Die Söhne des Drachen von Xanderle (Fortsetzung von "Drachenherz") ================================================================================ Kapitel 7: Sprachlos in Agnam Ba -------------------------------- Irgendwann fand Niha ihre Sprache wieder. Sie wusste jedoch nicht das geringste damit anzufangen. Natürlich hätte sie sich bedanken sollen. Für die Reparatur des Pfluges, für die Lieferung der Äpfel, für die Rettung vor einem miefenden, aufdringlichen Strolch ... Nur, wenn man Hilfe nicht gewohnt ist, fallen Worte des Dankes schwer. „Und?“, fragte Lee vergnügt. „Wo sollen die Äpfel denn nun platziert werden?“ „Am ... am besten hier in den großen Korb.“, stammelte Niha. „Gut.“ Behände und umsichtig wurde das Obst kundenfreundlich arrangiert. Doch damit nicht genug ... „Guten Tag die Dame!“ Die noch recht skeptische Kundin in spe wollte eben eilends weiter, als ein charmantes Lächeln nebst passendem Grübchen und einem Paar lachender Augen sie aufhielten. „Äh ... guten Tag.“ „Wie ich sehe, sind sie eine Frau mit untrüglichem Geschmack. Darf ich Ihnen eine Kostprobe unsrer Äpfel anbieten? Erntefrisch, saftig und köstlich.“ „Äpfel? Saure, oder süße?“ „Süß und ein kleinwenig sauer. Wie ein neckisches Lächeln. Ein Kuchen davon und Ihr Gatte wird den Göttern auf Knien dafür danken, mit einem so liebenden Weib gesegnet zu sein.“ „Oh, aber ... ich bin nicht verheiratet.“ „WIE bitte? Eine solche Dummheit hätte ich den hiesigen Männern dann nun doch nicht zugetraut.“ Die Lady errötete zart und zögerte. Noch. „Gibt es denn keinen netten Herren in der Nachbarschaft, den der verlockende Duft von Apfelküchlein mit Zimt in Versuchung führen könnte?“ Ein ertappter, verunsicherter Blick ließen ihn wissen, dass er einen Treffer gelandet hatte. „Ich ... ich weiß nicht.“ „Ah! Ich wette, er ist nur zu zurückhaltend.“ Die Frau, etwa Mitte dreißig, biss sich auf die Lippen. „Glauben Sie?“ „Na ja, Sie könnten sich mit der Menge zubereiteter Apfelküchlein ja vertun. Man hat schließlich schnell mal zu viel gemacht. Ein netter, alleinstehender Nachbar wäre sicher entzückt. Sowohl über die Nascherei, als auch über den Besuch der reizenden Bäckerin.“ Die Augen des Fräuleins begannen zu glänzen. „Er ... er grüßt jedenfalls immer sehr freundlich.“, murmelte sie zögernd. „Seien Sie gnädig und erlösen Sie ihn von seinen Zweifeln. Er hat bestimmt nur noch nicht den Mut gefasst, die hübscheste Dame des Viertels anzusprechen.“ „Ich .... glaube ich nehme drei Pfund.“ Was soll man noch groß sagen? Mit fast prophetischem Weitblick hatte Seine Hoheit die Entwicklung einer wundervollen Romanze erahnt. Auf der Hochzeit wurden selbstverständlich Apfelküchlein mit Zimt serviert. Mit fassungslosem Staunen beobachtete seine Niha, wie der blaublütigste Marktschreier der Weltgeschichte nach und nach ihre gesamte Ware an den Mann, äh, die Frau brachte. Wobei sie von der Farbe seines Blutes natürlich nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung hatte. Lee lobte den Sachverstand seiner Kundschaft, neckte allzu schüchterne Maiden und knuddelte speckige, glucksende Babys. Nie zuvor hatte Niha so viele Leute in diesem Teil des Marktes gesehen. Und seltsamerweise waren es nicht nur Frauen. Dieser Luftikus schaffte es sogar, die Sympathien der Männer für sich zu gewinnen. „Vielen Dank! Beehren Sie uns wieder.“ „Nein, bedaure ... die Äpfel sind leider ausverkauft.“ „Aber selbstverständlich nehmen wir Vorbestellungen entgegen.“ „Bitte sehr, der Herr. Von unseren Eiern wachsen Ihnen garantiert ordentlich Haare auf der Brust. Sollte die werte Gattin allerdings welche auf die Zähne bekommen, übernehmen wir keinerlei Garantie.“ Nach knapp zwei Stunden war Nihas Kasse praller gefüllt denn je und am Ende schwatzte Lee den Leuten sogar noch die Schüsseln und Krüge auf, in denen sie die Sachen transportiert hatte. Ein ausverkauftes Sortiment war für ihn jedoch noch lange kein Grund, seine propagandistischen Tätigkeiten einzustellen. Oh nein. Er trug Taschen und Körbe zu den Handkarren der etwas betagteren Kunden, schichtete Einkäufe um, sodass selbst das empfindlichste Gemüse keinerlei Druckstellen bekam und ließ nebenbei alle Welt wissen, dass sie nächste Woche auch wieder hier anzutreffen wären. Dann gäbe es auch Schweinefleischbällchen. Die köstlichsten, die er persönlich je gegessen habe ... WIE bitte? „Wie bitte?“, zischte Niha. „Von Fleischbällchen hat keiner was gesagt!“ „Doch, ich!“, murmelte er aus dem Mundwinkel, während er ein älteres Ehepaar mit einem strahlenden Lächeln bedachte. „Besten Dank! Bis nächste Woche!“ „Ach ... und WER soll die kochen?“, wollte Niha wissen. „Wenn sie verkauft werden sollen, ich bestimmt nicht!“ „Und ICH, muss am Markttag die Waren vorbereiten! Da kann ich nicht auch noch kochen!“ „Nein. Das machst Du natürlich hier.“ Er begann, ganz selbstverständlich mit der Demontage des kleinen Standes. „HIER?“ „Na sicher! Schließlich sollen die Dinger heiß und frisch sein!“ „Aber ...“ „Um den Stand werd ich mich kümmern!“ „Aber ...“ „Das macht einen Mordsspass!“ Ja, ganz offensichtlich! „Aber ...“ „Was meinst Du, wie viele Leute erst kommen, wenn es dazu noch so lecker riecht?“ „Ja, aber ...