Die Söhne des Drachen von Xanderle (Fortsetzung von "Drachenherz") ================================================================================ Kapitel 19: Ein Herren-Quartett auf großer Fahrt. ------------------------------------------------- Seit einer guten viertel Stunde tigerte Lu Ten in Pinerias Arbeitszimmer auf und ab. Er war derart unter Spannung, dass er das heiteren Chaos, das ihn umgab, nicht einmal mit Missachtung strafte. Staub und Unordnung waren ihm heute schlichtweg egal. Ein Umstand, der seine Brüder mit Sicherheit dazu veranlasst hätte, einen Arzt zu rufen. Aber Seine Hoheit hatte andere Sorgen. GANZ andere Sorgen. Als die Tür sich öffnete fuhr er herum und starrte dem Kommenden misstrauisch entgegen. Pippa legte den Kopf schief und blinzelte ihn an. „Entschuldigung!“, sagte sie angesichts seiner Mine spontan. Zu spät fiel ihr ein, dass es als völlig normal angesehen wurde, das eigene Arbeitszimmer zu betreten. „Ähm. Ja. Natürlich. Ich ... habe auf Dich gewartet.“ „Ist es denn schon Drei Uhr?“ „Nein.“ „Oh. Gut.“ „Ja.“ Pippas ungutes Gefühl vom Vormittag verstärkte sich. Vergeblich versuchte sie seine angespannten Gesichtszüge zu deuten. Irgendetwas plagte ihn. „Ich sagte Dir ja bereits, ich hätte etwas zu beichten.“ „Ja.“ Zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte sah er ihr in die Augen. Dann holte er tief Luft und zwang die zurechtgelegten Worte über seine Lippen. „Als ich Dich gebeten habe, den Rest Deines Lebens mit mir zu verbringen, war ich nicht besonders fair.“ Oh mein Gott! Er wollte einen Rückzieher machen! Sie hatte es ja gleich gewusst. Der sachliche Herr Song war endlich wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Doch als er weitersprach schien es fast so, als sei das Problem ein anderes. „Ich habe Verpflichtungen, Pineria. Schwerwiegende. Ich kann nicht einfach so leben, wie ich es mir passt. Menschen hängen von mir ab. Viele Menschen. Mein Leben ist anders, als ...“ Er machte eine beinahe hilflose Geste mit der Hand. „Als das hier.“ „Ich ... verstehe nicht. Ich dachte, Du bist auch Wissenschaftler.“ „Es ... ist eher ein Hobby von mir.“ „Hobby? Dich als Wissenschaftler auszugeben?“ Pinerias Stimme war mit jedem Wort ungläubiger geworden. „Nein. Die Wissenschaft ist ein Hobby.“ „Aha. Und was bist Du dann?“ „Die Frage ist nicht, was ich bin, sondern wer.“ „Wer?“ Pippas banges Gefühl nahm überhand. Das alles klang so gewichtig und endgültig. „Was heisst das?“ Lun Ten schloss die Augen und holte tief Luft. Es war an der Zeit. „Wie Du weißt, bin ich auf Anweisung deines Onkels hier.“ „Ja.“ „Meine Familie schuldete ihm ... einen Gefallen.“ „Ja?“ „Die Bedingungen Deines Onkels beinhalteten leider, dass ich hier unter falschem Namen auftauchen musste.“ „Wieso sollte er ...?“ „Als ich erkannt habe, wie es um mich steht - um uns - hätte ich Dich aufgeklärt. Aber es hätte Nemo alarmieren können. Und da ich ihn des Hochverrats verdächtigte ...“ „Hochverrat?“ „Ja. Es stellte sich als Irrtum heraus. Er arbeitet für die Regierung.“ „Gute Güte!“, stammelte Pippa, der schon seit zwei Minuten der Kopf rauchte. „Genauer gesagt ... arbeitet er für meinen Vater.“ „V ... Vater. Aha.“ Vielleicht wurde es Zeit, stutzig zu werden? „Und inkognito.“, murmelte Miss Tutuk. „Warum inkognito?“ Sie holte erschrocken Luft. „Ist Dein Vater ein wichtiger Regierungsbeamter?“ „Das ... könnte man so sagen.“ „Ach Du meine ... Also gut.“ Sie straffte sich. „WER ist Dein Vater?“ Bei `Minister´, `Kanzler´ oder `Konsul´ würde sich einen Anfall sicher nicht verhindern lassen. „Zuko Tatzu.“ Sie bekam keinen Anfall. Leider. „Was?“, hauchte sie stattdessen. „Zuko.“, wiederholte Lu Ten leise. „Der Zweite.“ „D ... der Feuerlord?“ Das war ein Scherz, oder? „Ich heiße leider nicht nur wie der Kronprinz, ich ... bin es.“ Es MUSSTE ein Scherz sein! Aber er war nicht lustig. Ganz und gar nicht! „Nein!“, jammerte Pippa. „Oh nein!“ „Fratz ...“ Sie sank auf den nächstbesten Stuhl. „Ich WOLLTE es ja sagen, aber ...“ 
