Leiche schlief. Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein ziemlich verschlafener Fünfzehnjähriger schaute mir entgegen. „Was... ist denn?“ fragte er zögerlich. „Ich hab da nebenan...“ Weiter kam ich nicht. Die Übelkeit kam wieder und mit ihr eine durchdringende Schwärze, die sich über alles um mich herum legte. Das Letzte, was ich von meiner Außenwelt noch wahrnahm, war das Zusammentreffen meines Kopfes mit dem Boden. „Du hast mich erschreckt“, teilte Rick mir in besorgtem Ton mit, als auf dem Sofa erwachte. „Ich dachte, ich wär’ wieder allein.“ Ich sortierte meine Erinnerungen und stellte dabei verwundert fest, dass von Übelkeit und Zittern nichts mehr zu spüren war. Auch mein Kopf schmerzte nicht, obwohl ich hundertprozentig sicher war, dass ich damit irgendwo aufgeschlagen war. Hatte ich vielleicht doch nur geträumt? „Tut mir leid“, antwortete ich kleinlaut, aber auch ein wenig erleichtert. Ich hatte am Vorabend so einiges Getrunken. Wahrscheinlich war ich auf dem Sofa eingeschlafen und... „Schon gut. Hauptsache, du bist jetzt wieder in Ordnung. Aber wir müssen etwas wegen des Mädchens unternehmen.“ Und da war sie auch schon wieder, meine heißgeliebte Realität. „Sag mir bitte, dass ich einfach nur irgendeine Tusse abgeschleppt hab und sie mich auf mein eigenes Sofa verbannt hat, weil ich ihren Namen vergessen hab“, bettelte ich, doch mein Mitbewohner schüttelte resolut den Kopf, während ihm die Sorge buchstäblich ins Gesicht geschrieben stand. „Ich habe...“ begann er schüchtern. „Deinen Kopf in Ordnung gebracht, und dir was für den Kreislauf gegeben. Das genügt wohl. Sie dürfte nicht allzu viel getrunken haben.“ Ruckartig setzte ich mich auf, was er offensichtlich falsch deutete. „E-es tut mir leid, ich weiß, ich soll nicht einfach in dein Zimmer gehen, aber du sagtest „nebenan“ und da-“ „Schon gut, ich bin nicht sauer auf dich“, unterbrach ich ihn, ehe er sich selbst weiter in seine Unsicherheit hineinreden konnte. Mein Tonfall klang barscher als ich wollte, doch er reagierte nicht darauf. „Ich wollte sie dir ja eh zeigen“, setzte ich eilig nach. „Und danke wegen des Kopfes.“ Er nickte nur und lächelte leicht. Es war nicht das erste Mal, dass ich als Versuchskaninchen für seine Heilzauber herhielt und verdammt froh darüber war. Still saßen wir da, er auf dem niedrigen Wohnzimmertisch, ich auf dem Sofa, und wussten beide nicht recht, was zu tun war. „Was ist sie überhaupt?“ brach ich schließlich das Schweigen, als es drückend wurde. „Ich bin mir nicht sicher. Ronga ist... Ich meine... Ich hatte nicht viel Naturkunde.“ Ronga lebte nicht mehr. Er war zusammen mit Lavande gestorben. Beide hatten sich vor vielen Jahrhunderten etwas gewünscht und die Erfüllung ihrer Wünsche, oder eher das Auge des Orion, das sie ihnen zu erfüllen versuchte, hatte ihre Leben unnatürlich verlängert. In Rongas Fall war es der Wunsch nach unendlicher Weisheit gewesen, die nur jemand annähernd erlangen konnte, der ewig lebte, doch er hatte sich mit einem Treueschwur an Lavande gebunden und als sie starb, ging er mit ihr. Er war Ricks Lehrer gewesen und erst nach seinem Tod war mir klargeworden, dass er dem Waisen wohl auch den Vater ersetzt hatte, denn die Trauer schwebte seit Wochen über dem Teenager wie eine dunkle Wolke. Obwohl ich Lavande aus tiefstem Herzen hasste, bereute ich es manchmal, sie getötet zu haben, wenn Situationen wie diese eintraten. Ich gab mir Mühe, ein aufmunterndes Lächeln in meine dafür irgendwie nicht gemachten Züge zu bekommen und beeilte mich, aufzustehen. Immer noch war mir ein wenig schummerig, doch es hielt sich in Grenzen. Also ging ich in mein Zimmer, in welches Rick mir folgte. Das Mädchen lag immer noch auf meinem Bett, aber Rick hatte ihr Augen und Mund geschlossen. Eine respektvolle Geste, an die ich nicht einmal gedacht hätte. Durch das noch offenstehende Fenster, das sie anscheinend benutzt hatte, um hereinzukommen wehte ein schwüler Wind, der den Geruch der Stadt herein und den langsam drückenden Geruch heraustrug, der von der Leiche ausging. Draußen dämmerte es und mir fiel auf, dass Rick den Sonnenaufgang mit seltsam interessiertem Gesichtsausdruck betrachtete. Auf meinen fragenden Blick hin antwortete er: „Ich hatte gehofft, sie zerfällt vielleicht, wenn sie ein Vampir ist. Deswegen hab ich’s offen gelassen.“ Er knetete nervös seine Hände ineinander. „Aber meistens stimmen die Geschichten nicht, die man sich über... nun... Leute wie uns erzählt.“ Leute wie uns, sagte er und im Grunde hatte er recht, doch unheimlich war es mir trotzdem, jetzt wo er so offen aussprach, dass etwas an uns ebenso wenig normal war wie an ihr. Zumindest, wenn man „normal“ mit „nicht magisch“ gleichsetzte. „Du meinst, mit Knoblauch und Kruzifix kommen wir nicht weiter“, meinte ich schließlich. Er nickte. „Begraben können wir sie auch nicht“, fügte er hinzu. „Wir haben kein Auto, um sie zu transportieren.“ Innerlich verfluchte ich die Tatsache, dass ich unten in der Tiefgarage nur ein Motorrad stehen hatte. Rick hatte vollkommen recht. Die Sonne stieg weiter und etwas anderes fiel mir siedend heiß ein. „Was meinst du, wie viel an den Vampirgeschichten dran ist in Bezug auf... äh...“ Ich stoppte meine Hand, die bereits die halbe Strecke zu meinem Hals zurückgelegt hatte. „Oh das“, sagte er nachdenklich und trat von einem Fuß auf den anderen, als müsse er plötzlich auf die Toilette. „Du bist immun gegen höher entwickelte Blutsauger. Deswegen ist sie auch...“ Er wagte nicht, das Offensichtliche auszusprechen. „Ich kann Dämonen nicht von Vampiren unterscheiden... Oder von anderen dieser Wesen“, fuhr er fort „Aber ich weiß, dass Drachenblut für alle dieser Art giftig ist. In kleinen Mengen wirkt es wie ein Rauschmittel, aber wenn sie zuviel trinken... passiert sowas.“ Scheint als wüsste das noch jemand. Ich beschloss, ihm lieber nicht von meinem Traum zu erzählen. Schlimm genug, dass mein Blut das Mädchen umgebracht hatte. Was würde Rick dazu sagen, dass ich das quasi vorausgeahnt hatte? „Also hab ich sie auf dem Gewissen“, sagte ich in bemüht neutralem Tonfall. Ich fühlte mich schuldig, obwohl sie es gewesen war, die mich hatte umbringen wollen. Ricks Kopf flog geradezu hin und her. „Nein, sie hat sich selbst auf dem Gewissen“, versicherte er mir hastig. „Sie können Drachenblut riechen und normalerweise machen sie einen Bogen drum, es sei denn... Naja, es sei denn, sie wollen den Rausch.“ Irgendetwas an dieser Erklärung kam mir seltsam vor. Sie schien meiner Erinnerung an den nächtlichen Besuch zu widersprechen, doch ich konnte nicht sagen, in wiefern. Also beließ ich es dabei, nicht zuletzt, weil es mich ein wenig beruhigte und meine Schuldgefühle linderte. Immerhin bedeutete es, dass sie sich nicht hatte beherrschen können und deshalb gestorben war. „Was machen wir also mit ihr?“ überlegte ich laut. Ich wollte Rick nicht direkt fragen. Es war mir schon unangenehm genug, auf die Hilfe von jemandem angewiesen zu sein, der um Jahre jünger war als ich. Natürlich hatte er bereits eine Idee. Meine Dankbarkeit für diese Tatsache beheilt ich jedoch für mich. „Naja, wir haben einen Bannkreis“, begann er und zeigte schüchtern auf sich selbst, um dann in meine Richtung zu deuten „und jemanden, der Feuer speien kann.“ Ich dachte an meine letzten paar Erlebnisse in Zusammenhang mit meinem Feuer. „Oh nein-nein-nein-nein-nein“, versetzte ich und fuchtelte abwehrend mit den Händen. „Ich gebe dir gern ein Feuerzeug, aber ich werde mich hüten, hier drin noch mal Feuer zu speien. Wir wohnen erst seit zwei Wochen wieder hier, falls du das vergessen hast. Und ganz nebenbei hättest du es das letzte Mal beinahe nicht überlebt.“ Und dieses Mal ist kein Ronga da, zu dem ich dich notfalls bringen kann, damit er die Verbrennungen heilt, dachte ich weiter. Ich hatte hier drin einen Wutausbruch gehabt, der seine Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Das Wohnzimmer hatte sich kurzzeitig in ein flammendes Inferno verwandelt, das Rick erfolglos einzudämmen versucht hatte. Der Preis dafür war hoch gewesen. Nicht nur dass ich ihn geröstet hatte, nein wir hatten auch noch bei ihm unterkommen müssen und meine Laune war auch schon schlecht genug, ohne Nicholas Gary Mischu. Zu meinem Entsetzen zeigte sich Rick von meiner Warnung vollkommen unbeeindruckt. „Wir können kein solches Feuer benutzen“, erörterte er mir. „Ich könnte es nicht kontrollieren und es würde Spuren hinterlassen. Bannkreis oder nicht: Du hättest ein verbranntes Bett und die Nachbarn würden den Rauch bemerken. „Du kannst meins auch nicht kontrollieren“, gab ich bissig zurück. „Ich werd mich hüten, das noch mal zu riskieren.“ Aber er ließ nicht locker. „Das war anders. Du hattest keine Ahnung von deinen Kräften und sie sind einfach aus dir hervorgebrochen. Aber jetzt... Du hast doch sicherlich was bei... ihm gelernt in der einen Stunde?“ Wieder mied er Rongas Namen. Ich ging darüber hinweg, bevor es mir einen Stich versetzen konnte. „Ich werd hier trotzdem nicht herumkokeln“, wehrte ich weiterhin ab. Mein Entschluss stand fest und mein Mitbewohner würde mich nicht umstimmen. „Welche Farbe hat dein zweites Feuer?“ fragte Rick plötzlich. „Was?“ Er ließ sich nicht beirren. „Dein zweites Feuer. Welche Farbe hat es?“ Sein Arm schnellte hoch und er vollführte mit der Hand eine komplizierte Bewegung, die mir, Rückblickend betrachtet, verdächtig hätte vorkommen müssen. „Grün“, antwortete ich völlig perplex, aber wie aus der Pistole geschossen, noch bevor ich mich überhaupt an meine erste und letzte Unterrichtsstunde bei Ronga erinnerte, in der er es mir gezeigt hatte. Rick dankte es mir, indem er mit einem Speer auf mich losging. Kapitel 2: Ein bis zwei Alpträume --------------------------------- Mit weit aufgerissenen Augen sah ich am Schaft der Waffe entlang, die auf mich gerichtet war, direkt in Ricks Gesicht. Jegliche Freundlichkeit war daraus gewichen. An ihrer Stelle sah ich diesen einen, ganz bestimmten Ausdruck in seinem Repertoire, den ich nicht deuten konnte, aber schon öfter gesehen hatte. „Was wird das, wenn’s fertig ist?“, fragte ich ärgerlich, bemüht meine Stimme ruhig zu halten und vor allem die Speerspitze zu ignorieren, die einen sachten, aber nicht zu unterschätzenden Druck auf meinen Hals ausübte. „Ich halte nichts von Menschen, die zu feige sind, ihre Kräfte zu nutzen“, antwortete er in einer Kälte, die mir die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Was war plötzlich mit dem Jungen los? „Wehr dich... Wenn du kannst“, befahl er und zog die Spitze zurück, nur um zwei Schritte Anlauf zu nehmen und erneut auf mich loszustürmen. Ich rettete mich mit einen Hechtsprung über die Leiche auf mein Bett. „Hallo! Erde an Rick!“, rief ich, während ich mich auf der anderen Seite des Bettes abrollte, in der Hoffnung, dieses als Barriere zwischen uns halten zu können, „Bist du völlig übergeschnappt?!“ Mit einem Satz war er ebenfalls über die Leiche gesprungen und stand mitten auf dem Bett. Im nächsten Moment hatte ich Gelegenheit, die feinen Gravuren in der metallenen Klinge am Ende von Ricks Stab zu bewundern, denn ich hatte diese so gut wie im Auge. Es war so schnell gegangen, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, eine Bewegung wahrgenommen zu haben, doch etwas von mir hatte anscheinend genau das getan. Die Stange, an deren Ende das todbringende Metall angebracht war, klemmte zwischen meinen flachen Händen. Diesem Umstand allein verdankte ich es, dass mir mein Augenlicht vorerst erhalten blieb. „Sieht so aus als wärst du körperlich etwas fitter als im Kopf“, lobte Rick mich mit einem anerkennenden Nicken. Die Speerstange hatte er fest umklammert und stemmte sie mit aller Kraft gegen meinen Griff. Nie hätte ich gedacht, dass der Junge so stark war. Ich hatte alle Mühe, den Speer festzuhalten. Ich atmete tief durch. „Ich frage dich nochmal: Was soll das?“, zischte ich zwischen meinen aufeinandergepressten Zähnen hervor. „Du willst deine Kräfte nicht nutzen, also brauch ich dich nicht. Das Feuerzeug finde ich schon selbst“, knirschte er zurück. Ruckartig riss er an der Waffe, doch das führte nur zu einem kleinen Tänzchen, das keinem von uns einen Vorteil verschaffte. Auch ich hatte mich inzwischen an dem Stab festgekrallt und gedachte nicht, Rick sein Mordinstrument so schnell wieder zu überlassen. „Hör auf, mich zu verarschen und lass dieses Ding wieder dahin verschwinden, wo es hergekommen ist!“, herrschte ich ihn stattdessen an, nicht ohne mich zu fragen, ob er wohl merkte, wie gestrichen voll ich die Hosen gerade hatte. Zwar hatte ich Rick bisher nie kämpfen sehen, doch Ronga hatte es sicherlich nicht versäumt, ihm das beizubringen. „Wie du willst“, erwiderte er mit einem Lächeln auf den Lippen, das alles war, nur nicht freundlich. Von einer Sekunde auf die andere war der Speer verschwunden. Darum hätte ich besser nicht gebeten. Rick holte aus und schleuderte etwas auf mich zu, das in grellem Weiß leuchtete. „Denk dran, Grün!“ rief er völlig zusammenhanglos, während die weiße Lichtkugel auf mich zuschoss. Meine Lippen öffneten sich zu einem Schrei, wie auch beim letzten Mal als ich hier in der Wohnung Feuer gespieen hatte. Und wie auch beim letzten Mal entwichen Flammen meiner Kehle, die das Licht verschlangen als wäre es trockenes Stroh. Sie flackerten jedoch in beruhigendem Grün, statt in grellem Orangerot zu leuchten. Anders als beim letzten Mal. Ricks Speer war so schnell wieder da wie er verschwunden war. Die Spitze zog das Feuer an wie ein Magnet, bündelte es und lenkte es um wie ein Spiegel das Licht. Das Mädchen auf dem Bett ging in Flammen auf. Nicht so allerdings der Rest meiner Schlafstatt. Es schien, als hätte jemand dem Feuer befohlen, einzig und allein die junge Frau zu verbrennen. Alles um sie herum blieb vollkommen unversehrt. Fasziniert beobachtete ich das Schauspiel, während Rick seine Waffe wieder verschwinden ließ. Mit dem Speer verflüchtigte sich glücklicherweise auch der rätselhafte Ausdruck aus seinem Gesicht und machte einem zaghaften Lächeln platz. „Sorry“, sagte er leise und stieg von meinem Bettzeug. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass der kleine Kerl mich gründlich verarscht hatte. „Wenigstens hattest du keine Schuhe an, als du auf mein Bett gestiegen bist“, versuchte ich zu scherzen. „Guter Bluff, muss ich schon sagen. Fast hätt’ ich’s dir abgenommen.“ Er deutete nur auf das Feuer. „Du hast es mir abgenommen. Soviel steht fest“, stellte er richtig, „Ronga legt immer großen Wert darauf, dass man zu überraschen lernt.“ Der verhaltene Stolz in seiner Stimme hatte beruhigend viel von dem Rick, den ich kannte. Auch war ich froh, Rongas Namen vorerst wieder aus seinem Mund zu hören. „Ist dir gelungen“, gab ich zu. „Lass dir das nur nicht nochmal einfallen. Sonst gibt’s auf meinem nächsten Grillabend Pferdewurst.“ Angesichts der Tatsache, dass Rick als Gelegenheitszentaur von Zeit zu Zeit auf vier Hufen ging, war das eine durchaus ernstzunehmende Drohung. „Ähm, du musst auf jeden Fall warten, bis sie verbrannt ist. Die Asche solltest du vielleicht aufheben“, beeilte er sich, vom Thema abzulenken und zeigte auf die junge Frau, die sich langsam in einen glühenden, undefinierbaren Haufen verwandelte. Dankbar stellte ich fest, dass es nicht so bestialisch nach verbranntem Fleisch stank wie es eigentlich hätte müssen. Wohl noch so eine Nebenwirkung des grünen Feuers. „Ich schlaf dann wohl besser noch ne Runde auf dem Sofa“, dachte ich laut, schon auf halbem Wege ins Wohnzimmer. „Ist gut, ich kümmere mich um die Totenwache.“ Ich seufzte lautstark, machte mit einer theatralischen Geste auf dem Hacken kehrt und schob Rick in sein Zimmer. „Du hast für heute genug getan“, sagte ich entschieden. „Meinetwegen kannst du mir den Hals retten, aber die Drecksarbeit krieg ich gerade noch selber hin. Geh gefälligst schlafen - und lass es dir ja nicht einfallen, mir heut Mittag auch noch Frühstück zu machen!“ Ehe er protestieren konnte, was er tatsächlich getan hätte, so wie ich ihn kannte, schloss ich seine Tür von außen und zog mich in mein Zimmer zurück, wo ich mich auf die freie Hälfte meines Bettes setzte und ins Feuer starrte. Draußen war inzwischen heller Tag, doch ich war noch immer hundemüde von den Strapazen der letzten Stunden. Kaum fünf Minuten hatte ich dagesessen, als ich auch schon in einen leichten Schlaf abzudriften begann. „Was ist das?“, will ich wissen. „Ein Pinsel und ein Glas schwarze Farbe, würde ich sagen“, antwortet sie nüchtern, wie immer mein Gesicht nach der kleinsten Regung absuchend. Ich tue ihr den Gefallen nicht, mich über die knappe Antwort zu ärgern. Wie immer. „Und was willst du malen?“, frage ich einfach weiter und lächle schmeichelnd. „Bei dem wenigen Licht wird das sicherlich kein Meisterwerk der Kunst.“ Ich nicke in Richtung der Kerze, die sie mitgebracht und auf dem Boden abgestellt hat. So wie fast immer. Manchmal zieht sie es vor, mich im Dunkeln zu besuchen. Die Flamme wirft einen warmen Schein in den kreisrunden Turm aus kaltem Stein. „Ich weiß noch nicht.“ Sie flüstert fast, als sie fortfährt, weil sie genau weiß, dass ich so oder so jedes der folgenden Worte in mich aufsaugen werde. „Aber ich fand es so inspirierend, dass dein Bruder noch über einer Zeichnung saß, als ich aufgetaucht bin. Da dachte ich mir, es wäre Zeit für ein bisschen Kunst.“ Wieder bekommt ihr Blick etwas Suchendes und dieses Mal ist es verdammt schwer, keine Regung zu zeigen. Ich kann nicht verhindern, dass meine Augen sich kurz verengen und mein rechter Mundwinkel zuckt. Jede dieser Bewegungen fühlt sich für mich an, als hätte ich ihr meine Wut und meinen Kummer um den Verlust geradezu ins Gesicht geschrieen. „Du hast kein Papier“, wende ich ein. Vielleicht kann ich ihr noch eine Weile standhalten, wenn ich mich an das Offensichtliche klammere. Sie tut, als wäre sie überrascht. „Oh, jetzt, wo du’s sagst...“, sinniert sie mit einem süffisanten Lächeln. Ich hätte mir denken können, dass es wieder „eng“ werden würde. „Mein Laken kriegst du nicht, damit das mal klar ist“, flirte ich auf ihr Gesäusel zurück und deute auf den Stofffetzen um meine Hüften, der früher einmal die Bezeichnung Laken verdient haben mag. Sie lacht. Wie ich es hasse, wenn sie lacht. Und wie genau sie das doch weiß, diese Schlange. „Aber ich dachte, ich signiere deinen Rücken.“ „Was willst du schreiben? Ich war hier... und hier... und hier, gezeichnet Lavande?“, grinse ich und drehe ihr den Rücken zu. So sieht sie wenigstens mein Gesicht nicht und ich kann für eine Weile die Augen schließen. Auf diese Weise vielleicht die Maske wiederfinden, hinter der ich meine Regungen verstecke. „Mal schauen, was mir so einfällt“, murmelt sie und fängt an, auf meinem rechten Schulterblatt herumzukritzeln. Die Farbe fühlt sich an wie zähflüssiges, kaltes Wasser. Um mich von der mir unangenehmen Intimität abzulenken, versuche ich zu erraten, was sie schreibt. „Ka“, schreibe ich auf den Zettel und lache. Eine braungebrannte Hand nimmt ihn weg, notiert ebenfalls etwas darauf und gibt ihn mir über die Schulter zurück. „So wird das nie was mit dem Reden im Dunkeln“, lese ich ein wenig frustriert. Er versucht es erneut. Sein Zeigefinger beschreibt auf meiner Schulter zwei übereinanderliegende Bögen, beide in entgegengesetzte Richtungen gewölbt. Aufgeregt greife ich nach dem Zettel und schreibe darauf die Silbe „Ko“. Das Blatt geht wieder zurück zu dem Jungen hinter mir. Kaum höre ich, wie er es aufgehoben hat, ernte ich auch schon sein erfreutes Schulterklopfen. Dieses Mal war’s richtig. Er streicht den Stoff meines T-Shirts glatt und klopft mit der flachen Hand auf meinen Rücken. Genug also für heute. Ich drehe mich zu ihm um, damit er von meinen Lippen lesen kann. Dafür, dass meine Aussprache noch ziemlich bescheiden ist, macht er das erstaunlich gut. „Morgen schon was vor? Ich hab den Job gekriegt und will das feiern. Immerhin hast du die Bewerbung geschrieben.“ Er strahlt über beide Wangen. „Klar“, schreibt er, woraufhin ich die Adresse meiner neuen Wohnung auf dem Zettel hinterlasse. „Da, morgen um drei. Wir werden ein bisschen Musikhören. Wird Zeit, dass du dich da mal weiterbildest.“ Seine Hände fahren rauf zu seinem Hals und seinen Ohren, er schüttelt den Kopf und sieht mich an, als wäre ich schwer von Begriff. „Ich weiß, ich weiß. Vertrau mir einfach. Ich bin nicht so blöd, wie ich aussehe.“ „Bist du nicht?“ Erschrocken schlug ich die Augen auf. Kaum hatte ich das Gesicht scharfgestellt, das zu der Stimme gehörte, schloss ich sie auch schon wieder. Da hatte ich gerade einen Alptraum hinter mir und erwachte schon im nächsten. „Wie bist du hier reingekommen?“, grummelte ich. „Rick hat mich reingelassen.“ „Die gute Seele. Verflucht sei der Bengel.“ „Schlecht geschlafen?“ „Noch schlechter aufgewacht. Gary, wer hat dir eigentlich das Märchen erzählt, dass ich Interesse an deiner Gesellschaft hätte? Wir haben uns gegenseitig das Leben gerettet, ich hab deine Villa verwohnt und das war’s. Lass mich endlich in Ruhe.“ „Warum hast du eigentlich keinen blöden Zweitnamen? Ich find’s wirklich unfair, dass du da immer drauf rumreitest.“ „Ich heiße Virgin mit Nachnamen. Das ist ja wohl Strafe genug“, antwortete ich und sah zu, dass ich in die Küche kam. Das grüne Feuer war sowieso aus und auf den Schock, ausgerechnet von Nick aus einem schlechten Traum geweckt worden zu sein, brauchte ich erst mal einen Kaffee. „Ach ja!“ freute er sich über meinen Geistesblitz und watschelte mir hinterher. Gleichzeitig begann er zu singen. „Like a virgin! – Uh! – Touched for the very first time!” Und so weiter. Was war ich froh über meine dicken Wände. „Übrigens hab ich dich heute zum ersten Mal erfolgreich angelogen!“, flötete er nach einer Weile, während ich die Filtertüten suchte. Vielleicht sollte ich doch öfter mal meine eigene Küche selbst benutzen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich bis zum Nachmittag geschlafen hatte. Da würde mein Chef sich aber freuen. Nick, immer noch total euphorisch, war inzwischen auf dem besten Wege, mich um mein weniges Geschirr zu bringen, indem er versuchte, ein paar von Rick abgewaschene Schüsseln und Gläser von der Spüle in meine Schränke zu manövrieren. Ich trug es mit Fassung und wartete geduldig auf das Klirren. „Nein, hast du nicht. Ich weiß, dass Rick um diese Zeit arbeitet und vorher in der Schule ist“, gab ich gelangweilt zurück, „Und selbst wenn ich’s nicht gewusst hätte... Du kannst es immer noch nicht. Auch n Kaffee?“ „Du bietest mir n Kaffee an? MIR?“ „Wenn du einen willst, wär’s klug, mich nicht in Versuchung zu führen, es mir anders zu überlegen. Die ist nämlich verdammt groß.“ „Vergiss die Dosenmilch nicht. Was macht eigentlich der Sand auf deinem Bett?“ Es klirrte immer noch nicht. Beeindruckend. Ich sah zu, wie er die letzten Gläser einräumte. „Mein letzter One-Night-Stand ist zu Staub zerfallen, als er, beziehungsweise sie mich nackt gesehen hat. Wieso?