“ „Was aber?“ „Ich ... ich müsste Unmengen davon machen.“ „Ja. Schon.“, sagte er schulterzuckend, während er die Teile des Holzgestells fachmännisch auf den großen Leiterwagen schichtete. „Und woher nehme ich das Fleisch? Momentan kann ich es mir nicht leisten, ein Schwein zu schlachten.“ „Dann kauf es.“ „Womit denn?“ „Mit dem heutige Gewinn, zum Beispiel?“ „Davon geht aber noch einiges ab. Unter anderem Dein Lohn.“ Sie kramte in ihrer Börse und hielt ihm ein kleines Bündel Scheine hin. „Was?“ „Dein Lohn. Es ist zwar nicht viel, aber ...“ „Ich bin Zwangsarbeiter. Schon vergessen? Ein paar Wochen hinter Schloss und Riegel, oder Arbeiten. Unentgeltlich. Das ist der Deal.“ „Ich kenne den Deal. Aber wer für mich arbeitet, bekommt auch Bezahlung, also nimm es.“ Lee überlegte ernsthaft, ob es sich lohnte, einen Streit vom Zaun zu brechen. Vermutlich nicht. Dieses sture Weib würde noch bis Mitternacht hier stehen und ihm Geld unter die Nase halten. Außerdem ... Mit seinem Lohn konnte er tun und lassen, was er wollte, oder nicht? „Also gut. Danke!“ „Fein! Dann machen wir uns am besten auf den Heimweg, hm?“ Fragend sah Niha zu ihren beiden Geschwistern. „Ihr solltet bestimmt noch Schulaufgaben machen.“ „Ich nicht!“, piepste Zerfa. Jem hingegen brummelte unverständliches. „Ich werd noch ein bisschen über den Markt schlendern, wenn´s recht ist.“, meinte Lee beiläufig. Dagegen konnte man schlecht etwas sagen, denn für heute hatte er seine Pflichten mehr als erfüllt. „In Ordnung.“, willigte Niha daher ein. Bestimmt machte er sich sofort auf die Suche nach den beiden hübschen Mädchen, mit denen er so lange und schamlos geflirtet hatte, bis jede von ihnen etwas gekauft hatte. Und in der Tat stand Lee der Sinn nach Hühnern. Aber richtigen. Also ... mit Federn und all dem Kram. Der nun leere Apfeltransport-Karren war ein wichtiger Bestandteil seines Plans. Die anderen Verkäufer des Marktes waren, Agni sein Dank, nicht ganz so erfolgreich gewesen wie er selbst, sodass unser Prinz sein eben verdientes Geld doppelt und dreifach wieder unters Volk brachte. Sein Konsumrausch konzentrierte sich vor allem und zentnerweise auf Kartoffeln, Reis, Zwiebeln und Mehl. Außerdem erstand er vier Hühner (extrem „legefreudig“, wie ihm versichert worden war), noch ein paar dieser leckeren Fleischpasteten, eine riesige Menge bunten Naschwerks und ein Pfund Kirschen, das den Heimweg allerdings nicht überstand. Zufrieden Kerne spuckend steuerte er seinen temporären Heimatort an und ließ sich die Sonne auf den Rücken scheinen. Das Landleben war gar nicht so übel. Bis auf die bedauerliche Tatsache, dass sein modisches Feingefühl hier in keinster Weise gewürdigt wurde. Clownshose, also WIRKLICH! Manche Leute hatten eben keinen Geschmack. Die Sonne begann sich dem Horizont zu nähern, als Lee seinerseits sich dem Bauernhof näherte. Auf den Flachen Stufen der kleinen Veranda saßen Zerfa und Knäulchen, die einäugige Katze, mit dem zerfetzen Ohr. Als das Mädchen ihn sah, sprang sie auf und rannte auf ihn zu. „Da bist Du ja wieder!“ „Ja, da bin ich wieder.“ „Was ... hast Du denn da?“ „Lauter gute Sachen, Fräulein Naseweis.“ Mit den Zeigefinger schnippte er über ihre Nase. „Bin ich zu neugierig?“, fragte Zerfa erschrocken. „Unsinn. Man kann kaum zu neugierig sein ... na ja, höchstens ein bisschen.“, fügte er in stillen Gedenken an all die Tratschweiber im Palast hinzu. „Und jetzt mach den Mund auf und die Augen zu!“, forderte er sie auf. „Warum?“ Sie stemmte die Arme auf eine Art und Weise in die Hüften, die sie nur von ihrer großen Schwester abgeschaut haben konnte. „Tsts ... ein bisschen mehr Vertrauen, wenn ich bitten darf.“ Nach kurzem Zögern wurden die Augen zu- und der Schnabel aufgesperrt. Als ihr ein zartschmelzendes, weiches Himbeerbonbon auf die Zunge gelegt wurde, riss sie beides wieder auf. „Oh!“ „Ja, Oh!“, grinste Lee und steckte sich ebenfalls eine der Leckereien in den Mund. „Das ist ja lecker!“, hauchte die Kleine hingerissen. „Nicht wahr? Lass und mal sehen, ob die anderen auch Bonbons möchten.“ „Bestimmt!“ „Magst Du die Tüte tragen?“ „Darf ich??“ „Natürlich.“ Begeistert hüpfte sie die Stufen hoch und öffnete die Tür. „NIHAAAA?“ Na gut, dann begann jetzt wohl der brenzlige Teil ... „Was denn?“ Die Gerufene erschien auf der Bildfläche. „Schau mal, Bonbons!“ „Was?“ „Probier mal!“ Lee verkniff sich eine Bemerkung. Er fand die Taktik „Taten statt Worte“ genau richtig im Umgang mit seinem Boss. „Aber ... wo sind die denn her?“ „Jetzt probier doch!“ „Ja, Niha ... Probier doch einfach.“ Nihas Blick zuckte von ihrer kleinen Schwester zu ihrem Hilfsarbeiter. Der Kerl stand tatsächlich da, als gehöre ihm der ganze Hof. Leicht breitbeinig, die Arme arrogant vor der gestrafften Brust verschränkt, seine verdammte rechte Augenbraue gelüftet. Und wieder einmal hatte er diesen provokativen, irritierenden Zug um den Mund. „Ich will erst wissen, wo sie her sind!“ „Ah. Verstehe.“ Der königliche Vulkan begann sich leise und ungefragt zu aktivieren. „Du hast mich ja von Anfang an für einen Gauner gehalten. Warum nicht auch noch ein Dieb? Nett!