Die Söhne des Drachen von Xanderle (Fortsetzung von "Drachenherz") ================================================================================ Kapitel 2: Dreiwetter-Prinz --------------------------- Luftraum der Feuernation Wie ein dunkles Banner flatterte die schwarze Mähne des Kronprinzen im eiskalten Höhenwind. Eine der dicken, seidigen Strähnen wurde quer über seine an Aristokratie kaum zu überbietende Nase geweht und stoisch ignoriert. Seine Hoheit meditierte. Und das schon seit eineinhalb Stunden! Babra, der Bürgermeister von Kergram, rutsche unruhig hin und her. Diese ganze Sache wuchs ihm mehr und mehr über den Kopf! Was war ihm nur eingefallen, Seiner Lordschaft in die Erziehung seiner Söhne hineinreden zu wollen? Da saß er nun, flog mit seinem überaus königlichen und überaus unnahbaren Anhängsel nach Hause, wo seine drei Töchter sich mit Sicherheit überschlagen würden, dem Fürstensohn jeden Wunsch von den ach so goldenen Augen abzulesen. Babra verspürte den Drang, an seinen Fingernägeln zu kauen. Der junge Mann vor ihm hatte aber auch wirklich eine bezwingende Aura, alle Achtung. Prinz Lu Ten strahlte die gleiche, kompromisslose Autorität aus, wie sein Vater. Selbst der große Drache, der sie beide trug, schien nervös zu sein. „Ist... ist Euch nicht kalt, Hoheit?“ „Nein.“ Lu Ten verharrte trotz der Störung in seiner Lieblingshaltung; Aufrecht sitzend, ein Bein untergeschlagen, das andere ausgestreckt, die entspannt geöffneten Hände im Schoss ineinander gelegt. „In einer Stunde müssten wir da sein. Oder so.“ „Hm.“ Babra räusperte sich. Himmel. Hatte dieser einsilbige Stoiker da wirklich ganz Kergram aufgemischt? Alles in Allem hätte man ein so unbedachtes Verhalten nie mit dem ältesten Sohn der Tatzus in Verbindung gebracht. Er galt normalerweise als überaus vernünftiger, pflichtbewusster junger Mann. Der Lauser der Familie war eigentlich Prinz Lee. Den Rest des Fluges verbrachte Babra in vorsichtigem Schweigen. Den Rest des Tages verbrachte er in der Hölle. Nicht nur, dass es in Kergram wie immer höllisch heiß und höllisch trocken war, nein, schon auf dem kurzen Weg von der kleinen Flugplattform zu seinem Haus verursachte Babras `Besuch´ den einen oder anderen Zwischenfall (Der harmloseste forderte das Ableben eines alten Wasserkruges). So war es schon letzte Woche gewesen. Anfangs war ja nicht viel vorgefallen. Unter den tuschelnden Frauen des Ortes war nur von zwei teuflisch attraktiven, aufregenden Burschen die Rede gewesen. Ganz plötzlich schien jedes einzelne, heiratsfähige Fräulein etwas überaus wichtiges im Gasthaus zu tun zu haben. Die Verheirateten waren aus reiner Neugier und Solidarität gleich mitgekommen. DANN hatte einer dieser Trottel, deren Ortsvorsteher Babra war, die beiden hohen Herren erkannt. Das war der Zeitpunkt, an dem erwartungsvolle Aufregung in pure Hysterie umgeschlagen war. Die Prinzen waren los und das ruhige Dorf war zum Hexenkessel geworden. Zumindest für den Bürgermeister, der Ruhe, Ordnung und Beschaulichkeit liebte. Seine Mitbürger hingegen sonnten sich in dem Wissen, zwei Ableger ihres zutiefst geliebten Herrschers zu beherbergen. Die Männer staunten über Lees Bodenständigkeit, die Frauen über sein aufmerksames Wesen. Man lobte seine Trinkfestigkeit und seinen Charme. Lu Ten hingegen hatte sich sehr viel zurückhaltender gezeigt und wurde aus respektvoller Distanz bewundert. Ja, bis zu dem unglückseligen Vorfall mit der Schafherde hatte Babra den Kronprinzen um einiges besser leiden können als dessen jüngeren Bruder, der eh nur das Weibsvolk kirre machte. Aber so war das eben, der Schein konnte trügen, man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben und stille Wasser waren tief. Blablabla! Im Moment versuchte Babra nur, so schnell wie möglich ins Haus zu kommen. Seine Hoheit schien, Agni sei Dank, das gleiche Bestreben zu haben und klebte ihm förmlich an den Hacken. „Bürgermeister? Warum hast Du nich gesagt, dass so ein hochnobliger Besuch kommen tut?“, keuchte jemand hinter ihnen. „Bürgerm...?“ Mit einem lautem RUMMS schlug Babra die Tür zu. „Geschafft!“, schnaufte er. „In der Tat“, kam es ruhig zurück. Ach ne... der Bursche konnte also mehr als zwei Worte aneinander reihen? „AKEMI?“ Leichtfüßige Schritte waren zu hören. „Ja, Pa ...“ Die älteste der sprichwörtlich hübschen Töchter Meister Babras erstarrte mitten in der Bewegung. Anmutige Hände flatterten zu zart erröteten Wangen „... pa?“ „Würdest Du das Gästezimmer zurechtmachen?“ „Natürlich“, hauchte das Mädchen. Ihr Vater wandte die Augen gen Himmel. Ihm schwante Übles. Wenn schon Akemi sich so gebärdete, was war dann von den anderen zu erwarten? Es hämmerte an die Haustür. „Babra?“ Der Herr des Hauses ignorierte den spontanen Besucher. Der ließ allerdings nicht locker und drosch weiter auf die Tür ein. „Wollt Ihr nicht öffnen?“ Lu Ten, der mit verschränkten Armen dastand, konnte sich einen Hauch Schadenfreude nicht verkneifen. „BABRA?“ „Verschwinde Gao! Es ist keiner da!“ „Ich hab euch doch gesehen.“ „Hast Du nicht! Und jetzt zieh Leine!“ „Aber ... Du hast da drin eine Royalität!“ „HAB ICH NICHT!“ „Du lügst doch!“ „VERPISS DICH!“, schrie Babra. „Entschuldigt die Ausdrucksweise, Euer Hoheit“, murmelte er anschließend. „HA!“, kam es von draußen. „ALSO DOCH!“ „Gao!“, knurrte der Bürgermeister. „Hör auf Dein Ohr an meine Tür zu pressen und verzieh Dich endlich!“ „Schön! Fein! Aber, mein Zaun is IMMER NOCH kaputt“, maulte der Lauscher. „Nich, dass ich Euch das vorwerfen würde, Euer Prinzlichkeit. War eben ein Unfall, nich wahr?“ „Gao war Dein Name?“, mischte Lu Ten sich nun ein. „Ja, Euer Nobligkeit.“ „Dein Zaun wird ersetzt werden.“ „Oh! Toll! Das is... Wollt Ihr vielleicht an unsrer Tanzveranstaltung teilnehmen, Herr?“ „Was für ne Tanzveranstaltung?“, fragte Babra nun pikiert. „Es ist keine geplant.“ „Jetzt schon!“, kam die Antwort durch die Tür. „Warääh... war ein spontanischer Entschluss.“ „Ach ja? Seine Hoheit hat besseres zu tun, als schon wieder auf einem unsrer Heuböden herumzuhopsen. Spontan, oder nicht. Und jetzt verschwinde!“ „Pf! Dann eben nich!“ Mit diesem Worten dampfte der hartnäckige Bittsteller ab. Erleichtert wandte Babra sich ab, jedoch nur, um in ein dezent hochmütiges Gesicht zu blicken. „Schon wieder?“, fragte Lu Ten eisig. „Was meintet Ihr mit `Schon wieder´?“ „Öh... Ich meine nur. Wegen... na ja... schließlich WART ihr mit dem Mädchen auf einem Heuboden.“ Das konnte schlecht geleugnet werden, ohne eine Lüge zuzugeben, also hielt man den Mund. Die nächste Hürde erwartete den Bürgermeister im Flur. Die Damen des Hauses hatten sich zusammengerottet und kicherten im Kollektiv. Selbst seine geschätzte Gattin gebärdete sich wie ein Backfisch. Agni! Je schneller er seine fürstliche Bürde los wurde, umso besser. „Ist das Gästezimmer fertig?