“, fragte ich unschuldig. Klirr! Nick kugelte sich vor Lachen und gab mir damit wenigstens Gelegenheit, in Ruhe wach zu werden, bevor ich das Kaffeewasser an der Glaskanne vorbeigießen konnte, mit der ich es in die Kaffeemaschine beförderte. Selig warf ich diese an. Dem Genuss schlechten Kaffees stand nun nichts mehr im Wege. Ich fand sogar die Tassen auf Anhieb und wenig später hatten wir uns, jeder mit einem Becher des widerlichen Gebräus in der Hand, im Wohnzimmer niedergelassen. Die Scherben würde ich wegfegen, wenn sicher war, dass Nick nicht noch ein paar hinzufügen würde. „Also, was machst du nun hier? Wenn du n bisschen ausholst, was du ja grundsätzlich tust, kannst du sicherlich deinen Kaffee austrinken.“ „Willst du gar nicht wissen, wie ich hier reingekommen bin?“ Angesichts der Tatsache, dass er ziemlich stolz auf sich zu sein schien, wollte ich das lieber nicht. „Nicht, wenn ich es vermeiden kann. Was willst du hier?“ „Nichts Besonderes“, sagte er etwas enttäuscht und wie auf Kommando begannen seine Finger, mit den Ärmeln seines Schlabberpullovers zu spielen. Achtung, Nick lügt! Es wird Zeit, ein bisschen Baumwolle zu zerknüllen, Jungs! „Mann, dein Kaffee ist vielleicht eklig“, versuchte er sich immerhin zu retten. „Warum sonst sollte ich ihn dir anbieten?“ Ich nahm demonstrativ einen Schluck aus meinem Becher. Mir schmeckte das Zeug plötzlich erstaunlich gut. „Beeil dich also besser mit dem Erzählen, bevor ich dir noch nen Becher eingieße.“ Es wirkte. Er kam endlich zur Sache. „Ich hab Post bekommen. N Auszug aus Rongas Testament. Da steht auch was von dir drin. Und das hier war in deinem Briefkasten unten im Treppenhaus.“ Er reichte mir einen Umschlag. „Derselbe Absender.“ „Ich frage dich jetzt nicht, wie du an diesen Brief gekommen bist, der für mich bestimmt war.“ „Gut“, antwortete Nick nervös. „Ich würd’s dir eh nicht sagen. Ein paar Rechnungen waren auch noch drin, aber die wollte ich nicht auch noch rausfischen.“ Ich grinste und schwieg, um zu sehen, ob er mir noch weitere Details seiner krankhaften Neugier enthüllen würde. „Nun mach schon auf. Da ist was Schweres drin“, verlangte er. Wahrscheinlich hatte er den Brief sogar abgetastet. „Ui, ich muss Geburtstag haben“, sagte ich sarkastisch. Dennoch öffnete ich den Umschlag und zog den Brief heraus. Dabei fiel mir ein dünner, schwarzer Ring in den Schoß. Nick prustete. „Virgin passt wohl jetzt nicht mehr, so mit Ehering.“ So ein Spruch fiel jemandem wie Nick nicht spontan ein. Er hatte also gewusst, was drin war. „Will der Kerl mich heiraten oder was soll das?“ schnaubte ich und fand, dass ich noch einen Kaffee vertragen konnte. „Bring mir einen mit! Aber tu mehr Milch rein!“, gackerte Nick mir hinterher. Ich nahm mir vor, ihm kräftig in die Tasse zu spucken. Kapitel 3: In der Tinte ----------------------- Je mehr ich von dem Wisch gelesen hatte, desto mehr drängte sich mir der Verdacht auf, dass Ronga entweder den Verstand verloren hatte, oder mir nach seinem Ableben unbedingt noch eins auswischen wollte, um sich im Jenseits auf meine Kosten zu amüsieren. „Seit wann kriegt man ein Testament mit der Post?“, fragte ich in den Raum, während ich die Kopie der handgeschriebenen Zeilen mit wachsendem Unbehagen noch einmal überflog. „Wahrscheinlich hängt das mit den Seitenzahlen zusammen, die unten draufstehen“, antwortete Nick, „Wenn er für jeden eine Seite vorgesehen hat, wäre es beim Notar bestimmt eng geworden.“ „Der Kaffee scheint dir zu bekommen. Du denkst ja plötzlich logisch.“ Ich betrachtete die 147 ganz unten auf der Seite. Direkt daneben befand sich ein Stempel vom Notar, der auf dem Dokument irgendwie fehl am Platze wirkte. Selbst ein Laie wie ich konnte erkennen, dass die Zeilen mithilfe einer hochwertigen Schreibfeder ihren Weg auf das Papier gefunden hatten. Unter der altertümlichen, sauber geschwungenen Handschrift hatte der Stempel viel von einem hässlichen Tintenfleck. Ich bezweifelte, dass jemand wie Ronga wirklich eine Beglaubigung brauchte, um seinen letzten Willen durchzusetzen. Aber da waren noch die anderen Seiten des Briefes. Die Computerbeschriebenen, die auch einen solchen Stempel hatten. Ebenso wie ein paar notwendige Unterschriften, um sie rechtskräftig zu machen und ein freies Feld für meine eigene. „Ich kann nicht glauben, dass das sein Ernst ist“, murmelte ich in meinen Kaffeebecher hinein. „Was steht denn nun drin? Spann mich nicht so auf die Folter.“ „Aber dich zu quälen ist für mich die einzige Möglichkeit, mich über deine Anwesenheit hinwegzutrösten.“ „Kori...“, seufzte er. „Schon gut, schon gut.“ Ich klärte ihn über Rongas Irrsinn auf. Es fing ganz harmlos an. Der Ring war ein Siegel, um meine Kräfte an unkontrollierten Ausbrüchen zu hindern. Ronga schrieb, ich solle mich dennoch nicht unterschätzen und mich vor Wutausbrüchen hüten, die vielleicht zu stark für die Blockade waren. Etwa solchen, wie Lavande sie hatte hervorrufen wollen. „Naja, besser als nichts, oder?“, fand Nick. Ich schob mir das Ding kommentarlos über den rechten Ringfinger, für den es jedoch um einiges zu groß war. Als nächstes versuchte ich es mit dem rechten Daumen, auf dem der Ring zwar schon besser saß, jedoch auch noch herumrutschte. Dafür passte er prima auf den Daumen meiner Linken, der aufgrund des häufigeren Gebrauchs etwas kräftiger war. Kaum hatte das dunkle Metall meinen Finger umschlossen, spürte ich kaum noch, dass es da war. Normalerweise trug ich keinerlei Schmuck – erstens war ich zwar eitel, aber nicht so eitel und zweitens war dieser Klimbim einem doch eh nur im Weg – aber an den Ring würde ich mich schnell gewöhnen, da war ich mir sicher. „Ich werd ihn abnehmen, wenn wir streiten. Da sind die Chancen größer, dass ich dich aus Versehen verbrenne“, verkündete ich. „Aus versehen? Dass ich nicht lache“, feixte Nick. „Du bekommst gleich richtig was zu lachen. Er hatte das Sorgerecht für Rick und rate mal, wem er das überschreibt.“ Nick grinste. „Wie viele Jahre bist du noch gleich älter als Rick?“ „Drei, laut Ausweis.“ Wenn ich es mir recht überlegte, sollte es eher umgekehrt sein. Rick wäre als mein Vormund sicherlich geeigneter gewesen, als ich als seiner, war er doch wesentlich erwachsener als ich. „Ich frag mich, wieviel Geld Ronga brauchte, um das Jugendamt zu so einer Entscheidung zu bringen. Der arme Kerl wird doch jetzt total verkorkst. Was hat sich dieser Typ bloß dabei gedacht?!“ Mein Gegenüber nickte zustimmend. „Vielleicht war er besoffen. Sonst noch was?“ Oh ja, da war noch was. Ein letzter Wunsch, den ich Ronga auf’s Höchste übel nahm, denn er bedeutete, dass ich mich noch eine ganze Weile mit Nick herumschlagen musste. „Wir werden zusammen ausgebildet. Und zwar bei deinem Lehrer“, knurrte ich. „Ich weiß, das steht bei mir auch.“ Immerhin war er genauso wenig angetan davon wie ich. Wenn auch aus völlig anderen Gründen als ich, wie ich noch herausfinden sollte. „Warum fragst du dann so blöd?“, fuhr ich ihn an. „Ich hatte gehofft, es wär ein Irrtum.“ Da sind wir schon zu zweit, dachte ich resignierend. „Wir sollen uns heute Abend in der Villa treffen“, erklärte Nick. „Da ist ein Raum, der groß genug zum Üben ist.“ „Ich kann mich vor Begeisterung kaum halten“, sagte ich sauertöpfisch. „Vielleicht können wir es noch abwenden, wenn du einfach nicht nicht kommst?“, schlug er vor. „Glaub ich kaum. Zumindest nicht, wenn er nur halb so viel auf dem Kasten hat wie Ronga.“ Nick wurde wieder nervös. Vielleicht war ihm die zweite Tasse Kaffee doch nicht so gut bekommen. Dabei hatte ich mich letztendlich gegen die „besondere Zutat“ entschieden. Ich wurde wohl langsam weich. Oder erwachsen. Keins von beidem gefiel mir sonderlich. „Was ist denn das für einer, dein Lehrer?“, erkundigte ich mich im Plauderton. „Ähhh... Was? Schon so spät? Ich muss dann aber auch mal ganz schnell los.“ Warum fiel ihm das immer erst dann ein, wenn ich etwas Wichtiges von ihm wollte? Na egal, wenn er mir schon mal den Gefallen tat, freiwillig zu verschwinden, würde ich ihn bestimmt nicht davon abhalten. Was mit seinem Lehrer loswar, würde ich schon rausfinden. „Achso, bevor ich’s vergesse...“, begann Nick, schon halb in den Schuhen. Er wühlte in der Tasche seiner zwei Nummern zu großen Hose und warf mir etwas zu. Ich fing es und augenblicklich durchströmte mich ein vertrautes Kribbeln. „Ist schließlich eigentlich...“, wie gebannt beobachtete Nick den grünen Stein in meiner Hand „...deiner“, beendete er den Satz verspätet. Das Auge des Orion hatte in seinem Inneren leicht zu glimmen begonnen. Ich wollte etwas antworten, doch es war, als hätte ich auf einmal Leim zwischen den Zähnen. Nur mit großer Mühe bekam ich sie auseinander. „Nimm... du das... mal lieber“, krächzte ich heiser. „O-okaay...?“, stammelte Nick und nahm mir den Stein wieder aus der Hand. Etwas in mir hätte das gern verhindert, ja hätte am liebsten die Hand ausgestreckt und sich seinen Besitz augenblicklich wiedergeholt. „Geht schon in Ordnung. Ich hab ihn doch eh geklaut, wenn man’s genau nimmt. Man sieht sich dann heute Abend“, verabschiedete ich mich so sachlich wie ich konnte und schob Nick mitsamt Stein zur Tür hinaus. „Äh... Ja“, gab dieser zerstreut zurück. Er verstaute das Auge des Orion wieder in seiner Tasche und entschwand die Treppe hinunter. Ich starrte ihm nach, bis mir endlich auffiel, dass ich hier herumstand und ins Treppenhaus glotzte wie der letzte Idiot. Nur stockend kamen meine Gedanken wieder in Fluss. Ja, ein bisschen Ausbildung kann nicht schaden, wenn ich nicht durchdrehen will, ging es mir durch den Kopf. Auch die Leiche fiel mir wieder ein, deren Asche ich noch beseitigen musste. Ich versah den Handstaubsauger mit einem neuen Beutel, verfrachtete mit nie gekannter Gründlichkeit jedes noch so kleine Aschepartikelchen in selbigen und deponierte die kleine Papiertüte dann in einer Schublade. „Ich weiß, das ist nicht sehr respektvoll“, sagte ich zu der reichlich unkonventionellen Urne, „Aber sieh’s mal so... Du wolltest mich umbringen. Da kannst du nicht zuviel erwarten.“ Wieder erwischte ich meine Hand dabei, wie sie an meinem Hals erfolglos nach Bissspuren suchte. Das sollte ich mir besser später auch erklären lassen. Ebenso wie die Tatsache, dass ich nicht einen einzigen Zahn oder Knochen in der Asche gefunden hatte. Sollte ich wirklich ein Feuer besitzen, das so gezielt und so heiß brennen konnte, dass wirklich alles darin verglühte? Ich war mir noch nicht sicher, ob mir das gefallen wollte. Doch vorerst war das auch nicht weiter wichtig. Es wurde vielmehr Zeit, dass ich mich schnellstens wieder in meinen Alltag einfügte, bevor ich mir Ärger einhandelte. Ich musste meinen Arbeitgeber ja nicht gleich verstimmen, indem ich mir zum Dank dafür, dass er meine Wohnung hatte sanieren lassen erst einmal frei nahm. Wenn ich jetzt im Büro auftauchte, kam ich vielleicht mit einer kleinen Standpauke davon und man würde mir nicht drohen, mir Lebensunterhalt, Wohnung und Schulbildung zu streichen. Eine Stunde später fand ich mich in meinem Teil des Großraumbüros ein und fuhr brav den Computer hoch, während ich den Papierkram durchsah. Zuoberst lag die Notiz, mit der ich schon fast gerechnet hatte. Unter der Vorraussetzung, dass Sie hier heute noch auftauchen, umgehend bei Personalchef Tanaka melden. Ich registrierte auch den kleinen, leeren Karton mit der Aufschrift „Büromaterialen“ auf meinem Schreibtisch. Selbst ein Trampel wie ich versteht einen indirekten Wink, wenn man mich mit dem Zaunpfahl fast erschlägt. Falls ich nicht schon rausgeflogen war, brauchte jetzt schnellstens ein paar gute Ausreden für die Eskapaden der letzten Wochen. Eilig schritt ich zum Aufzug und betätigte den Knopf der sprichwörtlichen Chefetage. Die Türen glitten zu und ich war allein mit mir selbst und meiner leider ziemlich bescheidenen Fantasie, die ich nach plausiblen Erklärungen für absolut implausible Vorgänge absuchte. Zum Beispiel wie es anging, dass ich mein Wohnzimmer abfackelte, bis auf einen kleinen, unversehrten Kreis – der Stelle, wo ich gestanden hatte – oder warum ich zwei Tage lang einfach verschwand und einen davon auch noch wegen Mordverdachts im Gefängnis verbrachte, obwohl ich nichts – na ja, fast nichts – angestellt hatte. Ein Ruck riss mich aus meinen Gedanken. Schon angekommen? Das ging schneller als mir lieb war. Doch warum öffneten sich dann die Türen nicht? Die roten Leuchtdioden der Stockwerksanzeige verrieten es mir: Ich hing irgendwo zwischen Stockwerk 20 und 21. Eine Betriebsstörung! „Es gibt einen Gott“, seufzte ich glücklich. Und dieser gab mir noch ein bisschen Aufschub. Das war mit Abstand das Beste, was mir am heutigen Tag passierte. Ohne Hektik hob ich den Hörer ab und wählte die Nummer des Störungsdienstes auf der hier angebrachten Sprechanlage. Gerade wollte ich die letzte Ziffer eingeben, als mich ein Schaben und Ächzen auf dem Dach der Aufzugskabine mitten in der Bewegung innehalten ließ. Der Laut erinnerte mich an Fingernägel (Krallen?) auf einer Tafel. Eine Klappe in der Decke öffnete sich gemächlich. Von oben schaute ein totenbleiches Gesicht zu mir herunter. Wenn man diese grinsende Fratze denn als Gesicht bezeichnen wollte. Wie in Trance führte ich meinen Finger zu der Taste auf der Anlage. Es rauschte im Lautsprecher. „Tz, tz, tz“, schnalzte es von der Decke. Mein Gast sprang hinunter zu mir, während es in der Sprechanlage knisterte. „Störungsstelle?“ Ich formte das Wort „Hilfe“ in meinem Mund. Im selben Moment jedoch explodierte in meinem Kopf ein so grässlicher Schmerz, dass ich aufgejault hätte, wäre ich dazu noch in der Lage gewesen. Ich schrie innerlich, als ich mich Worte sagen hörte, die ich mir von außen in den Mund gelegt wurden. „Hallo, hier Schacht – äh – 7. (DREI! DREI!) Der Aufzug hier ruckelt von Zeit zu Zeit und macht seltsame Geräusche. Ich dachte, es wäre vielleicht gut, wenn Sie sich das mal anschauen.“ (Jetzt gleich am besten! Wird es denn bei euch nirgends angezeigt, wenn ein Aufzug stecken bleibt?!) „Oh, vielen Dank“, hörte ich die freundliche Antwort von der anderen Seite der Leitung. „Wir sehen umgehend nach. Danke für den Hinweis. Machen Sie sich bis dahin bitte keine Sorgen. Die Aufzüge werden täglich gewartet. Ihnen kann nichts passieren.“ (Wenn man in einem Aufzug stirbt, muss das nicht unbedingt am Aufzug liegen! Schickt jemanden rauf!) „Oh, gern geschehen, nur keine Eile (WAS?!), er fährt ja noch ganz normal. Nur vielleicht ist das nicht unbedingt was für sensible Gemüter...“ „Ja, wir kümmern uns darum, so bald wie möglich. Nochmals vielen Dank für Ihre Umsichtigkeit.“ „Kein Problem. Einen schönen Tag noch.“ Abschiedsfloskeln und ein Klicken aus der Anlage, das mein Schicksal besiegelte. Schlagartig war der Kopfschmerz verschwunden und ich hatte meine Gedanken wieder vollkommen in der Gewalt. „So, kleiner Flammenwerfer, wenn du jetzt noch den Hörer auflegen würdest...“, bat mich der kreideweiße Riese neben mir und entblößte dabei zwei lange Eckzähne, die ich als Warnung gar nicht mehr gebraucht hätte. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, als ich weiteres Schaben über mir vernahm. Kapitel 4: Feuer, Eis und Beethoven ----------------------------------- Sie waren zu dritt, einer blasser als der andere. Der vorwitzige Riese, der bei mir hockte und mich angrinste, dazu ein stämmiger, gedrungener Kerl, der mich mit seinem Gewicht binnen Sekunden auf dem Fußboden festgenagelt hatte, und ein Schweigsamer in meinem Alter, der als stiller Beobachter in der Ecke stand. Auf der Straße wären mir die Drei nie aufgefallen. Zwar unterschieden sie sich stark voneinander, doch jeder für sich sah, solang er den Mund nicht öffnete, so gewöhnlich oder ungewöhnlich aus wie jeder andere. Keine Lederjacken, die bei jeder Bewegung knirschten, keine langen, schwarzen Mäntel oder Ränder um die Augen, wie man vielleicht hätte vermuten können. Vielmehr auf den ersten Blick ganz normale Menschen, die einem überall begegnen konnten. Der Vorwitzige schnippte vor meinem Gesicht. Ich hörte auf, den Kerl in der Ecke anzustarren, von dem ich vermutete, dass er für diesen Eingriff hier verantwortlich war und richtete mein Augenmerk stattdessen auf die Person vor mir. Der Stämmige half mir ein wenig dabei, indem er meinen Kopf schmerzhaft nach oben verdrehte, sodass es meinem Gesprächspartner möglich war, mir in die Augen zu sehen. „Hat’s dir Spaß gemacht?“, zwitscherte er. Ich wartete. Wenn er merkte, dass ich nicht begriff, würde er mir schon mitteilen, was er meinte. Außerdem war es schwierig zu reden, wenn man einen Feuerball im Mund hatte. Neugierig überlegte ich, welche Farbe er wohl haben würde, wenn er meinem Gegenüber das Gesicht versengte. „Ich hab dich was gefragt“, versuchte er es erneut und rückte näher. Jetzt oder nie. Ich gab ihm die verlangte Antwort. Das Feuer hatte dieses Mal seine natürliche Farbe. Orangerot fraß es sich in die Züge des Riesen, der kreischend durch die Kabine sprang und sich selbst schlug. Mit aller Kraft warf ich mich herum, um mich von dem Muskelpaket über mir zu befreien, doch der Griff, in dem dieses mich festhielt war unnachgiebig wie ein Schraubstock. „Die Schnalle“, raunte der Junge in der Ecke gelassen. Ich atmete tief ein, um die nächste Flamme zu spucken, doch bevor es dazu kam, spürte ich, wie mir eine Art Gürtel oder ein flaches, stabiles Seil um Kinn und Kopf gelegt wurde. Mit einem festen Ziehen an dessen Verschluss wurden meine Kiefer aufeinandergepresst und das Feuer blieb mir buchstäblich im Halse stecken. Ich fühlte mich auf einmal wie ein Hund mit Maulkorb. Na wenigstens musste ich so nicht mit den Dreien reden. Das Antlitz des Riesen war inzwischen bedauerlicherweise gelöscht und regenerierte sich bereits wieder. Ich hatte auf bleibendere Eindrücke gehofft. „Das war keine gute Idee“, sagte er bedrohlich leise. Langsam glitt er wieder in die Hocke, seine Augen in meine bohrend. Sie schimmerten rötlich, die Pupille war verengt wie bei einer Katze. Was war er? Hatte das tote Mädchen nicht normale Pupillen gehabt? „Wir sollten uns nachher n Schluck von ihm genehmigen“, schlug er den anderen Beiden vor. An einer leicht wippenden Bewegung über mir erkannte ich, dass der Schraubstock dem durchaus zugetan war. Nur aus der Ecke kam nicht sofort eine Reaktion. „Wartet damit bis wir wissen, wer er überhaupt ist“, lautete das Urteil schließlich. „Tja, da das kleine Streichholz ja nicht mehr sprechen kann, müssen wir da wohl mal einen Blick auf seinen Ausweis werfen“, überlegte der Vorwitzige. Mir blieb aber auch gar nichts erspart. Er trat um mich herum und wollte sich an meinen Hosentaschen zu schaffen machen. Ich ruckte heftig mit dem Kopf in Richtung des groben Rucksacks, den ich mitführte. „Da drin?“ So gut ich konnte nickte ich. Kurz darauf hörte ich den Reißverschluss und ein suchendes Scharren in meinen Habseligkeiten. „Mal sehen, was haben wir denn hier...? Physik heute, Fortgeschrittene Informatik 25 – hui, siehst gar nicht aus wie ein Freak, wo sind die Pickel und die Brille? – English Advanced, Analysis II, Einführung in die Japanische Schrift... Na immerhin schon der zweite Band. Ein ganz Schlauer. Kommst du von der Schule oder wie? Mineralwasser... Kondome? Bist n kleiner Aufreißer, was Streichhölzchen? Oh, hier wird’s interessant... Notizen. Trägst du dir da ein, wen du als nächstes umbringst?“ Er kramte das kleine Heft heraus und ich freute mich ein wenig, als er darin zu blättern begann. “Mist…. Kann jemand von euch Italienisch?” Wenn er jetzt noch Anspielungen auf die Mafia, Pizza oder Spaghetti machte, würde ich Mittel und Wege finden, ihn richtig zu verbrennen, schwor ich mir. „Der Ausweis“, schnarrte es da jedoch aus der Ecke. Unser Beobachter war fast noch genervter als ich, was ihn mir sympathisch machte. „Und beeil dich ein Bisschen. Es wird warm hier drin.“ Ein vielsagender Blick in meine Richtung teilte mir mit, dass er sehr wohl wusste, an wem das lag. Ich war stinksauer und ich hatte Angst und das spiegelte sich in der Raumtemperatur deutlich wider. Der Witzbold fand mein Portemonnaie, las die Daten auf meinem Ausweis, brach in Lachen aus. Ja, ja, mein Name war schon lustig. Irgendwann würde ich das doch mal ändern lassen, beschloss ich. „Virgin Kori. Du bist noch Jungfrau? Da helf ich dir gern...“ Meine Gesichtszüge erstarrten. Schlagartig verwandelte sich der Fahrstuhl in eine Sauna. Der Kerl in der Ecke drückte die flache Hand an die Wand des Aufzuges und ich schaute nicht ohne Bewunderung zu, wie sich diese mit einer hauchfeinen Eisschicht überzog, wodurch es wieder kühler wurde. „Wenn ich ihn einfrieren muss, weil ihr ihn unnötig provoziert, bekommt ihr sein Blut sicherlich nicht mehr“, ermahnte er seine Gehilfen. „Wohnt er nun da, wo Noriko gestorben ist?“ „Jepp“, sagte der Witzbold. Der erwartungsfrohe Unterton in seiner Stimme machte mir Sorgen. „Dann red ich mit ihm“, entschied der Eckposten, „Bedient euch danach meinetwegen.“ „Willst du nichts?“ Zum ersten Mal hörte ich den Stämmigen reden. „Nein. Du weißt auch warum“, knurrte es aus der Ecke. „Schon vergessen, Fettsack? Er is clean“, ergänzte sein mitteilsamer Kumpane. Ich wünschte mir einen Moment lang, Blicke könnten töten. Der redselige Riese hätte in diesem Moment das Zeitliche gesegnet. So tauschte er nur mit dem Beobachter die Plätze. „Wenn es nicht seine Freundin gewesen wäre, die du auf dem Gewissen hast, hätte ich ihn nicht mitgenommen, das kannst du mir glauben“, sagte der Junge sanft. Das brachte eine Alarmglocke in mir zum Klingen. Vielleicht, kam es mir in den Sinn, ist er der Schlimmste von den Dreien. Vielleicht kann er sich deshalb diese Freundlichkeit leisten. „Also, sag mir ein paar Mal „Ja“ oder „Nein“ und dann ist es auch schon vorbei. Die Beiden werden dir ein bisschen Blut abnehmen, aber das ist nicht mal so viel wie bei einer Blutspende. Sonst sollte dir eigentlich nichts passieren, wenn du dich gut benimmst.“ Seh’ ich aus wie ne Zapfsäule?!, dachte ich erbost, betrachtete den jungen Mann aber weiter aufmerksam. „Also, bringen wir’s hinter uns?“ Ich nickte folgsam. Wartete. „Hast du sie umgebracht?“ Er zeigte mir ein Foto des Mädchens, das in einem Staubsaugerbeutel in meiner Schublade ruhte. Nun, eigentlich war es nicht nur meine Schuld. Ich nickte abermals und schüttelte gleich darauf den Kopf. „Was soll das denn nun schon wieder heißen?“, fauchte der Witzbold. „Ruhe“, verlangte mein Gegenüber. „Gib mir Zettel und Stift und du gib ihm die rechte Hand frei. Dass ihr Drachen aber auch ausgerechnet mit eurem Sprechorgan Feuer spucken müsst...“ Der Verkäufer wirft dem schmal gebauten Jungen einen ratlosen Blick zu. „Ich kann dir wirklich nichts verkaufen, wenn du mir nicht sagst, was du haben willst“, erklärt er hilflos. Ich schaue von dem Kinderbuch auf, das ich mühsam zu lesen versuche – verdammtes Japanisch - und lasse mich gern von dem Geschehen am Tresen der Buchhandlung ablenken. Der etwa Sechzehnjährige hebt den Arm als greife er etwas aus der Luft und beginnt, mit dem unsichtbaren Gegenstand auf seiner Hand zu schreiben. Ganz klar, was er will. Ich suche mir ein Wörterbuch. Als ich die Worte für Papier und Stift herausgesucht habe, hat der Verkäufer immer noch keine Ahnung, was von ihm verlangt wird. Ich gehe also hin und bringe meine neugewonnenen Vokabeln an den Mann. „Papier und Stift“, sage ich, auf den Jungen deutend. „Will schreiben“, fällt mir auch noch gerade ein. Etwas verdutzt sieht der Verkäufer mich an, lässt es dann aber auf einen Versuch ankommen und besorgt das Genannte, woraufhin der Junge einen kleinen, freudigen Satz macht. Die wasserblauen, fast katzenartig geschnittenen Augen, die in krassem Gegensatz zu seinem sonst sehr asiatischen Aussehen stehen, leuchten. Blitzschnell hat er notiert, was er haben möchte und ich will gerade wieder gehen, da hält mich der Verkäufer zurück. Ich kann nicht alles übersetzen, was er zu mir sagt. „Sie verstehen ihn...