Die Söhne des Drachen von Xanderle (Fortsetzung von "Drachenherz") ================================================================================ Kapitel 5: Von Unbekannten und Variablen ---------------------------------------- Schloss Tutuk, drei Tage zuvor Aus dem gespenstischen Grau der Abenddämmerung löste sich ein großer, stummer Schatten. Gemessenen Schrittes kam Lord Bedfield näher, sein langer Umhang umwogt von den geheimnisvollen, blassen Schleiern des ersten Nebels. Diese edle Gestalt hätte Lucinda überall erkannt. Als sie der Lähmung der Schrecken, die sie so süß durchzuckten, endlich entronnen war, fasste sie sich ein Herz und suchte ihr Heil in der Flucht. Dies konnte nicht sein. Es durfte nicht sein! „Nein! Bleibt hier, ich flehe Euch an!“, stieß er rau hervor. „Mylord ... ich kann nicht!“, wisperte sie, halb schluchzend. Mit abgewandtem Gesicht strebte Lucinda zur Kutsche. Sie hätte niemals hierher kommen dürfen. „Doch, Du kannst!“ „Alistair ...“ Zum ersten Mal kam sein kostbarer Name über ihre zitternden Lippen. „Eure Familie wird mich nie akzeptieren! Und ... was wird aus meiner armen, hilflosen Tante, wenn ich ihr nicht mehr beistehen kann?“  Vergebens versuchte sie erneut zu fliehen, doch mit einem energischen Schritt vertrat er ihr den Weg. Er konnte sie nicht gehen lassen. Niemals! Sanft und doch fest umfasste er ihre schmalen, bebenden Schultern. „Lucinda! Sieh mich an!“ Sein Flehen ließ sie die Unmöglichkeit ihrer verbotenen Gefühle beinahe vergessen. Dennoch blieb sie standhaft und blickte zu Boden, auch wenn ihr Herz etwas anderes gebot.. „Lucinda!“ Sein sonst so fester Bariton wankte. Ihre Augenlider hoben sich wie von selbst zu seinem bezwingenden Blick und sie versank in den aufgewühlten, kobaltblauen Tiefen dieser stürmischen See.   Pippa runzelte die Stirn, knuffte die Kissen in ihrem Rücken zurecht und stopfte sich noch eine Feuerflocke in den Mund. Nein. Allem Anschein nach klappte es heute nicht! Seltsam. Lord Bedfield war auf einmal bei weitem weniger anregend als gestern Abend. Was war denn bitte schön los? Ach was, sie musste sich einfach ein wenig mehr in die Geschichte hineinversetzten. Doch Mylords Augen weigerten sich weiterhin hartnäckig, so hinreisend wie üblich zu sein. Ihr aufgewühltes, stürmisches Kobaltblau zeigte die eigenwillige Tendenz zu hellem, durchscheinendem Honiggold zu wechseln. DANN allerdings, war der Mann schlichtweg spektakulär! Mürrischer als vorher, aber spektakulär. Mist! Oh, Mistmistmist! SO konnte sie sich nicht auf den verdammten Roman konzentrieren. Dabei war „Der Lord und das Mädchen“ eines ihrer Lieblingsbücher.    Um dieses, für die Tochter der Tutuks doch recht unerwartete Freizeitvergnügen zu verstehen, sei es kurz erlaubt, das vielschichtige Innenleben des Fräuleins zu beleuchten. So akademisch und intellektuell ihr Alltag auch sein mochte, abends saß Pineria in ihrem gemütlich warmen Bett und las mit glühenden Ohren von den Irrungen und Wirrungen der Liebe. Ganze Stapel schreiend bunter Bücher, mir mehr oder weniger geschmackvollen Einbänden, lagen rund um ihre Schlafstatt verteilt. Im Grunde war es dieser irrationalen Vorliebe zu verdanken, dass sie ihr forscherisches Augenmerk neuerdings auf die menschliche Leidenschaft gerichtet hatte. Sie wollte wissen, ob es dieses Sinnverwirrende, alles in den Schatten stellende Gefühl in Wirklichkeit gab. Wenn sie darüber las war alles ganz wunderbar und zuweilen spürte sie ein merkwürdiges Kribbeln, aber ERLEBT hatte sie es noch nie. Würde sie auch nicht. Wie denn auch? Die gefährlichste Situation, in die sie geraten würde, war ein Bienenstich beim abzählen irgendwelcher Blütenblätter irgendwelcher Pflanzen. Ein strahlender Ritter, FALLS es diese Spezies überhaupt gab, würde sie glatt übersehen. Aber sie wollte es wissen! Wollte wissen, wie es funktionierte. WARUM es funktionierte...  Kurz und gut: Sie wollte die Liebe auf die ihr einzig mögliche Art und Weise erleben. Denn ein winziger, unbelehrbarer Teil von ihr träumte. Und Träume ... dagegen kamen weder ihre Erbanlagen, noch ihre Erziehung an. Darum verschlang sie die billigen Romane mit herzklopfenden Eifer.  Trotz ihrer Schmähreden gegen den Stand der Ehe; tief in ihr gab es diese nicht enden wollende Sehnsucht nach jemandem, der sie verstand, egal, wie spontan oder skurril ihre Einfälle waren. Nach jemandem, der sie tröstete, wenn draußen ein Gewitter tobte, anstatt ihr nur zu versichern dass die elektrische Ladung ihr nichts anhaben konnte, da das Haus ja Blitzableiter habe. Jemand, der sie hübsch oder lustig oder liebenswert fand, obwohl sie es nicht war ... Aber da sich diese Sehnsucht nie erfüllen würde, wurde sie verleugnet, ja fast gefürchtet. Fakt war, dass sie für die „große Liebe“ wahrscheinlich so gut wie alles aufgeben würde und DAS jagte ihr eine Heidenangst ein ... rein hypothetisch natürlich.   