“, blaffte Babra. Die Frauen schreckten auf. Sofort hefteten sich andächtige Blicke an strenge, stolze Gesichtszüge. „Ja, Papa“, flötete Akemi „Ist es auch gelüftet?“ „Sicher, Papa.“ „Gut! Hier lang, Hoheit.“ Im Vorbeigehen fiel Babra etwas auf. „Jemma, Kind, hast Du was im Auge?“, fragte er süffisant. „N .. nein, Papa.“ Jemma wurde puterrot und stellte das Wimpernflattern vorerst ein. Im oberen Stockwerk maulte der Bürgermeister Dinge vor sich hin, die in ungefähr so klangen wie: „Verflixte Weiber, möcht nur wissen, was in die gefahren ist?“ Er öffnete eine Tür. „So, Hoheit. Ist unser bestes Zimmer. Ich hoffe, hier werdet Ihr nicht gestört.“ „Ihr hofft? Haltet Ihr es für ratsam, abzuschließen?“ Ein beinahe entsetzter Blick, dem ein resignierter Seufzer folgte, streifte Lu Ten. „Ich glaube ni... besser wär´s vielleicht. Habt Ihr noch Hunger?“ „Nein!“, log Lu Ten schnell. Lieber magerte er zu einem Gerippe zusammen, als Gefahr zu laufen, mit einer dieser Frauen allein in einem Zimmer zu sein! Immerhin hatte er vorausschauenderweise eine Notfallration mitgenommen. Das wirklich komische an dieser Situation war die Tatsache, dass, laut Onkel Iroh, die Sitten früher sehr viel lockerer gewesen waren. Frauen war nicht sofort der Gedanke an Heirat gekommen, sobald sie eines Mannes ansichtig wurden. Es hatte durchaus zum guten Ton gehört, `Spaß´ zu haben. Als verwerflich galt es zwar immer noch nicht, doch versuchten jetzt sehr viel mehr junge Damen, voreheliche Aktivitäten weitgehend zu vermeiden. Ein Verdienst Lady Jins, zweifellos! Mylady hatte die feuernationale Freizügigkeit zwar nie kritisiert, aber ihr liebevolles, überglückliches Selbst war ein so strahlendes Beispiel für die Auswirkungen völliger Monogamie, dass ganze Heerscharen von Frauen ihr nun nacheiferten. Mit anderen Worten: Zuko Tatzus prüder, frecher Kobold hatte die Moral wieder in Mode gebracht. Und als der älteste Sohn von Lord und Lady Turteltaub konnte Lu Ten wohl kaum damit anfangen, jede sich bietende Gelegenheit beim Schopfe zu packen, wie verlockend sie auch sein mochte. Sein kleiner Bruder sah die Sache zwar anders, aber der würde den gottverdammten Thron ja auch nicht erben. Der Kronprinz verbrachte die Nacht allein, in einem viel zu weichen Bett und viel zu viel Zähneknirschen. Babra selbst fand auch wenig Ruhe. Er wurde im ehelichen Schlafzimmer förmlich gelöchert. Wie er es denn geschafft hätte, den Kronprinzen wieder mit hierher zu bringen. Das musste man sich mal vorstellen... den KRONPRINZEN! Ihre Töchter seien ja allemal hübsch genug, und bestimmt eine Zierde für den Hof des Feuerlords! Und SO brave Mädchen. Ob er nicht auch glaube, dass Seine Hoheit ihrer kleinen Jemma einen besonders langen Blick zugeworfen habe? Um der endlosen Litanei zu entgehen, begrub Babra den Kopf unter seinem Kissen. Agni wusste, er liebte seine Frau wirklich, aber in Ausnahmefällen wie diesem stand er kurz vor einem Kapitalverbrechen! Am nächsten Morgen wurde im Hause des Bürgermeisters der Belagerungszustand ausgerufen. Jede kleinste Regung Seiner Hoheit wurde belauert. Sie belauerten sein Minenspiel, sie belauerten seinen Teller, sie belauerten seine Teetasse. Vier Frauen umschwirrten Lu Ten wie einen gesprungenen Honigtopf. Ob er noch Tee wolle? Oder Eier? Vielleicht doppelt gepfefferten Schinken? Gerne würde man ihm auch gebratene Nudeln zubereiten! Anstelle seines Gastes stieg jedoch nur Babra auf dieses Angebot ein. Und Lu Ten? Er wünschte sich nur weit, weit weg. Lieber hätte er einer Bande durchgeknallter Wasserbändiger gegenübergestanden, als diesem Haufen mannstoller Grazien. Dachten sie wirklich, ein üppiges Frühstück würde eine von ihnen zur Secondlady befördern? Das war einfach lächerlich! Er war das ganze Theater um seine Person einfach nur leid! Es war immer das Gleiche. Er tauchte irgendwo auf, alles war Bestens, doch sobald bekannt wurde, WER er war, wimmelte es nur so vor sich überschlagenden Damen, die sich aus heiterem Himmel für eine Karriere als Feuerlady qualifizieren wollten. Nur hatte Lu Ten weder Lust, für den sozialen Aufstieg einer ehrgeizigen Frau herzuhalten, noch hegte er den Wunsch, seinen Vater abzulösen. In der Familie der Tatzus wurde man alt. Sehr alt! Es sei denn, ein findiges Familienmitglied hatte etwas dagegen. Sein Urgroßvater Azulon beispielsweise hatte mit neunzig Jahren vor Gesundheit nur so gestrotzt. Erst das Gift seines Sohnes Ozai hatte dem Abhilfe geschaffen. Da alle Kinder Zukos des Zweiten ihren Erzeuger mehr als nur schätzten, entwickelten sie keine derartig kriminelle Energie. Damit stand zu erwarten, dass Mylord noch Generationen von Schildkröten überleben würde. Vielleicht sollte Lu Ten ein Banner vor sich hertragen: Werte Feuerlady-Kandidatinnen, mein Vater steht, Agni sei Dank, in der Blüte seines Lebens. Vor Ablauf von 40-50 Jahren ist mit einem Amtsantritt meinerseits also nicht zu rechnen. Sollten Sie Ihr Interesse dennoch beibehalten, melden Sie sich bitte vor Fristende bei Tian Fu, Stellvertr. i. A. Ja, Lu Ten Tatzu war tatsächlich der irrigen Ansicht, rund achtzig Prozent seiner Anziehungskraft auf das andere Geschlecht seinem familiären Hintergrund zu verdanken. Seiner äußeren Erscheinung maß er in dieser Hinsicht, wie auch in jeder anderen, nur wenig Bedeutung bei. Groß zu sein bedeutete lediglich, in einer Menschenmenge besser den Überblick bewahren zu können. Eine gut ausgebildete Muskulatur diente der effektiven Fortbewegung und einer gewissen körperlichen Überlegenheit im Kampf. Oder - noch besser - der sofortigen Abschreckung potentieller Feinde. Wenn der Thronfolger der Feuernation eines verachtete, dann war es rohe Gewalt. Sie bedeutete das Scheitern des Verstandes. War das Beherrschen aller Kampftechniken und Waffengattungen für seinen Vater noch überlebensnotwendig gewesen, so konnten die Kinder Seiner Lordschaft sich den Luxus leisten, sie als eine Art traditioneller Konzentrations- und Geschicklichkeitsübungen zu betreiben. Lu Ten liebte sein tägliches Training. Es lehrte ihn Disziplin, schnelle Reaktionen und das Zurücknehmen des eigenen Egos. Man wurde einfach bescheidener, wenn man flach auf dem Rücken liegend um jeden keuchenden Atemzug rang. Diese Bescheidenheit war nun das einzige Bollwerk gegen seinen aufsteigenden Unmut. Wenn ihn noch ein einziges Körperteil ganz ZUFÄLLIG streifen würde, konnte er für nichts mehr garantieren... Die einzige Entschädigung bot Babras Anblick. Er wirkte mindestens ebenso genervt, wie der Prinz sich fühlte. „Vielleicht doch ein wenig Honigkuchen?