“, dringt es zu mir durch. „Können Sie mir sagen, was ein ... Junge mit einem Buch über ... will?“ „Entschuldigung, was für ein Junge, was für ein Buch?“, frage ich zurück. Der Mann versucht es einfacher: „Er kann nicht hören, aber er will ein Buch über Musik kaufen.“ Beide Beteiligten werfen mir einen hilfesuchenden Blick zu, doch das Einzige, was mir dazu einfällt, kann ich nicht in dieser Sprache sagen. Ich nehme mir meinerseits den Zettel und schreibe: „So what? Beethoven was deaf, too.“ – Na und? Beethoven war auch taub. Mit dem praktischen Verständnis scheint es bei dem Verkäufer nicht weit her zu sein, aber Allgemeinbildung hat er. Von dem Argument überzeugt holt er das verlangte Buch, während ich unauffällig das Wörterbuch in meine Tasche fallen lasse. Der Taubstumme reißt daraufhin das benutzte Blatt von dem Notizblock, ergänzt es um eine weitere Botschaft und deponiert es mit einem verschwörerischen Grinsen ebenfalls in meinem Beutel. Dann erst bedankt er sich mit einer leichten Verbeugung. Ich gehe lieber, da der Verkäufer zurückkommt. Draußen lasse ich mich einige Meter weiter vor einen Hauseingang sinken, lege die zerschlissene Mütze für das Geld auf den Boden und hoffe, dass die Polizei nicht allzu bald hier auftaucht und mich wegjagt, weil ich bettle. Ich brauche endlich Arbeit oder ein Flugticket in ein Land, dessen Sprache ich beherrsche, denke ich, verstimmt über das, was ich hier tue. Verstohlen werfe ich wieder einen Blick auf das gut versteckte Wörterbuch. Der Zettel liegt noch da. Gerade habe ich mühsam das neckische „Das hab ich gesehen“ entziffert, da hebt jemand die Mütze vor mir auf und setzt sie mir auf den Kopf. Der Junge aus der Buchhandlung. Sein Lächeln ist eindeutig frech, doch die Tüte, die er umfasst wie einen kostbaren Schatz passt nicht ganz zu der selbstbewussten Ausstrahlung. „Verrietest du mich?“, frage ich vorsichtshalber. Er schüttelt vehement den Kopf, legt den Finger auf seine Lippen, grinst noch breiter. Es grenzt an ein Wunder, dass er mich unter den erschwerten Bedingungen seiner Behinderung und meiner miesen Grammatik überhaupt verstanden hat. Ich kann es kaum fassen und bin umso irritierter, als er übergangslos auf ein Schild auf der gegenüberliegenden Straßenseite deutet und den Kopf fragend schräg legt. Nach einiger Zeit erkenne ich, mehr an den Bildern als an dem Schriftzug, dass es dort verschiedene Nudelsuppen gibt. Mein Magen knurrt augenblicklich, doch das hört er ja zum Glück nicht. Es gibt da nur ein Problem... Ich ziehe das Innere meiner leeren Hosentaschen nach außen. In derselben Zeit hat er jedoch schon ein Portemonnaie aus den seinigen gezogen. Seine Finger lenken meine Aufmerksamkeit nacheinander auf vier Dinge: Mich, den Imbiss, die Geldbörse und schließlich ihn selbst. Man möge mich einen Schmarotzer nennen, aber das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich schüttelte den Kopf und zerrte an meiner festgehaltenen Linken. „Gut, ich hab verstanden, mach ihm die Linke los. Mit der Rechten kann er nicht schreiben. Bin ich froh, dass du dich im Gegensatz zu diesen Trotteln auf nonverbale Kommunikation verstehst.“ Er verdrehte die Augen in Richtung seiner Komplizen. Das konnte ich ihm nicht verübeln. „Es war ein Unfall“, kritzelte ich mit fliegender Feder auf den Notizblock. „Ich bin davon aufgewacht, dass sie mich gebissen hat und dann kamen auch schon die Krämpfe und sie war tot.“ „Gut, hattet ihr sonst Körperkontakt?“ Verwirrt zog ich die Augenbrauen hoch. Was bitte? Nun, sie hatte mich festgehalten und eine Weile tot auf meinem Bauch gelegen. Das rechtfertigte ein Nicken, fand ich. „Du...“, grollte es aus der Ecke des Witzboldes. Ich mach dich fer-“ „Hast du mit ihr geschlafen?“, unterbrach ihn der Stillere. Sein Geduldsfaden schien zum Zerreißen gespannt. Ich schüttelte resolut den Kopf, woraufhin er mich mit einem Blick ansah, als würde er mich am liebsten vor Freude umarmen. Der eifersüchtige Witwer verstummte... vorerst. „Hast du dich irgendwann gefühlt, als stündest du neben dir?“ Das ist bei mir seit einigen Wochen Dauerzustand, war ich versucht zu antworten, schüttelte jedoch nur erneut den Kopf. „Aber verbrannt hast du sie, sagt mein Freund hier.“ Das gab ich zu. Rick hatte nun mal drauf bestanden. „Wo ist die Asche jetzt?“ „Bei mir zu Hause“, schrieb ich. Die Information wurde an die anderen beiden weitergegeben. „Der lügt doch! Da hab ich alles durchwühlt, gleich als er losgefahren ist!“ Oh wunderbar. Ich bin sicher, du hast hinterher auch wieder aufgeräumt. Ich ergänzte die Ortsbeschreibung um die entscheidenden Details. Der Junge nahm den Zettel und brach in schallendes Gelächter aus. „Danke, das war’s schon“, meinte er freundlich. „Wir holen sie uns dann von dort.“ Ehe ich etwas dagegen unternehmen konnte, wurde mir die linke Hand wieder auf den Rücken geklemmt. „Bon Appetit“, drang es an mein Ohr. Ich brüllte hinter den geschlossenen Lippen und begann zu toben, doch es half nichts. Zum zweiten Mal an diesem Tage wurden Zähne in meinen Hals geschlagen. Ich spürte ein Saugen und hörte schmatzende Geräusche, bei denen sich mir der Magen umdrehte. Davon abgesehen war die Prozedur nicht gerade schmerzfrei. „Du verpasst was“, frohlockte der Muskelprotz, nachdem beide ihren Anteil gehabt hatten. „Süß mit einer leisen herben Note. Wunderbar im Abgang. Da muss ein bisschen Dämon irgendwo mit drin sein, und jede Menge Mensch. Nicht so karieserregend wie die reinrassigen Drachen. Und die Wirkung ist bestens.“ Dankesehr. Offenbar ein echter Kenner. „Mach ihn los. Es ist schon ein Wunder, dass wir so viel Zeit hatten“, erwiderte der Enthaltsame frostig. Der sehnsüchtige Blick, den er meinem blutenden Hals zuwarf blieb von mir nicht unbemerkt. Meine Kiefer wurden wieder befreit und ich dicht vor die vereiste Wand gezerrt. „Spuck sie aus“, befahl der Stämmige. Wehmütig entledigte ich mich meiner so lang gehüteten Flamme. Das Eis an der Wand schmolz nicht, es verdampfte. „Sei so nett und reiß dich noch zusammen, bis wir rausgeklettert sind“, bat mich der Ex-Junkie. „Verdient habt ihr’s nicht“, brummte ich, „Nun haut schon ab.“ Genau das taten sie auch. Sie verschwanden nach oben hinaus und wenig später setzte sich der Aufzug wieder in Bewegung. Die anstehende Chefbesprechung erschien mir plötzlich so harmlos wie ein Kaffeekränzchen. Als ich endlich oben ankam, hatten sich die Bissspuren bereits verflüchtigt. Kapitel 5: Chefsache oder Mein Besuch im Irrenhaus -------------------------------------------------- Die Gelassenheit, mit der ich das Vorzimmer zu Tanakas Büro betrat, war mir beinahe schon selbst zu groß. Stand ich möglicherweise einfach unter Schock? Na Hauptsache, es half. Missmutig zupfte ich ein letztes Mal an meiner Krawatte herum – wie ich das Ding hasste! - bevor mich die Sekretärin weiterschickte, mit der Mitteilung, ich solle im Büro warten, Tanaka käme gleich. Etwas verspätet fiel mir ein, dass ich immer noch keine Ausrede hatte. Nun ja, jetzt musste es eben ohne gehen. Ich atmete tief durch, schob die Tür auf und trat ein. Seit meiner Einstellung hatte sich hier so einiges geändert. Als ich vor anderthalb Jahren bei Kodansha Tech. angefangen hatte, da hatte anstelle des großen Massivholzschreibtisches noch ein klappriges Plastikmöbel im Büro des Personalchefs gestanden und auch die Besprechungsecke mit dem niedrigen Tisch, dem kleinen Sofa und den unbequem aussehenden Designersesseln war noch nicht da gewesen. Ganz zu schweigen von dem jungen Mann, der die Füße auf der Tischplatte abgelegt hatte und das Sofa für sich beanspruchte. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig, doch dieser Eindruck konnte täuschen. Er mochte wesentlich jünger aussehen, wenn er die schmale Brille abnahm, die das lässige Gesamtbild gewaltig störte, das er mit seinem zwei Knöpfe weit offenstehenden Hemd und den lose zurückgebundenen, dunkelroten Haaren abzugeben versuchte. Um den Hals hingen ihm ein paar Stöpselkopfhörer, aus denen ich leise Musik hören konnte. Irgendetwas Klassisches, nicht ganz leicht für die Ohren, aber auch nicht so schief, dass ich hätte flüchten wollen. Ich begrüßte ihn knapp und ließ mich dann auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch fallen. Stille trat ein, getragen von dem dezenten Rauschen und Zirpen aus den Kopfhörern. Auf Dauer würde sich der Rothaarige die Ohren verderben, wenn er seine Musik so laut hörte, dass sie sogar noch hier drüben beim Schreibtisch ankam. Als wollte er mich darin bestätigen, stöpselte er sich einen seiner Gehörgänge zu, was die Musik etwas leiser, aber auch unvollkommen werden ließ. Was wollte er hier? Ich spürte seine Blicke deutlich in der Seite und es ging mir auf die Nerven. Umso beharrlicher schwieg ich weiter, brütete vor mich hin, ohne wirklich an etwas Bestimmtes zu denken. Meine Exfreundin hatte immer gesagt, ich sähe am konzentriertesten aus, wenn ich überhaupt nicht dachte. Yasemin, Jazz... Nach all dem Stress heute, könnte ich ihr vielleicht einen Besuch abstatten. Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen, schien die von mir ausgehenden Wellen aber keineswegs freundlicher zu machen, wie die nervösen Rutschbewegungen auf der Couch verrieten. Schließlich ließ er mir den Sieg in diesem stummen Tauziehen darum, wer den anderen besser ignorieren konnte, und stand geräuschvoll auf. Ärgerlicherweise gewann ich das Spielchen nur teilweise, denn sein plötzliches Hochschnellen ließ mich kurz zusammenzucken. Mit vier gemessenen Schritten legte er die Distanz zwischen uns zurück, blieb unvermittelt vor mir stehen und schaute auf mich herunter. „Okay, nun reicht’s!“, donnerte er völlig aus dem Nichts. Aus demselben kam auch die Ohrfeige, die er mir ins Gesicht klatschte. „Das muss ja ne tolle Seele sein, wenn du mich hier so auflaufen lässt!“, wütete er weiter, „Weißt du, wie schwer es war, dich überhaupt zu finden? Ist das der Dank, dafür, dass ich - “ Erschrocken wich er zurück, als ich meinerseits blitzschnell aus meinem Stuhl sprang. Ich hatte es geahnt, aber verdrängt: Ich war kleiner als er. Doch mein abruptes Aufstehen verfehlte seine Wirkung dennoch nicht. Er verstummte, funkelte mich mit den dunklen Augen nur böse an. Dasselbe tat auch ich und ein paar Lidschläge lang standen wir einfach da, stachen uns mit unseren Blicken gegenseitig die Augen aus. Die Geräusche aus den Kopfhörern waren wieder lauter, jetzt wo sie näher waren. Die Musik gefiel mir, doch das linderte meinen Ärger nur geringfügig. Für heute hatten nun wirklich mehr als genügend Leute an meinen Nerven gesägt. „Zwei Fragen“, giftete ich, „Erstens: Was hörst du da? Zweitens: WAS SOLL DIE SCHEISSE, DU VOLLIDIOT?!“ Wie vom Schlag getroffen taumelte er einige Schritte weiter zurück. Die Wut in seinem Gesicht hatte einer nervösen Anspannung Platz gemacht. Ich konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn hektisch zu arbeiten begann. Na auf die Erklärung war ich doch sehr gespannt. Schnell schienen seine Überlegungen zu einem Ergebnis gekommen zu sein, was sich darin äußerte, dass er sich die Ohrstöpsel etwas weiter aus dem Hemd zog, unter dem sie verborgen waren, und mir einen davon hinhielt. Ich sah den kleinen Lautsprecher an, als käme er von einem anderen Stern. Mit vielem hatte ich gerechnet, aber nicht damit. „Wenn du jetzt erwartest, dass ich mir deinen Schmalz ins Ohr stopfe, hast du eindeutig nicht mehr alle Tassen im Schrank“, stellte ich klar. Kurz blitzte es in seinen Augen auf, doch dann lächelte er einfach – und sehr asymmetrisch. „Ich erklär’s dir beim nächsten Mal. Er kommt.“ Am liebsten hätte ich mit dem Fuß aufgestampft und losgeschrieen. Verdammt, ich wollte JETZT eine Erklärung dafür, dass die ganze Welt um mich herum seit der letzten Nacht vollkommen verrückt spielte. War denn das zuviel verlangt? Und dieser Kerl, offenbar in der Lage, mir einen Teil dieses Wahnsinns begreiflich zu machen, hatte nichts Besseres zu tun als sich wie von der Tarantel gestochen auf das Sofa zu werfen und... Was machte er da eigentlich? Sein ganzes Auftreten war plötzlich total verändert. In Embryohaltung hockte er auf der Couch, die Arme schützend um die Beine geschlungen. Die Brille steckte in der Brusttasche seines Hemdes, die Stöpsel in seinen Ohren und seine Hand halb in seinem Mund wie ein überdimensionaler Schnuller. Im Takt der immer noch leise zu vernehmenden Symphonie wiegte er sich vor und zurück. „Klick-klick“, nuschelte er zwischen den Fingern hervor. „Klick-klick-klick. Piep!“ Gerade noch rechtzeitig, bevor Tanaka die Tür seines Büros ganz geöffnet hatte, gehorchte meine heruntergeklappte Kinnlade mir wieder. Wo immer sie den jungen Mann hier rausgelassen hatten, wenn es nach mir ging, sollte er dorthin schleunigst wieder zurück. Ich war hin und hergerissen zwischen einem unhaltbaren Lachanfall und dem Wunsch, einfach aus dem Raum zu stürzen, um von irgendwem lautstark und notfalls mit Gewalt ein Stück Normalität zu verlangen. Sofort und mit Garantie. Ausgerechnet Rongas magisches Siegel war es, das mich halbwegs auf dem Boden der Tatsachen hielt, denn meine nervösen Finger fanden darin ein willkommenes Spielzeug, um mich wenigstens ein bisschen zu beruhigen. Peinlich berührt sah Tanaka zuerst den jungen Mann, dann mich, dann wieder ihn an, rannte fast durch’s Zimmer und riss ihm die vollgesabberten Finger wieder aus dem Mund. Den Kopfhörer entfernte er mit solcher Grobheit, dass er sich von seinem Endgerät trennte und davonflog. Die Reaktion darauf war ein gellendes, spitzes Winseln seitens des Jüngeren, das mir durch Mark und Bein ging. Meine Verwirrung war komplett, als mein Vorgesetzter begann, dem Irren sanft über den Kopf zu streichen und beruhigend auf ihn einzureden. „Shhht, ist ja gut“, murmelte er und sagte gleich darauf, bei weitem nicht so freundlich, zu mir: „Virgin, fahren Sie bitte den Computer auf meinem Schreibtisch herunter.“ Sein Wunsch war mir Befehl. Dankbar ergriff ich die Gelegenheit beim Schopfe, die Beiden nicht mehr ansehen zu müssen. „Klick-klick“, erklang es wieder vom Sofa. Ich schaute dem Rechner so krampfhaft beim Herunterfahren zu als hinge mein Leben davon ab, versuchte nur auf die leisen Umdrehungen von dessen Lüftung zu lauschen. Der Computer ging aus und das leise Surren verstummte. Dasselbe tat auch der verrückte junge Mann. Nun starrte er ausdruckslos auf einen nur für ihn sichtbaren Punkt hinter mir. „Na siehst du, ist doch schon wieder vorbei“, beschwichtigte Tanaka ihn weiter, als spräche er zu einem kleinen Kind, wobei er ihm eine weiße Tablette auf die heraushängende Zunge legte. Ein Stoßseufzer entfuhr ihm, als der Rotschopf diese schluckte und sich auf der Couch zusammenrollte, wo er fast augenblicklich einschlief. „Und dabei sah es doch so aus, als würde es dieses Mal klappen“, sagte Tanaka wehleidig zu sich selbst. Gern hätte ich gefragt, was gerade geschehen war, doch ich befand mich hier in Japan, dem Land der guten Sitten und Manieren und mein Arbeitsplatz stand auf dem Spiel. Keine guten Vorraussetzungen also, um meinen Chef noch mehr in Verlegenheit zu bringen, indem ich ihn löcherte. Stattdessen nahm ich wieder auf meinem Stuhl platz, wo ich tat, als sähe ich Tanakas hochroten Kopf nicht. Ebenso höflich ignorierte ich die Familienähnlichkeit, die mir auffiel, jetzt wo der Junge friedlich auf dem Sofa schlummerte. Geduldig wartete ich, bis auch Tanaka sich gesetzt und ein wenig gefasst hatte. „Sagen Sie mir nur eins, dann bin ich auch schon weg und wir können uns alle von dem Schrecken erholen“, versuchte ich ihm – nicht ganz uneigennützig – entgegenzukommen, „Hab ich den Job noch?“ „Ja ja, haben Sie“, antwortete er noch ein wenig zerstreut. Er räusperte sich, wischte sich mit einem blütenweißen Stofftuch einige Schweißperlen von der Stirn und warf mir einen fast flehenden Blick zu. Ich kannte ihn eigentlich als sehr autoritären, wenn nicht gar herablassenden Zeitgenossen. Umso mehr musste ihn der Vorfall mitgenommen haben. „Nun... eh... Würden Sie in einer Stunde nochmal wiederkommen?“, bat er. „Natürlich“, kroch ich ihm in den Hintern. Er hatte sich’s verdient. Immerhin durfte ich in der Firma bleiben, „Bereiten Sie in Ruhe Ihre Standpauke vor und ich denke derweil über ein paar gute, aber garantiert gelogene Erklärungen nach, die Sie sowieso nicht hören wollen, einverstanden?“ „Einverstanden“, erwiderte er matt. Mit einer Geschwindigkeit, als hätte es in der Schule zur Pause geläutet, sprang ich auf und marschierte auch schon auf die Tür zu. „Oh, und Virgin...?“, rief er mich noch einmal zurück. Ich neigte wissend den Kopf. „Es bleibt unter uns, wenn Sie sich endlich angewöhnen, mich beim Vornahmen zu nennen.“ Na also. Der alte Mann lächelte schon wieder. Meine gute Tat hatte ich damit für heute getan. Das kam nun wahrlich nicht oft vor. Kapitel 6: Messerwerfen ----------------------- {Kommentar} Ich hab lang überlegt, ob ich das hier so on stelle. Mir ist das Kapitel eigentlich zu lang, mal abgesehen von der Tatsache, dass es zur Haupthandlung (lol?) nicht das Geringste beiträgt. Aber ich hab mich mal wieder in die klassischen Nick-Kori-Dialoge verliebt, (die sich leider immer selbstständig machen), also tue ich mal so, als bräuchte ich das Gequatsche zur Charakterentwicklung *pfeif*. Lacht wenigstens ein Bisschen, okay? Die nächsten Kapitel werden etwas ernster und ich verspreche, ich werde innerhalb der nächsten beiden auch mindestens drei tote Fische wiederbeleben. ^^° Nachher bin ich sonst noch die Einzige, die die Geschichte versteht. {/Kommentar} „Tiefkühlpizza oder Nudeln aus dem Becher?“ Missmutig beobachtete ich Nick dabei, wie er die beiden Alternativen vor meiner Nase schwenkte. „Keinen Hunger“, brummte ich. Meine Laune war im weiteren Verlauf von Arbeit und Abendschule wieder ziemlich abgesunken, geretteter Arbeitsplatz hin oder her. Zudem war ich hundemüde von diesem durchwachsenen Tag und der vorangegangenen Nacht. „Kommt der Typ bald mal?“, fragte ich, statt mich zu entscheiden. „Der kommt und geht wie’s ihm passt. Was nimmst du nun?“ So weltliche Dinge wie eine Tiefkühlpizza oder Cup Noodles sahen in meinen Augen heute fast schon seltsam aus. Selbst das sonst so angenehm monotone Herumhacken auf der Computertastatur am Nachmittag hatte nicht die Zerstreuung gebracht, die ich gesucht hatte. Immer wieder waren meine Gedanken zu den Ereignissen des Vormittags zurückgekehrt. Die Leiche, die Kreideweißen im Aufzug und schließlich auch noch der Spinner in Tanakas Büro. Dazu schlechte Träume sowie Erinnerungen, die plötzlich wieder an die Oberfläche trieben. Warum war es ausgerechnet dieser taubstumme Junge, der in letzter Zeit jene Gedankenfetzen dominierte? Wer war er? Woher kannte ich ihn? Ich hätte meine linke Hand für ein bisschen Zeit zum Nachdenken gegeben. Vielleicht wäre sein Name mir dann irgendwann eingefallen. Nick schaute mich immer noch fragend an. „ ...ri?“ Eine dünne Hand wedelte in meinem Gesichtsfeld herum. „Hallo, Erde an Kori! Ich schmeiß die Pizza rein, okay? Die muss sowieso weg.“ „Tu was du nicht lassen kannst“, murmelte ich desinteressiert. „Mann hast du ne Laune. So schlimm ist das doch nun auch alles nicht. Gut, du hattest heute morgen Dreck im Bett, ich hab eins deiner Gläser runtergeschmissen, das Auge des Orion spielt verrückt, wenn du es anfasst und wir haben jetzt gemeinsam Unterricht, aber deswegen braucht man doch nun wirklich nicht so ein Gesicht zu machen!“ „Du verstehst es wirklich, jemanden aufzubauen“, entgegnete ich finster. Diese vergleichsweise kleinen Unannehmlichkeiten hatte ich bis eben vollkommen vergessen. „Hey, ich versuch’s wenigstens. Kannst du’s besser?“ „Nein“, musste ich zugeben und hatte plötzlich Nicks Handfläche auf der Stirn. „Bist du krank? Das war die Gelegenheit, mit mir zu streiten! Mich fertig zu machen, mich mit logischen Argumentationen niederzuwalzen und in tagelange Depressionen zu stürzen, wie du das sonst immer tust, und du sitzt einfach da und stimmst mir zu?! Kori, was ist los?! Lass dich doch nicht so hängen. Das ist nun echt übertrieben für so ein Bisschen Unterricht.“ „Addiere zu den von dir genannten Dingen vier Vampire, einer von mir ermordet, einen Überfall im Aufzug, inklusive unfreiwilliger Blutspende, einen knapp verfehlten Rausschmiss aus der Firma und eine Ohrfeige von einem arroganten Sesselfurzer, der meinem Chef vorspielt, er hätte eine Schraube locker. Wenn du all diese Summanten zusammennimmst, ist meine schlechte Laune dann in deinen blauen, naiven Äuglein gerechtfertigt, Gary-Schatz?“ Nick ließ sich sehr viel Zeit, um diese lange Aufzählung zu verdauen. Einige angenehm stille Sekunden verstrichen, in denen er die wichtigsten Informationen aus meiner Aussage herausfilterte. „Moooment mal“, ging er dann zum Gegenangriff über. „Was soll das heißen, ich bin naiv?“ Ich ließ meinen Kopf spontan auf die Platte des Tisches fallen, an dem ich saß. Dieses Wesen konnte doch nicht wirklich existieren. Es musste doch so etwas wie Evolution auf diesem Planeten geben! Seufzend bettete ich mein Haupt nachträglich auf meine Unterarme und versuchte, Nick nicht wahrzunehmen. „Ersetze „naiv“ einfach durch „dämlich“, okay?“, nuschelte ich hilflos, bevor das Unvermeidliche geschah. „Nein, du hast „naiv“ gesagt. Wir diskutieren das jetzt aus“, verlangte er. „Eher gibt’s keine Pizza.“ „Wenn du eben diese nicht bald aus ihrer Folie nimmst, während sie da im Ofen vor sich hin schmort, wird es auch so keine geben“, bemerkte ich trocken. „Waaah!“, kreischte Nick, riss den Ofen auf und angelte die Pizza heraus. „Warum sagst du mir das erst jetzt?!“ „Bevor es nach geschmolzenem Plastik roch, ist es mir nicht aufgefallen. Außerdem bin ich davon ausgegangen, dass du als Pizzabote in der Lage sein solltest, eine Pizza aufzutauen, ohne dir eine Rauchvergiftung einzuhandeln.“ „Komm mir nicht mit deiner Pseudo-Logik! Das hier hat mit meinem Job überhaupt nichts zu tun!“ „Da hast du recht, es hat mit deiner Schusseligkeit zu tun. Irgendwer muss dich als Baby auf den Kopf fallen gelassen haben. Anders kann ich mir das langsam nicht mehr erklären. Und jetzt hör endlich mal auf, hier rumzuzicken, das ist ja nicht zum Aushalten. Kein Wunder, dass du nie eine rumgekriegt hast, die ich für dich angegraben habe.“ „ICH zicke? Was soll das wieder heißen? Ist das wieder eine deiner Anspielungen auf mein weibliches Aussehen?“ Er realisierte, was er gesagt hatte. „Mein deiner Meinung nach weibliches Aussehen wohlgemerkt“, beeilte er sich, richtig zu stellen, „Ich sehe nämlich kein Stück - “ „Nick“, unterbrach ich ihn, „in was für einer Welt lebst du? Gibt’s in deinem Paralleluniversum keine Spiegel oder hast du n Sehfehler? Hey, das würde auch deine Tollpatschigkeit erklären. Du brauchst ne Brille!“ „Meine Augen sind völlig in Ordnung!“, empörte er sich, „Aber wie wär’s denn, wenn du deine Wahrnehmung mal überprüfen la...?“ „Komme ich ungelegen?“, erkundigte sich jemand aus dem Türrahmen der Küche heraus. „JA!“, brüllten Nick und ich aus einem Munde. Es dauerte einen Moment, bis zu uns durchdrang, wer da gerade zu uns gestoßen war. „Eli...