“ Zerfa sah erschrocken von einem zum anderen, doch leider hatte Lees Temperament keine Zeit, sich um das besorgte Kind zu kümmern. Es war viel zu sehr damit beschäftigt, aus dem Ruder zu laufen. „Wenigstens hältst Du mich für talentiert genug einen ganzen Leiterwagen voll Hehler-Ware unbemerkt vom Markt zu schaffen. Wirklich sehr schmeichelhaft!“ „Ich meinte nicht ...“ „Mir EGAL, was Du meinst!“, brüllte er aufgebracht. „Kipp das Zeug doch in den verdammten Schweinetrog!“ „Lee ...“ Doch der hörte nicht mehr zu und stampfte zum Stall. „Essen ist bald fertig!“, rief sie ihm hinterher, im verzweifelten Versuch, ihren Fehler wieder auszubügeln. Bisher war ihr nicht bewusst gewesen, dass man die Stalltür knallen konnte. Mit einem lauten Rumms wurde diese klaffende Bildungslücke geschlossen. „Ist ... ist Lee wirklich ein Dieb?“, hauchte Zerfa bang. „Nein! Nein Schätzchen. Ist er nicht.“, stellte Niha hastig richtig. „Warum sagst Du es dann?“ Das Mädchen klang ungewohnt trotzig. „Ich hab es doch gar nicht gesagt.“ „Aber immer streitest Du mit ihm!“ „Schätzchen ...“ „NEIN!“ In bester Hitzkopf-Manier stampfte die kleine Miss mit dem Fuss auf. „Du bist einfach nur gemein zu ihm!“ Nach diesem Ausbruch kam nun auch die Küchentür in den Genuss zugeknallt zu werden. Niha stand verloren auf den Stufen und kam zu dem traurigen Schluss, dass Zerfa recht hatte. Sie war schlicht und einfach nur gemein. Vielleicht wurde es Zeit, daran etwas zu ändern ... „Lee?“ „Was?“, blaffte es aus dem Halbdunkel. „Es ... Gleich gibt`s Essen.“ „Toll.“ „Äh, kommst Du?“ „Hab noch.“ „Du hast was noch?“ „Pasteten.“ „Davon wirst Du aber nie und nimmer satt.“ „Ah, stimmt! Ein Fresssack wie ich ...“ „Jetzt mach Dich nicht lächerlich!“ „Warum nicht? Das kann ich scheinbar doch ganz gut, seit ich hier bin.“ „Das stimmt nicht! Ich ...“ „Es stimmt nicht? Du bemühst Dich doch nach Leibeskräften, mich vor mich hin murksen zu lassen, denn sonst müsstest Du ja zugeben, mich falsch eingeschätzt zu haben. Könnte ja sein, dass ich kein so hohler Trottel bin, wie Du vermutet hast. Könnte ja sein, ich leiste ganze Arbeit. Könnte ja sein, ich bin DOCH kein fauler Taugenichts!“ Mit jedem bitteren Vorwurf war er einen Schritt näher gekommen und stand nun dicht vor ihr. Jetzt, Niha! Sag´s schon! „Danke.“ „Aber weißt Du was? Es interessiert mi ... Was?“ Sie schluckte. „Was hast Du gesagt?“ Er klang völlig perplex. „Danke!“ „Für`s Anschreien?“ „Nein, für ... vieles. Den Arzt. Den Pflug. Obwohl ich ja noch nicht weiß, ob er funktioniert ...“ „Tut er.“ „Für die Äpfel. Und für Deine Hilfe auf dem Markt. Und ... die Lebensmittel. Ich weiß ja auch, dass Du sie nicht gestohlen hast.“ „Woher?“ Niha, ganz in ihr Geständnis versunken, kam aus dem Konzept. „Was?“ „Woher willst Du das wissen?“ „Weil ...“, ihre Stimme wurde leiser. „Weil Du das gar nicht nötig hast. Du könntest den Leuten ihr letztes Hemd abschwatzen. Sie würden es Dir vermutlich frisch gewaschen, gestärkt und gebügelt überreichen. Und ... Du scheinst ein ganz anständiger Kerl zu sein.“ „Auf einmal?“ „Nein, nicht auf einmal.“ Sie holte tief Luft und stürzte sich in ihre Erklärung, bevor sie es sich noch anders überlegen konnte. „Ich ... hab zu oft erlebt, wie Leute versucht haben, mich reinzulegen. Das hat mich Fremden gegenüber wohl ein bisschen zu misstrauisch gemacht. Tut mir leid.“ Lee betrachtete sie nachdenklich. Er war sich mehr als bewusst, einem überaus seltenen Schauspiel beizuwohnen: Niha Koro, wie sie sich entschuldigte, ja sogar rechtfertigte. „Entschuldigung akzeptiert.“, sagte er leise. Erleichtert atmete Niha auf „Um eins würde ich Dich noch bitten.“ „Das wäre?“ „Tu Maja nicht weh.“ Sie starrte mit verschränkten Armen auf den Boden. „Hab ich nicht vor.“ „Die Gefahr besteht aber trotzdem. Sie ... sie mag Dich.“ „Ich glaube nicht so sehr, wie Du denkst.“ „Es mag vielleicht nicht so aussehen, aber sie hat nicht viel Erfahrung mit ... äh ... Jungs. Und wenn Du ihr das Herz brichst, dann werde ich ...“ „Ich habe nicht vor, irgendein Herz zu brechen.“ „Kann ja sein. Doch ich denke nicht, dass Du viel Einfluss darauf hast. Und jetzt gibt es Abendessen.“ Damit ließ sie ihn, vom Scheitel bis zur Sohle sprachlos, einfach stehen. Lee blinzelte. Sie glaubte nicht, dass er viel Einfluss darauf hatte? Auf was? Ob Frauen ihn ... mochten, oder nicht? Das wüsste er aber! Oder? Langsam ging Lee Richtung Haus, brachte schnell noch die vier neuerstandenen Hühner zu den anderen, trug den Rest seines Einkaufs in die Vorratskammer und schrubbte sich dann energisch die Hände. Nach einem friedlichen und wie immer leckeren Essen nahmen sich die Damen einen Korb voll Strümpfe und Socken vor und machten sich daran, diverse Löcher zu stopfen. Zerfa, ihrerseits, wickelte die Überreste der unrettbaren Kandidaten zu säuberlichen Wolle-Knäulen. Nur Jem schien an seiner Aufgabe zu verzweifeln. Er seufzte, schnaubte, raufte sich die Haare und warf zu guter Letzt seinen Stift durch die Küche. „Jem!“, mahnte Niha milde. „ICH KANN DAS NICHT!“ „Wenn Du Dich konzentrierst, schaffst Du das.“ „NEIN!“, schrie ihr Bruder verzweifelt. „Ich ... bin einfach zu dumm!“ „Wofür?“, fragte Lee, der für Zerfa die Wolle entwirrt hatte. „Mathematik!“ Aus dem Mund des Jungen klang es, als rede er über die Pest. „Mathematik? Lass mal sehen.