Nur ... an diesem Abend gelang es ihr jedenfalls ganz und gar nicht, in die Geschichte einzutauchen. Sie konnte sich nicht konzentrieren! Es war nicht mehr zu leugnen. Der frisch eingetroffene Assistent hatte eine sehr beunruhigende Wirkung auf sie. Er war der erste Mann, der ihren Pulsschlag erhöhte, obwohl er NICHT irgendwelchen Buchseiten entsprang.  Umso wichtiger war es, nicht auf dumme Gedanken zu kommen. Bevor sie noch eigenartige Hoffnungen entwickelte, die ohnehin nur dem bitteren Untergang geweiht wären (Himmel, sie las eindeutig zu viele Schundromane!), musste sie ihren Plan ihn abzuschrecken weiter verfolgen! „Nett“ wäre er für ihren Seelenfrieden jedenfalls zu gefährlich. Wenn er sie weiterhin nicht leiden konnte, kamen auch keine unbekannten Variablen mit ins Spiel!     Am nächsten Morgen   Fräulein Tutuk schälte sich ungewöhnlich früh aus den Laken.  Ihr narrensicherer Plan erforderte leider ein derart großes Opfer. Schließlich wollte sie ihren Hausgast mit einem ganz besonderen Frühstück überraschen! Mal sehen, ob sie nicht wieder den ursprünglichen Motz-Klotz zum Vorschein bringen konnte. Der Stühlerücker von gestern Abend war eindeutig unheimlich gewesen. Operation „Abschreckung“ trat in eine heiße Phase ein: Den Herd. Da Pippa eine mehr als passable Köchin war, räumte Eri ohne viel Federlesen den Platz und wurde somit Mittäterin eines an Heimtücke kaum zu überbietenden Unterfangens. Eine solch mutwillige Grausamkeit, wie die nun folgende hatte Schloss Tutuk lange nicht mehr gesehen...   Lu Ten erwachte von den ersten Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Er schnellte hoch. Sonne? Was? Schon? Agni! Er hatte verschlafen!? Gab es denn hier keine Taubenhähne? Er katapultierte sich aus den Laken, hechtete zum Kleiderschrank, warf wahllos die ersten, griffbereiten Kleidungsstücke über und band in aller Eile sein Haar zurück.  Es dauerte wesentlich länger sich den Weg zur Küche, wo seines Wissens nach das Frühstück serviert wurde, zu erfragen. Sein Geruchsinn meldete jedoch ernsthafte Zweifel an, ob der ihm gewiesene Weg auch der richtige war.   Pineria linste konzentriert in die große, gusseiserne Pfanne. Gleich hatte das Röstbrot exakt den Verkohlungsgrad erreicht, der einem nicht als Vorsatz ausgelegt werden konnte. Perfekt! Sie begann zu summen. „Verzeihung!“ Sie fuhr herum. Im Türrahmen stand das personifizierte schlechte Gewissen. Das personifizierte, MÄNNLICHE schlechte Gewissen. „Wie bitte?“, fragte sie leicht verträumt. „Verzeihung!“, wiederholte Herr Song. „Ich ... habe verschlafen!“ Das klang, als würde er einen Mord gestehen. „Wirklich?“ mit der Fingerspitze stupste sie ihre Brille zurecht. „Das Frühstück ist doch eben erst fertig.“ „Die Sonne ist mindestens schon vor fünfunddreißig Minuten aufgegangen.“ „Ja. Ist das nicht nett von ihr?“  Lu Ten verengte die Augen. Sie wollte ihn foppen, oder? Doch sie wirkte so unschuldig wie ein Baby. „Setzten Sie sich doch bitte. Es gibt Eiertoast. Ich hab ihn selbst gemacht!“, setzte sie hinzu, um sicherzugehen, dass er wusste, WEM er das folgende Geschmackserlebnis zu verdanken hatte. „Klingt hervorragend!“ Sie lächelte leicht, streute noch eine großzügige Prise Salz über das schwarzbraune Zeug in der Pfanne, schaufelte es auf einen Teller und platzierte ihn vor dem neuen Hausgast.   Nach dem ersten, ungläubigen Blick auf die undefinierbare Masse, nahm Lu Ten drei tiefe Atemzüge, leerte seinen Geist und bemühte sich, positiv zu denken. Schließlich saß die Köchin ihm genau gegenüber. Das Kinn auf die Fäuste gestützt beobachtete Pineria erwartungsvoll, wie er den ersten Bissen zum Mund führte. Heiliger Himmel! Verzweifelt versuchte Seine Hoheit sofort alle Nervenbahnen zum Gehirn zu blockieren. Ungeahnte Geschmacksrichtungen trafen ihn von allen Seiten wie Vorschlaghämmer. Er unterdrückte ein Husten. Dieses Zeug würde jedem lebendem Menschen die Tränen in die Augen treiben.    Einen größeren Schwachpunkt hätte Pippa sich wahrlich nicht aussuchen können. Der Feuerlord und all seine Kinder waren, so unpassend es schien, wahre Vielfraße. Sie aßen gern, sie aßen viel, sie aßen ständig.  