“, fing sich Nick als Erster. „Solltest du deine Energie nicht lieber für den Ausbau deines magischen Wissens nutzen?“ Wofür auch immer er seine Energie zu nutzen gedachte, ich nutzte die mir verbliebene, um mir den alten Mann im Türrahmen genauer anzusehen. „Eli“ war etwa 50, hatte eine leicht gebeugte Körperhaltung, einen Stoffbeutel in der Hand und eine Oliver-Twist-Mütze auf dem Kopf, die ein wenig schief saß. „Willst du mich nicht vorstellen, Nick?“, appellierte er an dessen Manieren. „Äh klar, das ist Eliphas. Eli, das ist Kori.“ „Sehr schön. Möchte der junge Herr mir nun erklären, warum ihr hier in der Küche schwatzt, statt euch in der Halle einzufinden, wo ich seit einer Viertelstunde auf euch warte?“ „Öh... also“, begann Nick. „Warum sollten wir da warten? Nick, hast du nicht gesagt, der Alte kommt und geht sowieso, wann es ihm passt?“, wandte ich ein. „Ja, schon... Ja! Du hast recht! Warum sollten wir da warten?!“ „Ronga sagte mir schon, du seiest einer von diesen vorlauten Hobbydozenten“, seufzte Eliphas im Tonfall eines alten Mannes, der Mitleid mit der unverbesserlichen Jugend hatte, „Können wir dann jetzt hinübergehen?“ Wundert mich gar nicht, dass Ronga und er sich kennen, dachte ich amüsiert, Geschwollen reden können sie beide prima. Wir folgten ihm durch den Flur eine kurze Treppe hinab, um zum hinteren Teil des Gebäudes zu gelangen, der aufgrund der leichten Neigung des Grundstücks etwas tiefer lag. Nick öffnete eine große Schiebetür und offenbarte uns „die Halle“, einen riesengroßen Wintergarten mit hoher Decke, dessen Wände bis auf jene mit der Tür, durch die wir kamen komplett verglast waren. Über uns war ein klarer Nachthimmel zu sehen. Der Mond warf sein gespenstisches Licht auf die hellen, marmornen Fliesen zu unseren Füßen. Möbel gab es bis auf einen kleinen Korbsessel in einer Ecke keine. Dennoch hatte ich das Gefühl, der Raum wäre vollgestopft mit lauter Dingen, die Schatten warfen. Hatte Nick vielleicht deshalb lieber in der Küche gewartet? Eh ich darüber nachdenken konnte, betätigte Eliphas den Lichtschalter und zwei an der Türwand angebrachte Leuchten machten dem Spuk ein Ende. „Das Magiesystem ist im Großen und Ganzen in drei Stufen unterteilt“, belehrte er uns, während er den Raum durchquerte und seinen Beutel neben den Korbsessel stellte. Er selbst nahm darauf Platz, sodass das Geflecht unter dem weißen Sitzkissen leise knirschte. „Die meisten schaffen es zu Lebzeiten bis zur Zweiten, aber einigen wenigen ist es auch vergönnt, die dritte Stufe zu erklimmen, auf der sie die Magie allein Kraft ihrer Gedanken befehligen. Man beginnt jedoch damit, die Sprache als Instrument zur Nutzung der Kräfte zu bedienen und verlegt sich dann in der zweiten Stufe auf bezeichnende Bewegungen.“ Ich unterdrückte ein Gähnen. Mein gelangweilter Gesichtsausdruck wurde von Nick mit einem leichten Augenrollen in Richtung des Alten beantwortet. „Soweit zur Theorie“, fuhr Eliphas unbeeindruckt fort, „Damit will ich euch nicht zu lange aufhalten. Nick sollte diese Dinge ja sowieso schon wissen und was dich angeht, mein junger, aufmüpfiger Freund, so fällt dir das Lernen aus Büchern sicherlich leicht. Das ist fast immer so bei sozial deformierten jungen Männern.“ Die bissige Antwort lag mir bereits auf der Zunge, doch ich war klug genug, sie herunterzuschlucken. Es war schwer, jemandem etwas auszureden, von dem beide Gesprächspartner genau wussten, dass es im Kern stimmte. Ich war nicht gerade ein Menschenfreund, das war ein offenes Geheimnis. „Macht ihr Zwei also ein paar Liegestütze und ich kümmere mich derweil um den Aufbau. Dann kommen wir sofort zum praktischen Teil unserer heutigen Stunde. Nick, du brauchst ein wenig Verfeinerung bei der Teleportation und Kori braucht...“ Er machte eine lange Pause, für die ich ihm gern den Hals umgedreht hätte „... einen Anfängerkurs.“ „Liegestütze?“, fragte Nick beleidigt. „Probierst du da eine neue Unterrichtsmethode?“ „Nein“, antwortete Eli gelassen. „Aber da du jetzt einen Gegner zum üben hast, könntest gerade du ein wenig Sport gebrauchen.“ „Soll auch sehr appetitanregend wirken“, stichelte ich und piekste Nick zwischen die Rippen. „Und wenn nicht, setzt du immerhin Muskelmasse an.“ „Zehn für Nick, fünfzehn für dich. Das erscheint mir angesichts deiner pubertären Überheblichkeit nur gerecht“, fand der Alte, „Ihr habt Zeit, bis ich meine Zigaretten gefunden habe.“ Gehorsam ließen wir uns auf dem glatten Boden nieder, wo Nick zehn Bauchklatscher und ich fünfzehn ziemlich krumm geratene Liegestütze machte. Eliphas kramte unterdessen in seinem Beutel herum und schnaubte dabei verärgert. Ich gönnte es ihm von ganzem Herzen, dass er sein Rauchwerk nicht fand. Als wir wieder aufstanden, hatte er gerade mal einen einzigen Glimmstängel aus der Tasche seines Altherrensakkos zu Tage fördern können und auch der befand sich in einem traurigen Zustand. Er steckte sich die Zigarette trotzdem in den Mundwinkel. Zufrieden musterte er uns, wie wir da vor ihm standen, beide ein wenig schwerer atmend und schon sehr viel ruhiger als zuvor. „Ihr schlagt euch recht gut bisher, meine jungen Recken“, grinste er schadenfroh. „Ach, Kori, haste mal Feuer? Ich brauch echt ne Fluppe, sonst lauf ich hier gleich Amok.“ „Hey, Eli, wolltest du nicht aufhören?“, fragte Nick mahnend, während ich versuchte, möglichst gleichgültig dreinzuschauen, obwohl die erhabene Fassade meines neuen Lehrers plötzlich einen gigantischen Riss bekommen hatte. „Ach halt die Klappe. Das ist... eine Anstandszigarette. Zum gebührenden Abschied sozusagen“, entgegnete Eliphas leichthin. Im selben Moment fühlte Nick sich von einem großen Apfel am Kopf getroffen. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, zu fragen, wo der herkam. Nicks verdatterter Gesichtsausdruck war sowieso viel zu komisch, als dass ich einen klaren Gedanken hätte fassen können. „Aua“, empörte sich mein Mitstreiter, während ich schallend lachte. „Ich habe dir gesagt, ich würde deine Reflexe prüfen, Nicolas“, erinnerte Eli gelassen. „Sei froh, dass es nur ein Apfel war und kein“ – etwas sauste auf mich zu, ich fing es und schnitt mir dabei kräftig in die Handfläche – „Messer. Keine Angst, das sollte bei dir schnell abheilen. Fünf Minuten und du siehst nicht mal mehr n Kratzer.“ Er lächelte vielsagend von seinem Sessel zu uns herüber. „Gute Reaktion. Das wird anscheinend doch noch n lustiger Abend. Vorausgesetzt, du zündest mir endlich mal meine Kippe an.“ Ich trat an ihn heran, konzentrierte mich und spuckte mir eine kleine Flamme in die Hand. Nun, zumindest wollte ich das, doch das Flämmchen geriet mir zu einem Feuerball von einem Viertelmeter Durchmesser. Eliphas schnaubte verächtlich. „Willst du mir das ganze Gesicht verbrennen, Junge?“ „Das ist eine rhetorische Frage, oder?“, entgegnete ich mürrisch. Eliphas brachte das Feuer mit einem kurzen Blick auf eine handhabbare Größe und hielt seine Zigarette daran. „Nimm dir deine Munition aus dem Beutel“, befahl er ungerührt, „Wenn ihr weiter so rumtrödelt, seid ihr wieder total steif, bis es endlich losgeht.“ Neugierig durchstöberte ich den Jutebeutel, doch das einzige, was ich darin fand, waren weitere Exemplare des Steakmessers, das mir der Alte zuvor entgegengeschleudert hatte. „Äh, Essbesteck?“, fragte ich vorsichtig. Eliphas seufzte wieder. „Nicolas, du hast mir ja gesagt, dass er strohdoof ist, aber dass er so auf der – wie heißt das noch – Leitung sitzt...?“ „Steht“, korrigierte ich lahm. Er räusperte sich ertappt, verzog kurz unkontrolliert das Gesicht, fand dann aber doch eine gute Entgegnung: „In deinem Fall eindeutig „sitzt“. Natürlich Essbesteck. Was hast du erwartet? Vayische Sensen, Mythoidenpigmente, ja womöglich Muligandolche? Weißt du wie empfindlich teure Waffen sind? Für einen Anfänger wie dich sind Steakmesser bei weitem ausbalanciert genug. Jetzt schnapp dir endlich ein paar von den Dingern, bevor dem armen Nicolas seine Latschen einschlafen und dann geh da rüber. Nick, du an die andere Wand.“ Wir taten wie geheißen, bezogen jeweils an den Kopfenden des Raumes Stellung, Nick mit seinem Apfel, ich mit den lächerlichen Messern. „Nick, gib mal den Apfel rüber. Wir sind hier schließlich nicht bei Wilhelm Tell und ich hab Hunger.“ „Ich aber auch“, beschwerte sich Nick, „Meine Pizza ist schließlich nichts geworden.“ „Interessiert mich nicht. Her mit dem Apfel. Zeig ein Bisschen Respekt vor dem Alter.“ „Nein!“, beharrte Nick. „Guuut“, maulte Eliphas, „Ich habe kein Problem damit, wenn dir dein lieber Freund da drüben gleich den Schädel durchbohrt. Dann eben ohne Vorübungen. Kori? Ihr habt euch doch so schön gestritten, als ich kam. Jetzt ist die Zeit gekommen, dies fortzusetzen. Tob dich aus, schmeiß ihm ein paar Messer an den Kopf. Und nur nicht zimperlich sein.“ Ich schaute zwischen den Messern und Nick hin und her. War das ein Test? Ich wusste doch genau, wie tollpatschig er war und die Beule an seinem Kopf bestätigte, dass es auch mit seinen Reflexen nicht weit her war. „Ich soll wirklich...?“, erkundigte ich mich unschlüssig. „Nun mach schon“, erwiderte Eliphas genervt, während Nick ein Gesicht machte, als vermute er hinter dessen Worten einen sehr schlechten Scherz. „Kann ich nicht doch lieber den Apfel...?“, bat er. „Kori! Jetzt WIRF endlich!“, fuhr der Alte ihm dazwischen. Wenn er denn unbedingt wollte... Ich machte eine müde Ausholbewegung und warf eines der Messer grob in Nicks Richtung. Der sprang erschrocken beiseite. „Ey, Kori, spinnst du?!“, erboste er sich. „Du kannst doch nicht ernsthaft...! Die sind scharf, Mensch!“ „Genau, spinnst du?!“, schloss sich Eli ihm an. „Du willst ihn doch verletzen und nicht mit ihm kuscheln! Das ist ja nicht zum Aushalten! SO macht man das!“ Er griff in den Beutel zu seinen Füßen, nahm drei der Messer heraus, schleuderte sie direkt nacheinander zielsicher auf die Stelle, wo Nick stand. Sie verfehlten ihn nur um Haaresbreite und auch das wäre nicht so gewesen, hätte der arme Tölpel nicht rechtzeitig einen Ausfallschritt zur Seite gemacht. „Jetzt du. Und ich weiß, dass du es besser kannst. Glaub nicht, ich wüsste nichts von deinen bizarren Talenten.“ Er meinte es wirklich ernst. Aber ich konnte doch Nick nicht einfach mit Messern bewerfen! „Natürlich kannst du“, schaltete sich Eliphas ein. Die Tatsache, dass er wusste, was ich dachte, hätte mich verblüfft, hätte Ronga das Kunststück des Gedankenlesens nicht auch schon an mir vollführt. Auch meine Erinnerungen schien er durchstöbert zu haben, den er fuhr fort: „Er hat dich immerhin heute morgen geweckt, als du deine Ruhe wolltest.“ Aber das war doch kein Grund, jemanden abzustechen. „Und er hat deine Post durchwühlt.“ Meine Hand zuckte kurz. Nick wich vorsichtshalber etwas zurück. „Sicher hat er das, aber ich krieg eh nie private Briefe. Halb so wild“, sagte ich ausweichend. „Und er hat perverse Fantasien, in denen Jazz die Hauptrolle spielt.“ Ich warf so viele Messer auf einmal, wie ich irgendwie in die Hand bekommen konnte. Die Klingen schossen auf Nick zu wie geölte Blitze, ließen ihn kreischend durch den Raum rennen und die waghalsigsten Sprünge vollführen. Leider traf ich nicht ein einziges Mal. „Koriii“, schrie er. „Bist du vollkommen irre?! Das ist doch gar nicht wahr! Ich würde Jazz niemals auch nur schief angucken!“ Er log. Wann würde er endlich begreifen, dass man ihm das sofort ansah? Der Beutel schlitterte über den Boden. Stoppte, begleitet von einem leisen Klirren, an meinem Schienbein. Ohne zu zögern langte ich hinein und warf die nächste Salve. Der sollte es noch mal wagen, meiner Exfreundin nachzuglotzen! Ein weiteres Messer sirrte durch den Raum, beschrieb einen leichten Bogen, während es sich unentwegt um sich selbst drehte. Ich wusste, es würde treffen und das wusste auch Nick. Doch seine Füße waren plötzlich wie mit dem Erdboden verschmolzen. Er kam nicht vor und nicht zurück. „Eli!“, schrie er und riss im selben Moment die Hände vor’s Gesicht. Nur noch wenige Umdrehungen trennten ihn und die Klinge voneinander. Seine Visage mochte er schützen können, doch darin würde das Messer nicht landen. Ich hatte wesentlich tiefer gezielt, aber offensichtlich hatte Nick nicht den leisesten Schimmer von Wurfparabeln. Geradewegs sauste das Besteck auf ihn zu. Mich interessierte es kaum. Aus irgendeinem Grund war ich rasend, völlig außer mir und zugleich völlig konzentriert auf das, was ich tat. Meine Hand griff noch im Abschwung der Wurfbewegung wieder in den Beutel, bereit, ein weiteres dieser Geschosse durch den Raum fliegen zu lassen. Als ich mich jedoch wieder aufrichtete, erstarrte ich mitten in der Bewegung. Ebenso wie das Messer es getan hatte, das jetzt unbewegt vor Nicks Körpermitte in der Luft hing. Dieser schaute an sich herunter, ein böses Lächeln auf den Lippen. Langsam, sehr langsam, krempelte er die Ärmel seines Schlabberpullovers nach oben, die ihm kurz darauf wieder über seine dürren Ärmchen rutschten. „Das wolltest du nicht wirklich...“, unterstellte er mir drohend, trat allerdings sicherheitshalber doch einen Schritt zur Seite, falls es sich das Steakmesser doch noch mal anders überlegte und seiner Männlichkeit ernsthaften Schaden zufügte. Seine Füße hatte Eliphas wohl wieder freigegeben. Am Rande nahm ich wahr, wie der alte Mann genüsslich paffte und die Beine übereinander legte. „Na also“, grinste er auf seinem Korbstuhl, „Verfeuer noch schnell den Rest und dann sind wir auch schon fertig.“ „Kann... nicht...“, knirschte ich mühsam, verzweifelt bemüht, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Ich war nicht fähig, auch nur den Arm zu heben. Selbst das Sprechen war mit einem Mal zu einer echten Herausforderung geworden. Unser Lehrer lachte, was in einem bellenden Raucherhusten endete. „Nick“, scherzte er mit kratziger Stimme. „Du solltest eigentlich nur die Messer erstarren lassen und nicht ihn.“ Kapitel 7: In die Enge getrieben -------------------------------- {Kommentar} Ich bin mit diesem Kapitel zu maximal 60% zufrieden *grmbl*. Die Dialoge haben sich schon wieder selbstständig gemacht, sodass die Handlung weiter hinkt. Im nächsten Kapitel wird das besser. Wenn das nicht schon geschrieben und von mir liebgewonnen wäre, würd ich dieses hier einfach einstampfen. Na ja, in Kap. 8 ist endlich wieder mehr los. Habt ein bisschen Geduld. Auch dieses Mal wieder ein Titel mit lahmer Doppeldeutigkeit. Ich bin für jeden anderen Titelvorschlag mehr als dankbar T___T. Oh, und auch Namensvorschläge für unsere netten drei Blutsauger dürfen gern abgegeben werden... Solang ihr mir jetzt nicht mit Tick, Trick und Track kommt. Das gibt womöglich Ärger mit den Urheberrechten ; ) {/Kommentar} „Genug“, entschied Eliphas. Wieder einmal durchsuchten die Raucherhände sein Sakko, in der Hoffnung, doch noch eine Zigarette zu finden. „Wir schaffen es wohl heut nicht mehr“, befand er enttäuscht. Scheppernd fielen die Messer zu Boden, die mich bis eben noch umzingelt hatten, doch die Anspannung, die meinen ganzen Körper beherrschte, löste sich kein Bisschen. Mit dem Misstrauen eines gehetzten Tieres betrachtete ich Nick, der seinerseits Mühe hatte, den Kampf hinter sich zu lassen und sich wieder zu beruhigen. Schnell hatte sich das Blatt gegen mich gewendet. Zwar war es Nick nicht gelungen, mich erneut erstarren zu lassen, doch dafür hatte er weitaus weniger kraftraubende Methode gefunden, meine immer präziser ausgeführten Angriffe abzuwehren: Statt die Messer aufzuhalten, hatte er sie einfach auf halbem Wege verschwinden und sie dann direkt vor mir wieder auftauchen lassen. Plötzlich war ich derjenige gewesen, der durch den Raum gesprungen war, immer auf der Suche nach nicht vorhandener Deckung und einem Weg, meine Wurfgeschosse wieder bis ganz an ihn heran zu schleudern. Ein einziges, verheerendes Mal hatte ich es auch mit einem Feuerball versucht, mit dem Ergebnis, dass auch dieser zurückgekommen war und mir die Schulter angesengt hatte. Nun stand ich in einer Ecke, den Blick starr auf die Messer zu meinen Füßen gerichtet. Glücklicherweise zielte Nick wesentlich schlechter als ich. Auch meine Reflexe waren besser als seine, sodass ich nur einige Kratzer davongetragen hatte. Doch die Niederlage würde ich ebenso tragen müssen wie die kleinen Schnitte. Ausgerechnet gegen Nick. Was für eine Schmach. Ich ärgerte mich maßlos über mich selbst und meine unzureichenden Fähigkeiten. Doch wie hätte ich den Spieß umdrehen sollen? Wie? Nur langsam beruhigte ich mich wieder, richtete mich aus der halben Hocke auf, in der ich der kommenden Messer geharrt hatte und starrte die anderen beiden an. Nick war, wie ich, ein Bild der Erschöpfung, Eliphas hing da wie ein nasser Sack. Irgendetwas schien absolut nicht so abgelaufen zu sein, wie er es sich erhofft hatte. Ich hätte ihn gefragt, hätte sein Blick mir nicht eindeutig zu verstehen gegeben, dass dieser Missstand mit mir zusammenhing. „Ich fange mit dir an, Nick“, begann er trocken sein Resümee, „Nicht schlecht, das mit dem Beamen der Messer, aber du hättest dennoch besser sein können. Wir üben diese Tricks nicht erst seit heute und es hat nicht lange gedauert, bis Kori an deinen Blicken gesehen hat, wohin du gezielt hast. Im Gegensatz dazu hast du keine seiner Bewegungen vorausgeahnt. Du hast allein durch die Masse der Messer gewonnen. Hättest du nur eines gehabt, hätten deine Chancen schlecht gestanden. Trotzdem, alles andere als schlecht. Du kannst dir selbst auf die Schulter klopfen.“ Unentwegt wühlten die Hände in den Sakkotaschen und straften den gelassenen Tonfall des alten Mannes Lügen. „Was dich angeht“, fasste er weiter zusammen und sah mich durchdringend an, „Du hast ein gutes Auge und einen noch besseren Wurfarm, aber offenbar eine Heidenangst vor deinen eigenen Kräften. Du warst stocksauer und noch dazu in einer bedrohlichen Lage... Du hättest schlichtweg in Flammen aufgehen müssen.“ Nick und ich schauten ihn verständnislos an. „Ronga sagte, du seiest von einem Dach gefallen und daraufhin seien deine Flügel erschienen. Deine Reflexe funktionieren also. Eigentlich sollte dein eigenes Feuer dich schützen, ohne dass du darüber nachdenkst. Die Messer hätten schmelzen müssen. Deswegen hab ich sie im Sonderangebot gekauft. Stattdessen stehst du da wie ein Reh vor der Flinte.“ „Hat Ronga dir vielleicht auch gesagt, dass er meine Kräfte versiegelt hat?“, zischte ich. Eliphas legte mir besänftigend die Hand auf die Schulter, womit er erreichte, dass ich noch wütender wurde, als ich ohnehin schon war. „Es schiebt deinen Wutanfällen einen Riegel vor, aber doch nicht lebenswichtigen Reflexen.“ War hier irgendwo ein Loch im Boden? Ich wäre jederzeit bereit gewesen, mir eigenhändig eines zu graben, hätte ich nur eine Schaufel gehabt. Einzig und allein mein vielverwendetes Pokerface bewahrte mich davor, wie der Verlierer vor den Beiden zu stehen, für den ich mich in diesem Moment hielt. Angst vor den eigenen Kräften? Was sollte denn der Blödsinn? Hatte ein Fisch vielleicht Angst vor dem Wasser? Warum sollte ich mich als Drache vor meinem eigenen Feuer fürchten? Mein Gedächtnis beantwortete mir die Frage. Rick wäre um ein Haar von mir getötet worden, Lavande hatte meine Kräfte nutzen wollen, um den Planeten zu spalten und Ronga drückte mir ein Siegel auf. Ja, womöglich befremdeten mich meine Fähigkeiten tatsächlich ein wenig. Aber ich konnte Feuerspeien, oder nicht? Und geflogen war ich auch schon. Warum funktionierte es dennoch nicht? Schweigend schaute ich Eliphas in sein faltiges Gesicht. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Sogar mein sonst so zuverlässiger Sarkasmus hatte sich spontan freigenommen. „Gehen wir rüber. Vielleicht findet sich noch ne Zigarette in deiner Küche“, schlug Eliphas vor. „Warum sollte ich Zigaretten in meiner Küche haben?“, wunderte sich Nick. „Weil er sie da wahrscheinlich versteckt hat“, brummte ich zerknirscht. „Was?!“, entrüstete sich Nick. „Hey, Eli, stimmt das?“ „Vielleicht hab ich das, ja“, gab der Alte zu, „Ich schlage vor, Kori, du fängst mit dem Rauchen an. Es ist hilfreich, wenn du Rauchringe machen kannst.“ „Kann ich, also besorgst du dir besser ne Packung Nikotinpflaster“, blaffte ich und damit war das Gespräch beendet, bis wir die Küche betraten. „Was ist eigentlich aus deiner Hausaufgabe geworden, Nicolas?“, schlug Eliphas ein unverfänglicheres Thema an, während er aus einem der Hängeschränke tatsächlich eine Packung Zigaretten fischte. Zur Antwort legte Nick zwei fast gleichgroße Hälften des Auge des Orion auf den Küchentisch. „Erledigt“, verkündete er. Kritisch beäugte Eliphas Nicks Mühen, neigte den Kopf und zündete sich mit einem Feuerzeug, das dem kitschigen Aufdruck nach eindeutig Nick gehörte, seine Zigarette an. „Fein, fein“, nuschelte er schließlich. Wieder verschwand seine Hand im Sakko, wenngleich wesentlich langsamer als zuvor. Zu den beiden Steinen auf dem Tisch gesellten sich ein in mattsilberner Dolch und ein Schlüsselbund. Beides schob er zusammen mit einem der Steine in meine Richtung. „Das ist der Schlüssel zu Rongas Haus. Deine Bücher liegen auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Nimm sie nicht mit nach Hause. Wenn du sie auch nur zur Tür hinausträgst, zerfallen sie zu Staub. Den Dolch und den Stein bringst du deinem Zentauren. Der wird damit schon was anzufangen wissen. Bis das geschehen ist, halte den Stein nicht zu lang in der Hand. Die zweite Hälfte bekommst du, Nick.“ Die Zigarette schien ihre Wirkung zu tun, denn der zuvor tadelnde Ton hatte einer freundlicheren Stimmlage platzgemacht. „Alles soweit verstanden?“, erkundigte Eliphas sich fast aufmunternd, wartete allerdings gar nicht erst auf eine Antwort. „Dann nächste Woche wieder um diese Zeit, oder vorher, wenn ich euch rufe. Gute Nacht!“ – sprach’s und schwebte fast aus dem Raum vor guter Laune. „Gespaltene Persönlichkeit“, diagnostizierte ich nüchtern, kaum dass wir die Haustür ins Schloss fallen hörten. Nick schmunzelte. „Wenigstens deinen Humor hast du wieder. Das trifft sich gut.“ „Warum?“, fragte ich alarmiert. „Heute ist Freitag!“, rief er auch schon aus. „Hast du vergessen, was wir Freitags machen?“ „Wir lösen meine Schulden bei dir ein, weil die mir das Auge des Orion repariert hast, was bedeutet, dass ich dir eine Frau aufreiße, die dich fluchtartig verlassen wird, sobald ich weg bin“, erwiderte ich. „Genau!“, jubelte Nick, „Wohin gehen wir dieses Mal?“ Ein honigsüßes Lächeln zauberte sich wie von selbst auf meine Lippen. „Ich gehe jetzt zu Jazz und sehe nach, ob sie noch wach ist. Und dann geh ich nach Hause... Vielleicht.“ In aller Seelenruhe schlenderte ich zur Garderobe, wo ich mir Jacke, Motorradhelm und den mitgebrachten Rucksack vom Haken nahm. Ab heute war ich ein freier Mann. Und dass Nick davon nichts ahnte, machte den Genuss ungleich größer. „Hey, Moment mal! Das geht so nicht! Was ist mit unserer Abmachung? Du bist erst erlöst, wenn du ne Frau für mich gefunden hast! Wozu hab ich dir denn sonst das Leben gerettet?“ „Die Abmachung ist hinfällig, Garylein“, flötete ich, während ich durch den Vorgarten zu meinem Motorrad schlenderte. Nick stolperte mir hinterher. „Was? Wieso?“, wollte er wissen. Ich machte eine künstlerische Pause, die ich damit füllte, dass ich mir den Helm aufsetzte, aufstieg und den Motor anwarf. „Was hast du da in der Hand, Nick?