“ „Da.“ Schmollend gab Jem dem verhassten Heft einen Schups über den Tisch. „Aha ... Grundlagen der Algebra.“, meinte der Fachmann. „Was?“, schniefte der Knirps. „Es ist Mathe!“, setzte er in seinem angewidertsten Tonfall hinzu. „Das ist gar nicht so schwer, wenn Du mal weißt wie´s geht.“ „Weiß ich aber nicht!“ „Dann erklär ich es Dir.“ Ein wütendes, frustriertes Augenpaar war das einzige, das von Jem zu sehen war. Der Rest seines Gesichtes verbarg er hinter seinen Fäusten. „Ich kapier´s ja doch nicht!“ „Natürlich kapierst Du´s! Bist schließlich ein schlaues Köpfchen.“ Jetzt schaute Jem ziemlich erstaunt drein. Seine Lehrer behaupteten nämlich das Gegenteil. Für die nächsten anderthalb Stunden wurde ihm mit spielerischer Raffinesse die Magie logischer Denkprozesse und kausaler Zusammenhänge nahe gebracht. Wirklich erstaunlich war, dass Lehrer und Schüler gleichermaßen ihren Spass hatten. „Also ist das hier, das gleiche, wie das hier?“, fragte Jem gegen Ende der Lektion zögerlich. „Absolut korrekt!“ „ECHT?“ „Natürlich. Ich hab doch gesagt, Du kannst es.“ „Ich ... ich kann es.“, hauchte der Junge. „Glaub ich. Noch eine Aufgabe?“ „Gut ...“ Sein Nachhilfelehrer kritzelte kurz etwas ins Heft. Keine fünf Minuten danach vollführte ein überglücklicher, stolzer Jem seinen Freudentanz um den Küchentisch. „Ich hab´s kapiert!“ jubelte er. „Kahaaapiihiiert!“ „Und diese Aufgabe war viel schwerer, als Deine Hausaufgaben.“ „Oh MENSCH!!! Danke Lee!“ Die folgende, ungelenke und sehr stürmische Umarmung ließ Seine Hoheit in schallendes Gelächter ausbrechen. Das wiederum führte zu unterschiedlichsten Reaktionen im weiblichen Publikum. Zerfa ließ sich von dem tiefen, ansteckenden Grollen zu einem vergnügten Kichern verleiten. Maja bekam Kuhaugen, Niha stach sich in den Finger und ... starrte ebenfalls. Sie wusste nicht einmal, was herzergreifender war: Der Anblick ihres strahlenden kleinen Bruders, der jetzt gnadenlos durchgekitzelt wurde, oder der spontane Übermut dieses Hühner-Hypnotiseur-Pflug-Reparaturdienstleister-Apfel-Aufschwatzers. So, als Ausdruck reiner Lebensfreude und ohne Hintergedanken zum Einsatz gebracht, war sein lausbübischer Charme noch umwerfender als üblich. Den Kopf in den Nacken geworfen, das einsame Grübchen tiefer und länger denn je, die Augen funkensprühender als eine Wunderkerze, war er ... Atemberaubend. Schlicht und einfach atemberaubend. Und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Niha nahm einen hastigen, wackligen Atemzug und riss ihren Blick los. Schnell steckte sie ihre Fingerspitze in den Mund, um den verdächtigen Blutstropfen loszuwerden. Doch Lee, dieses verkappte Mathematik-Genie, war heute nicht nur erstaunlich fleißig, erstaunlich hilfreich und erstaunlich erstaunlich, sondern auch noch erstaunlich wachsam. „Was ist?“, fragte er. „Nichts!“, murmelte sie. „Ich hab mich nur in den Finger gestochen.“ „Tut´s sehr weh?“ „Quatsch!“, wimmelte sie ab. Fehlte ihr grade noch, in den Fokus des Herrn Wunderbar zu geraten. Aber es war zu spät. „Lass mal sehen.“ Er war aufgestanden und näherte sich. „Es ist nichts! Es blutet ja nicht mal mehr. Außerdem,“, fügte sie hinzu, „muss ich jetzt den Brotteig für morgen machen.“ Ihr Tempo sah zwar eher nach heilloser Flucht, als nach geschäftigem Fleiß aus, aber das war ihr im Augenblick egal. Hauptsache weg von dieser Testosteron-Schleuder! Mit derart übereifrigem Elan stürzte sie sich planlos in die Arbeit. In Rekordzeit hatte sie einen geschmeidigen Sauerteig in der Schüssel und Löffelweise Mehl im Gesicht. Dann wurde es auch schon Zeit, Zerfa und Jem ins Bett zu verfrachten. Nach dem Zähneputzen versuchten es die Kinder mit ihrer üblichen Verzögerungstaktik. „Kriegen wir heute eine Geschichte, Niha?“ „Aber, es ist noch gar nicht Sonntag ...“ „Bitte, Niha!“ „Ja, bitte!“ Vergebens versuchte Niha die flehenden Kinderaugen zu ignorieren. Sie hatte noch so viel zu tun ... Aber Tatsache war auch, dass ihre Geschwister aus eben diesem Grund all zu oft den kürzeren zogen. Sie hatte kaum Zeit für die beiden. Ihr schlechtes Gewissen versuchte sie dann immer Sonntags zu mildern, indem sie ihr Möglichstes tat, das Versäumte nachzuholen. Aber das reichte bei weitem nicht, um ihnen die Nestwärme zu geben, die sie wollten; die sie brauchten. Seufzend griff sie nach dem etwas zerfledderten Märchenbuch und hockte sich in den alten Sessel. Dann würde sie eben wieder erst weit nach Mitternacht ins Bett kommen. „Also gut ... Was wollt ihr hören? Max der Mäuseritter?“ „Nein!“, rief Zerfa. „Der Prinz aus Timbu-Tambu!“ „Bäh! Das gibt´s am Schluss nur wieder ne Küsserei!“, maulte Jem halbherzig. „Ja, aber heute darf Zerfa die Geschichte aussuchen. Das letzte Mal warst Du dran.“ „Schon gut.“ Jem gab nach, denn um ehrlich zu sein, SO schlimm fand er die Küsserei ja auch wieder nicht. Es war halt einfach Mädchenkram. Heroisch erduldete er also das zuckersüße Happy-End inclusive Küsserei, sowie das sorgfältige Zugedeckt-Werden (selbstverständlich auch inclusive Küsserei). Nachdem Niha leise die Tür hinter sich zugezogen hatte ging sie in die Küche. Sie kochte Kompott, legte Gurken ein, konservierte sie und machte sich dann ans Saubermachen. „So, die Strümpfe sind alle gestopft.