Aurora von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: Zweites Kapitel - Löwenzahn -------------------------------------- [A/N: Ich bedanke mich sehr bei Kofferraumkind für ihr liebes Kommentar und die konstruktive Kritik. Ich liebe dich, Schatz.] Am nächsten Tag und die Tage darauf verhielten sich die anderen Dorfbewohner seltsam. Sogar sein Vater, der in der Nacht im Wald irgendwann erwacht war und voller Sorge nach seinem Sohn gesucht hatte, schien ihn nun, wenn er ihn ansah, nur noch skeptisch und mit Argwohn zu mustern, als glaubte er, dass jeden Moment ein Dämon aus Luka herausbrechen könnte. Der Junge wunderte sich nicht sonderlich über das Verhalten der anderen. Es gab nun einmal diese Phasen, immer wenn sie etwas anscheinend Ungewöhnliches an ihm entdeckten, seien es die Ohren, die reine Haut oder die Tatsache, dass, wenn er sang, seine Stimme, selbst Stimmbruch, nicht einmal zitterte. Doch dass sein Vater sich den Blicken der anderen nun angeschlossen hatte, verwunderte den Jungen doch etwas. Stillschweigend ging er seiner Arbeit nach, beschwerte sich nicht sondern putzte das Leder, bis es glänzte, wachste es ein, bis es das Licht reflektierte und fettete die Stiefel ein, die er vom Schuster für den Weiterverkauf bekommen hatte. Was ihn jedoch noch mehr wunderte, war, dass er Lino schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte, obwohl das Dorf recht klein war und nur aus knapp sechzig Seelen und elf Hütten und Häusern bestand, Kirche, Schmiede, Schusterei und Gerberei nicht mitgerechnet. Er versuchte, es auf sich beruhen zu lassen, es zu vergessen. Er war wie immer stets freundlich, höflich und zuvorkommend, half, wo er nur konnte, verzweifelt versuchend in diesen Tagen vielleicht doch noch etwas Sympathie zu wecken – vergebens. Er fragte sich doch, welches Gerücht über ihn im Umlauf war, dass er nun selbst von Lino geschnitten wurde. Als er eines Tages mit einem Bastkorb voll Wäsche zum Fluss ging, um die Laken darin zu schwenken – er hatte kein Waschbrett –, kam es, dass er ihr begegnete. Ihr wildes, rotes Haar erkannte er schon von weitem. Janneke hieß sie. War etwa ein Jahr älter als Luka, vielleicht ein wenig mehr, so genau wusste er das nicht. Kennen tat er sie kaum. Ab und zu wechselten sie ein paar Worte, wenn er Lino mal wieder verwundet nach Hause brachte. Sie war seine große Schwester, kam, im Gegensatz zu Lino, jedoch sehr nach dem Vater. Grüne Augen mit Gelbstich, umrahmt von einem dichten Wimpernkranz. Wenige, blasse Sommersprossen zierten ihre Nase, der Gang stets stolz und aufrecht, egal wie schwer sie trug. Und ihre Stimme… Von weitem konnte er sie singen hören. „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart, wie uns die Alten sungen, aus Jesse kam die Art und hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht.“ Der blaue Rock und die weiße Schürze waren schon nass vom rauschenden Wasser des Flusses. Langsamen Schrittes näherte er sich ihr von hinten. Sie hörte auf zu singen. Luka hätte sich ins Knie beißen können. Stattdessen setzte er ein warmes Lächeln auf und stellte den Korb mit Wäsche neben ihr ab. „Janneke…“, sagte er, wohl zur Begrüßung, und nickte ihr zu. Janneke sah ihn nicht an. Sie schrubbte ein Hemd über das Waschbrett. Der Junge griff nach einem Laken aus seinem Korb. Dann hielt er inne. „Janneke, dürfte ich wohl – wenn du fertig bist, versteht sich – vielleicht auch… also, dein Waschbrett ausleihen? Wenn es ginge.“ Er räusperte sich. Was für eine Blamage, wenn seine Stimme nun wieder anfangen würde zu quäken, ein Jahr ging es nun schon so. Janneke stand auf. Luka öffnete den Mund, wollte etwas sagen. Nicht, dass sie ginge, das wollte er nicht. Bloß wegen ihm. War ihr seine Anwesenheit unwohl? Dann würde er lieber gehen und sich weiter flussabwärts ein Plätzchen suchen. Doch Janneke ging nicht. Sie nahm sich Lukas Wäsche und trug sie zu sich herüber. „Das ist doch keine Arbeit für einen Mann.