Der Alltag, das Leben, das Drama von Kai_Iwanov ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Schwermütig sah er sich in der leeren Wohnung um. Zwanzig Jahre lang war sie sein Zuhause gewesen. Sie hatte es ihm gleich vom ersten Moment an angetan, mit ihren großen Fenstern die viel Licht in die Zimmer ließen. Der schöne, große Balkon dem Blick über die Stadt war immer das Highlight gewesen, auf Partys im Sommer, wenn sie alle draußen stehen und die kühle Nachtluft genießen konnten. Unter seinen Füßen knarrte das helle Laminat, welches er mit großer Sorgfalt gepflegt hatte, und das Geräusch entlockte ihm ein leises wehmütiges Seufzen. Seine Finger glitten über die weiße Raufasertapete und ein letztes Mal ging er auf den Balkon .Wie oft hatte er hier oben gestanden und einfach nur seinen Blick in die Ferne schweifen lassen? Nie hätte er geglaubt, dass er hier einmal weg müsste. Es war doch alles so perfekt gewesen. Er hatte so viel Geld auf der Hohen Kante gehabt, dass er sich wenigstens ein halbes Jahr über Wasser halten konnte, doch trotz zahlreicher Bemühung hatte er ihn nicht gefunden, den neuen Job, welchen er so dringend brauchte. „Sie sind überqualifiziert“, hieß es, oder „Sie sind zu alt.“ Dabei war er gerade einmal Anfang Vierzig. Selbst sein Arbeitszeugnis schien nicht das Papier wert zu sein, auf dem es gedruckt war, für die hohen Tiere, bei denen er seine zahlreichen Vorstellungsgespräch hatte. Hatte er zwanzig Jahre umsonst geschuftet und sich nach oben gekämpft? Er hatte alles gehabt. Ein eigenes Büro, eine Sekretärin, Klienten die mehr als zufrieden mit seiner Arbeit als Architekt waren und er war so kurz davor gewesen in seiner Firma sogar zum Partner ernannt zu werden. Und dann plötzlich Schluss, Ende, alles vorbei. Das Architekturbüro musste dicht machen wegen der Zahlungsunfähigkeit vieler Klienten und der damit ausbleibende Lohn, ohne den man es nicht am Laufen halten konnte. Nun stand er auf der Straße, nicht genug Geld für ein eigenes Büro, keine Hilfe von Banken oder der Arbeitsvermittlung, die ihm nicht einmal irgendeinen Job geben konnte. Er hätte alles gemacht, sogar zur Müllabfuhr wäre er gegangen, wenn es hätte sein müssen. Aber leider war er nicht der Einzige, der einen Job wollte und immer wieder zog man ihm jüngere Leute vor, auch wenn sie weniger Erfahrung hatten. „Das Risiko von Krankheiten ist im Alter eben höher und wir können auf niemanden verzichten.“ „Ich war seit zwei Jahren nicht mehr ernsthaft krank.“ Das stand sogar in seinem Zeugnis. „Mag sein aber sie sind schon 43 Jahre alt und spätestens mit 50 fängt es an.“ Wie konnte man sich anmaßen über seinen Gesundheitszustand zu urteilen. Er ging in Fitnesstudios, ernährte sich recht ausgewogen und machte seinen jährlichen Kontrollcheck beim Arzt. Was sollte er denn machen? Es konnte doch nicht alles umsonst gewesen sein? Der perfekte Arbeiter: 18 Jahre alt, mit 10 Jahren Berufserfahrung. So hatte es den Anschein, wenn er sich in die Büros setzte und schon der erste Blick seines Gegenübers verriet, dass man ihn aus reiner Höflichkeit zum Gespräch eingeladen hatte. Er konnte sich nicht verjüngen. Egal was er den Chefs an Qualifikationen vorlegte, es schien nie genug zu sein. Zwar waren sie beeindruckt und ab und an hatte er das Gefühl, er wäre einen Schritt weiter, bis zu dem gefürchteten Wort: Aber. Was aber? „... aber sie passen nicht in unser Team.“ „... aber wir sind ein familienorientiertes Unternehmen und sie haben keine Familie.“ „... aber wir brauchen Leute mit modernen Ideen und ihre bisherigen Projekte sind eher altmodisch.“ Er war also ein alter, überqualifizierter Single, der nicht in jedes Team passte und zu unmodern war? Die skurrilsten Ausreden ließen sich die Personalchefs einfallen, um jemandem „schonend“ beizubringen, dass sie ihn nicht wollten. Wer hätte gedacht, dass er mit 43 einmal so enden würde, um Arbeit regelrecht betteln musste. Er wusste nicht mehr was er noch machen sollte, war am Ende seiner Kräfte. Immer wieder erwischte er sich beim Rauchen, was er eigentlich vor fünf Jahren aufgeben hatte. Kopfschmerzen, Magenschmerzen und Depressionen folgten Schlag auf Schlag. Schlechtes Schlafen und Appetitlosigkeit kamen noch dazu und jetzt, wo er hier auf dem Balkon stand, die letzten Minuten in seinem ehemaligen Zuhause genoss, die Zeiten Revue passieren ließ als das Leben so einfach schien, flossen Tränen der Verzweiflung über seine Wangen. Sein Körper und seine Nerven waren an ihren Grenzen angelangt. Wie sollte es denn jetzt weitergehen? Wie würde künftig sein Leben verlaufen? Würde er noch einmal eine Chance bekommen? Oder würde er so enden wie einige Millionen, die sein Schicksal teilten und nur noch Zuhause herumvegitierten, weil sie keiner mehr haben wollte? Ersetzt durch Maschinen, Insolvent wegen Zahlungsunfähigkeit Anderer, falsch kalkuliert und alles verloren. Es gibt viele Möglichkeiten, tief zu fallen. Doch um dann wieder Aufzustehen bedarf es mehr, als sich einfach wieder auf die Beine zu stellen. Er wandte den Blick von der Stadt ab, sah vom Balkon aus wie die letzten Kartons nach draußen getragen wurde und drehte die Schlüssel in seinen Fingern. Es brannte in den Fingerspitzen, als er sie an den Vermieter übergab, welcher zu ihm auf den Balkon gekommen war. Langsam ging er zur Wohnungstür, drehte sich nochmals um und zog sie, als er auf den Flur trat, wie in Zeitlupe hinter sich zu bis ein Klicken ertönte. Zögernd schritt er den langen Gang hinunter. Sein altes Leben, lag nun hinter dieser geschlossenen Tür. Er hoffte, dass sich bald eine neue für ihn öffnen und die Wende bringen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)