Der Kronprinz nahm jedoch eine gewisse Sonderstellung ein. Sein Geschmack galt als heikel, exquisit und delikat. Wenn die Feuernation je einen Gourmet hervorgebracht hatte, dann war es der anspruchsvolle Thronerbe. Er war beileibe nicht mäkelig, oh nein! Zu so etwas Banalem hätte er sich wohl kaum herabgelassen. Niemals kam ein unangemessenes Wort der Kritik über seine Lippen. Doch das kurze, vielsagende Heben einer royalen Augenbraue hatte schon so manchem vermeintlichen Meisterkoch die Karriere ruiniert. Lu Tens Gaumen war nun einmal von Kindesbeinen an verwöhnt worden. Er liebte einfaches Essen durchaus. Aber es musste gut zubereitet sein.   „Schmeckt´s denn?“ Einmal mehr blinzelte Pineria wie ein Waldkäuzchen. „Ja.“, keuchte der Kronprinz, seines Zeichens der Schrecken aller tonangebenden Gastgeberinnen. Er brachte es beim besten Willen nicht über sich, diesem großäugigen Wesen zu offenbaren, dass das Essen unzumutbar war. „Nicht .. zu viel Salz?“ „Äh ... vielleicht ein Hauch.“ sagte er vorsichtig, um seine Zunge nicht in Berührung mit irgendetwas Unaussprechlichem zu bringen. „Also ist es versalzen?“ Wieder dieses Blinzeln. „Nein. Das nicht.“   Himmel! Hatte der Mann denn keine Geschmacksknospen? Niemand, aber auch niemand würde ihr Machwerk freiwillig essen. Wenn er nicht merkte, WIE verbrannt alles war, musste sie ihn eben darauf aufmerksam machen. „Ich hab´s extra knusprig gemacht!“ „Ja. Danke!“, Lu Ten zwang schnell den vorletzten Bissen hinunter. So kurz vor der Zielgeraden konnte er nicht einfach aufgeben, das wäre eines Tatzus nicht würg ... äh, würdig. Nur noch einmal, Junge! Dann hast Du es hinter Dir! Seine Gastgeberin stand auf. „So, hier ist noch ein Nachschlag.“ „NEIN! Ich ...“ Platsch! „... bin satt.“, schloss er matt. Der „Nachschlag“ war zu allem Übel im Restfett eingeweicht worden und triefte fröhlich vor sich hin. Mit abgrundtiefer Verachtung starrte Seine Hoheit auf die rußigen, schmierigen Tropfen auf seinem Teller. „Ach was!“, widersprach die Köchin des Grauens. „Ein kräftiger Mensch wie Sie braucht doch ausreichend Nährstoffe, nicht wahr?“ Nährstoffe? Da WAREN keine Nährstoffe mehr! Ausgelutschte Briketts hatten mehr Nährstoffe als dieses Zeugs!   Innerlich mit der Stirn gegen die Tischplatte hämmernd, äußerlich die Ruhe selbst, schaffte Lu Ten es irgendwie, auch die zweite Portion in seinen rebellierenden Magen zu befördern. Er erntete ein strahlendes Lächeln.  Die Gedanken hinter ihrem Lächeln waren weniger strahlend. Verflixt und zugenäht! Wo war dieser Mensch nur aufgewachsen? Aß er ALLES? Sie ... wenn sie gewusst hätte, dass er den verkohlten Matsch-Toast ohne Protest essen würde, hätte sie diese dumme Idee nie in die Tat umgesetzt. Schließlich wollte sie ihn für den Fall der Fälle nur desillusionieren; nicht vergiften. Ihr schlechtes Gewissen erinnerte sich an seine Pflichten und meldete sich mit voller Wucht.    „Möchten Sie ... etwas Tee?“ Lu Ten schwankte zwischen Hoffnung und Entsetzten. Tee wäre verdammt gut zum runterspülen. Aber, wer wusste schon, WAS diese Person unter „Tee“ verstand. „Eri hat ihn gemacht.“, fügte Pippa aus Barmherzigkeit hinzu. „Gut! Ich hätte gerne eine Tasse.“ Seine Erleichterung war beinahe greifbar. Pippa schnappte sich das größte Trinkgefäß, das sie finden konnte und goss heißen, aromatischen Tee ein. Natürlich könnte man das als Inkonsequenz ihrerseits auslegen, aber sie wollte nicht Schuld sein, wenn er eine Magenverstimmung bekäme. „Bitte sehr!“ „Danke!“ „VORSICHT! ER IST ... noch heiß.“, fügte sie in normaler Lautstärke hinzu, denn der Inhalt der Tasse war bereits verschwunden. Verwundert hob Lu Ten die linke Braue. „Ich bin Feuerbändiger. Hohe Temperaturen machen mir nichts aus.“ „Entschuldigung. Das hatte ich vergessen.“ Sie füllte seine Tasse nochmals auf, die diesmal auch ganz manierlich und langsam genossen wurde. „Ich würde nachher gerne ein paar Vermessungen durchführen, wenn Ihnen das recht ist.“, sagte Pippa in die Stille. „Natürlich. Schließlich bin ich hier, um zu assistieren.“ Genau, schließlich war er hier, um zu assistieren!   Auf dem Weg zum Arbeitszimmer meldete sich der fürstliche Sinn für Gefahren, hellwach seit dem jüngsten Anschlag auf den Magen-Darm-Trakt seines Besitzers, erneut zu Wort. Das hektische Scharren riesiger Pfoten näherte sich mit großer Geschwindigkeit und um die Ecke schoss ein gigantischer Wolfshund. Hund? Dieses gewaltige Vieh würde ganze Armeen in die Flucht schlagen. Und es stürzte geradewegs auf Miss Pineria zu. Lu Ten war gerade im Begriff, eine heroische Rettungsaktion zu starten, als ihr freudiges „Mimmi!