“ „Nein, danke. Momentan brauche ich nichts“, murmelte Lu Ten. „Er ist aber ganz frisch!“, gurrte es erwartungsvoll zurück. „Himmel, Lelly! Der Junge WILL nichts davon!“ Der Blick des `Jungen´ traf den des Bürgermeisters und sofort herrschte Eintracht. „Ich werd Euch noch heute zu meinem Bruder schicken, Hoheit. Inkognito!“ „Gut!“, erwiderte Lu Ten erleichtert. Doch in dieser angenehmen Empfindung wurde er jäh gestört. „Aber Babra!“, mischte die Dame des Hauses sich ein. „Du KANNST ihn nicht zu Deinem Bruder schicken!“ „Ach... Und warum nicht, Hefeklößchen? Lu Ten hatte Mühe, sich nicht zu verschlucken. „Weil dort alle Mumps haben!“, erwiderte Frau Bürgermeister triumphierend. „Was? Auf EINMAL?“ „Ja. Wenn Du mir nicht glaubst, hier ist der Brief.“ Madame kramte in einer Holzbox und hielt Babra schließlich einen Wisch vor die Nase. Er überflog das Schreiben und wurde zornesrot. „VERDAMMT!... Oh, Verdammt! Hattet Ihr schon Mumps, Hoheit?“ „Ich habe nicht die blasseste Ahnung“, liess Lu Ten beinahe fröhlich vernehmen und träufelte sorgfältig Honig auf ein Brötchen (überflüssig, zu erwähnen, dass kein Tropfen daneben ging). Ein Teil von ihm begann tatsächlich, sich zu amüsieren. „Hä? Warum wisst Ihr das denn nicht?“ „Nun, vielleicht solltet Ihr das nächste Mal, wenn Ihr meinen Vater um einen fürstlichen Leibeigenen ersucht, gleich ein ärztliches Attest mit anfordern? Ich bin mir fast sicher, er würde Euch postwendend unsere bezaubernden Kerkeranlagen zeigen.“ „Danke, aber ich hab Euren Paps erlebt, ohne dass er stinksauer war. Das hat mir schon gereicht!“ „Ja“, sagte Seine Hoheit milde. „Mein `Paps´ hat das unfehlbare Talent, seinen Standpunkt klar zu machen, ohne große Worte zu verlieren.“ „Äh....“ Babra hatte seine Entgleisung bemerkt und wurde konfus. „Äh, ja! Aber Seine Lordschaft ist trotzdem ein großartiger Mensch! Sehr... sehr nett!“ Nett? Das war zu viel, selbst für den beherrschten Spross der gestrengen Gebieter des Feuers. Für den Bruchteil einer Sekunde schummelte sich ein zutiefst amüsiertes Grinsen zwischen die Mimik des Kronprinzen. „Agni!“, hauchte Lelly, Babras Jüngste, und starrte ihn an. „Aber... Er hat ja ein Grübchen!“ Mit Ach und Krach verhinderte Hoheit es, Tee über den Tisch zu spucken. „WAS?“ „Äh... e... ein Grübchen?“, stotterte die erschrockene Maid. „Habe ich NICHT!“ Hatte er wohl, aber er klang so rigoros, dass es niemand wagte, ihm zu widersprechen. Lu Tens gute Laune verflog so schnell, wie sie gekommen war. Grübchen?!? HA! Lächerlich! Doch sein Hirn projizierte ungefragt ein Bild vor sein inneres Auge: Zuko Tatzu, aufmerksam seiner Frau lauschend, um dann unverhofft in schallendes Gelächter auszubrechen; auf der linken Wange eine lange, tiefe Furche des Amüsements. Verdammt! Es stimmte. Sein Vater HATTE ein Grübchen. Ebenso wie Lee. Und Aya und... VERDAMMT! Ein Grübchen hatte ihm gerade noch gefehlt! „Schluss jetzt!“, maulte Babra. „Dann schick ich ihn eben zu Deiner Schwester. Bei diesem Akademikervolk muss er zwar nicht so hart ackern, aber da erkennt ihn wenigstens keiner. DIE lesen garantiert nicht `Frau im Feuer´ und den ganzen Kram!“ „Warum muss er denn weg?“, schmollte Jemma. „Wenn er bleibt, kehrt hier nie wieder Ruhe ein!“ „Aber Papa... Du willst ihm doch nicht diese Hinterwäldler zumuten? Die sind sowas von langweilig!“, jammerte Lelly. Das königliche Subjekt, über das gesprochen wurde, horchte erfreut auf. Langweilig? Langweilig war gut! Langeilig bedeutete beschaulich, friedlich, geordnet. `Langweilig´ war genau das Adjektiv, welches seine Brüder ausgewählt hätten, wenn sie ihn beschreiben sollten. Babra erhob sich und stemmte beide Arme auf den Tisch. „Mir ist scheissegal, ob es dort langweilig ist - Verzeiht den Ausdruck, Hoheit - Er geht nach Tutuk, Ende der Durchsage!“ Seine Frau sah ihre Felle davon schwimmen. Es war zwar nur eine Spinnerei gewesen, aber die königliche Verwandtschaft konnte sie sich wohl abschminken. Ihre Nichte kam als Gemahlin eines Fürsten gewiss nicht in Frage. Selbst wenn man in der Lage wäre, über ihre komische Haarfarbe hinwegzusehen. Sie war einfach zu verschroben. `Interessant´ war das schmeichelhafteste was einem zu Pineria einfiel. Oh, das Mädel war fraglos lieb und nett, aber ab und an driftete sie in eine Welt ab, die anderen nicht zugänglich war. Zudem hatte ein bedauerlicher Unfall dazu geführt, dass das Kind ein steifes Bein hatte. Na ja... es wäre ja auch ZU schön gewesen. Seufzend machte Frau Bürgermeister sich daran, das Geschirr abzuräumen. Viele Meilen weit weg brach Lady Jin das blutrote Drachensiegel ihres Mannes und begann eifrig, die krakelig kühne Handschrift zu entziffern. Überaus geschätztes Weib, Erstens: Natürlich geht alles hier seinen gewohnten Gang! Lächerlich, etwas anderes anzunehmen. Zweitens: Deine martialische Brut tanzt mir fröhlich auf der Nase herum, wohl, um Dich in Abwesenheit standesgemäß zu vertreten. Doch Sorge bereiten mir allenfalls mein ehrbarer Onkel und sein Kumpel Fon. Wenn sie so fortfahren, darf ich binnen eines Monats nach Ba Sing Se, um erneute Friedensverhandlungen zu führen. (Das war wohlgemerkt Punkt Nummer drei.) Viertens und übrigens: Ich hatte recht! Dein `entzückendes, ingwerfarbenes Katerchen´, stellte sich gestern als entzückend schwangere Flohschleuder heraus. Ich fürchte sie hat ihr gutes Straßenstreuner-Blut mit dem einer reinrassigen Siampfote vermengt und jener Kater scheint sich tatsächlich vor seiner Verantwortung zu drücken. Adelspack eben. Ich sah mich genötigt, der werdenden Mutter ein warmes Plätzchen anzubieten, was mich übergangslos zu Nummer fünf in der Tagesordnung bringt: Diese rote Lieblingsdecke von Dir existiert nicht mehr. Zumindest nicht in der Form, die Du so zu schätzen wusstest, da die Geburt von vier Kätzchen sie doch etwas strapaziert hat. Ich hoffe, Du reagierst diesen immensen Schock nicht damit ab, mit Ihrer Hoheit, der Herzogin von Quan, erneut darüber zu diskutieren, welches ihrer Konsumgüter aus den Körperöffnungen diverser Tiere stammt. Wehe, Du sprichst mit ihr über Honig! An sechster Stelle muss ich Dir sagen: Wenn ICH schon nicht da bin, Frau, dann nimm, in Agnis Namen, wenigstens einen angewärmten Ziegelstein mit ins Bett! Siebter und letzter Punkt, um auf Dein Postskriptum zu antworten: Zu a) Nein tu ich nicht. Zu b) JA! Tu ich! Mindestens ebenso sehr. Gezeichnet, Zuko Tatzu, derzeit unausgeglichen. Ein Lächeln überzog Jins Gesicht, als sie sich seinen trockenen Tonfall vorstellte. Ihr Pedant und seine Listen ... Herrje, wie lange dauerte dieses dumme Damenkränzchen hier denn noch? Sie wollte nach Hause! Natürlich wäre dieser Drang noch größer gewesen, hätte sie geahnt, dass ihr liebender Gatte in