“, riss Majas Stimme sie aus ihrer Arbeitstrance. „Sehr schön. Ich danke Dir.“ „Kann ich Dir hier noch helfen?“ „Nein, ich bin gleich fertig. Geh ruhig schlafen.“ „Sicher?“ Niha drehte sich zu der Jüngeren um. „Ja, sicher.“ Sie trocknete sich die Hände ab und strich dann mit der Rechten über die Wange ihrer Schwester. „Du musst nicht auf mich aufpassen, Maja.“ „Aber sonst tut´s ja keiner. Und ich ... ich helf Dir manchmal nicht genug.“ „Doch, das tust Du. Mit sechzehn braucht man schließlich seinen Spass!“ „Siebzehn. Und als Du so alt warst, hattest Du auch nur Arbeit.“ „Nein.“, sagte Niha leise. „Mit siebzehn hatte ich auch noch etwas anderes.“ Träume. Hoffnung. Und die Aussicht auf Liebe. DAS würde sie Maja nicht kaputt machen. „Dass Du immer noch um diesen ... diesen Trottel trauerst ...“ „Er war kein Trottel!“ „Doch, war er! Sonst wäre er nicht gegangen! Wer Dich einfach so sitzen ließ, der ...“ „Riu hatte nicht vor, mich sitzen zu lassen. Es ... ist eben passiert.“ „Ach ja? Weil er beim Anblick von ein paar blonden Locken sein Gehirn nicht mehr durchbluten konnte?“ „Maja!“ „Ist doch wahr! Denkst Du, ich wüsste über solche Sachen nicht bescheid? Sie musste ihn doch nur einmal anschmachten, und schon wurden seine Entscheidungen ein Stockwerk tiefer getroffen.“ „Er hatte sich eben in eine andre verliebt, da kann man nichts machen.“ „Nichts machen? Agni!“ Maja setzte sich auf den Tisch. „Hast Du schon immer so wenig vom Leben erwartet?“, wollte sie leise wissen. „Das Leben ist, wie es ist. Ich war nie hübsch genug, um was anderes erwarten zu können. Du schon. Du wirst einen finden, der Dich liebt und damit auch nicht einfach so aufhört.“ „Und wenn ich nicht nur hübsch sein will?“ „Hm?“ „Was ist, wenn ich genug davon habe, immer nur „hübsch“ zu sein?“ „Maja.“ Schnell drückte Niha ihre Schwester an sich. „Was soll denn das? Du bist so vieles mehr! Lieb, großzügig, loyal. Ich weiß, dass Du für die Familie alles tun würdest. Du ... würdest Dich ja sogar mit diesem Ekel Naro abgeben, nur um uns zu helfen.“ Bei der Erwähnung dieses Namens presste Maja die Lippen aufeinander. „Seine Familie ...“ Sie klang unsicher und eine Spur trotzig. „Ja, was?“ „Es würde uns besser gehen, wenn ... wenn ...“ „Wenn Du recht nett zu ihm wärst?“, fragte Niha ätzend. „Niha! Das würde ich nie tun! Aber vielleicht ... würde er mich ja heiraten.“ „Ja, und vielleicht kannst Du ihn nicht ausstehen! Halt, warte ... Du kannst ihn ganz SICHER nicht ausstehen. doch Du willst ihn HEIRATEN? Seit wann ist so ein unüberlegter Schwachsinn eine Lösung?“ „Unüberlegt? Worauf soll ich denn warten? Auf die große Liebe? Dass auf die kein Verlass ist, haben wir ja bei Riu gesehen. Wenn Naro mich nimmt, hätten wir endlich keine Sorgen mehr!“ „Ach ja? Ich bin mir sicher, dass die Zukünftige dieses Großkotzes ziemlich viele Sorgen haben wird.“ „Jedenfalls keine Geldsorgen!“ „Maja! Ich ... bisher haben wir´s doch auch so geschafft! Wir können zwar keine großen Sprünge machen, aber es reicht für das Nötigste!“ „Aber wie lange noch?“ Niha ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Es ist MEINE Aufgabe, euch durchzubringen. Und eigentlich dachte ich auch, ich bekomme es ganz gut hin.“ „Tust Du ja auch!“ „Ja? Nur scheint es Dir plötzlich nicht mehr zu reichen.“ „Es geht ja nicht um mich! Es geht um ... um die Kleinen und um Dich auch. Das wäre meine Chance endlich mal etwas für die Familie zu tun.“ „Endlich? Du tust doch schon Dein Möglichstes!“ „Im Vergleich zu Dir mache ich so gut wie nichts.“, flüsterte Maja. „Quatsch! Ohne Dich würde ich den Hof niemals durchbringen.“ Am Gesichtsausdruck ihrer Schwester konnte Niha erkennen, dass sie genauso gut auf einen Felsbrocken hätte einreden können. „Maja bitte ... Das kommt überhaupt nicht in Frage! Kein Geld der Welt ist es wert, sich dafür an einen fiesen Kerl zu binden. Ich werd bestimmt nicht einfach dabei zusehen, wie Du Dich unglücklich machst.“ „Aber vielleicht macht´s mich ja glücklich!“ „Naro? Naro Fuguro und Glück sind zwei Dinge, die sich niemals unter einen Hut bringen lassen. Nicht mal mit tonnenweise Phantasie! Ich will nichts mehr davon hören.“ Damit stand sie auf und schrubbte den Küchentisch. „Fein! Ich hatte ganz vergessen, dass Du ja keine Hilfe nötig hast!“, fauchte Maja. „Nicht, wenn meine Schwester sich deswegen unter Wert verschleudert!“ „Ich bin bald volljährig und dann kann ich machen, was ich will!“ „Na toll, denn WOLLEN tust Du´s ja eigentlich nicht!“ „Agni! Warum rede ich überhaupt mit Dir darüber? Ich geh ins Bett!“ „Maja ...“ „Nacht!“ Wunderbar ... noch eine überstrapazierte Tür. Verdammt! Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Maja spielte allen Ernstes mit dem Gedanken, sich auf dieses Ekelpaket Naro einzulassen, nur um sie alle finanziell abzusichern? Nie und nimmer! Nur über ihre verwesende Leiche! Doch, bevor sie sich das Fräulein zur Brust nehmen würde, musste sie sich erst mal abreagieren. Wahrscheinlich ein paar Tage lang. Auf seinem Heuboden in die zufriedene Betrachtung diverser Sternbilder versunken, hätte Lee das Schließen der Küchentür beinahe überhört. Irritiert setzte er sich auf. So spät verließ im Normalfall keiner der Bewohner das Haus. Neugierig geworden ging er zu dem runden Dachfenster und späte nach draußen. Niha. Natürlich. Die Frau war unermüdlich. Jetzt schleppte sie tatsächlich einen riesigen Korb voll Wäsche mit sich herum. Es sah so aus, als hätte sie vor, um diese Zeit noch waschen zu gehen, was ein wahrhaft grandioser Plan war, denn NOCH kälter konnte das Wasser des kleinen Bachs hinter dem Stall kaum werden. Dieses Weib schien auf eine zünftige Erkältung auszusein. Seufzend stieg Lee die Leiter hinab. Irgendwie schien er sich hier langsam aber sicher um ALLES kümmern zu müssen ... Niha schwenkte, tunkte, schrubbte und drosch auf den durchweichten Stoff ein. Das Wasser im Bottich war kurz davor seinen Aggregatzustand zu ändern, so kalt war es. Doch die Arbeit half beim Abreagieren. Und beim Nachdenken. Nachdenken war essentiell! Sie musste Maja um jeden Preis davon abhalten, sich auf Naro einzulassen. Der Sohn des reichsten Mannes der Stadt war gelinde gesagt unberechenbar. Seine an Grausamkeit grenzende Gleichgültigkeit gegenüber den Mitmenschen, die er für unbedeutend hielt, war legendär. Er wollte Maja nur als Trophäe, als dekoratives Anhängsel. Niha vermutete hinter seiner tumb vertraulichen Art ihrer Schwester gegenüber einen fatalen Hang zu herrschsüchtigem Sadismus. Sie wollte bestimmt nicht miterleben, was er tun würde, sollte sein Weib es wagen, einen eigenen Willen zu entwickeln. Er war ein frauenverachtender, fauler, ignoranter Kotzbrocken. Alles wäre besser, als Naro Fuguro. ALLES!!! Wenn sie nur wüsste, wie Maja dieser ganze Unsinn ausgeredet werden konnte ... „Niha?“ Sie fuhr herum und starre Lee für geschlagene sieben Sekunden ungläubig an. Bekam sie etwa gerade einen Wink des Schicksals? Er hingegen legte den Kopf schief und musterte sie streng. „Was zum Teufel tust Du da?“ Ja ... alles wäre besser als Naro. Der Mann, der hier vor ihr stand, auf jeden Fall! „Du hast den Bottich ja nicht mal angeheizt!“, schimpfte er. Er mochte ein Herzensbrecher sein, aber auf keinen Fall war er ein Sadist oder Frauenschläger. „Legst Du´s auf eine Lungenentzündung an?“ Nein, Lee würde Maja niemals absichtlich weh tun. Und sollte er doch zu weit gehen ... Ein gebrochenes Herz heilte irgendwann. Einem leichtlebigen Filou hinterher zu trauern war allemal besser, als einen brutalen Ehemann ertragen zu müssen. „Hörst Du mir überhaupt zu?“ „Was?“ „Agni!“ Statt noch länger erfolglos Monologe zu führen, ging Seine Hoheit zu dem großen Waschzuber, steckte seine Hände in die eiskalte Seifenlauge und erhitze sie. Durch das leise Murmeln seiner Flüche hatte er Mühe, ihre nächsten Worte zu verstehen. Doch selbst als er schwieg und die akustischen Verhältnisse somit ideal waren, begriff er nichts von dem, was sie da faselte ... Lee starrte seine Chefin an, als wären ihr auf einmal Hörner aus dem Kopf gewachsen. Er hatte alle relevanten Informationen schon vor zwei Minuten erhalten, doch sie weigerten sich, ein nachvollziehbares Gesamtbild zu formen. „WAS? Ich soll mich an Maja ranmachen? Auf einmal? Was ist aus „Hände weg, oder sonst“ geworden?“ „Nicht ... ranmachen. Nur flirten. Ihr ein bisschen den Kopf verdrehen.“ Sie meinte das Ernst!?! Diese Erkenntnis setzte sich nur widerwillig durch. „Ach ... ein bisschen?“ Seine muskulösen Arme bildeten ein Bollwerk des Trotzes vor seiner Brust. „Wie groß soll dieses Bisschen denn sein? Soll ich´s ab und zu machen, oder unentwegt? An geraden oder ungeraden Tagen?“ „Ich ... so war das nicht gemeint.“ „Nein? Wie war es denn gemeint?“ „Sie ... sie hat sich was furchtbar dummes in den Kopf gesetzt und ... Du sollst sie einfach nur ablenken.“ Selbst im Halbdunkel sprühten seine seltsamen Augen Funken. „WOFÜR HÄLTST DU MICH EIGENTLICH?“ „Was?“, entfuhr es Niha entsetzt. Wieder einmal hatte eine völlig harmlose Bemerkung ihn unerklärlicherweise in Rage versetzt. „Kommandier mich herum, solange Du willst, aber darüber, wem ich „den Kopf verdrehe“ entscheide ich immer noch selbst. Kapiert?“ „Aber, aber ... ich dachte, Du würdest gern mit ihr ... anbandeln.“ „Dachtest Du? Wirklich? Da hast Du leider verdammt falsch gedacht. Eines interessiert mich aber doch brennend: Was wäre wenn ich darauf eingehe? Was verstehst Du bitte schön unter „anbandeln“? Darf ich das volle Programm abziehen? Pfeifst Du mich zurück, wenn ich grade in Fahrt komme? Oder ...“ Drohend beugte er sich über sie. Sein warmer Atem roch nach Ingwer und Minze und seine Stimme wurde zu wisperndem Samt. „bist Du bereit, Deine kostbare kleine Schwester abzulösen, bevor es richtig zur Sache geht? Damit sie nicht in meine dreckigen Fänge gerät?“ Mittlerweile hatte die bedauernswert massive Stallwand Nihas langsamen Rückzug aufgehalten. „Sag mir, Niha,“, flüsterte ihr ebenso massiver Hilfsarbeiter. „Bist Du bereit, dieses Opfer zu bringen? Schließlich kann so ein widerlicher Lüstling wie ich für nichts garantieren, wenn sein ohnehin nur erbsengroßes Hirn nicht mehr durchblutet wird.“ „Hör auf!“, stieß Niha hervor. Sie war inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes in die Ecke gedrängt worden. „Aufhören?