“, fragte ich dann. Er schaute hinunter zu seiner Rechten, in der den grünen Stein hielt. „Das Auge des Orion“, erwiderte er verdutzt. „Fast richtig“, schulmeisterte ich, „Das da ist das HALBE Auge des Orion. Im Klartext bedeutet das, der Stein ist kaputt und ich schulde dir nichts mehr.“ „Hey, das ist nicht fair!“, insistierte Nick. „Das ist mir egal. Schlaf gut“, trällerte ich und gab Gas, bevor er auf die Idee kam, mir vor’s Motorrad zu springen. So schnell ich konnte ließ ich das Villenviertel hinter mir und sauste zurück in die normale Welt. Ganz gleich, ob Jazz überhaupt zu Hause war, sie war ein normaler Mensch. Mit einem Haufen Ecken und Kanten zugegeben, aber magische Kräfte hatte sie nicht. Ein Gedanke, der schon allein die Fahrt zu ihr zu einer Wohltat machte. Unter Missachtung sämtlicher mir bekannten Verkehrsregeln erreichte ich ihre Wohnung in weniger als einer viertel Stunde. Meine Laune hob sich schlagartig, als ich sah, dass sogar noch Licht bei ihr im zweiten Stock brannte. Wie im Fluge brachte ich die Treppen hinter mich, zückte noch im Laufen mein Handy und wählte ihre Nummer. Um diese Zeit zu klingeln wäre glatter Selbstmord gewesen. Immerhin wohnte sie noch bei den Eltern. Da wusste man die Erfindung des Vibrationsalarms erst richtig zu schätzen. Ein paar kurze Phrasen später ging auch schon die Tür auf. Yasemin hatte eindeutig nicht mehr mit Besuch gerechnet. Sie trug bereits eines der überdimensionierten T-Shirts, in denen sie immer schlief. Die langen Haare, sonst hoch am Kopf zu einem Pferdeschwanz gebunden, standen ihr offen vom Kopf und verknoteten sich auf halber Länge. „Komm rein“, flüsterte sie schon ziemlich müde und hauchte mir eine Mischung aus Zahnpasta- und Abendessensgeruch entgegen. „Ich hab noch ferngesehen.“ Auf Zehenspitzen schlichen wir in ihr Zimmer, wo wir uns auf dem Bett einnisteten und gemeinschaftlich den Fernseher anstarrten. Den Film kannte ich nicht und die Hochzeitsgesellschaft, die gerade über den Bildschirm flimmerte, erklärte auch warum. „Ne Klassenkameradin meinte, vielleicht hilft mir das, mich weiblicher zu benehmen“, sagte Jazz entschuldigend, bevor ich mich über das für sie untypische Programm wundern konnte, „Echt öde, das Zeug. Ich kann mit Liebesfilmen einfach nichts anfangen.“ „Bist du deshalb so müde?“, lachte ich. „Yaaah“, gähnte sie. „Erinner mich dran, dass ich niemals heirate. Gott, ist das langweilig. Das Problem ist, ich hab versprochen, den doofen Film bis zum Ende zu gucken.“ Wir verdrehten gleichzeitig die Augen. „Okay, bringen wir’s hinter uns“, seufzte ich theatralisch. „Wer als Erster einschläft, zahlt den Alk für’s nächste Besäufnis.“ Das konnte teuer werden, so müde wie ich war. Schließlich waren wir beide mehr als trinkfest. „Wie steht’s mit Doping?“, fragte ich hoffnungsvoll. „Ist noch Kaffee in der Küche. Ich hab zwei Tassen Vorsprung.“ Erneut durchquerte ich die kleine Wohnung auf Zehenspitzen, schloss lautlos die Küchentür hinter mir und machte Licht. Tasse und Kaffeekanne waren schnell gefunden. Doch dazu, mir etwas von der braunen Brühe einzuschenken, kam ich nicht. Zwei aschfahle Gesichter, drückten sich von draußen gegen die Fensterscheibe und schauten zu mir hinein. Dunkle, fledermausartige Flügel machten es den dazugehörigen Körpern möglich, sich auf dieser Höhe zu halten. Der Kaffee lief an der Tasse vorbei, ohne dass ich auch nur ansatzweise davon Notiz nahm. Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder. Keine Ermüdungserscheinungen. Die Drei aus dem Aufzug waren immer noch da. Nun, zumindest zwei von ihnen. Das Muskelpaket fehlte. Hämisch lächelten die beiden Verbliebenen zu mir hinein. Ich ließ die Tasse fallen. Das Klirren, das sie verursachte, als sie auf dem Boden aufschlug, fiel mit dem der zerberstenden Fensterscheibe zusammen. Kapitel 8: Am Boden ------------------- Blitzschnell griffen zwei Hände durch den Scherbenregen aus brechendem Fensterglas, zerrten mich bis zum Bauchnabel zwischen den gezackten Rändern der zerbrochenen Scheibe hinaus, dass ich mir Arme und Bauch aufriss. Indes wurde der Flur hinter mir von fragenden Stimmen und dem Klicken von Türen belebt. „Jazz, bleib draußen!“, brüllte ich. Der vorwitzige Riese, der mich am Kragen hielt, lachte höhnisch. „Wie heldenhaft.“ Mit einem Ruck legte auch der Rest von mir den Weg nach draußen zurück. Der Riese ließ sich im Sturzflug zu Boden fallen, um mich dort festzunageln. Die Wucht des Aufpralls trieb mir Tränen in die Augen und die Luft aus den Lungen, zusammen mit einer grellen Flamme, deren Entstehung ich nicht einmal bemerkt hatte. Zwei schnelle Handgriffe und ich hatte meinen Maulkorb wieder. Über mir tauchte die ausdruckslose Miene des zweiten auf. Der Junge mit der Eismagie lächelte nichtssagend höflich, so unnahbar, als käme er aus einem anderen Universum. Seine Wange wurde von einer langen Schnittwunde verunstaltet, die dort vor einigen Stunden noch nicht gewesen war, sein Blick war so stechend, dass ich es für klüger hielt, ihn nicht direkt anzusehen. Ich richtete mein Augenmerk auf das Küchenfenster weit oben, aus dem zwei Köpfe lugten. Jene von Yasemins Eltern. Doch wo war Jazz? „Ich mag keine Zuschauer“, erklärte der junge Anführer. Ein eisiger Windstoß fegte zu den Beiden hinauf. Ich hörte sie aufschreien, sah, wie sie nach hinten fielen, glaubte sogar, das Knirschen der Scherben dort oben zu vernehmen. Wo war Yasemin? Ich hoffte inständig, sie hatte sich in Sicherheit gebracht. Der Eismagier hockte sich neben den Riesen, dessen Knie und Hände mich am Boden hielten. Was hätte ich jetzt für den von Eliphas erwähnten Schutzwall gegeben! Doch nein, ich lag hier, hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken. „Es war nicht besonders nett von dir, uns geradewegs in eine Falle laufen zu lassen“, sagte die freundliche Stimme, die mich schon am Mittag so beunruhigt hatte. Ich stutzte. Falle? Ich wollte diese Asche doch genauso dringend loswerden, wie sie sie haben wollten. Was für eine Falle sollte ich ihnen gestellt haben? Anscheinend stand mir die Frage ins Gesicht geschrieben. „Du hättest uns sagen können, dass du einen Zentauren zu Hause hast. Dann wären wir jetzt noch zu dritt“, sagte der Junge mit der Nettigkeit eines umsichtigen Gastgebers. Von Mitgefühl für seinen Kameraden keine Spur. Ich riss die Augen auf. Rick hatte das Muskelpaket erledigt? Aber warum? Was hatte ihn dazu bewogen, die Asche nicht herzugeben, ja sogar dafür zu kämpfen? Und wie war der Kampf ausgegangen? Ging es ihm gut? War er verletzt? War er noch am Leben? Meine Gedanken rasten plötzlich. Vor meinem inneren Auge spielten sich duzende verschiedener Kampfszenen ab, von denen mir nicht eine gefiel.. „Du wirkst überrascht“, bemerkte mein Gesprächspartner richtig, „Spielst du einfach gut, oder hast du wirklich nicht an ihn gedacht?“ Sag mir, ob er noch lebt, dachte ich panisch. Doch meine zusammengehaltenen Kiefer machten es mir unmöglich, die Frage zu stellen. Das einzige, was ich zur Antwort bekam, war dieses grässliche, dünne Lächeln. „Nun, wir haben nicht viel Zeit, wenn wir nicht von noch mehr Menschen gesehen werden wollen. Hör also gut zu, ich werde mich nicht wiederholen.“ Mir blieb kaum etwas anderes übrig. Er ließ einen Zettel in der Brusttasche meines Hemdes verschwinden. „In der kommenden Nacht ist die Asche an dieser Adresse. Dämmert es und sie ist nicht dort, verlieren wir alles. Und diesen Verlust werden wir ohne Abzüge an dich weitergeben. Ich denke, du weißt, was ich dir damit sagen will.“ Mein Kopf ruckte auf und nieder. Lavande hatte mir beigebracht, was das bedeutete. Mit viel Liebe zum Detail. Der Riese, der mich festhielt, beugte sich zu mir hinunter. Sein Atem streifte meinen Hals und einen Moment lang dachte ich, er würde mich erneut beißen. Stattdessen brachte er seine Lippen so nah an mein Ohr, dass es unangenehm kitzelte. „Wir fangen mit dem Mäd - “ Ich meinte, mein Trommelfell würde jeden Moment reißen, als er plötzlich wie ein Besessener in mein Ohr schrie. Ohne darauf zu achten, dass er mich damit freigab, warf er sich zur Seite, presste die Hände auf seine eigenen Ohrmuscheln, so fest, als wollte er seinen Kopf zerdrücken, und kreischte wie von Sinnen. Seinen Mitstreiter traf es noch schlimmer. Aus dem entspannten Lächeln war eine schmerzverzerrte Grimmasse geworden. Tränen rannen ihm die Wangen hinunter, während auch er versuchte, sämtliche Geräusche aus seinem Gehörgang zu verbannen. Ich vernahm nicht einen Laut, der dafür verantwortlich sein konnte. Jedoch erkannte ich sehr wohl, was die Quelle des Übels war, als ich mich aufrichtete. Der Schlüssel klemmt noch etwas, denn das Schloss ist neu, doch nachdem ich ein wenig daran gerüttelt habe, öffnet sich die Tür. Wir betreten das kahle Wohnzimmer. Selbst die Stereoanlage, der einzige Hinweis darauf, dass hier jemand wohnt, steht erst seit einigen Stunden darin. Ein Ellenbogen wird mir unsanft in die Seite gestoßen. Der Zettel folgt der Geste auf den Fuß. „Findest du das witzig? Ich kann nicht hören, falls du das vergessen hast!“ Er hat wirklich keine Ahnung, was ich vorhabe. Umso besser. „Das werden wir sehen“, antworte ich knapp und hole die Ohrenstöpsel aus der Tasche. Es reicht ja, wenn einer von uns taub ist. Eine Stelle des nagelneuen Laminatbodens der Wohnung, in die einige Monate später Rick einziehen wird, ist mit farbigem Klebeband markiert. Hier funktioniert es am besten. Mein Begleiter will schon wieder eine verärgerte Nachricht auf den Zettel schreiben, doch ich nehme ihm den Stift weg. „Hinlegen. Am besten auf den Bauch“, verlange ich und deute auf das Klebeband, „Beschweren kannst du dich hinterher.“ Er zögert, zieht die Stirn in Falten, zuckt mit den Achseln und tut schließlich wie geheißen, mit einem Blick der in etwa sagt: „Lasse ich dem armen Irren eben seinen Spaß.“ Ich nehme die CD aus der Jackentasche. Beethoven. Was besseres ist mir nicht eingefallen. Immerhin ist die fünfte Symphonie schön laut. Ich bin auf dem Gebiet nicht gebildet genug, um zu sagen, ob es gute Musik ist, geschweige denn eine gute Aufnahme des Stücks, doch das ist wohl auch nicht so wichtig. „In Ordnung?“, frage ich, als ich mich hinhocke und ihm das Cover vor die Nase halte. Er zeigt mir einen Vogel, kann sein Interesse aber nicht ganz verbergen, als ich die Anlage bestücke, mir mit viel Sorgfalt die Ohren zustöpsle und den Lautstärkeregler bis zum Anschlag aufdrehe. Es war nicht leicht, den Nachbarn zu erklären, dass es in diesem Zeitraum – zum zweiten Mal, denn ich musste es ja vorher ausprobieren - sehr, sehr laut werden würde, aber sie haben sich überreden lassen. Also drücke ich feierlich die Play-Taste. Kurze Stille, während die CD gelesen wird. Dann kracht das erste Motiv aus den Lautsprechern. RababaBAM, RababaBAM. Der Boden bebt unter den Paukenschlägen, jeder Ton geht direkt ins Zwerchfell. Ich weiß, dass auch die späteren leisen Töne noch als leichte Vibrationen zu spüren sein werden. Für ihn mit seinem feinen Tastsinn wahrscheinlich noch mehr als für mich, der ich es nur halbherzig getestet habe. Die Wirkung des Lärms zeigt sich sofort. So platt wie nur irgend möglich liegt er auf dem Boden, hat sogar ein Ohr daran gedrückt, als lausche er auf die Geräusche unter der Erde. Nur die Hände sind nicht flach. Jede der Fingerspitzen berührt einzeln den Grund, nimmt jede noch so kleine Nuance in sich auf, die sich dort ertasten lässt. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist völlig entrückt. Man müsste schon die Musik wieder ausmachen, damit er sich daran erinnert, wo er ist. Ich werde der Letzte sein, der ihm das antut. Beantwortet das deine Frage?, denke ich zufrieden, Kannst du’s jetzt nachempfinden? Es war verwirrend, diese konzentrierte, doch irgendwie ferne Miene jetzt ausgerechnet bei dem Rotschopf wiederzuentdecken, der mich in Tanakas Büro geohrfeigt hatte. Die Augen halb geschlossen stand er da, vielleicht zwei Meter von mir entfernt, entspannt aber aufrecht, auf der linken Schulter die Geige, in der rechten Hand den Bogen. Die Finger der Linken, auf denen er am Mittag noch herumgekaut hatte, ruhten auf den zwei dünneren, hohen Saiten, über die der Bogen beständig strich. Während ich nichts von dem Akkord hörte, musste das, was er dort spielte für meine beiden Angreifer schrecklicher sein als ein rückwärts gespielter Trauermarsch, ja vielleicht sogar noch haarsträubender als Nicks Karaokeversion von Unbreak my Heart es für Yasemin und mich gewesen war, als wir ihn einmal zum Singen überredet hatten. Auf mich hatten sie jedenfalls keinen Einfluss. Vielleicht lagen sie außerhalb meines Frequenzbereichs, waren zu hoch für mich, etwa wie der Ton einer Hundepfeife, den man ja als Mensch auch nicht hörte. Die Misstöne zwangen die beiden Stück für Stück in die Knie, bis sie nur noch als zwei winselnde, um Gnade flehende Gestalten auf dem Boden kauerten. Inzwischen weinten sie beide, doch den Rothaarigen schien dies nicht zu berühren. Erst als zwischen den auf die Ohren gedrückten Händen Blut hindurchsickerte, setzte er endlich den Bogen ab. Neben ihm tauchte Jazz auf, die verwirrt zwischen uns hin und her schaute. Ohne eine Erklärung klappte er den zu seinen Füßen liegenden Geigenkasten auf und legte behutsam das Instrument wieder hinein, wobei er Yasemin gänzlich ignorierte, obwohl sie direkt neben ihm stand. Vielmehr richtete er seine Aufmerksamkeit auf die zitternden Wesen am Boden, neben jene er trat. Mit der Anmut eines in Zeitlupe tanzenden Balletttänzers hob er das Kinn des Eismagiers. „Willst du... uns umbringen?“, röchelte dieser. Ein feines, rotes Rinnsal sickerte aus seinem Mundwinkel, lief ihm über das Kinn, hielt sich kurz als Tropfen an dessen Rand und perlte ab. Kleine, rote Flecken bildeten sich auf seinem Sweatshirt, als sich das Schauspiel weitere Male wiederholte. Auch die Schnittwunde auf seiner Wange war von den verkrampften Fratzen, die er geschnitten hatte, wieder aufgebrochen. Plötzlich tat mir der Kerl leid. Die geflüsterte Antwort, die der verrückte Musiker ihm gab, konnte ich nicht verstehen, denn im gleichen Moment sprach mich Jazz von der Seite an: „Was wollen die?“ Furcht ließ ihre Stimme beben, dennoch fand ich, sie beherrschte sich bewundernswert gut. Ich wollte etwas erwidern, ihr sagen, dass ich es auch nicht so genau wusste, doch die Schnalle hinderte mich daran. Wütend öffnete ich den Verschluss und zerrte mir das Ding aus dem Gesicht. Mein Mitleid war auf der Stelle vergessen. „Keine Ahnung, was er will, aber die beiden wollen nur einen Haufen Asche, den ich sowieso nicht behalten will“, erklärte ich leise, woraufhin sie den Kopf hängen ließ. Kurz harrte sie aus, dann zog sie ihre Mundwinkel angestrengt nach oben. „Na Hauptsache, du bist okay. Alles noch dran?“ Was war nur los mit ihr? Diese aufgesetzte Fröhlichkeit kannte ich von ihr gar nicht. „Ich äh... bin soweit heil, denk ich“, bestätigte ich unsicher. Sie legte den Arm um meine Schulter und stützte sich ab, sodass wir wieder wie das komisch anmutende Pärchen aussahen, das wir einmal gewesen waren. Eine riesige Japanerin mit grünen Haaren und ein zu klein geratene Ausländer, der trotzdem den Macho herauskehrte. Unterdessen hatten der Rotschopf und der Vampir, oder was immer er war, ihre Unterhaltung beendet. Den Geigenkasten unterm Arm wandte er sich zum Gehen, während die Kreideweißen sich mühsam aufrappelten, ihre Schwingen verschwinden ließen und sich geknickt von dannen. Flügel... Ein Stich ging durch meine Brust, nun da sie mir auffielen. Nur zweimal in meinem Leben war ich bisher richtig geflogen. Nun war es damit vorbei. Meine Flügel hatte ich nicht mehr. Sie fehlten mir, wie ich verbittert feststellten musste. Einen Augenblick lang sahen wir ihnen alle drei nach. Jazz fröstelte in dem T-Shirt und schmiegte sich enger an mich. „Jemand wird das meinen Eltern erklären müssen“, flüsterte sie nach einer Weile abwesend. „Ich kümmere mich morgen darum. Halt sie hin, okay?“, bat ich sanft, „Du weißt doch, wenn ich etwas kann, dann lügen.“ „Warum morgen? Wo willst du hin?“ Ihr Tonfall hatte etwas Bittendes. Sie wollte nach diesem Schrecken nicht allein sein, was ich nur allzu gut verstehen konnte. Mir stand selbst der Sinn nach etwas Ruhe, um das alles zu verarbeiten. Doch bevor ich nicht Gewissheit darüber hatte, dass es Rick gut ging, war dafür keine Zeit. „Ich muss nach Rick sehen, jetzt gleich“, entschied ich, „Tut mir leid, das kann nicht warten.“ Sie nickte, wie immer verständnisvoll. „Schon gut. Ich hol deine Sachen.“ Der Rotschopf, der die ganze Zeit einfach dagestanden und zugehört hatte, kam nun zu uns herüber, suchte meinen Blick und setzte ihm ein selbstgefälliges Grinsen entgegen, das in mir den Wunsch aufkommen ließ, ihn nach Kräften zu vermöbeln. „Dann muss die Erklärung, die ich dir schulde wohl hinten anstehen.“ Der überlegene Gesichtsausdruck sagte mir deutlich, dass er darüber nicht im geringsten böse war. Doch er hatte die Rechnung ohne meine Exfreundin gemacht. „Ach, du willst was erklären?“, platzte sie heraus, „Na dann erklär’s meinen Alten.“ Schon sah der arme Kerl sich am Arm gepackt und davongeschleift. Ich folgte ihnen schadenfroh, nahm meine Sachen in Empfang und überließ den Fiedler seinem Schicksal. Dass ein wildfremder, leider verflucht gutaussehender, Kerl sich nun mit einer leicht bekleideten Jazz in der Wohnung aufhalten würde, störte mich herzlich wenig, denn er würde es sich gleich mächtig mit ihren Eltern verscherzen. Vielmehr galt meine Sorge Rick, dessen Zustand weiß Gott nicht der beste sein konnte. Auf kürzestem Wege fuhr ich nach Hause. Kapitel 9: Tränen gesucht und gefunden -------------------------------------- {Kommentar} Also schnell vorweg, bevor mir Fukuyama durchdreht: Rick und Kori haben eine Weile bei Nick gewohnt, sind aber nun wieder bei Kori zuhause, nachdem dessen Wohnung wiederhergestellt ist. (Siehe erstes Kapitel dieser FF... Ich glaube, im dritten ist auch nochmal ein Hinweis.) Alles weitere am Ende des Kapitels, damit ich nicht Gefahr laufe zu spoilern... {/Kommentar} Auf den ersten Blick war das, was ich in meiner Wohnung vorfand so harmonisch, dass es in jeden Hausfrauenwerbespot gepasst hätte. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, empfingen mich der Duft von köstlichem gebratenen Fisch in irgendeiner exotischen Soße, sowie das Aroma von frisch gekochtem Reis, der in diesem Land tatsächlich nach etwas schmeckte. Sämtliche Flächen in Wohnzimmer und Küche waren so sauber, dass man davon hätte essen können. Unnötig zu erwähnen, dass alles tadellos aufgeräumt war. Die Ordnung war so perfekt, dass es mir geradezu ein inneres Bedürfnis war, etwas dagegen zu unternehmen. Schnurstracks ging ich in die Küche, um irgendwas zu verrücken, ein paar Flecken beim Auftun des Essens zu machen und mein Geschirr nicht wegzustellen, was mich mit solch destruktiver Vorfreude erfüllte, dass ich meine Sorge um Rick kurzzeitig vergaß. Ich hob ein paar Deckel und probierte mit dem Finger von der Soße. Erst als ich, den Finger noch im Mund ins Wohnzimmer marschierte, entdeckte ich das zitternde Häufchen Elend, das auf Ricks Bett hockte und leeren Blickes den toten Körper zu seinen Füßen anstarrte. Auch sein Zimmer war der Traum einer jeden ordnungsliebenden Hausfrau, was die riesige Blutlache unter dem muskelbepackten Körper jedoch nur umso deutlicher hervorhob. Nun, die gute Nachricht war: Rick hatte den Kampf ganz offensichtlich überlebt und praktischerweise hinterher einen Putzanfall sondergleichen bekommen. Die schlechte Nachricht allerdings war, dass er unter Schock stand. Der Anblick des zusammengesunkenen Jungen, der reglos wie ein Toter dasaß und stumme Tränen weinte, ließ mich frösteln. Einen kurzen Augenblick lang glaubte ich, man hätte mir einen Spiegel vor die Nase gehalten. Irgendwo in meinem Hinterkopf blitzte Lavandes genussvolles, eisdurchdrungenes Lächeln auf. „Rick...“, versuchte ich ihn anzusprechen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Für logische Dinge mochte ich eine gewisse Begabung besitzen, höhere Mathematik etwa, oder alles, was mit Computern zusammenhing, doch in Situationen, die emotionales Feingefühl und die richtigen tröstenden Worte brauchten, war ich vollkommen überfordert. So stand ich nun hier, ohne den leisesten Schimmer, wie ich meinem Mitbewohner helfen konnte. Auf meine Worte reagierte er nicht, auch nicht nach weiteren Anläufen. Er hockte einfach da und weinte vor sich hin, ohne dabei auch nur zu schniefen. Wo immer diese leeren Augen sich hingeflüchtet hatten, ich würde auf verbaler Ebene keinen Zugang zu diesem Ort finden. Ratlos ließ ich den Blick schweifen, begutachtete die auf dem Rücken liegende Leiche, die aus weit aufgerissenen Augen zu mir hinaufglotzte. Ich schloss sie, weil ich mich daran erinnerte, dass Rick dies am Morgen mit dem Mädchen getan hatte. Die Augenlider waren wächsern und gaben nach, sodass ich Mühe hatte, mich nicht vor Ekel zu schütteln. Doch das langsam vom Weißen ins Bläuliche übergehende Gesicht war nicht das Unheimlichste an dem Ermordeten. Vielmehr war es das Messer in seiner Brust, das ihn, präzise seitlich durch die Rippen gestoßen, dahingestreckt hatte. Plötzlich wurde ich unruhig, begann mich misstrauisch zu fragen, ob Rick vielleicht doch nicht ganz so unschuldig und herzensgut war, wie er sich gab. Die Frage erübrigte sich, als ich wieder zu ihm hinaufschaute. Nein, so sah niemand aus, der freiwillig getötet hatte. Ich sank neben ihm auf’s Bett und seufzte. „Also gut“, raffte ich mich auf, mehr um mir selbst Mut zuzusprechen, als um wirklich mit ihm zu kommunizieren, „Dann geht es wohl nicht anders. - Aber lass dir gesagt sein, dass ich diesen Weiberkram hasse und dich vierteile, wenn ich herauskriege, dass du irgendwem davon erzählt hast.“ Er schreckte kurz auf. „Vierteilen“ war vielleicht kein so gutgewählter Terminus im Gespräch mit jemandem, der gerade ein menschenähnliches Wesen erstochen hatte. „Ach scheiß drauf“, brummte ich kurzentschlossen, legte widerwillig den Arm um seinen Oberkörper und zog. Ich hatte angenommen, er würde sich sowieso nicht bewegen lassen, angesichts seiner starren Haltung, doch das war ein Trugschluss gewesen. Ganz im Gegenteil, er fiel mir regelrecht entgegen, vergrub den Kopf an meiner Schulter, sich mit den Händen in mein eh schon mitgenommenes Hemd verkrallend. „Auch das noch. Dieser sentimentale Mist funktioniert“, fluchte ich. „Ich wollte das nicht“, wimmerte Rick zu allem Überfluss zurück. Konnte er nicht einfach still ein bisschen vor sich hinweinen und dann einschlafen oder etwas ähnliches? Musste er unbedingt mit mir reden? „Das äh... habe ich auch nicht angenommen“, entgegnete ich platt. Wahnsinnig einfühlsam. Wenn du so weitermachst, besorg dir n Schwimmring, denn er wird garantiert die Bude unter Wasser setzen. „Ich hätte ihnen die Asche geben sollen“, schluchzte er weiter. Find ich auch, dachte ich, war aber klug genug, wenigstens diese Bemerkung herunterzuschlucken und stattdessen zu fragen, was mir schon während der Fahrt hierher keine Ruhe gelassen hatte: „Warum wolltest du nicht?“ Ich bemühte mich, meine Stimme sanft klingen zu lassen, war damit aber nur leidlich erfolgreich. Dennoch, ich bekam immerhin eine Antwort. „Es waren Tränensucher. Und sie waren so wahnsinnig erpicht drauf, die Asche zu bekommen. Ich... Die führen doch bestimmt nichts Gutes im Schilde...