seinem Brief einen immens wichtigen Punkt unterschlagen hatte. Tutuk, nördliches Randgebiet der Feuernation, später am Tag Pineria Tutuk saß hinter einem Fliederbusch und kämpfte mit den Unzulänglichkeiten ihres Verstecks. Sie war hier zwar gut verborgen, aber ihre Nase juckte ganz höllisch. Um den Niesreiz zu unterdrücken, kniff sie beide Nasenlöcher fest zusammen. Schließlich wollte sie nicht riskieren, von ihren drei Studienobjekten entdeckt zu werden. Ah! Jetzt kicherten sie. Aufmerksam registrierte Pippa die veränderte Tonlage der beiden Frauenstimmen. Höher als sonst. Es klang... sie biss sich auf die Lippen und suchte nach dem richtigen Wort. Perlend. Ja. Rasch notierte sie ihre Beobachtung. Jetzt änderte die Rothaarige ihre Körperhaltung. `Herausstrecken der Brust. Hüfte schief gestellt´, schrieb Pippa weiter. Um besser sehen zu können, beugte sie sich vor und beorderte die bedenklich tief auf die Nasenspitze gerutschte Brille wieder zurück an Ort und Stelle. „Da, jetzt klimpern sie.“, flüsterte sie dem großen Wolfshund an ihrer Seite zu. In schriftlicher Form sah das folgendermaßen aus: `Heftiges Flattern der Augenlider.´ Sie widmete sich dem männlichen Bestandteil ihres Experimentes. `Männchen hält sich extrem aufrecht. Das untermauert die These, dass Größe von den Frauen als attraktiv empfunden wird. Reckt ebenfalls die Brust nach vorn.´ Geistesabwesend streichelte Pippa über das grauweiße Fell von Mimmi und kritzelte weiter in ihr Notizbuch. `Ganz offensichtlich bemühen sich beide Seiten, ihre körperspezifischen Charakteristika so deutlich wie möglich zur Geltung zu bringen. Die Brust (sowohl die feminine, als auch die maskuline) scheint dabei eine zentrale Rolle zu spielen.´ „Wahrhaft faszinierendes Phänomen, das menschliche Balzverhalten!“, sinnierte sie halblaut. Seit rund zwei Wochen beschäftigte Fräulein Tutuk sich nun mit diesem Thema. Die ersten Auswertungen wiesen alle in die gleiche Richtung: Für den Erfolg beim anderen Geschlecht waren in aller erster Linie optische Merkmale ausschlaggebend. Zumeist fanden sich Menschen mit ähnlichem Schönheitspotential zusammen. Je niedriger die eigene Attraktivität, umso anspruchsloser war die betreffende Person bei der Partnerwahl. Natürlich gab es Ausnahmen. Lene, die hübsche Gärtnerin, war überglücklich mit ihrem Jo, einem unscheinbaren, aber herzensguten Mann. Oder Eri... sie wurde von ihrem imposanten Ehemann zärtlichst geliebt, ohne selbst eine Schönheit zu sein. Tiefere Gefühle schienen also auf weit mehr zu basieren, als bloßen Äußerlichkeiten. Doch momentan beschäftigten sich Pippas Studien noch mit den Absonderlichkeiten der ersten gegenseitigen Anziehungskraft. Und da hieß es schön sein, oder leiden. Ihr eigener Marktwert war nach diesem Maßstab erschreckend gering, aber glücklicherweise war ihr Interesse an der Liebe ja auch rein wissenschaftlicher Natur. „Pippa?“ Mimmi spitzte die Ohren. „PIPPA?“ Mist, ihre ganze schöne Tarnung flog auf. „Ja, Eri?“ Schnaufend kam die Hauswirtschafterin ums Eck. „Da bist Du ja, Kind! Wolltest Du nicht diesen Burschen vom Bahnhof abholen?“ „Gute Güte! Den hab ich ja ganz vergessen!“ „Pippa! Der arme Kerl wartet seit fast zwei Stunden dort. Und gleich wird es anfangen zu regnen!“ „Oh je. Es tut mir leid!“ Schuldbewusst biss Pineria sich auf die Lippen. „Sag das nicht mir, sondern Herrn Song.“ „Ach ja, Song... so stand es ja in der Nachricht. Gut! Song.“ Sie tippte gegen ihren Kopf. „Song, Song, Song!“ Die ältere Frau blickte Pippan hinterher, wie sie zu einer großen, gepflegten Scheune lief. „Armes Ding. Ist bald genauso verdreht, wie die Eltern.“ Das arme Ding mühte sich derweil mit dem motorisierten Fahrzeug ab, welches ihr Vater letzten Herbst entwickelt hatte. Das `Mobilium´. wie er es nannte, weigerte sich anzuspringen. „Oh, jetzt komm schon!“, bettelte Pippa und zerrte verzweifelt an Startleine. „Was ist denn nun schon wieder kaputt?“ Das Ungetüm tat ihr zwar irgendwann den Gefallen anzuspringen, der Preis, den sie zu zahlen hatte, war allerdings ein unschöner aber auch unbemerkter Ruß-Fleck mitten im Gesicht. Natürlich kam Pineria am Ende fast drei Stunden zu spät am Bahnhof an. Er bestand aus einem einzigen, umgekipptem Wegweiser neben den Gleisen, auf dem stand: Tutu , 9 Meilen ---> Das `k´ war leider dem vorletzten Hagelsturm zum Opfer gefallen. Ein Mann hockte neben dem Schild auf dem Boden. Sein mit Nässe vollgesogener Umhang modellierte ihn zu einer unförmigen Masse. Die Körperhaltung ließ sich lediglich erahnen, doch es schien als hätte er die Unterarme auf die angezogenen Knie gelegt, denn die Hände, das einzig Sichtbare von ihm, lugten aus der triefenden Wolle und baumelten locker an den Gelenken. Wasser troff von den langen, kräftigen Fingern. Insgesamt wirkte er recht entspannt. Allerdings dampfte er. „Äh... Herr, äh, Song?“, fragte Pippa zögerlich. Das Bündel regte sich kaum merklich. „Wie... schon da?“, ließ sich eine grollende, dunkle Stimme vernehmen. Was den Ausdruck anging, war Pippa sich nicht so ganz sicher. Könnte sich um Sarkasmus handeln. Oder gar Resignation? Sie hörte auf, darüber nachzudenken, als der Schemen sich erhob. Gute Güte! „Was?“, wollte Herr Song wissen. Verflixt! Hatte sie wieder laut gedacht? „Sie... Sie sind ja riesig!“ „Kommt auf die Perspektive an“, erwiderte das Knurren. „Ja! Da haben sie recht! Außerdem ist die Tatsache, dass Sie dampfen, viel faszinierender.“ „Bitte?“ „Haben Sie vielleicht beheizbare Drähte in ihren Umhang eingearbeitet?“ „Nein!“ Mit langen Schritten strebte der Riese in Richtung Mobilium. „Sondern?“ Pippa versuchte vergeblich, sein Tempo zu halten. „Ich habe meine Körpertemperatur erhöht, um nicht auszukühlen.“ Gut. Also... das hatte jetzt etwas vorwurfsvoll und übel gelaunt geklungen. Sie sollte sich besser entschuldigen, doch ein Einfall kam ihr dazwischen. „Ah! Demzufolge sind Sie also Feuerbändiger?“ „Ja.“ „Faszinierend!“ Wie angewurzelt blieb Pippa stehen und starrte an, was sie von dem Fremden sehen konnte. „Ich persönlich halte viel von Horungs Theorie, dass erst ein Ungleichgewicht des Säure-Basen-Haushalts im Stoffwechsel der Betreffenden die Fähigkeit Feuer zu erzeugen ermögli ...“ „Hören Sie!“, unterbrach Lu Ten das vor sich fabulierende Mädchen. „Ich weiß, Sie sind der Meinung, ich könne unmöglich NOCH nasser werden. Vollkommen korrekt! Ich zöge es trotzdem vor, endlich aus dem Regen zu kommen.“ „Oh... Natürlich! Entschuldigung!“ Pippa sah sich um. „Wo ist denn Ihr Gepäck?“ Lu Ten legte den Kopf schief. Hielt dieses... dieses Fräulein Naseweis ihn für einen Sumo-Ringer? „Unter meinem Umhang?“, antwortete er gedehnt und zählte im Stillen bis sieben. „Ach... Darum sind Sie so breit!?