“ Er platzierte seine Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes, um jeglichen Gedanken an Flucht im Keim zu ersticken. „Warum denn aufhören? Ich möchte nur noch eben die Bedingungen für unseren kleinen Handel klären. Werde ich stundenweise gemietet? Möchtest Du vielleicht einen Sonderrabatt aushandeln?“ Okay ... sie schien ihn wirklich beleidigt zu haben, denn jetzt wurde er eklig. „Wenn Du recht nett zum mir bist, könnte ich meine Dienste auch gratis anbieten. Schwestern hatte ich nämlich noch nie.“, raunte er anzüglich. KLATSCH! Niha war froh, mir dem Rücken an der Wand zu stehen! Sonst hätte die goldglimmende Rage in seinen Augen sie glatt in die Knie gehen lassen. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, ihn zu ohrfeigen. Er schäumte vor Wut. Bebte vor Entrüstung. War blass vor Zorn. „Ah!“, knirschte er durch die Zähne. „Vorkasse. Wie entgegenkommend!“ Das war alles, was Niha Koro an Vorwarnung erhielt, bevor sie von ihrem Hilfsarbeiter geküsst wurde, dass ihr sämtliche Felle davon schwammen. Eigentlich war sein Kuss zu heftig. Zu zorngeladen. Eigentlich hätte dieser Kuss schmerzhaft sein müssen. Aber, stinkwütend oder nicht, Lee Tatzu war einfach nicht imstande einer Frau Schmerzen zuzufügen. Es war nicht das erste Mal, dass Niha geküsst wurde. Es war auch nicht so, als hätte sie dieses Gefühl vergessen, oder es sich nicht zurückgesehnt. Es war nur .. DIESES Gefühl hatte sie noch nie erlebt. Das zwischen Riu und ihr war Liebe gewesen. Ehrerbietung. Respekt. Vertrauen. Sie hatten sich von Kindesbeinen an gekannt. Der harte, bezwingende Mund, der ihr jetzt seinen Stempel aufdrückte, erstickte jede Emotion außer der Leidenschaft. Der große, heiße Körper, der sie gegen die Bretterwand presste, machte dabei jegliche Gegenwehr unmöglich. Doch dazu wäre Niha ohnehin nicht in der Lage, denn der Mann war ein wahrer Meister seines Fachs. Statt Ablehnung fand sie in ihrem Inneren nur weiche, kribbelnde Bereitwilligkeit. Agni möge ihr beistehen, doch er war einfach zu verlockend! Sie wühlte ihre Finger in seinen dunklen Schopf, überließ ihm eifrige, wissbegierige Lippen, stöhnte in seinen Mund und bog sich ihm zu allem Überfluss auch noch entgegen. Als Antwort auf ihren Überschwang knurrte er rau, packte ihre Hüften und presste sie gegen seine. Nihas Inneres gab noch weiter nach, schmolz endgültig zu warmem Sirup zusammen und entlockte ihr ein Wimmern. Seine Reaktion kam prompt, aber unerwartet. Er löste seine Lippen von ihren und hob den Kopf um ein winziges Stück. „Ende der Vorstellung.“, wisperte er rau gegen ihren Mund. „Ich hoffe die kleine Kostprobe hat Deinen Beifall gefunden.“ Mit diesen Worten stiess er sich mit dem rechten Arm von der Wand ab. „Falls Dich nach mehr gelüstet, weißt Du ja, wo Du mich findest!“ Nach einer tiefen, spottriefenden Verbeugung ließ er sie in der kalten Nachtluft stehen. Fassungslos. Atemlos. Sprachlos. Zuko II stand scheinbar unberührt am Fuss der großen Flugplattform. Die Flügel des enormen, orangefarbenen Drachen ließen seine Mähne aufwallen und wirbelten auch sonst eine Menge Zeug auf. In leichter Verwunderung wölbte Seine Lordschaft das, was Lady Jin seine Rabenschwinge nannte (für Menschen, die den Feuergesalbten in weniger verklärtem Licht sahen, war es schlicht und einfach eine Augenbraue. Fürstlich, ohne Zweifel, aber eben doch nur eine Braue). Sollte es im Bereich des Möglichen liegen, dass sein Hofmeister es versäumt hatte, hier gründlich sauber machen zu lassen? Doch dann erinnerte eine kleine Gestalt, die schnell näher kam, ihn daran, dass es erheblich wichtigeres gab als keimfreie Böden. Eine tiefe Verbeugung, die, wie er sehr wohl wusste, nur dazu dienen sollte, ihn aus der Reserve zu locken, erwiderte er mit einem leichten Neigen des gekrönten Hauptes. „Willkommen zu Hause!“, sagte er ruhig. „Danke! Ihr könntet wirklich mal wieder den Hof fegen lassen, oh Beschmutzter.“, erwiderte der alte Mann, und schnippte vorsichtig ein Stäubchen von den Schultern des Erhabenen. „Soll ich Euch einen Besen holen lassen, Onkel?“ „Agni behüte! Mein Buckel ist schon krumm genug. Außerdem, muss ich sagen, dass Eure Begrüssung wirklich zu wünschen übrig lässt.“ Ein kurzes, unfreiwilliges Zucken strenger Mundwinkel und eine feste Umarmung holten das Versäumte nach. „Schon besser!“, brummte Iroh Tatzu. „Geht es Euch gut, Onkel?“ „Aber natürlich, Junge. Hab mich ganz köstlich amüsiert, solange ich nicht unter Deiner Fuchtel stand.“ „Offensichtlich.“, sagte Seine Lordschaft mit Blick auf die Blütenkette um den Hals seines Onkels. „Ich hoffe, Fon ist ebenfalls wohlauf?“ „Oh, sicher! Hatte aber trotzdem dauernd was zu meckern.“ „Ich hab nur gesagt, dass es eine blöde Idee war, in Deinem Alter auf wilden Gazellenzebras zu reiten, Hoheit.“, maulte es hinter ihm. Nach diesem kurzen Statement wuselte der alte Kämmerer des Feuerlords pflichtschuldigst näher und verneigte sich tief vor seinem Herrscher. „Agnis Segen auf Euer Haupt, oh Erhabener!“ „Und das Deine, Fon. Wie schön, Dich wiederzuhaben.“ Die Augen des Dieners leuchteten kaum merklich auf. Er mochte „Urlaub“ nicht besonders und war heilfroh, wieder hier zu sein. Kritisch musterte er die Erscheinung seines Souveräns. „Wie ich sehe, hat mein Neffe Huro mich würdig vertreten, Mylord.