“ ihn innehalten ließ ... MIMMI?? Mit Schwanzwedelndem Eifer widmete Monster-Mimmi sich bellend der Begrüßung ihrer Freundin. Für dieses unhaltbare Verhalten wurde ihr sogar noch heftiges Lob zuteil. „Gutes Mädchen! Jaaaa! Ist ja gut ... und jetzt sitz. Sihiiitz!“ Energisch kraulte Pippa die weichen, grauen Schlappohren. Nach kurzer Zeit wandte der Hund sein hyperaktives Interesse dem männlichen Zweibeiner zu. Doch Lu Ten war nicht umsonst durch die Schule seines Vaters gegangen. Zuko Tatzu hatte sich stets bemüht, seine Kinder auf alle erdenklichen Situationen des Lebens vorzubereiten, also auch auf den drohenden Ansturm monströser Freundschaftsbekundungen. Die tellergroßen Pfoten des Kolosses lasteten zwar schon auf seinem Brustkorb, aber blitzschnelle Reaktionen bewahrten den Kronprinzen immerhin vor einer massiven Schlabberattake. „SITZ!“, donnerte er. Schnell rutschen Mimmis Vorderbeine tiefer. Irgendein verborgener, uralter Hundeinstinkt sagte ihr, dass sie diesmal nicht so tun sollte, als verstehe sie den Befehl nicht. Etwas unentschlossen ließ sie sich auf die Hinterbeine nieder und sah ergeben zu dieser neuentdeckten Autorität auf. „Gute Güte! Sieh sich das einer an.“, staunte Pippa. „Sonst gehorcht sie nie.“ Warum wunderte ihn das nur so überhaupt nicht? „Hunde brauchen eben eine feste Hand.“ „Ja ... oder eine laute Stimme. Vielleicht können Sie sie ja ein bisschen erziehen? Sie scheint Sie ziemlich zu mögen“, sagte sie mit Blick auf den hechelnden Vierbeiner, der noch immer zu Füssen ihres Assistenten saß und diesen anhimmelte. „Sie reagiert nur auf einen klaren Befehl.“ „Sag ich ja.“, meinte sie munter. „So, bitte hier lang.“, bat sie.   Wenig später verfluchte Lu Ten seinen Bruder, Bürgermeister Babra und, zur Sicherheit, auch gleich die ganze verdammte Feuernation. Wäre er nur nie hierher gekommen! In Pinerias gemütlichem, hellem Arbeitszimmer herrschte das pure Chaos. Wacklige Stapel alter Bücher und dicker Folianten belagerten scheinbar jede freie Stelle. Verschiedenste, undefinierbare Instrumentarien lagen auf unterschiedlich großen Tischen. Ihre einzige Aufgabe schien es zu sein, langsam aber sicher eine dicke Staubschicht anzusammeln.  Und was Miss Tutuks derzeitige Aktivitäten anging ... die waren so merkwürdig wie die ganze Person selbst. Vermessungen?!? Ja, in der Tat! Seit einer Stunde hampelte sie mit einem Maßband um ihn herum. Er hatte ihr ja seine Maße geben wollen, aber nein! Man traute ja nur den eigenen Messergebnissen. Darum hatte sie sich auf einen Stuhl gestellt, das vergilbte Meterband um ihn gewurschtelt und ein „Ooh“, „Aha“ und „Wie breit?“ nach dem anderen von sich gegeben. Aber JETZT ging sie eindeutig zu weit! „Dürfte ich bitte den Zweck dieser Aktion erfahren?“ Seine Stimme schrammte schon wieder ganz knapp an einem Knurren vorbei. „Nein.“ Sie kritzelte kurz Daten in ihr Büchlein. „Sie sollten möglichst unbefangen bleiben.“ „Unbefangen?“ „Ja.“ „Mit einem Zirkel an der Nase?“ „Oh ... fühlen Sie sich unwohl dabei?“ Sie war jetzt so nah, dass er die Sommersprossen auf ihrer vorwitzigen Stupsnase zählen könnte. Es sah aus, als hätte eine freche Fee sie mit Zimt bestäubt. Fee? Aber klar ... sicher! Er wurde schon so verrückt wie alle anderen hier. Man musste sich ja nur mal den Kopf dieses verschrobenen Dings ansehen. Im Ernst ... wer hatte schon an die sieben Haarfarben auf einmal? Ihr Schopf war ungefähr so dezent wie ein festliches Freudenfeuer. Warmes Braun, Rot, Lohfarben, Kupfer, Honigblond und sogar ein paar hellgoldene Strähnen bildeten den wildesten Wuschelkopf, den er je gesehen hatte. Dieses Haar wäre niemals zu bändigen, egal, wie fest der Knoten war, in den man es zwingen wollte.   „Ich bin es leider nicht gewohnt, dass technische Gerätschaften in meinem Gesichtsfeld herumlungern.“, antwortete er schließlich. „Das ist eben eines der Opfer, das die Wissenschaft verlangt.“ „Aha. Verlangt ihre „Wissenschaft“ immer das Opfer anderer?“ „Äh ... Nein. Nicht immer.“ Sie drehte den Zirkel, um das Ergebnis abzulesen. „Hm ... die ist ja wirklich ganz schön groß.“, murmelte sie. „Wie bitte?“ „Ihre Nase. Ziemlich groß.“ „Na ... danke.“ „Was? Oh. Nein! Sie ... ist völlig in Ordnung. Ich meine ... trotz ihrer Ausmaße ist sie, äh, ziemlich mustergültig. Wirklich ganz erstaunliche Proportionen.“ „Sie erfüllt ihren Zweck!“  „Nun, ja. Aber auch unter ästhetischen Gesichtspunkten ist sie durchaus sehr ... na ja, gelungen.“ “Ich werd´s ausrichten.“ „Ausrichten?“, fragte sie zerstreut und klemmte ihren Stift hinters Ohr. „Meinem Vater.