“ „Ja. Genau. Können wir?“ Die tiefe Stimme troff vor Ungeduld und bildete damit eine löbliche Ausnahme, denn alles andere troff vom Regen. „Natürlich!“ Lu Ten unterdrückte ein Zähneknirschen. Diese Frau ging mit dem Wort `natürlich´ etwas zu zwanglos um. Wenn hier irgendetwas `natürlich´ wäre, wären sie schon unterwegs ins Trockene. Bevor sie ihn weiter mit Fragen löchern konnte, stieg Seine Hoheit in das merkwürdigste Gefährt seines Lebens. Doch so brennend es ihn auch interessieren mochte, er hütete sich davor, sich danach zu erkundigen. Sonst stünden sie Übermorgen noch hier. So zuckelten sie also los. Langsam, gemütlich und unüberdacht. Unter seiner weiten Kapuze verzog Prinz Lu Ten schmerzvoll das Gesicht und warf einen Blick gen Himmel. Der nahm prompt die Herausforderung an, und goss hernieder, was die Wolken hergaben. 1 : 0 für das Element Wasser! Pippa, knochentrocken unter ihrem Spezial-Regenmantel, wagte es nicht, die vor sich hindampfende Gestalt in eine Konversation zu verwickeln. Nach fünf Minuten siegte ihre natürliche Neugier. „Woher kommen Sie?“ „Tiram Agni.“ „Sie kommen aus der Hauptstadt?“ „So ziemlich.“ „Ziemlich?... Ein Vorort?“ „Ja!“, blaffte Seine Klammheit. „Ein Vorort. Genau 0,7 Meilen vom westlichen Stadtrand, und 1,6 Meilen vom Stadtzentrum entfernt. Zu Fuss benötigt man zwischen 6 und 13 Minuten um zum Markt der Scherben zu gelangen. Bei einer inneren Schrittlänge von 100,5 Zentimetern sind es exakt 2869 Schritte bis zum südwestlichen Wachturm der Stadtmauer. Zufrieden?“ Pippa blinzelte. „... ja?“ Nach einer ungefähr zweiminütigen Stille stellte sie die nächste Frage. „So lange Beine haben Sie?“ Lu Ten schloss die Augen. Möge Agni ihm Geduld verleihen! „Ja.“ „Ich kenne niemanden, der seine innere Schrittlänge benennen kann.“ Tja, dann hatten diese Leute wohl keinen Hofschneider. „Darf ich annehmen, dass Sie ein sehr korrekter Mann sind?“ „Sie dürfen.“ Gute Güte... „Gut! Das ist gut! Mein Vater ist nämlich des öfteren ein bisschen... chaotisch. Er braucht jemanden, der die Dinge ordnet.“ „Aha. Demnach sind Sie Fräulein Tutuk.“ „Ja. Sicher.“ Mist. Sie hatte tatsächlich vergessen, sich vorzustellen. Sozialverhalten: mangelhaft! Von nun an schwieg Pineria wirklich. Dieser Mensch war schließlich auch nicht besonders gesprächig. Doch es war nichts neues für das einzige Kind der Tutuks, von Stille umgeben zu sein. Es gab Tage, an denen ihre Eltern vor lauter Schaffensdrang kein Wort von sich gaben. Aus diesem Grund hatte Pippa schon früh die Angewohnheit entwickelt, mit sich selbst zu sprechen. Jetzt summte sie nur munter vor sich hin. Lu Tens Respekt vor Babras Hinterhältigkeit wuchs von Minute zu Minute. Der Bürgermeister hatte ihn wahrhaftig zu einem Haufen Verrückter geschickt. Ohne Vorwarnung! Die Fahrt dauerte fünfundzwanzig sintflutartige Minuten. Der Regen war mittlerweile so dicht, dass man die Hand kaum noch vor Augen sah. Dennoch lenkte die junge Dame dieses wackelnde Ungetüm auf Rädern so sorglos durch die Gegend, als gäbe es keine Straßengräben oder Böschungen. Mehr als einmal wünschte Lu Ten sich, einen letzten Willen verfasst zu haben. Doch auch diese Tortur nahm ein Ende und schließlich lenkte Miss Tutuk das Mobilium in eine Scheune. Der gepflegte Kiesweg, der zu einem überaus imposanten Herrenhaus führte, wurde von hohen Hecken gesäumt und von etlichen bewachsenen Torbögen überspannt. Seine Hoheit widmete dieser Pracht allerdings nicht die geringste Aufmerksamkeit. Er wollte einfach nur ins Trockene. Sie betraten `Schloss Tutuk´, wie es von den Bewohnern des nahegelegenen, winzigen Dorfes genannt wurde, durch einen Nebeneingang. Im Inneren des alten Hauses war es duster, denn die Architektur entsprach ganz und gar nicht dem üblichen, luftig-hellen Standard der Feuernation. Ein steinerner Kasten wie dieser würde eher in die nördlichen Provinzen des Erdkönigreichs passen. Pippa entzündete rasch ein paar Kerzen und entledigte sich ihres Regenmantels. „Wollen Sie nicht ablegen?“, fragte sie ihren durchweichten Begleiter. Der mürrische Fremde stellte sein Gepäck auf den Boden und schlug seine weite Kapuze zurück. Zum ersten Mal erblickte Pineria das Gesicht des neuen Assistenten. Bei allen Göttern! Er war... Er war wirklich... Die Welt verschwamm vor ihren Augen. Oh Mist! Diese dummen Brillengläser! Mussten sie immer beschlagen? Schnell nahm Pippa das Drahtgestell von der Nase und polierte den feinen Schleier von den runden Gläsern. Als die Brille wieder an Ort und Stelle saß, fragte sie sich, ob etwas damit nicht stimmte. Das konnte nicht sein. Kein Mensch konnte so aussehen. Sie hatte in letzter Zeit ja nun wahrhaft genügend Messungen und Erhebungen durchgeführt, um beurteilen zu können, was GENAU an Männern als anziehend galt. Sie hatte sogar eine Liste aller ausschlaggebenden Merkmale erstellt. DIESER hier sprengte die komplette Skala! Schädelform und Knochenstruktur: Perfekt. Masse, Farbkraft, Glanz der Haare: Nass, aber perfekt. Form und Proportion des Gesichts: Markant. Perfekt. Schnitt der Augen: Perfekt. Von einer betörend perfekten Charakternase tropfte ein perfekt geformter Tropfen Regenwassers. Vor ihr stand zweifellos das perfekteste, triefendste Mannsbild, welches man sich nur vorstellen konnte. „G... gute Güte!“, stotterte Pippa. Sie blinzelte, um einen klaren Blick zu bekommen. Mr. Perfect stand immer noch da und war ebenso unglaublich, wie zuvor. Das Unglaublichste an ihm aber waren die Augen. Sie hatten die Farbe alten, polierten Goldes. Feuer glomm in ihren Tiefen. Quatsch! „Wie bitte?“ „Äh... ich meine... ich bin nur einer optischen Täuschung aufgesessen.“ „Wovon zum Teufel sprechen Sie?“ „Ihre Augen. Ich dachte für einen Moment, sie würden brennen. Doch sie sind vermutlich nur so hell, dass sie die Kerzenflammen widerspiegeln, nicht wahr?“ Er runzelte die Stirn und betonte so nur den perfekten Schwung seiner scharf gezeichneten, strengen Augenbrauen. Pippa kniff die Augen zusammen. „HA! Ein Makel!“ „Was?“ Lu Ten verlor nun endgültig die Lust, höflich zu bleiben. Das Weib war eindeutig meschugge! „Da! Ich hab doch einen Makel entdeckt!“, rief sie erfreut. Ganz ruhig bleiben, Lu, reg sie bloß nicht weiter auf... „Oh. Gut.“ Gut? Eigentlich nicht, denn es machte laut Pippas Forschungen so GAR keinen Sinn, dass ein Fehler seine Attraktivität noch verstärkte. Aber es war so. Eine Narbe teilte seine linke Braue, zog sie ganz leicht nach oben und verstärkte den Hauch gleichgültiger Arroganz, der ihn umgab. „Wo, zum Kuckuck, starren Sie hin?“ „Was?... Oh! Auf... auf Ihre Narbe.“ „Aaaah! Möchten Sie vielleicht einen schriftlichen Bericht, wie ich dazu gekommen bin?“, fragte Lu Ten täuschend sanft. „Hm...