“, sagte sie und lächelte flüchtig. „Wer dich dazu verdonnert hat, den sollte man mit Ochsenziemer über Wiese und Heide jagen.“ – „Wer mich dazu verdonnert hat, ist mein Vater und der ist wohl mehr Mann, als ich.“, sagte Luka lächelnd. Der Schreck war schnell vergessen. „Aber ich will dir keine Arbeit aufzwingen. Lass mich dir helfen.“ Janneke warf das nasse Hemd in ihrem Korb. „Du kannst mir helfen, Luka.“, sagte sie und machte sich an die Wäsche des Jungen. Interessiert sah der jüngere zu ihr, fragend und dennoch abwartend. Da das Mädchen allerdings nicht weiter sprach, rang sich Luka dazu durch, doch noch ein wenig nachzuhaken. Die Stille zwischen ihnen bekam ihm nämlich gar nicht. „So, wie kann ich dir denn helfen?“, fragte er, die roten, krausen Strähnen betrachtend, die sich aus ihrem Bauernzopf gelöst hatten und nun in ihrem schönen Gesicht hingen. Einen Moment schwieg sie. Rubbelte und Scheuerte an dem Laken herum, das schon ganz grau war und längst nicht mehr so weich wie früher. Nachdenklich sah sie aus. Luka hätte nur zu gern ihre Gedanken gelesen. „Sag mir“, begann sie. „Sag mir, was Wahres an der Sache ist.“ Luka hob beide Augenbrauen, öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wolle, schloss und öffnete ihn wieder, wie ein Karpfen, denn er bekam nichts heraus. Wie gern, würde er Janneke sagen, was Wahres an der Sache war, wenn er nur wüsste, von welcher Sache sie sprach… „Welche Sache?“, fragte er dann, freiheraus, denn sonst ging es nicht weiter. Janneke hörte auf zu scheuern und sah Luka an, als habe er sie gerade gefragt, ob sie bei ihrer Geburt aus einem Ei geschlüpft sei. Luka lächelte beklemmt und fragte sich, ob seine Worte irgendetwas Absurdes oder Irrsinniges an sich gehabt hatten, doch nach einigen Sekunden kam er selbst darauf, dass es nicht so sein konnte und dass Janneke wohl einfach nur erwartet hatte, er wüsste genau über diese Sache bescheid. „Nun, diese Sache.“, antwortete Janneke schließlich und widmete sich erneut dem Waschbrett und dem Laken. „Lino hat es selbst erzählt – und Lino kennt dich wie kein zweiter. Er bewundert dich sehr, musst du wissen. Ganz besonders deine Zauberkunst.“ Den letzten Satz sprach sie so leise, dass Luka genau hinhören musste, um ihn richtig zu verstehen. Zauberkünste? Da musste sie etwas missverstanden haben. Nie hatte Luka auch nur im Ansatz gezaubert. „Ich verstehe nicht…“, gab er etwas kleinlaut zu und zwang Janneke so, fortzufahren. „Luka…“, sagte diese, nun selbst etwas beklemmt und ließ das Laken wieder ruhen. „Wenn du ein Feuer entzündest, mit Feuersteinen, so gelingt es dir gleich beim ersten Versuch. Sieh dir deine Ohren an und dann deine Haut und wie du singst, dein Vater und du, ihr geht nie in die Kirche, nur zu Feiertagen. Und, Lino hat es erzählt, du hast diese Gabe. Und auch Sander wusste davon.“ „Welche Gabe?“ Luka runzelte die Stirn. Er hatte sich zu ihr rüber gelehnt, damit sie nicht so laut sprechen musste. Mit der Zeit war sie immer leiser geworden, bis ihre weiche Stimme beinahe nur noch ein Flüstern war. „Seine Wunde…“, raunte sie und deutete auf ihr Knie. „Und auch der Schnitt in der Hand, davor, und die aufgeplatzte Lippe. Luka, du verstehst mich doch…?