“ „Langsam, langsam“, gab ich zurück, „Was hat’s mit diesen Viechern auf sich? Und ganz nebenbei... Hast du nicht gesagt, du könntest diese ganzen Blutsauger nicht auseinanderhalten?“ Rick fuhr zusammen. Seine Finger hörten kurz auf, mein Hemd zu zerknüllen, nur um sich dann umso verbissener daran festzuhalten. Langsam aber sicher wurde es mir der Nähe zuviel. Ich wünschte mir sehnlichst, er möge sich mit dem Ausweinen beeilen, doch daran schien er nicht im Traum zu denken. „Kann ich auch nicht“, sagte er zu meiner Schulter und mit jedem dieser vier Worte verhärtete sich seine Stimme ein wenig mehr, machte die Trauer einer fast greifbaren Verbitterung platz. „Deswegen weiß ich auch nicht, was der jüngste von ihnen für einer war. Aber was die anderen beiden angeht... diese Blutsauger erkenne ich. Da kannst du Gift drauf nehmen.“ In Anbetracht seines Tonfalls wollte ich lieber nicht so genau wissen, warum. „Was ist an denen so auffällig?“, fragte ich betont desinteressiert. „Man erkennt sie an den roten, katzenartigen Augen. Und daran, dass sie sich am liebsten dort sammeln, wo es das meiste Leid gibt, denn davon leben sie. Sie nehmen den Schmerz ihres Opfers mit dessen Blut auf.“ Er hatte aufgehört zu weinen, schaute nun unverwandt, mit beängstigend verhärteten Gesichtszügen, zu mir hinauf. Von seinem Schockzustand war nur ein leichtes Zittern geblieben. „Was hast du eigentlich mit denen zu schaffen?“ Seine Frage kam so unvermittelt, dass ich sie erst gar nicht recht verstand. „Nichts“, antwortete ich irritiert, „Ich wollte, dass sie die Asche abholen, damit ich endlich meine Ruhe habe.“ Er schwieg, sah mich nur lange prüfend an, immer noch mit diesem harten Zug, besonders um den Mund, der in seinem Gesicht so fehl am Platze wirkte wie eine Eisscholle in der Wüste. „Hey, hey, es war mir einfach egal, was das für Typen sind und ich... (Hab dich einfach nicht bedacht) bin davon ausgegangen, du seist arbeiten.“ Pflichtschuldigst senkte er den Kopf, nun offenbar von meiner Unschuld überzeugt. „War ich auch, aber ich bin früher gegangen. Mir ist so... kalt seit heute Mittag. Und dann konnte ich meine Magie nicht benutzen als... sie kamen. Deswegen hab ich... mit dem Küchenmesser... Gott, es tut mir... Ich hatte einfach Angst!“ Er überschlug sich förmlich beim Sprechen, fing wieder an zu weinen. „Ist gut, ist gut“, beschwichtigte ich hastig, aus Angst, er würde jetzt erst so richtig emotional werden, „Du hattest sicher deine Gründe. Du hättest ihn nicht getötet, wenn er dich nicht bedroht hätte. Und wie’s aussieht kann man diesen Viechern ja wirklich nicht trauen.“ „Warum bist du da so sicher?“, wollte er wissen. „Womit?“ „Damit, dass ich ihn sonst nicht getötet hätte...“ Und da hatte er mich. Woher sollte ich das denn wissen? Warum hatte ich plötzlich das Gefühl, nur die falsche Antwort geben zu können, egal was ich sagte? Es kam mir vor, als hätte mich eine Freundin gefragt, ob sie zu dick sei. Ich konnte nur ins Fettnäpfchen treten. Doch zu zögern war erfahrungsgemäß noch gefährlicher. „Ich glaub einfach, du hast dazu zuviel Gewissen“, sagte ich also das erste, was mir einfiel, „Du bist... ähm, also, ich will dich nicht beleidigen, aber du bist zu unverdorben, um jemanden einfach so umzubringen. Da braucht’s bei dir schon n Kurzschluss. Vielleicht hattest du einfach Angst, er bringt dich zuerst um.“ Er guckte mich an wie ein Pferd. Das war’s. Gleich würde sein lautes Schluchzen über mich hereinbrechen, er würde kreischen und mit Sachen um sich werfen und sich wünschen, er wäre nie hier eingezogen, oder – noch schlimmer – mich bitten ihm eine Packung Kleenex zu besorgen. So endeten meine kümmerlichen Trostversuche für gewöhnlich. Doch nichts dergleichen geschah. Er rückte nur, immer noch zitternd, von mir ab und lächelte scheu. „Danke“, flüsterte er fast. „Danke...“ Mehr nicht? Kein Schreien, kein Fluchen, nur „Danke“ und das gleich zweimal? Er stand auf, während ich völlig verdattert weiterhin auf das große Donnerwetter wartete, wischte sich entschlossen die Tränen aus den Augen und sah auf die Leiche hinab. „Vielleicht sollten wir ihn auch verbrennen.“ Ich rappelte mich ebenfalls unkoordiniert auf. „Dann mal los. Mach deinen Bannkreis oder was auch immer und ich mach n Haufen Asche aus – Warte mal, wo ist die Asche jetzt überhaupt?“ Er zog den Staubsaugerbeutel unter dem Bett hervor. Dämmert es und sie ist nicht dort, verlieren wir alles. Und diesen Verlust werden wir ohne Abzüge an dich weitergeben, erinnerte ich mich schmerzhaft. Ich griff nach der kleinen Tüte, doch Rick wich mir aus. „Du wirst sie ihnen doch nicht geben, oder?“ „Nein“, log ich schamlos, „Die Asche bleibt hier.“ Er nickte zufrieden. Der Beutel wechselte von seiner zittrigen Hand in meine. „Du... wirst das mit dem grünen Feuer dieses Mal allein hinkriegen müssen. Meine Magie... Ich hab es ein paar Mal versucht, aber ich komme nicht einmal an den Speer heran.“ „Nagut, dann... Du hast nicht zufällig n Tipp für mich?“ Er schüttelte entschuldigend den Kopf, mich gleichsam ohne Worte anflehend, diese Leiche endlich aus seinem Blickfeld verschwinden zu lassen. Ich räusperte mich unruhig. Grün, dachte ich, Das Feuer muss grün sein. Unwillig hockte ich mich hin, konzentrierte meine Gedanken so gut ich konnte auf das Auge des Orion. Nichts passierte. Ich spürte keinen drastischen Wandel in der Lungengegend, wo ich fast immer die leichte Hitze wahrnahm, die dem Feuer vorausging, geschweige denn überkam mich etwas wie die Gewissheit, dass es jetzt klappen würde. Mir blieb keine andere Wahl, als schüchtern ein kleines Flämmchen zu spucken, wie besessen daran zu denken, dass ich nur den Kerl verbrennen wollte und dabei irgendwie meine Angst im Zaum zu halten, die mir sagte, dass genau das nicht geschehen würde. Umso überraschter war ich, als tatsächlich ein kleiner, grüner Feuerball zu der Leiche hinunterschwebte, um diese in Brand zu setzen. Ich grinste von einem Ohr zum anderen. Rick tat es mir gleich, sichtlich erleichtert Na wenigstens etwas, das heute funktioniert. Andächtig beobachteten wir, wie das Feuer sich auf dem toten Körper ausbreitete. „Dieses Mal gehst aber du schlafen“, meinte Rick schließlich, „Ich bin’s ihm schuldig, dass ich wenigstens aufpasse, bis er verbrannt ist...“ Ich fragte mich, ob ich mich so um meine Feinde gesorgt hätte. „Bekommst du das hin?“ Er nickte selbstsicher. „Mir geht’s wieder besser.“ „Du zitterst aber noch.“ „Das... Ich denke, das hängt mit meiner verschwundenen Magie zusammen. Ich werde mir einen Gelehrten suchen und mich erkundigen müssen.“ „Ich kenn einen. Wenn’s bis morgen nicht weg ist, gehen wir den besuchen“, gab ich zurück, in einem Tonfall, der keine Widerworte duldete. Aus irgendeinem Grund hoben sich daraufhin seine Mundwinkel. „In Ordnung.“ „Tja dann...“ Noch immer ziemlich befangen von der ungewohnten Nähe, auf die ich mich hatte einlassen müssen, hatte ich es recht eilig, das Zimmer zu verlassen. Rick jedoch brannte noch eine Frage auf der Seele. „Ach Kori?“, hob er an und griff nach meinem Arm. Er bekam mein Handgelenk zu fassen. Als seine Finger meine Haut berührten, ging plötzlich die Welt unter. -- Erst einmal sorry, wenn der Tränendrüsenfaktor zu hoch ist, während die Aufklärung aufkommender Fragen mal wieder gewaltig hinkt. Rick ist nun mal ein kleines Weichei, wenn auch ein ziemlich tapferes. Ich hoffe nur, er fängt nicht irgendwann an zu nerven *seufz* Zum Handlungsfortschritt... Es ist ne dumme Eigenschaft von mir, das Seitenlimit pro Kapitel bei 4 Seiten (Word) zu setzen. Ich wollte schon wieder viel weiter sein. Wie auch immer, hier seht ihr Kori in Reinstform, denn er lügt, ohne rot zu werden und ist die emotionale Verklemmtheit in Person. Ich wollt schon immer mal n Kapi schreiben, in dem das so richtig schön zur Geltung kommt. An meine beiden Stammkommischreiber hier ein ganz großes Dankeschön sowohl für das Lob als auch für die Anregungen. Ich werfe auf jeden Fall im Gegenzug auch mal einen ausführlicheren Blick auf eure Original-Stories! (Das mal als kleinen Anreiz für die Schwarzleser, sollte ich welche haben *fg*) FFs zu Serien lese ich nur in Ausnahmefällen, insbesondere wenn diese die Ausstrahlung auf RTL2 schon hinter sich haben *schauder*. Danach haben die immer so viele Fans, dass ich die ganzen Erzeugnisse dazu einfach nicht mehr sehen kann. Sorry ^^’’ Kapitel 10: Befremdet --------------------- {Kommentar} Gleich vorweg: Dieses Kapitel ist verwirrend und wird erst im nächsten etwas aufgeschlüsselt. Es ist hauptsächlich eine stilistische Spielerei von mir, die dazu dient, das Chaos im Kopf unseres Protagonisten auf den Leser zu übertragen XD. Nebenbei ebnet es den Weg für die Klärung einiger Fragen, aber das kommt dann später. ^__^ Wenn euch hinterher der Kopf schwimmt, ist das also nicht weiter tragisch. {/Kommentar} Es ist nicht das erste Mal, dass meine Realität erschüttert wird. Lavande brachte sie durcheinander, als sie mich verschleppte und mir – ironischerweise – meine Flügel zeigte, um sie gleich darauf zu entfernen und mich wegzusperren. Doch ich flog erneut. Ronga und ein Absturz von einem Hochhaus gewährten mir Einblick in die magische Welt um mich herum, versteckt zwischen all dem technischen Firlefanz der modernen Luxusgesellschaft, und der weise Halbwolf half mir ebenfalls, wenn auch nur kurzzeitig, ein Teil davon zu werden. Und nicht zuletzt war es Rick gewesen, der mir gezeigt hatte, dass es immer noch andere Wahrheiten hinter der augenscheinlichen Wirklichkeit gibt, indem er mich durch Rongas jahrhundertealte Erinnerungen reisen ließ. Doch das alles ist nicht halb so beunruhigend, wie die riesigen, schwarzen Risse, die sich plötzlich vor meinen Augen auftun, ganz so, als wäre die Realität nur ein gemaltes Bild, das dem Künstler nicht mehr gefällt, sodass er es zerreißt. Sie wachsen in beängstigender Geschwindigkeit und mit den Bildern, die mir meine Augen bisher zuverlässig von meiner Umwelt vermittelt haben, schwinden auch die anderen Sinneseindrücke. Der Duft des Abendessens ist mit einem Mal nichts weiter mehr als ein schaler Geruch in der Ferne, meine Zunge wird taub und geschmacklos, das Gefühl von Ricks Fingern auf meinem Handgelenk ist nicht mehr wahrnehmbar und auch der Stoff meiner Kleidung und meine zu langen Haare, die mir oft ins Gesicht fallen und dort stören, bemerke ich erste jetzt, wo ich das leichte Jucken, das bisweilen auf meiner Haut verursacht haben nicht mehr spüren kann. Ich will schreien, weiß mehr instinktiv, dass mein Mund offen steht und ich wirklich die nötigen Muskeln bewege, um den Laut auszustoßen, als dass ich es fühle. Falls ich tatsächlich etwas von mir gebe, so höre ich es nicht. Fühlt sich so der Tod an?, schießt es mir durch den Kopf, Fühlt es sich so an, wenn man seinen Körper verlässt und nicht mehr ist? Aber warum denke ich denn dann noch? Und warum ist da diese unbestimmte Ahnung in mir, dass ich nicht tot sein kann? Vielleicht nur Hirngespinste, die ich mir zu meiner eigenen Beschwichtigung schaffe. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Ich will wieder zurück, ja ich muss, wenn ich nicht meinen Verstand und meine Intuition – haha, was für ein gelungener Scherz – auch noch verlieren will. Und als wolle mein Körper mir bestätigen, dass ich doch nicht völlig leblos bin, schickt mir mein Gleichgewichtssinn die Botschaft, dass ich falle, in dieser unendlichen Schwärze um mich herum irgendwie nach unten sinke und somit fortwährend den Gesetzen der Schwerkraft gehorche. Ich kralle mich an diesen Gedanken, wie Rick sich zuvor in mein Hemd. Irgendwo hier gibt es noch Dinge, die ich wahrnehmen kann, irgendwo hier gibt es möglicherweise auch einen Boden – und siehe da, ich schlage plump, mit dem Hinterteil zuerst, auf selbigem auf, kann es fühlen, bemerke den unangenehmen Schmerz des Aufpralls, der zu mir durchdringt. Worte gelangen wieder an meine Ohren, doch ihre Quelle scheint mir überall und nirgends zu sein. Gleichwohl weiß ich nicht, welche von ihnen in die Wirklichkeit gehören und welche ich mir nur ausgedacht habe. Ein wirres Kauderwelsch aus verschiedenen Stimmen entsteht um mich herum und ich kann nichts weiter tun als zu horchen und nach den richtigen, den zur Außenwelt passenden, zu suchen. „Ich bin diese bekloppte, selbstbemalte Blumenvase!“, heult ein kleiner Junge, den ich als mein siebenjähriges Selbst wiedererkenne. „Glaub ich dir ja“, antwortet der ein Jahr jüngere Marco im Brustton der Überzeugung, „Aber Mama wird stinksauer, wenn sie rauskriegt, dass du dich in ihre Lieblingsvase verwandelt hast. Nachher fällst du noch irgendwo runter. Da kriegt sie bestimmt ganz tiefe Falten, wenn sie sich darum immer Sorgen machen muss.“ So wie er das sagt, scheint ihn die Vorstellung zu amüsieren, wahrscheinlich, weil seine lebhafte Fantasie sich ausmalt, wie das wohl aussehen könnte. Ich beginne zu flennen. Er immer mit seinen blöden Horrorvisionen! Wär ich bloß ein Einzelkind! „Ich geh kaputt!“, jaule ich. „Quatsch, du bist Kori, du kannst nicht kaputtgehen. Nicht mal, wenn du so ne Vase bist. Also stell sie weg und werd einfach wieder du, okay?“ Obwohl die Erklärung nicht im Geringsten logisch ist, glaube ich ihm sofort. „Ich find die Vase noch hässlicher als dich“, bekennt er weiter, „und die kann man auch nicht so toll (Wieder Kori werden, denke ich, na du bist gut.) umbringen, ich wollte das wirklich nicht!“ Rick, ganz eindeutig, doch schnell wird er von einem Fremden abgelöst, jemandem, der sehr viel älter klingt, eine Frau, von der ich genau weiß, dass sie nie zu mir gesprochen hat. „Es ist vollkommen nebensächlich, was du willst, was dieses Ding will. Yami existiert nicht. Das musst du endlich begreifen! Als du klein warst, war diese Geschichte ja noch ganz lustig, aber jetzt... Ich wünschte, du hättest nie diesen Unfall gehabt!“ „Der Weg in die Hölle ist gepflastert mit guten Wünschen“, mahnt Ronga. „Du findest dich am Rande der Nacht, Du, der dich selbst dir hast ausgedacht.“ Die Kinder aus meinem Traum! Das seltsame Lied mit dem Mond! Ich bin real und das ist die Wahrheit!, brülle ich in Gedanken dazwischen. Niemand, nichts reagiert. „Zwei Fragen“, giftet mein diesem Ort fernes Ich in Tanakas Büro den rothaarigen Geiger an, „Erstens: Was hörst du da? Zweitens: WAS SOLL DIE SCHEISSE, DU VOLLIDIOT?!“ „... Am Rande der Nacht.“, antworten die Kinder. „Hier kann ich Grenzen überwindend meine Seele verwetten. Oder einen Engel finden und mich retten.“ Marco, nein nicht er, der stumme Junge, der sich seine Stimme geborgt hat. Marco – der echte - lacht: „Ich will in Flammen aufgehen, wenn du diese Sequenz nicht rausschneidest. Du willst, dass er denkt, er wär’s gewesen, so ist es doch, aber er hat Lucia nicht umgebracht. Ich hab’s dir nicht lang geglaubt und er wird es auch begreifen. Mein Bruder ist weder ein Mörder noch ein Trottel!“ „Das hab ich schon gemerkt“, antwortet Lavande selbstzufrieden und ich höre, wie sie ihn im wahrsten Sinne des Wortes auseinander nimmt. Die Geräusche vermischen sich mit den grausamen Erinnerungen an das – tatsächlich geschnittene – Videoband, das sie mir infolgedessen zeigte. „Aber gerade intelligente Menschen kann man in die tiefsten Zweifel stürzen. Sie denken zuviel nach. Leb wohl, Toter“, fährt sie gelassen fort. „Du hättest schlichtweg in Flammen aufgehen müssen“, verzweifelt Eliphas. „Und ich geh in Flammen auf“, rezitiert Ronga, „So wirst du gleichsam untergeh’n.“ Es kommt Licht ins Dunkel. Flackernd erkenne ich die rotglühenden Umrisse meiner eigenen Hände, taste mich damit weiter durch die Schwärze. Ich fühle meine Kleidung wieder auf der Haut, obwohl außer meinen Händen noch nichts von meinem Körper für mich sichtbar geworden ist. Auch kann ich die Gänsehaut spüren, die ich auf den Armen und auf dem Rücken habe. „Was suchst du, Kleiner?“, fragt Luv, als ich versuche, die mich umgebende Schwärze mit meinen flammenden Händen auszuleuchten, „Hier gibt es nichts außer Dunkelheit, Steinen... und natürlich mir.“ Das wollte sie wissen, als ich in ihrem dunklen Turm umhertastete. „Nein, du bist tot“, protestiere ich und erschrecke mich vor meiner eigenen, wiedergekehrten Stimme. „Und du lügst! Hier ist nur Dunkelheit. Nicht mal Steine gibt’s hier.“ „Zu den Steinen hat einer gesagt: Werdet menschlich! Da haben die Steine gesagt: Wir sind noch nicht hart genug“, gibt Jazz zurück und fügt entschuldigend an: „Ist leider nicht von mir.“ „... dann soll es mir gehören“, sagt jemand fremdes. Ich kann nicht einordnen, zu welchem Geschlecht diese Stimme gehört. Eine andere, eindeutig männliche, antwortet: „Ja, gute Idee. Du kannst ihn haben. Dann denken sie, ich lebe noch und sind nicht so traurig. Ich hasse sie zwar, aber vielleicht überleg ich’s mir ja mal anders.“ „Aber das geht nicht! Das ist meins! Das wird nicht einfach verschenkt!“, rufe ich. „Verdammt ein Drache“, antworten das Neutrum und das Mädchen von heute morgen im Chor. „Ja, ein Drache. Wohl bekommt’s, ihr kleinen Schmarotzer“, kichert Lavande hysterisch. „Die Adoptionspapiere“, fragt Rick, ganz leise, kaum zu hören, „Ich hab sie unterschrieben, aber du... äh... hast du vor...?“ „Ich dachte, ich frag dich dazu erst, aber wenn du meinst, das kann klappen, setz ich meine drei Kreuze drunter und fütter dich durch. Du bist ja recht pflegeleicht... Normalerweise.“ Das sind meine Worte. Und sie kommen von jenseits der Dunkelheit. Ich muss da hin, jetzt gleich! Muss zu meinem Abbild auf der anderen Seite zurück! Stolpernd und humpelnd beginne ich zu rennen, immer den Stimmen von Rick und mir nach, die dort draußen miteinander reden. Mir wird kalt, je näher ich komme, doch ich laufe dessen ungeachtet weiter, selbst als ich glaube, von innen zu erfrieren. „Mir ist so... kalt seit heute Mittag“, erinnert mich Rick, jedoch von hier drinnen. Was immer er mit sich rumgeschleppt hat, jetzt ist es bei mir, begreife ich, Es muss durch den Hautkontakt... „Gut, hattet ihr sonst Körperkontakt?“ Das Fragezeichen unter den beiden Tränensuchern. Der Junge mit der Eismagie. „Hast du dich irgendwann gefühlt, als stündest du neben dir?“ Lavande steht neben mir. Ihre Hand legt sich auf meine Schulter, doch verglichen mit der Kälte in mir ist selbst ihre eisige Hand noch wohlig warm. Das ist auch der einzige Grund dafür, dass ich sie den obersten Knopf meines Hemdes öffnen und mir dieses von der rechten Schulter ziehen lasse. „Das gehört mir“, wiederholt das neutrale Wesen von eben. „Falsch, das ist meins“, antwortet Lavande in feierlichem Ernst, „Und du wirst es nicht bekommen, denn der schwarze Wolf und ich... Wir haben dich gewittert.“ Der letzte Satz klingt wie obszönstes Bettgeflüster. Ihre Hand gleitet ein Stück weit meinen Rücken hinab, bis sie mein rechtes Schulterblatt gefunden hat, jenes, aufdem ihre Kritzeleien gestanden haben, als sie auf mir herummalte. Die Kälte, die mich umfängt und von innen auszuhöhlen scheint (Ich bin diese bekloppte, selbstbemalte Blumenvase!) sammelt sich unter ihrer Handfläche, bündelt sich in meiner Schulter und weicht schließlich unter lautem Protest tausender unbekannter Stimmen, die wild durcheinander schreien. Ich finde mich am Wohnzimmertisch wieder, wo ich meine Hand meinen Namen auf die Papiere vom Jugendamt schreiben sehe. Die Vertrautheit des Schriftzuges ist unglaublich wohltuend. Mein Zeitgefühl sagt mir, dass etwa eine viertel Stunde vergangen ist und mein Gedächtnis ergänzt ein paar Bilder von einem zwar irritierten, aber schläfrig ins Bett kriechenden Rick, die mir eine wahre Geröllhalde vom Herzen fallen lassen. Es geht ihm gut, aber wie geht es mir? „... Oder einen Engel finden und mich retten“, murmle ich schaudernd. Ich bin wieder zurück, gerettet ausgerechnet von der Person, die ich am meisten fürchte. -- Axo, dass hier ein Yami erwähnt wird, hat übrigens NICHTS mit Yu-Gi-Oh! zu tun, wie ich hier ganz deutlich betonen möchte. Den Namen gab es bei mir schon, bevor sich irgendwelche Freaks im Fernsehen mit Monsterkarten duelliert haben ^__^. Das Zeichen, das so gelesen wird bedeutet nämlich Dunkelheit/Finsternis und sowas gefällt mir, huahahaha. Kapitel 11: Von Zeichen und kleinen Wundern ------------------------------------------- Ich war zu müde, um bewaffnet mit Stift und Papier an meinem Schreibtisch zu sitzen, aber ich war auch um einiges zu wach, um zu schlafen. Träge lauschte ich dem Klicken, das der Kugelschreiber verursachte, als ich seine Miene ein- und wieder ausrasten ließ. Wo anfangen? Irgendwie musste ich die Fragezeichen loswerden, die sich im Laufe des Tages in meinem Kopf angesammelt hatten, doch wie sollte ich das Chaos entwirren? Vielleicht am besten mit den Dingen, die ich kannte, die mir vertraut waren. Die Sache mit der Vase etwa. An diese Geschichte erinnerte ich mich recht gut, hatte allerdings in den letzten Jahren nicht daran gedacht. Der Vorfall hatte mich damals so verstört, dass ich nicht noch einmal den Versuch unternommen hatte, meinen Trick mit der Vase vorzuführen. Ebenso wenig hatte ich gern davon erzählt und so war die Begebenheit in Vergessenheit geraten. Angefangen hatte es damit, dass Gina - Marcos und somit auch meine Mutter - das gute Stück von einer Freundin bekam. Sie war von eben jener Freundin handbemalt und sehr zerbrechlich gewesen, weshalb sie auch oben auf dem Bücherschrank gestanden hatte. Denn Marco hatte diese ungeheure Affinität zu allem, was nur im Entferntesten künstlerischen Prozessen ausgesetzt gewesen war. Vom Bild im Museum bis zum verbogenen Löffel konnte ihn so ziemlich alles begeistern. Nur leider unterlagen die meisten Dinge, die mein Adoptivbruder und ich uns als Spielzeuge aussuchten irgendwann den Gesetzen der Schwerkraft oder wurden Teil einer höheren Ordnung, die die Erwachsenen als chaotisch bezeichneten, die jedoch einfach nur Marcos ganz persönliche kleine Welt darstellte, in der er alles wiederfand. Naja, fast alles. Kurz: Alles, was wir anfassten, insbesondere, wenn wir es nicht durften, ging entweder zu Bruch oder verschwand spurlos. Folglich stand de Vase also dort oben. An jenem Nachmittag hatte es geregnet, sodass Marco und ich uns drinnen hatten beschäftigen müssen. Allein, denn unsere kleine Schwester war krank und brauchte alle mütterliche Fürsorge, die sie kriegen konnte. Und Marco und ich, wir wären nicht wir gewesen, hätten wir uns nicht eine Mission für diesen langweiligen Nachmittag zurechtgelegt, die natürlich ausgerechnet in der Beschlagnahmung und genauen Beobachtung jener Vase bestand. Zwar stand sie dort oben und war für uns, im Alter von sechs und sieben Jahren zwangsläufig nicht allzu große, Jungen nicht zu erreichen, doch gegenüber den Erwachsenen hatten wir einen ganz entscheidenden Vorteil: In unserer Welt war noch alles möglich. So saßen wir vor dem Schrank, sehnsüchtig den Blick nach oben gerichtet und versuchten, Kraft unseres Geistes, die Vase nach unten zu befördern. Minute um Minute zog dahin, während wir da hockten und uns konzentrierten, doch natürlich geschah nichts. Nach einer Viertelstunde, einer Ewigkeit für zwei Kinder in unserem Alter, gab Marco es seufzend auf. „Wahrscheinlich war das im Fernsehen ein Trick“, mutmaßte er enttäuscht, „Oder wir können uns einfach nicht so doll konzentrieren. Hey, Kori! Kori! Du hörst mir nicht zu!