“ Eigentlich interessierte Pippa vielmehr, wie eine Macke so dekorativ sein konnte. Aber, ihre Lieblingstasse hatte schliesslich auch einen kleinen Sprung. „Haben Sie sie sich absichtlich zugefügt?“ „Absichtlich? Eine Narbe?“ „Na ja...“ „Nein! Sechsjähriger, Stein, unglückliches Stolpern, Platzwunde, Narbe. Ende der Geschichte.“ „Gute Güte!“, hauchte Pippa. „Sie haben ein Talent die Dinge zusammenzufassen, oder? Sie könnten die Klappentexte für die Bücher meiner Eltern schreiben.“ „Haben Sie eventuell verbotene Pilze gegessen?“, wollte Seine Lordschaft in spe wissen. „Pilze? Was für Pilz... Oh!“ Fräulein Tutuk blinzelte wie eine Eule. Mit einem Mal wirkten ihre Augen traurig. „Sie denken, ich hätte psychoaktive Substanzen eingenommen?“ hörte er ihre leise Stimme. „Nein. Hab ich nicht. Ich... Leider bin ich so.“ Schlechtes Gewissen, eine Folge seiner ausgeklügelten Erziehung, überfiel Prinz Macke. Es war nicht seine Art, andere absichtlich zu verletzen. Ganz und gar nicht. „Verzeihung! Das hätte ich nicht sagen sollen“, murmelte er entschuldigend. Pippa zwang sich zur Munterkeit. „Oh, das ist schon in Ordnung. Jeder findet mich seltsam, also machen Sie sich keine Sorgen.“ „Nein, wirklich... Es tut mir leid.“ „Schon gut! Kommen Sie bitte mit.“ Sie wandte sich ab und ging einen langen Korridor entlang. Jetzt, da Miss Tutuk keinen Mantel mehr trug, entging es den wachsamen Augen Lu Tens nicht, dass sie ihr rechtes Bein leicht nachzog. „Sie haben sich verletzt!“ „Wie? Oh... das. Das ist eine alte Verletzung. Sie würden es vermutlich folgendermaßen ausdrücken: Achtjährige, zu großer Reitstrauß, Sturz, zertrümmerte Kniescheibe.“ Agni! War er wirklich SO schroff gewesen? „Bereitet es Ihnen Schmerzen?“, fragte er vorsichtig. Die Vorstellung, dieses schrullige, kleine Ding hätte unter chronischen Schmerzen zu leiden, war überaus unangenehm. „Aber nein. Nur wenn das Wetter umschlägt. So. Da wären wir. Das hier ist Ihr Schlafzimmer, gleich rechts davon ist ein kleines Büro, das Sie für sich selbst nutzen können. Abendessen gibt es...“ Sie blinzelte nachdenklich und legte den Kopf schief. „Ich glaube so gegen Sieben. Dann werde Sie auch meine Eltern kennen lernen. Außer, die beiden sind zu beschäftigt.“ Dann konnte es nämlich vorkommen, dass man allein an dem riesigen Tisch saß, und auf die große, langsam tickende Wanduhr starrte. „Gut. Danke.“ „Also dann... Lasse ich Sie mal auspacken. Sollte Sie etwas brauchen, rufen Sie nach mir oder Eri; Das ist die Haushälterin.“ „In Ordnung.“ „Ja...“ Pippa wollte eben gehen, als eine Beobachtung sie aufhielt. Bei allen Enzyklopädien dieser Welt... Das Altgold seiner Augen war also doch keine Täuschung gewesen. Selbst in diesem trüben Licht schimmerten sie hell. „Ist noch etwas?“ Die tiefe Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „N... nein. Nichts.“ Für eine gute halbe Stunde versuchte Pippa mit den überwältigenden Eindrücken dieser neuen Präsenz im Haus selbst fertig zu werden. Doch es hatte keinen Zweck, sie MUSSTE mit jemandem sprechen! Leise klopfte sie an eine geschnitzte Holztür und öffnete sie. „Mama?“ „Ja, Schätzchen?“, kam es vage zurück. „Hast Du einen Moment Zeit?“ Ihr Tonfall veranlasste den Mutterinstinkt in Aktion zu treten. „Aber sicher.“ Nele Tutuk legte ihr rasch Schreibwerkzeug beiseite und blickte auf. Pippa setzte sich auf die Kante eines mit Papieren übersäten Sessels und verschlang die Finger ineinander. „Der neue Assistent ist da.“ „Assistent?“ Wie immer klang ihre Mutter zerstreut, doch dann ging ein Ruck durch ihre Person. „Oh, WIRKLICH? Wie... wie schön! Ist er nett?“, fragte sie verdächtig eifrig. „Keine Ahnung. Bisher eher schroff, würde ich sagen.“ „Schroff?“ Ihre Tochter zuckte mit den Schultern. „Bestimmt kann er auch nett sein. Auf alle Fälle ist er sehr... beeindruckend.“ „Beeindruckend?“ „Mama, warum wiederholst Du Alles, was ich sage?“, fragte Pineria misstrauisch. „Tue ich das?“ „Ja. Du warst noch nie eine gute Geheimniskrämerin.“ „Ach, na gut, was soll´s. Du kriegst es ja doch raus. Meine Freundin Kiko hat diesen speziellen jungen Mann hierher geschickt, um... Na ja, sie dachte, ihr würdet gut zueinander passen. Du kennst sie ja, sie ist zuweilen sehr exzentrisch.“ „Was? ICH... und DIESER Mann?“ Pippa schnaubte durch die Nase. „Du hast ihn noch nicht gesehen. Er ist so ziemlich das farbschönste, formvollendetste Exemplar der Gattung Mann, das Dir je unterkommen wird. Seine körperlichen Attribute reichen aus, jedes Weibchen im Umkreis von Dreihundert Meilen anzulocken.“ DAS hatte sie sogar durch die vielen Schichten nassen Stoffs erkennen können. „Bist Du sicher?“ „Ja!“ „Hm. Seltsam. Kiko beschrieb ihn als nett, bescheiden, aber vollkommen unspektakulär.“ „Dann sollte ihre Augen untersuchen lassen.“ Und ihre Ohren. Und ihre Nase. „Oh Pippa!“, seufzte Nele verzückt. „Wenn er Dir gefällt... Das wäre ja...“ „Mama! Ich WILL nicht verkuppelt werden! Ich heirate nicht und damit basta!“ „Das sagst Du jetzt.“ „Das sage ich auch morgen!“ „Ach was. So hab ich auch mal gedacht“, meinte ihre Mutter nur gelassen. „Und dann hab ich Deinen Vater getroffen.“ „Schon, aber er ist ja auch Papa. Er hat Dich in Deiner Arbeit immer unterstützt. Außerdem... ich komme für diesen Menschen eindeutig nicht in Frage.“ „Aber warum denn? Er sucht ein nettes Mädchen, und Du bist eins.“ „Mama! Du hörst mir ja gar nicht zu. Wenn er eine Frau sucht, dann bestimmt nicht mich. Er ist... toll! Ein Musterbeispiel maskuliner Anziehungskraft. Er...“, Erregt sprang Pippa auf. „Das IST es!“, rief sie. „Er ist das ideale Studienobjekt! Mit seiner Hilfe kann ich die Reaktion meiner weiblichen Probanden auf sexuelle Reize eindeutig klassifizieren! Er wird der ultimative Katalysator meines Experiments.“ „Kind... Wovon sprichst Du denn schon wieder?“ „Egal, Mama. Ich muss Vorbereitungen treffen!“ Rasch drückte sie einen Kuss auf die Wange ihrer Mutter und eilte, leicht hinkend, aus dem Zimmer. Nele sah ihrer Tochter hinterher. Sie wusste, dass sie manchmal zu wenig Zeit für das Kind hatte. Pineria war viel zu oft sich selbst überlassen. Inzwischen schien sie die Einsamkeit sogar regelrecht zu suchen. Doch endlich, ENDLICH, entwickelte sie Interesse an etwas, das mit Wissenschaft rein gar nichts zu tun hatte. Nele lächelte. „Er GEFÄLLT ihr! Kiko, das hast Du gut gemacht!