“ Ratlos blickte der Junge drein. Janneke seufzte laut. „Muss ich es dir einprügeln, Junge? Die Menschen haben Angst, du könntest ein Hexer sein. Niemand kennt sie, deine Mutter, und nun fürchten sie sich ein wenig. Ich habe immer viel von dir gehalten, ich habe nichts geglaubt von ihren Geschichten, aber du siehst es doch selber oder etwa nicht? Mutter hält Lino seit Tagen im Haus, weil sie fürchtet, du könntest ihn verhexen, da er das siebente Kind ist. Du musst reinen Tisch mit ihnen machen, sag ihnen, dass es Unsinn ist, was Lino erzählt. Sag ihnen, seine Fantasie spielt verrückt, du hättest ihm Geschichten erzählt, irgendwas… Bitte, tu das Luka. Lino möchte wieder mit dir reden dürfen. Und ich auch…“ Ihre großen, grünen Augen hatten die seinen fest fixiert. Sie waren feucht und leuchteten, glitzerten wie der Fluss im goldenen Schein der Nachmittagssonne. Luka wusste nicht, was er erwidern sollte. Zu geschockt war er von dem, was das rothaarige Mädchen ihm soeben erzählt hatte. Seine Hände zitterten. Nur eine Frage brannte ihm auf den Lippen. Nur diese eine. „Und du…?“, wisperte er. Wie sein Vater es oftmals tat, sah er ihr zwischen die Augen, wagte es nicht, ihren Blick zu erwidern. „Hast du keine Angst, dass ich ein Hexer bin?“ Janneke lächelte verhalten, hob ihre nasse Hand und streichelte Luka durch sein blondes, krauses Haar. „Hexerei…“, sagte sie. „…kann bei Weilen doch auch ganz spaßig sein.“ Nun lächelte Luka auch. Er war froh, jemanden gefunden zu haben, der auf seiner Seite stand. Selbst, wenn es bloß ein Mädchen war. Bis die Sonne hinter den Wipfeln der Bäume verschwunden war saßen sie am Fluss und wuschen die Wäsche. Ab und zu wechselten sie sich ab. Wenn Luka wusch, flocht Janneke einen Kranz aus Löwenzahnblüten, wenn Janneke wusch, pflückte er weitere Blumen für die Blütenkrone. Und die ganze Zeit erzählte er die Geschichten seines Vaters, mit beinahe demselben Wortlaut, wie dieser es tat, denn tatsächlich konnte Luka sie nun alle auswendig. Janneke gefielen sie und manchmal hakte sie so nach den Hintergründen nach, dass der Junge sich einfach etwas Neues einfallen lassen musste. „Und warum hat der Eisdrache gerade die Mädchen gefressen? Gab es dort keine Tiere?“, fragte sie und suchte sich ein paar schöne Blumen von denen heraus, die Luka gepflückt hatte. Er überlegte kurz. „Nun, ich nehme an, weil diese am besten schmecken.“ Janneke lachte leise. „Das glaube ich nicht. Ich glaube, Rehe und Hasen schmecken viel besser als Menschen.“ – „Für Drachen sicher nicht, Drachen sind Menschenfresser. Sie fressen mit Vorliebe Jungfrauen und Kinder.“, erwiderte Luka bestimmt und fachmännisch und packte ein sauberes Hemd in seinen Korb. „Und wie unterscheidet er Jungfrauen von den anderen?“, fragte Janneke und grinste breit. „Kann ein Drache das riechen? Oder fragt er seine Opfer ganz einfach, bevor er sie frisst?“ Luka überlegte einen Moment. Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Von seinem Vater wusste er, wie furchtbar diese Kreaturen waren. Dass sie Blut liebten wie Vampire, Jungfrauen und Kinder mordeten, nicht aus Nahrungsgründen, sondern einfach aus Genuss am Leid anderer. Sie waren groß, gefräßig, spieen Feuer und Galle und rochen schrecklich nach Schwefel. „Ich habe noch nie einen Drachen gesehen.“, antwortete Luka dann. „Die gibt es nur in den Bergen und am Meer, glaube ich. Und dort werde ich wohl nie hinkommen. Und wenn ich doch mal einen treffen sollte, erlege ich ihn und bringe dir seinen Kopf mit.“ – „Was soll ich mit einem Kopf?“, erwiderte Janneke und verzog das Gesicht. „Bring ihn mir lieber ganz und lebendig mit, dann möchte ich sehen, wie er mich als Jungfrau erkennt. ‚Guten Tag, Fräulein, darf ich Sie wohl etwas Unsittliches fragen?’“ Beide lachten. Die Sonne versank langsam hinter den Bäumen und tauchte den Himmel in ein zartes Rosa. Schleierwolken hingen am Himmel und schienen sich kaum zu Bewegen, zerzaust vom Wind, weit oben im Himmel. Luka packte das letzte Hemd in den Korb, dann hob er ihn hoch. Die Kleidung, noch immer voll gesogen mit Wasser, machte den Korb zehnmal so schwer, wie zu Beginn. Janneke bestand darauf, ihren Korb selber zu tragen. Sie sei ja kein kleines Mädchen, das Angst habe, sich die Hände schmutzig zu machen und einen Buckel würde sie von diesem Federgewicht wohl auch nicht bekommen. Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg, Jannekes rostrotes Haar geschmückt mit roten Mohn-, blauen Korn- und gelben Löwenzahnblüten. „Das hat er sich zusammengedichtet.“, versicherte Luka seinem Vater und den Eltern von Lino und Janneke. Andrusch hatte sich bereit erklärt, die beiden gemeinsam mit Luka aufzusuchen und hinter seinem Sohn zu stehen, nachdem er sich selbst davon hatte überzeugen lassen, dass Luka weder den Herrn Gevatter anbetete, noch dessen Gebieter etwas tiefer unten in der Hölle, noch, dass er irgendwelche Zauberkräfte besaß. „Lino hat eine lebhafte Fantasie. Wahrscheinlich wünscht er sich einfach nur, dass all diese Utopien Wirklichkeit werden. Und Sander ist sein bester Freund, natürlich steht er zu ihm. Aber ich und auch mein Vater können Euch versichern, dass ich mit so einem Firlefanz nichts am Hut habe.“ Luka wusste nicht recht, ob er seine eigenen Worte glauben sollte. So, wie Janneke es geschildert hatte, klang es äußerst glaubhaft. Beinahe hätte er selbst es ihr abgenommen. Niemand kannte seine Mutter, auch er nicht, Vater sprach nicht über sie, wer konnte schon wissen, was ihm diese Unbekannte mit auf den Weg gegeben hatte? In dieser Nacht schlief er unruhig. Er hatte einen wirren Traum von einem Drachen. Der Magen der Bestie knurrte laut. Er stand inmitten von wunderschönen Frauen, alle bereit von ihm verspeist zu werden, doch er wollte sie nicht. Eine der Frauen kniete sich vor ihn, bat ihn darum, sie zu fressen, aber der Drache schüttelte bloß den Kopf und sprach – selbst im Traum war der Junge darüber verwundert – mit Lukas Stimme: „Jungfrauen sind mir lieber, gnädige Frau, da leid’ ich lieber Hunger.“ Luka erwachte gegen Mitternacht. Es war Stockfinster, erneut waren Wolken aufgezogen und verdeckten das Antlitz des Mondes, der zu so später Stunde die einzige Lichtquelle gewesen wäre. Der Junge stand auf und ging hinüber zum Ofen. Es war wahr. Feuer konnte er schnell entfachen und dann brannte es die ganze Nacht. Er seufzte leise, öffnete die Ofenklappe und legte ein Holzscheit in die Glut. Dann hörte er ein weiteres Seufzen. Nicht von ihm. Er sah auf. Sein Vater wälzte sich im Bett hin und her. Luka entzündete eine Kerze mit einem Streichholz, nahm sie in die Hand und schritt langsam auf das Bett des Alten zu. „Vater…?“, flüsterte er leise, kniete sich hin und stellte die Kerze auf das Nachttischchen. Ob er wohl einen Alptraum hatte? Es schien so, als ob sie beide diese Nacht gerade ruhig schliefen. Er zog die Decke seines Vaters zurecht, über seine Füße, dass er nicht fror, dann wollte er aufstehen und zurück in sein eigenes Bett gehen, doch als er die Decke seines Vaters noch hinauf zu dessen Kinn zog, spürte er, wie nass sie war. Auf dem Gesicht seines Vaters glitzerten Schweißtropfen wie kleine Perlen. Der Mann war kreidebleich, als hätte man ihn mit Kalk bestrichen. Luka öffnete vom Donner gerührt den Mund. Langsam streckte er seine Hand nach der Stirn seines Vaters aus und berührte sie vorsichtig. Das Gesicht des Alten glühte. Schnell zog Luka seine Hand wieder zurück. Er presste die Lippen aufeinander, bis sie ganz weiß wurden, versuchte sich zu beruhigen. Wieder seufzte sein Vater laut auf. Wand sich unter seiner Decke. Luka hielt ihn fest. „Vater…“, flüsterte er und zog die Decke erneut bis zu seinem Kinn hoch. „Werd mir nicht krank, hörst du…?“ Er küsste den alten Mann auf die schweißnasse Stirn, wischte sich dann über die Lippen. „Bitte bleib gesund…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)