“ „Ach? Sehen Sie ihm sehr ähnlich?“ „So sagt man.“ Soso ... So sagte man? Glückliche Mutter, konnte sie da nur sagen ... denken. Sie hatte es doch hoffentlich nur gedacht, oder!?   Pippa stieg von ihrem Schemel, um einen Farbfächer vom Tisch zu holen. „Was ist das?“, wollte ihr Versuchskaninchen misstrauisch wissen. „Eine Farbskala mit 640 Schattierungen..“ Sie spreizte den Fächer in den Bereichen „Ocker“ bis „Gold“ auf. „Wozu?“  Agni! Er konnte den schroffen Unterton beim besten Willen nicht mehr unterdrücken. „Um Ihre Augenfarbe exakt zu bestimmen.“ „Und warum, zum Teufel?“ Momentan würde sie auf „Hellloderndes Bernstein“ tippen. „Weil sie recht ungewöhnlich ist.“ „Ungewöhnlich? Sie sind einfach nur HELLBRAUN.“ HA! Das war, als bezeichne man die schillernden Farben des Meeres als einfach nur „blau“. „Doch wohl eher Gold.“ „Das ist lächerli ...“ „`Helles Antik-Gold´, um genau zu sein.“, meinte Pippa triumphierend und hielt ihm den entsprechenden Farbstreifen vor die Nase. „Natürlich gibt es auch dunklere und hellere Schattierungen in Ihrer Iris.“ „Ach wirklich? Und müssen wir jetzt jede einzelne analysieren?“, fragte er ätzend. „Aber nein! Der Grundton reicht mir. Obwohl er auch zu variieren scheint. Je wütender Sie sind, umso heller ist er. So wie jetzt, zum Beispiel.“ „Wütend? Ich BIN nicht wütend!“ „Verstehe. Dann ist dieses Stirnrunzeln also Ihr normaler Gesichtsausdruck?“ „Ich ... was? Nein!“ „Hm ...“ Sie legte die Farbskala beiseite. „Welcher Ihrer Eigenschaften sind ein Erbteil Ihrer Mutter?“, fragte sie unvermittelt. Lu Ten stutzte. Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Dieses Mädchen konnte einen aber auch wirklich aus dem Konzept bringen. „Optische?“, wollte er wissen. „Ja, das auch.“ „Also ... äh, nichts, würde ich sagen.“ Zuko hätte an dieser Stelle vehemente Einwände geltend gemacht, denn der Junge hatte die Angewohnheit, den Kopf beim Nachdenken auf eine Art und Weise schief zu legen, die ihn frappierend an seine Jin erinnerte.   „Und charakterlich?“, bohrte Fräulein Tutuk weiter. „Mein ... Optimismus, denke ich.“ „Ihr WAS?“ „Optimismus.“, presste er knirschend durch seine Zähne. Sie starrte ihn an. Aha. Der hatte dann wohl grade eine kleine Auszeit, der Optimismus. Ihr Assistent bemerkte ihre Skepsis und bemühte sich, sie aufzuklären. „Ich weiß, ich wirke nicht immer so, aber ich bin der festen Überzeugung, dass alle Dinge und Situationen sich regeln lassen.“ „Hm, ja. Das kann man wohl gelten lassen.“, meinte sie erstaunt. Eine solche Geisteshaltung hätte sie ihm gar nicht zugetraut.  „Einfühlungsvermögen.“ „Was?“ DAS kam jetzt aber wirklich unerwartet. Sie klang auch prompt dermaßen ungläubig, dass er sich veranlasst sah, sie anzufunkeln. „Das ist die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzten zu können.“, erklärte er sarkastisch. „Äh, ja. Das ... das können Sie?“ „Außerhalb von Wolkenbrüchen und Sintfluten ... ja.“ „Oh.“ Sie befummelte eines ihrer Instrumentarien. „Für die gestrige Verspätung sollte ich mich wohl noch entschuldigen.“ „Das ist unnötig.“ „Hm ... wenn Sie meinen.“, murmelte sie. Dann wechselte sie wieder abrupt das Thema. „Sonst noch irgendwelche Erbteile mütterlicherseits?“ „Keine, von dem ich wüsste. Befassen sich Ihre Studien mit Erbanlagen?“ „Nein. Das war reine Neugier.“ Natürlich. Was auch sonst? Diese Frau hätte sogar einen Floh nach seiner Biographie ausgequetscht.      Für die nächsten zwei Tage hielt diese Neugier Lu Ten mächtig auf Trapp. Miss Tutuk trug ihm Dinge auf, deren Sinn selbst dem Weisesten verborgen bleiben würde. Ihm ließen sie jedenfalls die Haare zu Berge stehen. Am Anfang war es ja noch relativ harmlos. So musste er zum Beispiel zwei junge Damen im Garten nach der Uhrzeit fragen, obwohl er auf die Sekunde genau wusste, wie spät es war. Das Schlimmste war: Diese albernen Frauenzimmer schienen das zu wissen. Das nächste Mal wurde er zum Brunnen entsandt, an dem sich die gleichen Mädchen herumtrieben. Angeblich um Wasser zu holen. HA! Zu allem Übel wurden ihm diesmal eindeutig zweideutige Blicke zugeworfen. Wussten sie etwa, wer er war? Anscheinend nicht, denn selbst die eifrigsten Damen zeigten sonst aufgrund seines Titels eine gewisse zurückhaltende Scheu. Etwas, das diesen Grazien hier leider völlig abging.   Am dritten Tag seiner „Assistenzzeit“  platzte Hoheit der Kragen. „Ich soll WAS?“ „Zum Brunnen gehen.