“ Ein bedauerlicher Irrtum, denn der junge Mann, der von Nele Tutuks Freundin als Kuppel-Opfer auserkoren worden war, befand sich immer noch meilenweit weg. Und er wirkte in der Tat nett, bescheiden und unspektakulär. Um Punkt sieben betrat unser Musterbeispiel maskuliner Anziehungskraft das Speisezimmer. Seit rund einer Stunde wieder trocken, war Seine Hoheit nun bei weitem milder gestimmt. Der große Raum war noch verwaist und nichts deutete darauf hin, dass es hier bald etwas zu essen geben würde. Lu Ten nahm sich die Freiheit, Kamin und Kerzen zu entzünden. Als zehn Minuten später Pineria Tutuk das Zimmer betrat, war er positiv überrascht, denn eigentlich hatte er damit gerechnet, den Abend allein zu verbringen. In der kurzen Zeit, die er nun hier war, hatte er erste Recherchen betrieben. Die Tutuks waren beide angesehene Wissenschaftler, oft mit anderen Dingen beschäftigt, als der Realität. Ihre Tochter - Pineria, wie er jetzt wusste - begrub sich zwischen Büchern und Studien. Kein Wunder, dass sie ein wenig wunderlich war, doch das hatte ihm noch lange nicht das Recht gegeben, so rüde zu sein. „Guten Abend!“, sagte er artig. „Oh... ja. Wünsche ich auch! Das, äh, Essen müsste bald kommen.“ Er nickte. „Meine Eltern auch.“ „Wie schön.“ „Ich...“ Pippa räusperte sich. „Ich hoffe, Ihr Zimmer gefällt Ihnen?“ „Ja, es gibt nicht das Geringste auszusetzen.“ „Oh, sagen Sie das nicht. Ich bin mir sicher, Sie finden noch etwas.“ Sie kassierte einen unbezahlbaren Gesichtsausdruck. Seine durchbrochene Augenbraue konnte sich für keine genaue Richtung entscheiden und schwebte oberhalb ihrer üblichen Halbmast-Stellung. Als sei er zu verwirrt, um seine Überheblichkeit die Oberhand gewinnen zu lassen. „Normalerweise bin ich kein Nörgler!“, stellte Lu Ten in betont neutralem Tonfall richtig. „Gute Güte! Das wollte ich damit auch nicht sagen! Aber der Kamin im Gästezimmer raucht ein bisschen.“ „Ah. Ich bin sicher, ich werde es überstehen.“ Pippa blinzelte. Lag es an ihr, oder war ihr neuer Gast auf einmal viel pflegeleichter? Übertriebene Freundlichkeit konnte man ihm zwar immer noch nicht vorwerfen, aber er schien nicht mehr ganz so knurrig. Bei allen... Nein! Das konnte nicht sein. Ihre Mutter hatte Unrecht. Das KONNTE kein Annäherungsversuch sein. Er war einfach nur trockener und besser gelaunt. Kein Grund, ihm irgendwelche Absichten zu unterstellen. Sie machte einen taktischen Fehler, indem sie ihm in die Augen sah. Er seinerseits fand, dass Veilchenblau eine recht außergewöhnliche Farbe für eine menschliche Iris war. Das Essen kam. Dampfend, duftend und mit einiger Verspätung, wie Lu Ten wortlos registrierte. Pippa, die bisher noch nicht Platz genommen hatte, bemerkte erst jetzt, dass dies ein bedauerliches Versäumnis gewesen war. Als er ihr den Stuhl zurechtrückte schrillten sämtliche Alarmglocken in ihrem Kopf. Bislang war ihr gar nicht bewusst gewesen, über dergleichen zu verfügen, aber man lernte schließlich nie aus. Jedenfalls passte dieses aufmerksame Verhalten nun WIRKLICH nicht in Herrn Songs bisheriges Repertoire. Dass es sich nur um ein schlechtes Gewissen und ein Rückbesinnen auf erlernte Manieren handelte, konnte sie ja nicht ahnen. Pippas Gedanken überschlugen sich, wie so oft. Gut, sie GLAUBTE nicht, dass Mr. Perfect auch nur ansatzweise an ihr interessiert sein könnte. Nie im Leben! Egal, was ihre Mutter sagte. Aber: Sie WUSSTE es nicht! Am besten ergriff sie sofortige Maßnahmen. Abschreckende Maßnahmen! Sollte er trotz ihres Äußeren auf den unwahrscheinlichen Gedanken kommen, sie stelle ein akzeptables Weibchen dar, so musste dies im Kein erstickt werden! Den Informationen ihrer Mutter zufolge, war dieser Mann auf eine Ehefrau aus. Und DAS kam schlichtweg nicht in Frage! Pippa kannte zu viele negative Beispiele. Wie viele ihrer Kommilitoninnen des wissenschaftlichen Bildungszentrums für Mädchen waren schon in diese Falle getappt? Allesamt kluge, gebildete Mädchen, hatten sie nach der Heirat jeglichen Wissens- und Forschungsdrang eingebüßt. Nichts war für sie mehr von Interesse. Weder Bücher, noch Reiseberichte, noch empirische Erhebungen. Das war doch fürchterlich! Nein, Fräulein Tutuk hatte nicht die geringste Lust, ihre Studien und Forschungen aufzugeben. Ergo gab es auch keinen Mann. Punkt! Also musste Mr. Perfect, der allen Berechnungen gemäss ihr gegenüber ohnehin völlig gleichgültig zu sein hatte, NOCH gleichgültiger gemacht werden. Sie begann ihren Plan in die Tat umzusetzen, indem sie ein Glas umstieß. „Gute Güte! Das... das tut mir aber leid!“ „Schon gut!“ Gelassen tupfte Lu Ten die Feuchtigkeit aus seiner zweckmäßigen Kleidung. „Nichts passiert!“ Pippa blinzelte. Was denn nun? Er funkelte sie ja nicht einmal an. „Ach... Ach so! Ist das der neue Assistent?“ unverhofft stand Beo Tutuk im Türrahmen. „Ja, Papa.“ „Schön, schön“, murmelte der eher kleine Mann und kam näher. Pinerias Vater wirkte seltsam entrückt, als hänge sein grauer Wuschelkopf irgendwo in den Wolken. Er streckte Lu Ten, der sich schnell erhoben hatte, die Hand entgegen. „Kräftiger Bursche, waswas?“, fragte der Professor, obwohl seine Hand mit nur halber Kraft geschüttelt wurde. Scheinbar wahllos ließ er sich auf einen Stuhl nieder. „Nun...“ „Liegt an den Genen! Ja, alles an den Genen.“ „Ah.“ Lu Ten nahm erneut Platz. „Hm... brauche derzeit eigentlich keine Hilfe. Stecke mitten in den Recherchen und brauche meine schöpferische Ruhe. Vielleicht... Pineria?“ „Ja, Papa?“ „Hast Du Verwendung für diesen Menschen?“, fragte ihr Vater und griff nach dem Besteck. Pippa kniff misstrauisch die Augen zusammen. War dies ein Werk ihrer Mutter? Hatte Nele ihrem Mann eingeschärft, Herrn Song nicht mit Beschlag zu belegen und ihn der Tochter zu überlassen? Egal! Es war das Resultat das zählte; Und das war unverhofft passend! Sie brauchte ihn zwar nicht als Ehekandidaten, wohl aber als Studienobjekt. „Die habe ich in der Tat.“ Den seltsamen Blick seitens `ihres´ neuen Assistenten bemerkte sie sehr wohl. „Schön, schön!“ Beo strahlte. „Was gibt es denn heute zu essen?“ „Äh... ich glaube Rind mit Ingwer und Lauchzwiebeln.“ „Ah, gut! Lieblingsessen Deiner Mutter. Ich hoffe, sie kommt noch.“ „Aber natürlich tue ich das, Beo, mein Lieber!“ Nele betrat das Zimmer und Lu Ten erhob sich erneut. Pippas Mutter hielt ihre Neugier für exakt vier Sekunden unter Kontrolle, ehe sie das vermeintliche Überraschungspaket ihrer Freundin Kiko begutachtete. Himmel, ihre Tochter hatte Recht. Der junge Mann war recht überwältigend. `Nett´ schien eher eine unzulängliche Beschreibung zu sein und von `unauffällig´ war er, schon allein wegen seiner schieren Größe, auffällig weit entfernt. Unter rein ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet war das hier der eindrucksvollste Mensch, der ihr persönlich je untergekommen war. „Mama, darf ich Dir Herrn Song vorstellen?“ „Du darfst! Herzlich willkommen, junger Mann!“ „Danke, Dr. Tutuk.