“ Ich schreckte aus dem Halbschlaf hoch, in den ich gefallen war. „Doch, doch“, versicherte ich hastig, „Du hast gesagt, es klappt nicht... oder so... und irgendwas mit kopieren...“ Er knuffte mich in die Seite. „Du bist doof. Ich dachte, du hilfst mir!“ „Vielleicht machen wir einfach irgendwas falsch“, begann ich zu spekulieren, ohne auf die Beleidigung einzugehen. „Du meinst, wir sollten doch raufklettern?“ „Spinnst du?!“ „Pssst!“, machte er erschrocken, „Sie hört uns noch.“ „Eben“, fuhr ich leiser fort, „Wenn du kletterst, bist du immer so laut.“ „Aber ich dachte... Du könntest vielleicht... “ „Nichts da. Ich bin erst gestern dabei erwischt worden, wie ich auf dem Kirschbaum nebenan rumgeklettert bin. Mama will nicht, dass ich überall raufklettere.“ „Du sahst saukomisch aus, so in Unterhose auf Nachbars Kirschbaum“, stichelte er. „Halt deine Hackfresse, so kann ich eben am besten klettern“, schnauzte ich und boxte ihm in den Bauch, „Und jetzt hör zu, Schwachkopf. Vielleicht müssen wir das einfach anders angehen...“ Er legte den Kopf schräg und lauschte auf die Worte seines großen, ziemlich ungehobelten und oft auch ziemlich dummen Bruders, denn wenn Marco eins hatte, dann war es Menschenkenntnis und er wusste, dass man mich besser nicht reizte, wenn ich glaubte, eine gute Idee zu haben. „Wir haben uns vorgestellt, die Vase kommt zu uns und wir waren hier unten“, erläuterte ich ihm meinen Gedankengang, „aber vielleicht muss es umgekehrt sein. Wir müssen uns vorstellen, wir sind die Vase und fliegen vom Schrank.“ Das schien ihm einzuleuchten. Er rutschte auf den Hinterbacken herum, suchte sich eine bequemere Haltung, schloss die Augen und murmelte: „Wir sind die Vase...“ Ich tat es ihm gleich, ohne jedoch zu murmeln, denn das fand ich kindisch, was ich ihm allerdings nicht sagte. Er war eben der kleine Bruder und die hatten sich kindisch zu benehmen und zu nerven. Das war ein Naturgesetz. Ich bin eine Vase, dachte ich stattdessen, außen rund und innen hohl, so wie Vito aus der zweiten Klasse, und ich hab’s satt, hier immer auf dem Schrank zu stehen... Diesen Merksatz wiederholte ich immer und immer wieder, bis plötzlich... „Oh mein Gott, sie bewegt sich“, hauchte er neben mir ehrfurchtsvoll. Ich hörte ihn kaum. Zu faszinierend waren das fremdartige Gefühl unter der Haut, als wäre sie plötzlich hart geworden und aus Porzellan, das hohle Glucksen im Bauch, wo nichts mehr war, und der intensive Geruch und Geschmack von Staub, ganz tief im Rachen. Im Geiste konnte ich sie berühren, mit jeder Faser Teil von ihr werden, sodass ich mich nun Millimeter für Millimeter auf den Rand der Ablagefläche zu bewegte, bis ich schließlich darüber kippte. Erst als Marco die Vase fing, schrak ich auf. Es war, als habe mich jemand am Bauch gepackt. Völlig perplex starrte ich auf das Ergebnis meiner Mühen, das nun sicher in seinen Hände ruhte und neugierig von ihm beäugt wurde. „Boaaah“, machte er. Erst dann schaute er zu mir. „Wir... haben’s geschafft“, flüsterte ich abwesend. „Du, nicht wir. Erst hab ich gedacht, du schläfst wieder, aber dann hat sie sich bewegt. Das war so COOL!“ Er musterte mich mit echter Bewunderung. Ich hätte mich toll fühlen sollen, doch ich fühlte mich grässlich, denn ich war immer noch die Vase, schmeckte immer noch den Staub, spürte den Druck am Bauch, den seine Hände auf das Gefäß ausübten. Ich begann, ihn anzuschreien, er redete mir ein, ich könne kaputtgehen und schließlich hatte er es geschafft, dass ich heulte und kreischte. Dass wir dadurch aufflogen, war mir völlig egal. Erst als Gina mich an sich zog, beruhigte ich mich ein wenig. „Er ist die Vase“, verkündete Marco, der selbige hinter seinem Rücken versteckt hatte. „Du meinst, er denkt, er ist die Vase“, berichtigte sie, doch er hielt an seinem Wortlaut fest. „Er ist die Vase.“ Prüfend besahen ihre von der Nachtschicht am Bett unserer Schwester übermüdeten Augen erst mich, dann Marco. „Die Vase, die du da hinter deinem Rücken versteckst?“, vermutete sie richtig. Mein Bruder nickte schuldbewusst. „Du hast gesagt, wir sollen nicht raufklettern und sie holen, aber das haben wir auch gar nicht!“, begann er dann eiligst, sich zu verteidigen und mich zu verpetzen, „Aber Kori hat sie runtergedingst! Er hat sie nur angeguckt und dann flog sie runter. Das war so hammerkrass!“ Begeistert gestikulierend wollte er ihr schon alle Einzelheiten unserer geheimen Mission berichten, als ich aufschrie: „Du lässt mich fallen!“ Erschrocken umklammerte er die Vase, während Gina ratlos zu mir hinuntersah. Sie schluckte. „Ihr und eure Geschichten“, seufzte sie leise, sich neben mich hockend und mich in den Arm nehmend. „Es ist wahr!“, protestierten wir beide. Sie nickte wissend, obwohl sie und ihr pragmatischer Verstand überhaupt nichts wussten. „Und jetzt bist du die Vase...?“ „Ich hab’s mir vorgestellt und jetzt bin ich’s...“ wimmerte ich. Behutsam strich sie mir über den Kopf. „Aber wie kannst du denn gleichzeitig die Vase und Kori sein?“ wollte sie wissen. „Weiß nicht“, schniefte ich und rotzte ihr dabei den Pullover voll. „B-bist du sauer?“ Sie schüttelte den Kopf, obwohl man ihr ansah, dass sie alles andere als begeistert war. Dennoch drückte sie mich an sich, um mich zu trösten. „Vorsichtig!“, mahnte ich. „Schon gut“, sagte sie belustigt, „Ich mach dich nicht kaputt. Aber es wäre mir lieber, du wärst wieder nur Kori. Wenn du die Vase bleibst, wie soll ich dich denn da in den Arm nehmen und wie willst du mit Marco und Kezia toben? Und was wird Papa sagen, wenn er rausbekommt, dass sein Sohn jetzt eine Blumenvase ist...?“ „Ich will ja gar nicht die Vase sein!“, schluchzte ich. „Dann musst du ihr das sagen, damit sie dich in Ruhe lässt“, entschied sie. „Und das klappt?“, fragte ich zweifelnd, während Marco schon die Vase vor meinen Füßen abgestellte hatte. „Das wirst du nie herausfinden, wenn du es nicht probierst“, drückte sie sich um die Antwort. So stellte ich mich also vor die Vase, beide Hände in die Hüften gestemmt und erklärte: „Ich bin nicht du. Ich bin Kori, und du bist die Vase.“ Ich musste lächeln, als ich an diese Episode meiner Kindheit dachte. Marco hatte später noch oft versucht, mich zum Bewegen irgendwelcher Gegenstände zu überreden, doch ich benutzte fortan doch lieber meine Hände, so wie jeder andere Mensch auch. Erinnerungen, schrieb ich auf den Zettel vor mir. Dann darunter: Vase. Ich könnte es noch mal probieren, überlegte ich, Warum eigentlich nicht? Schlimmer als Feuerspeien kann’s nicht sein... Über die andere Szene, in der mein Bruder vorgekommen war, jene mit Luv, wollte ich nicht genauer nachdenken. Ich war ohnehin schon aufgewühlt genug, wenn ich nur an seinen Tod und den seiner Freundin Lucia dachte. Es war mir zuwider, die Sache wieder aufzurollen, nur um über Fragen nachzugrübeln, die mir ja doch niemand beantworten konnte. Er war tot, er konnte mir nicht sagen, ob er an meine Unschuld geglaubt hatte, ob er geahnt hatte, dass jemand anders für die Morde an seiner Freundin und unseren Eltern verantwortlich war, trotz der Hinweise auf mich, die Lavande jedes Mal hinterlassen hatte. Luv war ebenfalls nicht mehr am Leben. Wo hätte ich nach den Antworten suchen sollen? Ich konzentrierte mich also auf die anderen Stimmen. Nun da schon mal was auf dem Blatt stand, fiel mir das Sortieren leichter. Ich schrieb weiter: Jazz, Steine. - Sie hatte die Verse aus einer Gedichtesammlung zitiert, in einer ihrer seltenen romantischen Anwandlungen – Schnösel im Büro und Aufzugsgeier: Standest du NEBEN DIR? Ich war mir sicher, dass er wusste, was mit mir geschehen war, als Rick mich berührt hatte. --> ausfragen, kritzelte ich. Wenn ich den dreien - nein den beiden - die Asche bringen sollte, würden sie ihr Wissen schon mit mir teilen müssen. Auch das Mädchen vom Morgen gehörte genau genommen zu meinen Erinnerungen, doch sie war auf eine Weise mit dem Stimmengewirr verwoben gewesen, die mir wichtig erschien. Ich eröffnete eine weitere Spalte mit der Überschrift Fremde Stimmen und notierte: Verdammt, ein Drache, denn sie hatte mit dem Neutrum zusammen gesprochen, sowie Yami existiert nicht, Unfall, Du kannst ihn haben. Dann denken sie, ich lebe noch und sind nicht so traurig und Das gehört mir. Nach kurzem Überlegen unterstrich ich Yami und Unfall. Die letzte Spalte meiner behelfsmäßigen Tabelle widmete ich den Äußerungen von Lavande und Ronga, insbesondere Lavandes letzten Worten. Der schwarze Wolf und ich... Wir haben dich gewittert. Hatte Ronga möglicherweise vorhergesehen, dass dies geschehen würde und es ihr gesagt? Hatte sie mich deshalb bemalt und wenn ja, welchen Nutzen hatte sie davon? Ich glaubte keine Sekunde lang, dass sie es aus purer Nächstenliebe getan hatte. Irgendetwas war von Rick auf mich übergegangen worden, etwas, woran sie Interesse hatte. Nur wo hatte er es sich eingefangen? Seit heute Mittag sei ihm kalt gewesen, hatte er gesagt. War er auch in diese Schwärze gefallen? Hatte er auch kurzzeitig seine Sinne verloren, die Stimmen gehört, sich wieder nach vorne zu seinem eigentlichen Ich gekämpft? Oder war ein Teil von ihm immer noch in der Dunkelheit umhergeirrt, während ich mit ihm gesprochen hatte? Ich schüttelte mich unwillig. Das alles ergab für mich immer noch keinen rechten Sinn, aber seitdem Lavande eine so wichtige Rolle in der Angelegenheit spielte, beunruhigte das Geschehene mich über alle Maßen. Doch ich würde hier nicht weiterkommen, bevor ich nicht etwas Schlaf bekam. Für heute war ich mit meinen Kräften am Ende. Geistig wie körperlich. Es war kaum zu glauben, dass in einen Tag so viele verwirrende Ereignisse hineingepasst hatten. Missmutig schrieb ich die Zeilen des skurrilen Kinderliedes unter meine drei Spalten, (Du findest dich am Rande der Nacht, Du, der dich selbst dir hast ausgedacht.) stand auf und ging ins Bad. Ich wollte duschen, den Dreck, den Schweiß, den Ärger dieses viel zu langen Tages mit einer guten Menge kalten Wassers von mir waschen. Noch im Gehen entledigte ich mich des zerschlissenen Hemdes und schleuderte es grob in Richtung des an der Küchentheke stehenden Mülleimers. Der Zettel mit der Adresse flog aus der Brusttasche, als es in hohem Bogen durch das Wohnzimmer segelte. Als ich im Bad aus meiner Hose stieg, die Duschkabine links, den Spiegel rechts von mir, hielt ich erschrocken inne. Ich stellte mich mit dem Rücken zu dem reflektierenden Glas und wollte meinen Augen nicht trauen, wollte nicht auf eine solche Weise gezeichnet sein. Nicht von ihr. Doch dass nur sie es gewesen sein konnte, von der das Zeichen auf meiner rechten Schulter stammte, stand spätestens in dem Moment außer Frage, als ich dessen Bedeutung erkannte. Sie hatte mir ein japanisches Schriftzeichen auf das Schulterblatt gepinselt, freundlicherweise in Spiegelschrift, sodass ich es jetzt hervorragend lesen konnte. Ich lachte schrill, als ich es entzifferte. „Ai“, stand dort, das Zeichen für Liebe. Liebe, Love, Luv. Das Wortspiel kannte ich schon. Es sah aus wie mit pechschwarzer Tinte geschrieben, dennoch wusste ich bereits in dem Augenblick, da ich mich der restlichen Kleidungsstücke entledigte und in die Dusche stieg, dass ich die Schrift nicht wegbekommen würde, es energisch und mit allen Mitteln versuchen und erfolglos dabei sein würde. Ich drehte das Wasser auf und legte die linke Hand auf meine Schulter. Dort, wo das Zeichen war, war meine Haut ungewöhnlich warm und ich spürte ein deutliches Pulsieren, allerdings nur mit der Hand, nicht mit dem Teil meines Rückens, auf den das Zeichen gemalt war. „Das gehört mir“ „Falsch, das ist meins. Und du wirst es nicht bekommen, denn der schwarze Wolf und ich... Wir haben dich gewittert.“ Krachend schlug meine Faust gegen eine der Fliesen, so fest, dass sie Risse bekam und einige hauchfeine Scherben auf den Boden der Wanne rieselten. „Warum jetzt noch?“, presste ich hervor, erstickt von meiner eigenen Wut, „Warum kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen? Du hast doch bekommen, was du wolltest.“ -- Erwähnte ich schon, dass ich FF-Codes hasse, ich mich ohne die Szene mit der Vase in diesem Kapitel zu Tode gelangweilt hätte und dass Kori mir an dieser Stelle furchtbar leid tut? TT___TT Einige von euch werden jetzt wahrscheinlich mit meinen eigenen, gammeligen Fragezeichen nach mir werfen und schimpfen: „Da siehst du? Sie sind immer noch da!“, aber mehr kann ich nicht tun, ohne aus Koris nun mal stark limitierter (oder beschränkter, wie viele seiner Bekannten es wohl ausdrücken würden *g*) Perspektive auszubrechen. Er wird der Sache auf den Grund gehen müssen und dann kriegt ihr auch mehr raus, aber ich werd euch nicht mehr verraten als er weiß und das ist zu diesem Zeitpunkt leider nicht viel. ^_^° Hab den armen Kerl ganz schön in den Schlamassel geritten. Und dann noch das Zeichen... Wäääh! Apropos... Ich wurde damals auf dem anderen Server danach gefragt, weil es nicht klar wurde. Ja, die Szene, in der er das Zeichen damals aufgemalt bekommen hat (Kapitel 2 oder 3?) war eine Erinnerung. Hübsch verpackt in einen Traum zwar, aber wahr. Kapitel 12: Klartraum --------------------- {Kommentar} An die Freischalter: Ich hoffe, das hier geht noch als U18 durch. Das Ende ist ziemlich makkaber, aber ich habe mich auf Andeutungen beschränkt, sodass ich's einfach mal als U18 versuche. An meine geneigten Leser (Haaach!). Den eigentlichen Kommi zum Kapitel findet ihr, wenn ihr selbst einen schreibt *fg* {/Kommentar} Dunkelheit, so allumfassend, dass ich glaube, sie berühren zu können. Noch einen Augenblick zuvor war die Stadt hell erleuchtet, doch nun kann ich die eigene Hand nicht vor Augen sehen. Ein Stromausfall? Wie blind taumele ich durch die Straße. Ich bin auf dem Weg nach Hause, denn inzwischen habe ich wieder ein eigenes Heim. Nur finde ich es nicht. Bin ich betrunken? Das würde auch erklären, warum mein T-Shirt weg ist. Wieder irgendeine Frauengeschichte? Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Verdammt, ich seh nichts! Wo ist der Mond, wenn man ihn mal braucht? Wie auf ein Stichwort Kinderlachen aus der Schule um die Ecke. Jetzt? Um diese Zeit? Mitten in der Nacht? Im Fenster steht kein Mondeslicht Des Mondes grau umwölkt Gesicht In jeder Nacht ein O es spricht Weil traurig ist, was er hier sieht, Er hinter Wolken sich verzieht Wie ist die Welt voll Menschenmassen Die freudlos man alleingelassen Du findest dich am Rande der Nacht, Du, der du sprachst so unbedacht. Du sagtest, dass du sie magst Du sagtest, dass du ihr vertraust. Du sagtest, dass du sie nicht verlieren willst. Und dann Verschlug es dir plötzlich die Sprache Sie singen und lachen und scheinen keine Angst zu kennen, trotz des skurrilen Kinderliedes, das dort aus ihren Mündern erklingt. Irgendwo zwischen den hellen Stimmen vernehme ich Geigenspiel. Die Töne sind leise und nicht ganz sauber, jedoch auf eine bizarre Weise schön, die perfekt zu dem befremdlichen Gesang passt. Ich laufe weiter. Langsam erkenne ich Schemen in der Dunkelheit. Häuser. Straßenlaternen. Die Bank am Rande des winzig kleinen Parks, direkt gegenüber meiner Haustür. Meine Haustür! Endlich! Ich wühle nach dem Schlüssel in meiner Tasche, taste nach dem Schloss, doch meine Finger berühren Beton, dort wo eigentlich die Tür hätte sein sollen. Wo verdammt nochmal ist mein Zuhause? Plötzlich Schritte in der Dunkelheit, die schnell näher kommen und mir dennoch weit weniger bedrohlich scheinen als die singenden Kinder. Licht. Licht, das lebt. Eine kleine, lebendige Flamme, die Wasser zu trinken scheint, aus der Hand der schlanken, fast dünnen Gestalt, zu der die Schritte gehören. Ich kann das stetige Tropfen des Wassers vernehmen, wenn es durch das undichte Gefäß der Handfläche entweicht und auf den Boden klatscht. Ich kenne den Jungen, der in seiner Hand zwei so grundverschiedene Elemente in friedlicher Symbiose miteinander verbindet. Wir haben uns erst gestern hier gesehen. „Wirst du mir nun wieder die Tür öffnen?“, frage ich, froh darüber, nicht ratlos hier draußen stehen zu müssen. „Die hast du beim letzten Mal selbst aufgeschlossen. Ich zeige dir nur, wo sie ist“, erwidert er und leiht sich wieder Marcos Stimme aus, die fremd und doch vertraut in meinem Kopf widerhallt. Das letzte Mal als wir uns hier trafen hat er gelächelt, heute jedoch ist er todernst. In den wasserblauen Augen liegt ein trauriger Ausdruck, belagert sie wie eine düstere Vorahnung, die auf mich übergreift. Ich fühle mich unwohl. Dabei weiß ich, dass gerade seine Gegenwart auf mich sonst immer den gegenteiligen Effekt hatte. Was ist anders? Wo ist die altvertraute Geborgenheit hin, die ich mit ihm verbinde? Wortlos hält er das kleine Feuer an die Tür. Ich kann sehen, wie sie sich, von der Flamme ausgehend, auf der Betonwand ausbreitet, als hätte sie jemand frisch hineingezimmert. Fragend schaue ich ihn an. Er nickt und ich schließe auf. Mit einem leisen Klicken öffnet sich das Schloss. Ich stemme mich gegen die Tür, will sie aufdrücken, doch sie bewegt sich keinen Millimeter. „Du hast das Gebäude in Fluchtrichtung verlassen“, erinnert er mich in einem Ton, der weder freundlich noch unhöflich ist. Er ist schlichtweg... gar nichts und damit unangenehmer, als jeder Tadel, den ich kenne. Fluchtrichtung also. Ich ziehe die Tür nach außen auf und nun weiß ich auch, warum ich aus dem Gebäude geflüchtet bin. Dort, wo mein Hausflur, ein eckiges, anonymes Treppenhaus, sein sollte, ist eine Wendeltreppe, die, um den Irrsinn komplett zu machen, auch noch nach unten führt, obwohl ich doch ganz oben wohne. Das Geländer ist kunstvoll verziert, jedoch genau wie die Stufen morsch. An einigen Stellen klaffen Löcher, schwarzen Abgründen gleich, die ich auf keinen Fall ergründen will. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Das Bild kenne ich noch. Damals, als ich eine Psychologin bat, meine Erinnerungen zu versiegeln, verwendete sie das Bild einer Wendeltreppe. Nur war sie wesentlich besser erhalten als diese. „Gehen wir?“, fragt er. Nein, will ich ihn anschreien, doch das Wort bleibt mir im Halse stecken. „Müssen wir denn?“, frage ich stattdessen und kenne die Antwort bereits. Auch für ihn ist die Frage rhetorisch. „Ich kann vorgehen, wenn du möchtest“, bietet er mir an, „aber die Türen musst du öffnen, du hast den Schlüssel.“ Die Türen. Die Türen sind doch genau der Grund, aus dem ich da nicht rein will! „Was passiert, wenn ich’s nicht tue?“, versuche ich ein letztes Mal, dem Unausweichlichen zu entgehen. „Ich schätze, dann finden wir den Ausgang nicht und du kommst nicht nach Hause“, versetzt er nüchtern, hält das Feuer am gestreckten Arm vor sich und macht den ersten Schritt. Weil ich die Stufen nicht sehen will, fixiere ich meinen Blick auf die beruhigende Flamme. Wenn ich lang genug hineinschaue, kann ich in ihr menschliche Konturen ausmachen. Den Kopf nach unten, zu dem Wasser in der Handfläche unter sich geneigt, schwebt das kaum erkennbare Wesen dort und scheint sich für nichts anderes zu interessieren als das kühle Nass. Als Hand und Feuer sich mit einem Mal von mir fort bewegen, folge ich ganz automatisch, steige die erste Stufe hinab, die unter unserem Gewicht leise ächzt. Stufe für Stufe gehen wir um den ersten Bogen, immer begleitet von gedämpftem Knarren, bis wir die erste der Türen erreichen, von denen er gesprochen hat. Sie ist, wie die, die ihr folgen werden, direkt in die Wand eingelassen. In immer gleichen Abständen kehren Sie am Rand der Treppe wieder. Türen aus modrigem Holz, hier und da noch mit den Resten abblätternder Farbe. Kann man dieses unzähligen Schichten aus Grau und Grau überhaupt noch Farbe nennen? Wir passieren eines dieser schlafenden Monster aus Holz und rostigen Scharnieren. Dann ein zweites. Ein drittes. Bei der vierten Tür bleibt er stehen, verlagert prüfend sein Gewicht auf der Stufe, um zu sehen, ob sie ihn hält und wirft mir dann einen fragenden Blick zu. „Was hältst du von dieser hier?“, gebärdet er, statt sich wieder der geliehenen Stimme zu bedienen. Ich muss zugeben, dass ich mir dabei wesentlich wohler ist, als wenn er spricht. „Ist wohl so gut wie jede andere“, entgegne ich matt. Unwillig schließe ich auf, während meine Nackenhaare sich bis auf das letzte aufrichten. Alles in mir sträubt sich dagegen, dieses graue Ding vor mir zu öffnen. Genau das tue ich jedoch, getrieben von der Gewissheit, dass ich diesen Ort sonst nicht verlassen kann. Quietschend weicht das Holz zurück und entblößt ein Kinderzimmer. Gerade noch kann ich dem Spielzeugroboter ausweichen, der mir entgegen fliegt. Meinen Begleiter streift er kurz am Arm, doch er verzieht keine Miene, sondern schaut neugierig ins Innere. Ein kleiner Junge sitzt auf dem Boden, (Was macht der hier? Das ist doch meine Tür!) vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Er hat einen Verband um den Kopf, aus dem rote, wirre Haare hervorschauen. Der Ausdruck in seinen Augen ist in höchstem Maße irritierend. Zu reif, zu erfahren für ein Kind, steht er in krassem Gegensatz zu dem geworfenen Roboter, einer Geste, die kindlicher nicht sein könnte. „Kisho, was soll denn das“, seufzt hinter uns eine junge Frau in diesem Stell-dich-doch-nicht-so-an-Tonfall, der mich grundsätzlich rasend macht. Bei ihm scheint das ähnlich zu sein. Wir müssen dem nächsten Spielzeug ausweichen. „Entschuldigung, gestatten Sie?“, fragt die Frau gleich darauf und drängt sich an uns vorbei ins Zimmer. „Du musst doch nichts weiter tun, als kurz Hallo zu sagen. Vielleicht darfst du ihm sogar was vorspielen? Das wäre doch was“, schmeichelt sie sich bei ihrem Sohn ein, „Komm nur kurz runter.“ „Nein, Yami sagt, er ist böse.“ Sie stöhnt auf, als hätte sie jemand geschlagen. „Nicht schon wieder Yami! Mir reicht es langsam! Es gibt ihn nicht!“ „Gibt es wohl!“ Sie besinnt sich auf das, was sie über Kindererziehung gelernt hat und versucht es freundlicher. „Es ist ja in Ordnung, wenn du Fantasiefreunde hast, aber wenn du es damit übertreibst, denken die anderen, du bist verrückt. Willst du das?“, droht sie ihm sanft. „Ich BIN verrückt. Deswegen hab ich doch den Verband um meinen Kopf gewickelt. Dann kann jeder sehen, dass ich krank im Kopf bin. Das willst du mir doch damit sagen, oder?“ „N-nein!“, versichert sie erschrocken. „Natürlich nicht“, erwidert er so sarkastisch wie ein waschechter Erwachsener. Ich zucke zusammen und seine Mutter tut es mir gleich. Mein Fackelträger sieht mich verwirrt an, fragt aber nicht weiter nach. Hinter uns kommen weitere Menschen die Treppe hinauf. „Was ist denn los?“, will Tanaka wissen, „Was dauert denn da so lange?“ „Er will einfach nicht aus seinem Zimmer kommen“, erklärt Kishos Mutter. „Das ist aber sehr unhöflich“, versucht Tanaka, ihn zu erziehen, doch sein Gast nimmt ihm den Wind aus den Segeln. „Ist schon gut“, sagt er, bemüht, die Situation zu entschärfen. Ganz der alte Diplomat. Ronga lugt interessiert ins Zimmer. Ich habe Mühe, mich nicht allzu sehr darüber zu erschrecken, dass ausgerechnet er der Besuch ist, den der Kleine begrüßen soll. Die Tatsache, dass wir wieder mit Spielzeug beworfen werden, macht es mir nicht unbedingt leichter. „Kisho!