“ Pippa schielte aus dem Küchenfenster in besagte Richtung. Gut, da kamen Miu und Bell, pünktlich wie immer. Jetzt musste sie ihrem Experiment nur noch den goldäugigen Katalysator beimengen. „Ja, danke. DAS beherrsche ich dank zahlreicher Versuche zwischenzeitlich ganz hervorragend. Nur was die diesmaligen Rahmenbedingungen angeht habe ich mich wohl verhört?!“ „Na ja, äh ... das Ganze soll ohne, äh ... Hemd vonstatten gehen. Also ... ohne Ärmel eben.“ „Nein!“ „Gute Güte! Es sind doch nur Arme. Es geht nur um das Hemd. Diese lange, ärmellose Ding dürfen Sie ja anbehalten.“ „Und warum zum Teufel sollte ich mich zum Wasserhohlen umziehen? Außerdem ist noch genug da!“ Penibel hielt er ihr einen vollen Eimer unter die Nase. „Es geht ja nicht ums Wasser, sondern um eine soziologische Studie. Ich möchte einfach, dass sie mit bloßen Armen zu diesem Brunnen gehen. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt.“ „Ach nein?“ „Jetzt haben Sie sich doch nicht so. Durch diese ignorante Geisteshaltung behindern Sie die Wissenschaft!“, sagte sie in diesem besserwisserischen Blaustrumpf-Tonfall, den er inzwischen zur Genüge kannte.  „Sie sind mein Assistent! Wenn Sie nicht gewillt sind, mir zu helfen ...“ „Fein.“, knurrte er. „Noch so ein Schwachsinn, für den ich herhalten muss.“ Schneller, als man `verkohlter Toast´ denken konnte, fehlte sein knielanger Kimono. Das schlichte, rostfarbene Leinenhemd wurde ebenso effektiv entfernt.   Pippa schluckte. Und starrte.  Schluckte erneut und starrte weiter. SO ... konnte ein Mann also aussehen? Selbst in ihren wildesten Phantastereien hätte sie sich ein derart ansprechendes Gesamtbild nicht zusammenreimen können. Aber, was war von Mr. Perfect denn schon anderes zu erwarten gewesen? Nur allzu bald wurde ihr der bei weitem interessanteste Anblick ihres Lebens wieder verwehrt, denn er hatte es leider verdammt eilig, wieder in seine ärmellose Tunika zu schlüpfen. Wobei ... es war ja nicht so, dass seine Arme allein nicht auch schon genug Grund zum Schwelgen gegeben hätten. „So. Zufrieden?“, fauchte er. Zufrieden? Ihre weiblichen Probanden würden vermutlich der Hysterie anheim fallen. „Äääh ... äh, ja. Das ist ... ausreichend.“, stammelte sie und blinzelte ihr Eulenblinzeln. „Ah! Wundervoll! Das bedeutet also, ich muss nicht auch noch auf den Händen laufen, um mich vollends zum Affen zu machen?“ „Das können Sie?“, fragte das verwirrte Waldkäuzchen. Pippa wurde von goldener Glut schockgefrostet, bevor er zwei leere Eimer schnappte, sich wortlos umdrehte und die Küche in Richtung Brunnen verließ. Gute Güte! Er hatte aber auch ein paar Blicke drauf...  Von den AN-Blicken ganz zu schweigen. Es viel wirklich verflixt schwer, die Augen von dem Mann loszureißen, um sich auf die Mädchen zu konzentrieren, deren Reaktion immerhin der Grund für diesen Versuch war.   Als Lu Ten sich näherte, reizte das zweistimmige Kichern seine ohnehin überstrapazierten Nerven. So wie er taxiert wurde, hätte er die Weste auch gleich weglassen können. „Oh, aber Hallo! Wer kommt denn da?“ „Tag.“ Ignorier sie, Lu. Immer auf das Ziel. Brunnen, Kurbel, Wasser, Eimer. „Ist das Wasser schon wieder alle?“ Hielt sie dieses Geschnurre etwa für lasziv? „Na ja, bei all dieser ... Hitze.“, gurrte die Andere. Der Sohn Zukos des Hitzigen enthielt sich einer Antwort. Gurri und Schnurri schwangen ihre Hüften halb auf die Brunnenmauer und fummelten sich durch die Haare. Dem beschränkten Repertoire nach zu urteilen, gaben sie sich gegenseitig Unterricht. „Na, Dir macht es ja nichts aus, die ganzen schweren Eimer zu schleppen.“ „Aber klar nicht!“, raunte ihre Freundin. „Bei all den Muskeln!“  „Sag mal ... Wie war Dein Name doch gleich?“ „Lu.“ „Olala. Schön kurz und knackig!“  WAGTE sie es etwa, ihre Finger nach seinem Arm auszustre .... „Und ich wette KURZ trifft es sehr genau!“, meldete sich eine Zornbebende, trotzige Männerstimme.   Langsam drehte Lu Ten sich um, was sich jedoch als reine Zeitverschwendung herausstellte, denn er sah sich mit dem größten Schnösel konfrontiert, den die Welt je gesehen hatte. Dieser Mensch hatte eindeutig zu viel Sonne abbekommen. Und ebenso eindeutig verstand er die Situation falsch. Seine gesamte Haltung entsprach ganz der eines herausgeforderten Platzhirsches. „Oh. Hallo Ken.“, sagte die Rothaarige und klang auch prompt nach schlechtem Gewissen. Die Brünette dagegen bezeugte nur deutliches Desinteresse durch ein knappes „Hi.“ Ken kniff die Augen zusammen und starrte in die seines vermeintlichen Widersachers. Das sollte wohl bedrohlich wirken, aber Seine Hoheit fand, dass Himmel-Baby-Blau die beabsichtigte Wirkung im Keim erstickte. „Wer ist der Typ?