“ Lu Ten deutete eine respektvolle Verbeugung an. Nele blinzelte auf eine Art, die fatal an ihre Tochter erinnerte. „Liebes Bisschen... So gute Manieren hab ich nicht mehr gesehen, seit... eigentlich noch nie, glaube ich. Beo, mein Lieber, hast Du schon einmal eine so formvollendete Verbeugung gesehen?“ „Nein. Muss lange geübt haben, der Bursche. Waswas?“ „Er kommt aus der Hauptstadt“, half Pippa aus. „Wirklich? Wie aufregend!“ Nele setzte sich. „Ist dort jedermann so förmlich?“ „Die... meisten“, antwortete Lu Ten. Nun, da die Dame des Hauses Platz genommen hatte, erlaubte ihr Gast sich, dies ebenfalls zu tun. Zum dritten Mal! „Interessant! Nun, hier sind wir bei weitem legerer. Nele reicht also vollkommen. Diesen Doktor- und Professor-Unsinn lassen wir lieber weg, hm?“ „Wie Sie wünschen.“ Da man partout auf Förmlichkeiten verzichteten wollte, sah Seine Hoheit sich gezwungen etwas preiszugeben. „Mein Name ist Lu Ten.“ „Wie nett!“, strahlte Dr. Tutuk... nein, Nele. Erst fünf Minuten später wurde ein Mitglied der Tutuks misstrauisch. „Lu Ten?“, fragte Beo. „Heißt so nicht auch... der äh... der Krondings?“ Lu Ten blieb gelassen. Schließlich gab es seit seiner Geburt erstaunlich viele Jungen mit diesem Namen. „Mein Vater ist Royalist!“, erklärte das Original... also, der Krondings. Am späten Abend hielt Lu Ten es an der Zeit, die Ereignisse Revue passieren zu lassen. Ein solches Wechselbad wie in den beiden letzten Tagen hatte er selten erlebt. Erst war er auf einem viel zu hoch fliegenden Drachen fast erfroren, dann, in der Höllenhitze Kergrams, hätte es beinahe Dörrprinz gegeben. Doch jedwede drohende Dehydration war vergessen, als er hier in Tutuk volle drei Stunden vom Regen eingeweicht worden war. Jede Wette, dass seine Haut schon schrumpelig geworden war! Allerdings war die Wetterlage nicht das einzige gewesen, was ihm Flexibilität abverlangt hatte. Zuerst war sein Vater sauer auf ihn gewesen, etwas, das Lu Ten absolut nicht gewohnt war. Dann waren ein paar Weiber scharf auf ihn gewesen, etwas, das Lu Ten leider nur all zu gewohnt war (Manchmal, ganz manchmal, wünschte er sich wirklich, nur der Sohn eines simplen Teekellners zu sein). Und um dem ganzen die Krone aufzusetzen, war er dann pitschnass von einem schrulligen Mädchen aufgelesen worden, das ihm die Würmer aus der Nase gezogen hatte. Dass sie für ihre seltsame Art nichts konnte, war ihm leider viel zu spät aufgegangen. Ja, er hatte einiges gutzumachen an Miss Tutuk. Er würde ihr assistieren, was das Zeug hielt... Während Lu Ten also in sich ging, spielten sich in seinem Zuhause wesentlich dramatischere Szenen ab. Sein jüngster Bruder hätte seine Hilfe momentan mehr als nötig gehabt! Kiram steckte in der Klemme. In die Ecke gedrängt, vor Anstrengung keuchend, rann ihm der Schweiß in die Augen. Seinen Gegner konnte er nur mit Ach und Krach lokalisieren und als sei dies nicht genug, drohte der verdammte Kampfstab, seinen schweissnassen Händen zu entgleiten. Kiram erahnte einen neuerlichen Angriff und suchte sein Heil in einem akrobatischen Flickflack. Jetzt war allerdings Ende der Fahnenstange, denn er hatte noch nicht ganz festen Boden unter den Füßen, als ein einziger, kurzer Schwung mit dem hölzernen Stab des Feindes ihm diesen auch schon wieder entriss. Ziemlich schade, denn den Sauerstoff, den es bei diesem Sturz aus seinen Lungen presste, hätte er bitter nötig gehabt. Prinz Kiram sah Sterne und fragte sich noch flüchtig, womit er diesen frühen Tod eigentlich verdient hatte... „Genug!“, klang die Stimme seines Lehrmeisters gedämpft durch die Maske. Er bot seinem Schützling die Hand, um ihm aufzuhelfen. Verzweifelt nach Atem ringend, kam Kiram auf die Füße, zerrte sich die Schutzhaube vom Kopf und ließ sie achtlos zu Boden fallen. „Hervorragende Beinarbeit!“ Das Lob des Ausbilders stieß auf taube Ohren. „Hervor... ragend?“, keuchte Kiram. Vor Erschöpfung beugte er sich vornüber und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. „Was war... daran gut? Ich... konnte... keinen einzigen Schlag... anbringen.“ „Ich sehe enorme Fortschritte.“ „Im... Verlieren?“ „Eine überflüssige und leider sehr alberne Bemerkung!“, maßregelte der Meister ihn. Kiram schielte aus seiner Kauerstellung ungläubig nach Oben. Wie bitte? Albern? Er war gerade nach Strich und Faden verdroschen worden! Vorsichtig betastete er eine seiner Rippen. Sein Sifu sog scharf die Luft ein und zog schnell die Schutzmaske vom Gesicht. „Tut es weh?“ „Nein. Kitzelt nur ein bisschen!“ „Kiram!“ „Es geht mir gut!“ Dieser Bemerkung wurde nicht viel Glauben geschenkt. „Hauptmann Kinoro? Einen Arzt!“ Der Befehl wurde über die Schulter gebellt. „Sofort, mein Lord!“ Zackig salutierte der Offizier und eilte davon. „Es geht mir gut, Vater!“ „Unsinn. Ich war wegen meiner schlechten Laune aggressiv und unkonzentriert.“ „Oh. Gut. Ich wollte... es schon persönlich nehmen“, schnaufte Kiram, immer noch außer Atem. „Das ist nicht komisch, Kiram. Lass mich die Prellung sehen!“ „Es ist nur eine Lappalie.“ „Weg mit dem Hemd!“, befahl Seine Lordschaft. Kiram verdrehte die Augen und entknotete den Gürtel seines schlichten Wickelhemdes. „Agni!“, flüsterte Zuko, als er die sich bereits verfärbende Stelle über den Rippen seines Sohnes sah. „Dafür wird Deine Mutter mich umbringen.“ „Dazu müsste sie ja erst mal hoch genug kommen.“ Vorsichtig betastete der Mylord die Verletzung. „Tut mir leid, Kind! Ich hätte meine Schwünge besser kontrollieren müssen.“ „Au!“, protestierte der Prinz. „Musst Du mich so nennen?“ „Entschuldige. Alte Gewohnheit“, kommentierte Zuko trocken. „WANN kommt Mama wieder? Ich glaube, Du brauchst dringen etwas zum betütteln.“ Für diese Frechheit wurde er angefunkelt. „Ist doch wahr!“, brummte Kiram. „Immer darf ich alles ausbaden.“ „Fein. Dann kümmere ich mich eben nicht um Dein Wohlergehen!“, sagte der Herr Papa steif. „Glaub mir, mein Stolz ist tiefer verletzt, als meine Rippe.“ „Warum? Deine Geschwister durchbrechen meine Verteidigung ebenso wenig wie Du.“ „Ja. Die landen allerdings nicht schon nach vier Minuten auf ihrem königlichen Arsch.“ „Wenn ich will schon!“, lautete die leicht überhebliche, aber sehr wahrheitsgemäße Antwort. „Wirklich?“ „Kiram, ich sagte bereits, dass Du gute Fortschritte machst. Aber, der Tag an dem einer von euch Grünschnäbeln mich besiegt, ist der Tag, an dem ich in Rente gehe!“ „Agni behüte!“, murmelte sein Sohn. „Dann käme ja der langweilige Streber auf den Thron!“ Er bekam einen Klaps auf den Hinterkopf. Angesichts seines bereits lädierten Zustands jedoch nur einen ganz leichten. „AU! Darf ich ab morgen vielleicht wieder mit Hauptmann Nezu trainieren?", maulte Kiram. „Der verdrischt mich wenigstens nur während des Unterrichts und nicht auch noch danach." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)