“ „Ja, in der Tat. Um die Unvergleichlichkeit Deiner Haarbinde-Kunst zu erreichen bedarf er allerdings noch der Übung.“ „Wart Ihr mit ihm nicht zufrieden, Durchlaucht?“, fragte Fon erschrocken. „Doch, durchaus. Ein sehr fleißiger Bursche. Aber es war ... nicht das selbe.“ Damit war Fon mehr als zufrieden. Nicht wäre entsetzlicher, als für überflüssig erklärt zu werden. „Wo bleibt denn das Mädel?“, mischte sich Iroh wieder in das Gespräch. „Bedauerlicherweise noch auf der „Konferenz der harmonischen Gedanken“.“ , antwortete sein Neffe sichtlich missmutig. „WAS? Ihr habt sie wirklich zu diesem Unsinn geschickt?“ „Ja.“, murrte Zuko. „Die Weiberkonferenz?“ „Ja.“ Das Murren war Zähneknirschen gewichen. Iroh brach in schallendes, nicht enden wollendes Gelächter aus. „Leider können wir nicht alle nur unserem persönlichen Vergnügen hinterher jagen.“, betonte sein Neffe steif. „Nun,“, kicherte Iroh und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Ihr jedenfalls nicht, solange Jin fort ist. Soviel steht fest.“ Er wurde aus frostiger Höhe angefunkelt. „Wie lange seit Ihr denn schon Strohwitwer?“ „Zu lange!“ „Armer Junge! Und wann kommt sie wieder?“ „Morgen.“ „Na, solange schafft Ihr es bestimmt noch, den Palast nicht in Schutt und Asche zu legen, hm?“ „Die Chancen stehen im Moment Fifty-Fifty.“, knurrte Zuko drohend. Er litt unter eklatantem Kobold-Entzug. Und das war NICHT lustig! Eine Stunde später stand der Feuerpalast wirklich kurz davor, in Schutt und Asche gelegt zu werden. Der Kurier, der eine Nachricht des Erdkönigs, Nuro V überbracht hatte, stolperte kratzbuckelnd rückwärts, als das schreckliche Drachengebrüll die Säulen erbeben ließ. "WAS???" Wutschnaubend tigerte Zuko vor dem zittrenden Mann auf und ab. „E ... ein G ... Gipfelt ...treffen, Euer H ... Hoheit.“ „Gipfeltreffen?“, spie Seine Lordschaft. „MORGEN?“ „N ... n ... nun. Ja.“ „Quatsch! Man beruft kein Gipfeltreffen für den nächsten Tag ein!“ „Es i .. ist wichtig, Oh, oh F ... Flammender.“ Eine bebende Hand bot dem Feuerlord mit äußerster Demut eine Schriftrolle dar. „WICHTIG?“, fauchte der Drache. „Nichts kann SO wichtig sein!“ „I ... ich f ... fürchte, Seine M ... Majestät b ... besteht auf E ...Euer Erscheinen.“, stammelte der Kurier todesmutig. Gleich würde er geröstet werden, jede Wette. Stattdessen wurde ihm die Nachricht aus der Hand gerissen und mit verächtlichem Blick überflogen. „Scheiße!“, entfuhr es dem Herrscher. „BEI DEN SCHLEIMIGEN EXKREMENTEN EINES FEUCHTEN GROTTENMOLCHS ...“ Das war nur der Anfang einer wilden Fluch-Tirade. Der Bote des Erdkönigs blinzelte. DIES sollte der besonnene, kühle Taktiker sein, der die Feuernation nach dem Krieg wieder geeint und einen legendären Friedenspakt mit dem Rest der Welt ausgehandelt hatte? Der Kerl fluchte wie ein Bierkutscher ... wie ein Bierkutscher mit viel zu viel bildlicher Vorstellungskraft! Ne ... also echt! Agni sei Dank waren sämtliche Bewohner des Palastes klug genug, den brenzligen Bereich um den Gebieter der Flammen bis zum Zeitpunkt seiner Abreise weiträumig zu umgehen. Hastig gepackte Koffer, in aller Eile aufgebügelte Prunkgewänder und panisch zusammengetragene Dokumente wurden kreuz und quer durch den Palast geschleppt und zu den geduldig wartenden Flugtieren gebracht. Der Nachwuchs des Feuerlords hatte sich am Rand der Plattform wie die Orgelpfeifen aufgestellt, um ihn dort ordnungsgemäss und zärtlich zu verabschieden. Zirah, die Kleinste (zu ihrem Leidwesen war sie unter den hochaufgeschossenen Tatzus die einzige, die die eher beschauliche Größe ihrer Mutter geerbt hatte), kam zuerst an die Reihe. „Vergiss bitte Deinen Termin bei der Gräfin nicht, Zirah.“ „Nein Papa. Auch wenn ich vor Langeweile sterben werde ... ich werd hingehen.“ „Das ist mein Floh!“ Er küsste sanft ihre Stirn und malte mit dem Daumen das Zeichen einer ewigen Flamme darauf. „Aya, versuch Deine Mutter zu beruhigen, wenn sie erfährt wo Lu Ten und Lee sind.“, wandte er sich an das einfühlsamste seiner Kinder. „Ja, Papa.“, antwortete Prinzessin Aya. „Aber, sie wird wahrscheinlich bei weitem enttäuschter darüber sein, dass Du nicht da bist.“ „Ja, ich fürchte auch, sie wird etwas Dummes anstellen.“, murmelte ihr Erzeuger. „Kopf hoch, Papa!“, ermunterte sie ihn sanft. Mit einem etwas kläglichen Lächeln bedachte er nun auch dieses Kind mit dem obligatorischen Kuss und dem anschließenden Segen. „Kiram. Die Sonnenriten überlasse ich während meiner Abwesenheit Dir und Iroh.“ Die Augen seines jüngsten Sohnes weiteten sich kurz. Eine derart große Verantwortung hatte er bisher noch nie übertragen bekommen. „Ich werde mein bestes tun, Vater!“, versicherte er. „Das weiß ich.“ Auch dieses Haupt wurde zum Abschied gekost und gesegnet, bevor Zuko sich schließlich an seinen Onkel wandte. „Onkel, ich muss Euch ja nicht bitten, auf alles Acht zu geben?!“ „Aber nein. Ich werde mich um alles kümmern, doch es ist nicht nötig, mir deswegen auch noch die Stirn zu befeuchten.“, sagte der alte Mann milde und wippte auf den Zehenballen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)