“, blaffte der bisher begehrteste Nachwuchsmacho des Dorfes. „Lu arbeitet zurzeit für Fräulein Tutuk.“ Da keine Gefahr drohte, beschloss der Prinz aller Wasserträger, sich wieder seiner „Aufgabe“ zu widmen.  „Arbeiten? Soso. Als WAS arbeitest Du denn?“ Eine berechtigte Frage, wie Lu Ten fand, aber er ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen. Nur noch einmal hochziehen, dann wären die vermaledeiten Eimer voll und er könnte sich endlich vom Acker machen... „Hey! Ich REDE mit Dir!“ „So?“ Aus irgendeinem bescheuerten Grund seufzten die Mädchen kollektiv auf, was Ken Platzhirsch natürlich noch aggressiver machte. „Glaubst wohl, Du bist was besseres, nur weil Du unter der Fuchtel dieser Durchgeknallten stehst.“ Mit einem vernehmlichen Scheppern wurden zwei Wassereimer auf den Boden gestellt. „Wie bitte?“ „Du hast mich ganz gut verstanden!“ „Miss Pineria“, sagte Lu Ten mit tödlicher Ruhe, „hat mehr Verstand, als Du in Deinen nächsten hundert Reinkarnationen zusammenkratzen wirst. Solltest Du trotzdem noch weitere derart unqualifizierte Kommentare parat haben, verschone mich gefälligst damit. Und nun,“, er nahm seine Last wieder auf, „überlasse ich Dich Deinem staunenden Publikum." „Grmpf! Hast wohl Schiss, was?“ „Ich schlottere.“, kam die ungerührte Antwort.   Auf ihrem Posten am Küchenfenster kaute Pippa auf ihrer Unterlippe. Dieser dumme Ken hatte die Konstellation ihres Versuchs durcheinander gebracht. Allerdings war die daraus resultierende Szene auch recht aufschlussreich gewesen. Konkurrenz machte Männchen also aggressiv ... das war ein Phänomen, dass auch bei anderen Spezies zu beobachten war. Ihr Assistent schien darauf allerdings nicht einzugehen. Entweder war er extrem friedfertig, oder er hatte schon auf den ersten Blick erkannt, dass er der Überlegene war. Oder beides ... Momentan stapfte er jedenfalls voll beladen in ihre Richtung.   Kaum im Raum, stellte er die Eimer auf den steinernen Boden. „Was hat er gesagt?“ „Wer?“ „Na, Ken.“ „Nichts.“ „Nichts? Er hat aber geredet.“ „Ja. Unsinn.“ „Was für Unsinn?“ „Bedeutungslosen Unsinn.“, beschied Lu Ten knapp und schnappte sich sein Hemd. Pippa merkte, wie ihr Mund schon wieder trocken wurde. Sie hatte bestimmt nichts dagegen, diesen Anblick erneut zu erleben. Im Augenblick hätte sie sogar ihre Seele für ein fotographisches Gedächtnis verkauft. Diesmal drehte er ihr allerdings den breiten Rücken zu. Doch, bevor sie das bedauern konnte, stellte sie fest, dass der mindestens ebenso interessant war wie Brust und Bauch. All diese anmutigen Wellen, die seine Muskulatur schlug, waren einfach ... Ihre folgende mentale Katatonie hatte zwei Dinge zur Folge. Zum einen entfuhr ihr unwillentlich ein leiser, bewundernder Seufzer und zum andern bekam sie nicht mit, dass ein Besucher den gepflegten Kiesweg entlangkam. Erst als von der Tür ein mittellautes Räuspern kam, wurde sie aus ihrer andächtigen Starre gerissen und fuhr herum.   Im Rahmen der Hintertür stand ein junger Mann. Sein gesamtes Erscheinungsbild war in die Kategorie „unauffällig“ einzuordnen. Ein Bild besonnener Korrektheit. Er wirkte nett, bescheiden und unspektakulär. Trotzdem fand Pippa, dass sein Timing überaus unpassend war. „Ja bitte?“, fragte sie. „Einen wunderschönen Tag wünsche ich!“ „Äh ... gleichfalls.“ „Darf ich annehmen, dass ich die Ehre habe, mit Fräulein Tutuk zu sprechen?“ „Ja ...“ Pippa wurde misstrauisch. Dieser Mensch klang wie ein Vertreter für motorisierte Besen. „Sie sind, wenn ich das so sagen darf, genauso, wie Frau Quon Sie beschrieben hat.“ „Quon? Kiko Quon? Sie kennen die Freundin meiner Mutter?“ „Aber ja. Sie hat mich doch hierher entsandt.“ „Wirklich?“ „Sie meinte, ich könnte mich bei Ihnen bestimmt nützlich machen. Hier ....“, er wühlte eifrigst in seiner enormen Reisetasche, „ist ein Empfehlungsschreiben.“ Völlig perplex nahm Pippa den Schrieb entgegen. „SIE ... sind der Assistent, den Kiko schicken wollte?“ „Nun, ja. Ich wurde leider aufgehalten.“ Gute Güte! Was für ein Schlamassel war denn das nun schon wieder? Diesmal war SIE aber nicht daran schuld!   „Assistent?“, schälte sich eine dunkle Stimme aus dem Hintergrund. „Ich wusste gar nicht, dass zwei vonnöten sind", schnarrte Lu Ten und fragte sich ganz kurz, warum er diesen Griffelspitzer, der da aus dem Nichts aufgetaucht war, partout nicht leiden konnte. Miss Tutuk, ihrerseits, wirbelte herum und starrte ihrem Erst-Assistenten in die Augen. Der stand, inzwischen wieder korrekt bekleidet, mit verschränkten Armen an den großen Küchentisch gelehnt und musterte den Neuankömmling auf eine Art, die nur als ungnädig bezeichnet werden konnte.  