“, donnert Tanaka. „Es tut mir außerordentlich leid, Herr Kodansha“, stammelt seine Frau. Kodansha heißt er also auch, nicht nur Darey. Sieh an, Ronga hat also die Firma gehört, in der ich arbeite. Der alte Wolf ist doch immer wieder für eine Überraschung gut. Ich muss lächeln und auch Ronga lacht. „Nicht doch, nicht doch. Das ist schon in Ordnung“, beschwichtigt er. Kisho wühlt indes in einer Kiste, zerrt eine kleine Kindergeige heraus, die dem großen Exemplar, das ich noch am Abend im Wachleben gesehen habe, erstaunlich ähnlich sieht, und hält drohend den Bogen daran. „Wag es nicht, auch nur einen Schritt über die Schwelle zu machen!“, keift er Ronga an, „Komm ja nicht näher.“ „Sie müssen wirklich ent-“ „Sei still, Mama! Lasst euch nicht von ihm um den Finger wickeln! Er ist kein Mensch!“, kreischt er und zieht den Bogen über die Saite, dass das Instrument aufschreit wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten hat. Wir halten uns alle die Ohren zu. Nur der Taubstumme neben mir steht gelassen da und beobachtet das Schauspiel teilnahmslos, ja fast traurig darüber, dass er an dem Katzenjammer nicht teilhaben kann. Rongas Gestalt beginnt plötzlich zusammenzusinken. Seine Fingernägel verlängern sich und seiner Kehle entweicht ein animalisches Knurren. Es ist Tag hier drinnen, obwohl es draußen Nacht ist, und seine menschliche Gestalt kostet ihn viel seiner magischen Kraft. Eigentlich ist er am Tage ein Wolf. Der schräge Ton, der einfach nicht abreißen will und in seinen empfindlichen Ohren einem Kanonenschuss gleichkommen muss, macht es ihm unmöglich, den Schein aufrecht zu erhalten. Ich kann sehen, wie sein Oberkörper nach einer gebückten Haltung strebt, wie alles an ihm wieder auf vier Beinen gehen will. „Gavan“, knurrt er jedoch mit letzter Kraft und der Junge erstarrt. Ebenso seine Eltern. Die Stille, die einkehrt, jetzt wo der Kleine nicht mehr mit dem Bogen über die Saiten streichen kann, ist geradezu paradiesisch. Mein alter Mentor legt zwei Finger an je eine Schläfe des Elternpaares, murmelt ein paar Worte, schiebt uns dann aus dem Raum und schließt die Tür mit einem lauten Knall. Sie zerspringt in tausend Teile. Um uns herum breitet sich eine Wolke aus Staub und splitterndem Holz aus, sodass wir unsere Gesichter schützen müssen. Das Feuer in der Hand des Taubstummen erlischt. „Ronga!“, rufe ich, „Was war das?! Ronga! Was macht der in meinen Erinnerungen?!“ Die Flamme flackert wieder auf, als mein Begleiter erneut Wasser in seiner Hand sammelt. Mein Lehrer jedoch ist fort und mit ihm ist auch die Tür verschwunden. Wir starren auf ein glattes, weißes Rechteck, das sich von der schimmligen Wand ringsherum abhebt. „Lass uns hier verschwinden. Ich will hier raus. Je schneller wir den Ausgang finden, desto besser“, bittet mein Begleiter furchtsam. Ich bin ganz seiner Meinung. Wir steigen die Treppe hinab, immer tiefer hinein in die Dunkelheit, ohne eine weitere Tür zu öffnen. Irgendwoher weiß ich, dass wir viel weiter hinunter müssen, um zum Ausgang zu gelangen. Es kommt mir vor, als gingen wir Stunden. Nach und nach beginnt sich unsere Umgebung zu verändern. Das Geländer hat weniger Lücken. Die Trittfläche ist nicht mehr so morsch. Hier und da schimmert an den Türen ein Rest frischer Farbe durch. Wir sind bald da, das spüre ich deutlich. Warum nur macht mir der Gedanke Angst? Das Feuer fängt plötzlich an zu flackern. Löst sich von dem Teich in der Handfläche und fliegt einfach davon. Er greift noch danach, erwischt es aber nicht mehr. „Verdammt“, flucht er mit Marcos Stimme. „Dann müssen wir wohl im Dunkeln weiter.“ „Nicht unbedingt“, murmle ich, speie mir eine Fackel aus eigener Produktion in die Hand und grinse. „Ich kann den Trick auch.“ „Mit dem Feuer können wir die Türen nicht sehen“, wendet er betrübt ein. Er hat recht. Die Wände sind plötzlich glatt und leer, nicht mal mehr schimmelig. Ich mache die Flamme wieder aus. „Und jetzt?“, frage ich. „Wir könnten es mit dieser Tür hier versuchen“, schlägt er vor und klopft auf Holz, „Das war die letzte, die ich gesehen habe.“ Warum auch nicht. Ich öffne sie und staune nicht schlecht, als wir einen altvertrauten Laden betreten, in dem es Nudelsuppen gibt. Mein Begleiter nimmt ein weißes Hemd von der Garderobe und reicht es mir, damit ich meinen Oberkörper bedecken kann. Mir erscheint das völlig logisch. Alles hier macht so unglaublich viel Sinn, wirkt so nah, so echt, dass ich das Gefühl habe, gerade aufgewacht zu sein und wieder durch mein richtiges Leben zu wandeln. Beide wissen wir genau, an welchen Tisch wir uns setzen werden. Auf meinem Stuhl liegt meine Tüte mit dem gestohlenen Wörterbuch. Wir reden. Es ist wie Theaterspielen. Wir haben den Text schon auswendig gelernt, spielen unsere Rollen bis zur Perfektion. Er schreibt die Rechnung unseres Vorgängers voll, als er mich durch die Speisekarte lotst. Ich frage ihn, warum er nicht einfach wo er geht und steht einen Block mitnimmt, statt immer darauf zu hoffen, irgendwo Papier und Stift zu finden. Er lacht, greift in seine Jackentasche und zieht ein zerknülltes, mit unappetitlichen Tee- und Essensflecken übersätes Knäuel heraus, das in seinem früheren Leben mal ein Notizblock gewesen ist. „Ich bin hoffnungslos tollpatschig. Wenn ich meine Blöcke nicht misshandle, verliere ich sie“, schreibt er auf die Rechnung, die damit entgültig keinen weiteren Buchstaben mehr aufnehmen kann. Er sieht sich auf den Nachbartischen nach einer neuen Schreibgelegenheit um, während ich das Wörterbuch auf den Tisch wuchte, es aufklappe und ihm vor die Nase schiebe. Die Innenseite des Einbands ist leer. Die perfekte Schreibunterlage. „Sicher?“, fragt sein Mienenspiel. „Das ist ein Buch für Wörter zum schreiben, oder?“, stottere ich zusammen und nicke ihm aufmunternd zu. „Warum hast du ein Buch über Musik gekauft?“, frage ich bei der Gelegenheit. „Komponisten“, verbessert er sich, indem er das japanische Wort und die englische Übersetzung in das Buch schreibt, „Ich möchte wissen, warum sie Musik geschrieben haben. Vielleicht finde ich dann heraus, warum so viele Leute Musik hören und das fast immer und überall.“ Er mustert mich, als warte er auf einen Angriff. Ich überlege. Ja, warum eigentlich? „Vielleicht, weil wir damit was Kontakt aufnehmen“, antworte ich, was bedeuten soll, dass wir etwas damit verbinden. „Memories oder einfach ein Gefühl.“ Seine Mandelaugen werden so groß, dass er einen Moment lang fast wie ein Europäer aussieht. „Du bist der Erste, der mich dafür nicht auslacht“, schreibt er. Dann kritzelt er noch etwas darunter, von dem ich nicht alles lesen kann, weil es zu viele unbekannte Wörter enthält. Als ich ihn bitte, es zu übersetzen oder zu erklären, schreibt er, ich solle es selbst tun, wenn mein Japanisch besser geworden ist. Die Tatsache, dass er annimmt ich könne diese verteufelte Sprache lernen, lässt mich in schallendes Gelächter ausbrechen. Ich greife nach der weißen Tischdecke, ziehe sie mir, immer noch kichernd, über den Kopf und lege mich darunter schlafen. Die Szene kippt auf die Seite. Leute laufen von oben nach unten und von unten nach oben durch mein Sichtfeld, an Tischen wird seitwärts gegessen und die Suppe tropft der Zimmerdecke entgegen. Das Bild rückt immer weiter in die Ferne und ich falle auf mein Bett. Neben mir liegt mein taubstummer Freund und schläft friedlich. Ich fühle mich, als hätte ich eine ganze Nacht tief und fest geschlafen. Lächelnd lasse ich mich in die Kissen fallen, lege entspannt meinen Arm um seinen Bauch und gehe mit der Hand den untersten, vom Brustbein zusammengehaltenen Rippenbogen entlang, weil ich weiß, wie herrlich kitzelig er dort ist. Ich greife in etwas Nasses. Ich schrecke auf, sitze von einer Sekunde auf die andere aufrecht im Bett. Die Hand vor meinen Augen trieft dunkelrot. Erst jetzt fällt mir die Blutspur auf, die unter unserer weißen Decke hervorbricht. Ein etwa handbreiter, roter Graben, der durch das endlos lange Zimmer führt, das vorhin noch meines war. In etwa sieben Metern Entfernung sitzt Lavande auf einem Stuhl. Die Blutspur endet zu ihren Füßen. Hinter ihr steht Ronga, die Arme um ihre Schultern geschlungen. „Ich möchte zu Protokoll geben, dass ich ihn nicht umgebracht habe“, verkündet sie trotzig. „Natürlich nicht“, lacht Ronga und streicht ihr zärtlich durch das goldene Haar. „Das war er.“ „Das ist nicht wahr!“, kreische ich hysterisch, „Du warst es! Ich hätte mir denken können, dass du ihn dir holst. Die anderen hast du schließlich auch...!“ Meine Stimme ertrinkt. Ich muss abbrechen, weil ich heule, wie ein Schlosshund. Die beiden schütteln unbarmherzig den Kopf, synchron wie zwei aufgezogene Spielzeugroboter. „Nein, nein, mein Bester. Dieses Mal war ich’s nicht.“, beharrt Luv, „Das mit seinem Herzen warst ganz allein du. Dieses Mal brauche ich dich nicht zu manipulieren. Aber keine Sorge, ich gehe auch nicht mit weißer Weste.“ Ronga gibt ein angewidertes Glucksen von sich, wendet sich von ihr ab und geht nach hinten davon. Seine Gemahlin kommt, den Rücken zu ihm, auf mich zu. „Bleib wo du bist!“, brülle ich. Sie lacht schrill und beschleunigt ihre Schritte. Plötzlich höre ich Geigenspiel direkt in meinem linken Ohr. „Shhht, nicht weinen. Ist nur ein Alptraum. Wach auf“, flüstert eine Männerstimme in das andere. Dann höre ich die Musik in Stereo. Als ich aufwache, hält jemand mein Gesicht in seinen Händen und in meinen Ohren stecken Kopfhörer. „Denk lieber an was Schönes“, sagt der Rotschopf aus Tanakas Büro über die leisen Töne hinweg. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als er die Lautstärke aufdreht. Kapitel 13: Musik in meinen Ohren --------------------------------- Er hatte die noch tiefstehende Morgensonne im Rücken, die durch die geöffneten Vorhänge hereinschien, doch ich erkannte ihn auch gegen das Licht als den Verrückten aus Tanakas Büro. Seine Finger strichen mir behutsam die Tränen von den Wangen. Normalerweise hätte er dafür ein paar Zähne verloren, doch statt meine Faust in sein Gesicht zu pflanzen, lächelte ich ihm nur entrückt entgegen. Wenn ich jemals etwas Schöneres gehört hatte, als das, was gerade aus den Kopfhörern an meine Trommelfelle drang, konnte ich nicht sagen, wann das gewesen sein sollte. Ich war wie hypnotisiert, wollte nichts anderes mehr als diesen Klängen zu lauschen, die alles, was mich bis eben belastet hatte, winzig klein und unbedeutend machten. Mein Gast nickte zufrieden, rollte mich von der Seite auf den Rücken, ohne dass ich mich im geringsten dagegen gewehrt hätte, und musterte mich prüfend. Es störte mich nicht, dass er, als ein Wildfremder, mir die flache Hand auf die Brust legte, obwohl ich sonst nichts mehr hasste, als von mir unbekannten Menschen einfach angegrapscht zu werden. Sollte er schalten und walten, wie er wollte. Er hatte mir diese Töne geschenkt. Solang er sie mir nicht wegnahm, konnte er gern tun, wonach ihm der Sinn stand. Konzentriert schloss er die Augen und blieb eine ganze Weile reglos neben meinem Bett in der Hocke sitzen. Seine Lippen bewegten sich, doch ich hörte ihn nicht, die Musik war zu laut und viel zu eindringlich. Mehr nebenbei bemerkte ich das leichte, pulsierende Brennen in meiner rechten Schulter, genau dort, wo Lavande ihre Signatur auf mir hinterlassen hatte. Ai. War es das, was sie damals geschrieben hatte, als ich bei ihr war? Ich hatte davon geträumt, bevor Nick aufgetaucht war. Wenn der Taubstumme echt war – und dass er es war, dessen war ich mir jetzt sicher – war dann auch diese Vision eine echte Erinnerung gewesen? Der Rotschopf schien die Veränderung in der Schultergegend deutlich zu spüren. Er nahm seine Hand von meinem Brustbein, drückte sachte, fast zärtlich, die Ohrstöpsel zurecht, platzierte dann den MP3-Player etwas abseits, an den sie angeschlossen waren, drehte mich auf den Bauch und schob mein T-Shirt hoch. Für gewöhnlich schlief ich nur in Shorts, doch nach der Entdeckung des Zeichens hatte ich beschlossen, dass es gut sei, es zu verstecken. Vor Rick, vor nächtlichen Besuchern, vor mir selbst. Das Brennen und Pochen wurde stärker, als er seine Hand auf die bemalte Stelle legte. Ich ließ ihn dennoch, war einfach zu benebelt, um zu reagieren. Abwesend vergrub ich den Kopf in meinem Kissen, immer noch debil grinsend. Nach wenigen Sekunden nahm er die Hand wieder von meiner Schulter, setzte sich neben mich auf die Bettkante und rührte sich nicht. Irgendetwas beschäftigte ihn wohl. Ich wurde unruhig. Wollte er seine Musik etwa wieder mitnehmen? Dachte er womöglich darüber nach, wie er mir die Kopfhörer am schnellsten aus den Ohren ziehen konnte? Misstrauisch drehte ich mein Gesicht zu ihm, versuchte in seinem Blick zu lesen, doch ich hatte zu lang gezögert. Er war schon zu einem Entschluss gekommen. Gelassen stand er auf und verschwand aus meinem Zimmer, wobei er die Tür offen stehen ließ. Ich sah ihm nach. Was er wohl in meiner Wohnung wollte? Vielleicht suchte er ja die Asche? Er konnte sie gern haben. Ich brauchte sie nicht, brauchte gar nichts mehr, war wunschlos glücklich. Völlig von den Klängen hingerissen, fand ich es nicht einmal bedenklich, dass er mit einem Knäuel Paketschnur zurückkam und mich in aller Seelenruhe damit am Bett festband. Umso schmerzhafter war es, als ich endlich begriff. Er legte beide Hände auf das gemalte Zeichen und plötzlich glaubte ich, mir würde der Arm abgerissen. Ich schrie auf vor Schmerz, überbrüllte alle anderen Geräusche um mich herum, zerrte an meinen Fesseln wie ein Besessener. Ihn interessierte es nicht. Wütend schüttelte ich mir die Stöpsel aus den Ohren. „Rick!“, rief ich und wie auf ein Stichwort nahm er die Hände wieder von meinem Rücken. Augenblicklich ließ der Schmerz nach. Mit stoischer Ruhe sammelte er seine Elektronik ein und hockte sich dann neben mein Bett, um mir ins Gesicht sehen zu können. „Sinnlos nach ihm zu rufen“, informierte er mich mit seinem schiefen Lächeln und schwenkte mein Schlüsselbund vor meiner Nase hin und her, dass es leise klimperte. „Bis er seine Zimmertür aufgekriegt hat, bin ich schon weg. Ich wollte mich nur schnell bei dir entschuldigen.“ „Was, wirklich?“, blaffte ich, „Wofür? Dafür, dass du mich an mein Bett fesselst, dafür, dass du ungefragt an mir rumfummelst, oder vielleicht dafür, dass du mir halb den Arm ausreißt?!“ „Für die Ohrfeige“, versetzte er trocken. Die Sanftheit, mit der er mich eben noch aus meinem Alptraum geholt hatte, hatte sich bis auf’s Letzte verflüchtigt. Seine Worte waren so schneidend, dass ich fast sehen konnte, wie sie die Luft zerteilten. „Ich dachte, du wärst... nun... besessen kommt dem wohl am nächsten. Aber du wusstest dich zu wehren, wie ich sehe.“ In seinen Augen blitzte es gefährlich. „Eine interessante Tätowierung hast du da.“ „Nicht halb so interessant, wie dein MP3-Player“, zischte ich und erschrak, als ich feststellte, dass ich, obwohl ich nun um ihre gefährliche Wirkung wusste, gern weiter die Musik aus dem kleinen Gerät gehört hätte. „Am Rande der Nacht“, murmelte er und stand auf. Ich starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Hatte ich da gerade richtig gehört? „Schau nicht so. Du wolltest wissen, wie das Stück heißt“, erklärte er ruhig, während er scheinbar ziellos durch mein Zimmer streunte. „Bist schon ein reichlich merkwürdiger Kerl...“ Mein Schreibtisch schien ihn besonders zu interessieren. Er begann, die Sachen durchzusehen, die ich am Abend aus meinem Rucksack gekippt und dort liegengelassen hatte. „Gleichfalls“, feixte ich zurück. „Klick-klick-klick-Piep!“ Er lachte, allerdings völlig humorlos. „Ach das“, sinnierte er gelangweilt, „Mein Vater will, dass ich die Firma übernehme. Darum die ‚Computerphobie’.“ Gemächlich ging er meine Aufzeichnungen vom Abend durch. „Yami existiert nicht“, zitierte er tonlos aus meiner Tabelle. „Nicht mehr...“, fügte er hinzu. Dann plötzlich erhellte sich sein Gesicht und er drehte sich zu mir herum, in der Hand den Dolch, den ich von Eliphas bekommen hatte. Das halbe Auge des Orion, das ebenfalls irgendwo auf dem Schreibtisch liegen musste, hatte er entweder nicht gefunden, oder es war für ihn nicht von Interesse. „Damit sollte es gehen“, verkündete er fröhlich, war mit einem Satz auf meinem Bett und machte es sich auf meinem Rücken bequem. Ich zerrte erneut an meinen Fesseln. „Nicht doch, nicht doch“, lachte er. „Ich weiß, das sieht hier etwas missverständlich aus, aber ich bin kein Perverser.“ Langsam fuhr er mit der Klinge meine Wirbelsäule hinauf, ohne jedoch genug Druck auszuüben, um mir damit wehzutun. „Zumindest glaube ich das“, setzte er nach, als er den Dolch unter mein hochgeschobenes T-Shirt hakte und es mit einem Ruck in zwei Hälften teilte. So fühlt sich die Hölle an, Kleiner, kicherte Lavande irgendwo in meinem Hinterkopf. Mein Verstand setzte aus. Die Angst rollte über mich hinweg wie eine Lawine und begrub jeden klaren Gedanken unter sich. Mein Herz raste. Panisch schnappte ich nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Eine Hitzewelle ging durch meinen Rücken und ich spürte, wie die Überreste, meiner abgeschlagenen Flügel daraus hervorschossen. Mir wurde warm. Unglaublich warm. Ich ließ mich fallen, hinein in diese Wärme, während alles um mich herum im Zeitraffer zu geschehen schien. Auf meinem Schreibtisch begann das Auge des Orion grell zu leuchten. Ich hörte den Jungen über mir schrill aufschreien und gleich darauf abrupt verstummen. (Diese Wärme, diese wunderbare Wärme...) Sein Gewicht wurde von meinem Rücken genommen, ja geradezu von mir heruntergeworfen. (Ich bin in Sicherheit. Zumindest für diesen einen Moment kann mir niemand mehr auch nur das Geringste anhaben. Nicht mal...) „Kori!“, kreischte Rick hysterisch. Er klang fern, als spräche er in einen endlos langen Tunnel hinein. Wie kam er überhaupt hier her? „Kori, hör auf um Gottes Willen! Du bringst ihn um, wenn du weitermachst! Es wird nicht ausgehen, wenn du nicht aufhörst! KORI!“ Ein beißender Geruch stieg mir in die Nase und von einer Sekunde auf die andere hatte die Wärme, die mich umhüllte nichts Wohliges mehr. Ich erkannte sie als mein Feuer. Erkannte den Geruch als den Gestank von verbranntem Fleisch. Ich stand in Flammen und der Geigenspieler ebenso. Aufrecht saß ich in meinem Bett, völlig unversehrt. Die Schnüre waren längst verbrannt. Ohne darauf zu achten, was mit seinen Armen geschehen würde, hatte Rick mich gepackt und schüttelte mich unablässig. „Kori!“, rief er noch einmal und tatsächlich hörte ich wieder auf, zu brennen. Die Flügelansätze verschwanden wieder. Auch das grüne Leuchten hinter mir verglomm und mit ihm jede der Flammen, die sonst irgendwo brannten. Nein, nicht irgendwo. Verdutzt stellte ich fest, dass es nur Tanakas Sohn war, der Feuer gefangen hatte. Selbst Rick, der mich doch eben noch berührt hatte, war unverletzt. Ganz anders mein ungebetener Gast. Die untere Hälfte seines Körpers war nicht mehr zu erkennen. In seinen Augen standen Tränen. Die Art, wie er mit ihnen zu mir hinaufschaute, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Er wollte schreien, das sah ich, doch selbst dafür waren die Schmerzen zu groß. Der Anblick ging mir durch Mark und Bein. „Hilf mir, schnell!“, riss mich Ricks Stimme aus der Erstarrung. Er hatte sich neben den jungen Mann gekniet und die Hände auf eines seiner Beine gelegt. „Nimm du sein anderes und dann sprich mir nach!“, instruierte er mich. Eilig ließ ich mich auf den Boden fallen und tat es Rick nach, legte meine Hände auf die zur Unkenntlichkeit verbrannte Masse, die einmal ein Bein gewesen war. Mein Mitbewohner musterte mich prüfend. Als er schließlich zu sprechen begann, klang er, als bete er. „Ya aëmus vela ravem enis“ „Ya aëmus vela ravem enis”, echote ich, weit weniger feierlich. Eine von Ricks Händen legte sich auf meine und dann durchströmte mich das Gefühl, das ich schon von den paar Malen kannte, die er mich geheilt hatte. Ein ruhiges, gleichmäßiges Pulsieren, das mich schläfrig und zufrieden machte. Unendlich erleichtert sah ich zu, wie aus den unförmigen Überresten vor mir wieder Beine wurden, wie das zerstörte Gewebe gesunder Haut platzmachte, bis schließlich nur noch die größtenteils den Flammen zum Opfer gefallene Hose an den schaurigen Anblick erinnerte. Klirrend fiel mein Dolch aus seiner Hand, die ihn eben noch, vor Schmerz verkrampft, fest umklammert hatte. Der Rotschopf seufzte tief, rührte sich nicht. Rick robbte ein Stück zur Seite, bis er neben seinem Kopf saß. „Cunno“, sagte er ihm direkt ins Ohr, woraufhin er sofort einschlief. Friedlich lag er da, mit entspannten Zügen und gleichmäßigem Atem und erinnerte nun wieder an den, der mich gnädigerweise aus meinem Alptraum geweckt hatte. „Das war verdammt knapp“, ermahnte mich mein Mitbewohner leise. Ich nickte zustimmend. Das war es in jeder Hinsicht gewesen. Wir wuchteten den Schlafenden zu zweit auf’s Bett. Die Gefahr, dass er aufwachen würde bestand nicht, wie ich aus eigener Erfahrung wusste. Ein entschiedenes Cunno, vom Richtigen gesagt, war zuverlässiger als alle Schlafmittel zusammen. „Tut mir leid, dass ich so spät da war“, beteuerte Rick, „Er hatte mich eingeschlossen und ich hatte meinen eigenen Schlüssel nicht im Zimmer.“ Verlegen strich er sich über den Hinterkopf. „Ich fürchte, wir werden demnächst eine neue Tür kaufen müssen.“ Ich musste lachen. „Das ist momentan mein kleinstes Problem.“ Ich hob den Dolch vom Boden auf und legte ihn zurück auf den Schreibtisch. „Woher hast du den?“, wollte Rick wissen. „Von Nicks Mentor. Da fällt mir ein, dass ich dir das Ding geben sollte. Und den Stein.“ Er stellte sich neben mich und betrachtete beides eingehend. „Alles klar“, meinte er, „Ich kümmere mich morgen darum. Für heute bin ich mit meinen Kräften am Ende.“ „Was wirst du damit machen?“ „Daraus“, korrigierte er mich nicht ohne Stolz. „Eine brauchbare Waffe... Hoffentlich.“ Das genügte mir vorerst. Auf dem Bett rollte sich der Schlafende auf die Seite. „Wann wird er aufwachen?“, fragte ich. Rick sah auf die Uhr. „So gegen Mittag, fürchte ich. Ich hab mir nicht sehr viel Mühe gegeben mit dem Wort.“ „Das ist okay. Kannst du dafür sorgen, dass er nicht abhaut?“ „Sicher. Ich pass auf. Du willst ihm ja nichts Böses.“ „Will ich nicht? Da wär ich mir nicht so sicher“, knirschte ich. Ich konnte nicht gerade von mir behaupten, dass ich den Kerl sonderlich mochte. „Ya aëmus vela ravem enis. - Ich wünsche dir kein Leid. In der alten Sprache kann man nicht lügen, selbst wenn der Kopf nicht weiß, was man sagt“, erwiderte Rick gelassen. „Klugscheißer“, maulte ich. „Ich muss noch was erledigen. Hast du mein altes Wörterbuch noch? Japanisch – Englisch?“ „Ja, bestimmt irgendwo. Aber was willst du damit?“, wunderte er sich. „Sprechen“, antwortete ich. Er seufzte, machte jedoch keinen weiteren Versuch, mehr aus mir herauszukriegen. Dazu kannte er mich einfach zu gut. Stattdessen ging er in sein Zimmer, um das Buch zu suchen. Ich nutzte die Gelegenheit und ließ den Staubsaugerbeutel mit der Asche in meinem Rucksack verschwinden. -- Öff, das war ne schwere Geburt. So liest es sich leider auch. Das nervige Wissenschaftsdeutsch im Studium versaut mir meinen schönen, kitschigen Fanficschreibstil *schnief*. Das Kapitel holpert so dahin, aber ich wollte über diese Stelle endlich mal rüber! Na egal, hoffe, ihr hattet euren Spaß und falls es Yaoi-Fans unter euch gibt: Ätschbätsch! Nix passiert! Reingefallen! *husträusper* Okay, dann flüchte ich jetzt mal lieber zu meinen Büchern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)