Pippas Gedanken rasten wirr im Kreis. Sie konnte sich beim besten Willen nur daran erinnern, dass Eri sie gefragt hatte, ob Sie die Zeit hätte, den neuen Assistenten vom Bahnhof abzuholen. Von wem diese Nachricht gekommen war, hatte sie gar nicht gefragt. „Und wer sind dann SIE?“, fauchte sie Lu Ten ungewöhnlich streng an. „Bitte?“ „Wer hat Sie hergeschickt?“ „Bürgermeister Babra.“ „Onkel Tato? Ach Du meine Güte!“ „Ist daran etwas verkehrt?“, verlangte ihr gereizter Wasserträger mit seidenweicher Stimme zu wissen. „Was? Nein ... ich ... wir dachten nur, Sie wären er.“ Sie wedelte in Richtung des Griffelspitzers. „Nein, tut mir leid. Ich habe nur diese eine Identität.“ Eigentlich war das ja gelogen... „Aber ... wir dachten, Kiko hätte Sie geschickt.“ „Ich kenne keine Kiko.", knirschte Lu Ten. Pippa blinzelte. DAS erklärte so manches. Oh Gott, sie war ja so eine Idiotin! Am schlimmsten war, dass sie hatte den armen Menschen ganz umsonst mit dem ganzen Schweine-Fraß gequält hatte. Er suchte schließlich gar keine Frau. Warum auch? Er brauchte sich nur umzudrehen, und sie standen in sabbernden Scharen vor ihm. Dass sie auch nur für den Bruchteil einer Sekunde geglaubt hatte, jemand würde denken, sie könnte zu diesem Musterexemplar passen... Gut! Das war gut, oder? So musste sie sich schon keine Sorgen mehr machen, vielleicht doch mal den Kopf zu verlieren. Nein .... Dieser Mann hatte sie niemals - wirklich niemals - auch nur ansatzweise in Betracht gezogen. Und sie war glücklich darüber. Jawohl! Totglücklich!   Hinter ihr stand jedoch einer, der ziemlich viel in Betracht zog. Nemo Ran räusperte sich. „Ich kann selbstverständlich auch wieder gehen.“, meinte er etwas pikiert. „Gut!“, griff Lu Ten den Vorschlag ebenso schnell wie sarkastisch auf. Den folgenden, kurzen Starr-Wettbewerb gewann er mit Leichtigkeit. „Natürlich nicht!“, schnappte Pippa und bedachte ihn mit einen strengen Seitenblick.  „Sie bleiben erst mal hier.“, wandte sie sich an Nemo. „Wenn Kiko denkt, Sie könnten uns zur Hand gehen, dann ist dem auch so.“ „Ich danke Ihnen! Frau Quon sagte ja Sie wären ein Engel!“ Der Speichellecker strahlte, dass Lu Ten fast das versalzene Essen hochkam. Er verspürte den rätselhaften Impuls Tritte zu verteilen. „Oh wirklich?“ Pippa blinzelte.  Moment ... Hatte sie etwa gesäuselt? Bekam DIESER Typ etwa ihr Wäldkäuzchen-Zwinkern? Langsam aber sicher begann Herr Lu Ten Song-Tatzu mit den Zähnen zu knirschen. Über diese äußerst seltsame Reaktion seinerseits würde er sich später wohl noch Gedanken machen müssen.       `Wohltemperiertester aller Drachen,     Ist das wirklich Dein Ernst? Ich darf nach Hause kommen? Obwohl dieser Unsinn hier noch nicht vorbei ist? Habe ich Dir heute schon geschrieben,  dass ich Dich wirklich ganz, ganz schrecklich lieb hab? Falls nicht, ist das eine unzumutbare Nachlässigkeit,  für die ich mich entschuldige. Aber Du hast vollkommen Recht: Tians Jubiläum ist kein Pappenstiel  und es wäre respektlos von mir, diesem Ereignis nicht beizuwohnen. Die meisten meiner Koffer sind also schon gepackt. Selbst mein inzwischen unentbehrlicher Ziegelstein ist bereits verstaut. Ihr werdet bestimmt interessante Monologe führen, Du und er. Was die Damen des Anti-Bändigen-Vereins angeht, kann ich dazu nur sagen: Es beschweren sich ohnehin die ganze Zeit irgendwelche Leute über Dich, da machen ein paar mehr oder weniger auch keinen Unterschied.   In Anbetracht der langen Zeit, die ich Dich jetzt schon entbehren musste, wird es Dich nicht wundern, zu hören, dass ich nach meiner Ankunft  aller Wahrscheinlichkeit nach erst mal extrem müde sein werde. Stell Dich also auf ein oder zwei ausgedehnte, private Nickerchen ein. Dafür darfst Du Dir schon mal eine passende Ausrede zurechtlegen, denn darin bist Du eindeutig besser als ich.  Und lass Deine Augenbraue unten, denn Du weißt sehr gut,  dass ich Recht habe. Schließlich warst Du es, der jahrelang mit einer falschen  Identität durch die Gegend gerannt ist. Zu guter Letzt weise ich Dich noch offiziell darauf hin, dass Trübsalblasen keine angemessene Beschäftigung  für einen Feuerlord ist, also unterlass dies bitte.   Jetzt leg Deinen Schreibkram beiseite, geh ein bisschen Gum Jo  oder Pai Cho spielen und küss die Kinder von mir!     Jin Tatzu, Berufskobold und fürstlicher Feuerlöscher     P.S.: Nur falls Du es noch nicht wissen solltest:  Du bist mit Abstand der beste, wenn auch einzige, Ehemann, den ich je hatte!´ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)