„Nemo.“ „Ja.“ Lu Ten begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Sie saß einfach nur auf diesem Stuhl, blass wie ein Leintuch, und starrte ins Leere. „Das alles ändert nichts an der Tatsache, dass ich Dich liebe.“, sagte er ruhig. Sie nickte schwach. „Pipps? Sag doch was.“ Ihre Augen glitten ziellos durch den Raum, bis sie sein Gesicht fanden. Sie waren entsetzt und traurig. „Ich kann das nicht!“ Ihre Stimme bebte. „WAS? Aber natürlich kannst Du!“ „Wir würden am Hof leben müssen.“ „Ja.“, Er nahm ihre Hände und wärmte sie zwischen seinen. „Aber es ist schön dort. Massenhaft Platz für ein Labor. Und unsere Bibliotheken sind sogar noch größer als eure. Es wird Dir gefallen!“ „Sie werden mich anstarren!“ „Unsinn. Niemand wird Dich anstarren. Ich werde bei Dir sein.“ „Nein. Du ... Du verstehst das nicht! Die ... die Leute halten mich für wunderlich. Für verrückt. Hier kann ich das aushalten, weil es nicht so viele Menschen gibt, aber ...“ „Niemand wird dich für verrückt halten. Niemand! Am Hof gibt es dutzende von Wissenschaftlern und Philosophen. Wir sind andersartige Denkweisen gewöhnt.“ „Aber ... da sind tausende von Menschen. Und sie WERDEN mich anstarren! Und auslachen!“ „Pippa. Niemand wird es wagen Dir auch nur einen schiefen Blick zuzuwerfen. Und von auslachen kann gar keine Rede sein. Sieh mich an, Fratz!“ Sie tat es. Und selbst durch den dichten Tränenschleier war er ... perfekt. Oh ja, sie würden sie anstarren. Sich hinter ihrem Rücken über sie lustig machen. `Brillenschlange, Hinkebein. Spielst mit Käfern ganz allein!´ Und DANN würden sie sich fragen, was zum Teufel den Sohn Zukos II geritten hatte, ausgerechnet eine humpelnde Bekloppte zu erwählen. Und irgendwann würde Lu Ten selbst Ziel der Tuscheleien und des Spotts sein. Ihr Lu Ten, der immer so bedacht darauf war, alles richtig zu machen. Ihr Lu Ten, für den Perfektion beinahe eine Selbstverständlichkeit darstellte. Ihr zurückhaltender, aufrichtiger, kluger Lu Ten, der es sein Leben lang geschafft hatte, allen Erwartungen gerecht zu werden. Er war es nicht gewohnt, die Menschen zu enttäuschen. Er war es nicht gewohnt, seinen Vater zu enttäuschen. Und nun war er im Begriff, genau das zu tun. Sie konnte ihm das nicht antun! Der Gedanke, man würde sich letztendlich über IHN das Maul zerreissen, war schrecklicher als alles andere. „Ich kann das nicht.“, flüsterte tonlos. „Pineria ...“ „ICH KANNS NICHT!“ Die Panik in ihrer Stimme entsetzte Lu Ten. So hatte er sie bisher nur ein mal erlebt. Während des ersten Gewitters. Er war im Begriff, sie ihren größten Ängsten auszusetzen. Menschenmassen. Aufmerksamkeit. Er hätte alles gegeben, das Waldkäuzchen an seiner Seite zu halten. Selbst den Thron, wenn er gekonnt hätte. Aber ihre Flügel zu stutzen ... Dazu war er nicht bereit. Nicht, wenn ihre Freiheit das war, was sie brauchte. Pippa starrte in sein Gesicht. `Sag mir, dass ich Unrecht habe!´, betete sie. `Sag mir, dass das alles Unsinn ist. Dass ich dort leben kann, Dass sich für Dich nichts verändern wird. Sag´s mir doch!´ `Sag mir, dass alles unwichtig ist, solange Du da bist!´ Doch Lu Ten senkte nur den Blick. „Es ... tut mir leid.“, brachte er heraus. „Wenn ich die Verantwortung für das Land abgeben könnte, würde ich es tun. Ich ... ich hatte gedacht, Du könntest bei uns glücklich sein. Bei mir.“ Noch mehr Tränen rannen über Pippas Gesicht. Warum redete er ihr die dummen Bedenken denn nicht aus? Warum schrie er sie nicht an, oder ... oder befahl ihr zur Vernunft zu kommen? Warum nur sah er so unendlich traurig aus? „Ich wollte Dir nicht weh tun. Niemals.“, sagte er rau. „Ich hätte dich ... in Ruhe lassen sollen. Ich hoffe, Du kannst mir irgendwann verzeihen.“ Damit wandte er sich ab und verliess den Raum. Er blickte nicht zurück. Auch nicht, als er abreiste. Feuerpalast, fünf Wochen später Es war die vierte Vase, die an diesem Tag zu Buch ging. Und es war die vierte, die auf Nihas Konto ging. Fassungslos stand sie vor der erneuten Bescherung. DAS waren die teuersten Scherben, die sie in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekommen hatte. Bestimmt Truong Dynastie, oder so. „Oh nein! Oh mein Gott!“ „Schon gut, Mistress. Ich werde sofort einen Diener rufen.“ Das Angebot stieß leider auf taube Ohren. Mistress Niha hatte sich nämlich schon gebückt. Die heutige Tollpatschigkeit hätte sie eigentlich eines besseren belehren sollen, so aber taten das die messerscharfen Scherben. „AUTSCH!“ „Mistress! Nicht doch. Das müsst Ihr nicht tun!“ „Aber ich WILL es tun!“ „Ihr blutet. Ich werde einen Arzt ...“ „Ach! Das bisschen Blut.“, schniefte Niha unwillig. „Es ... äh ... tropft auf den Teppich.“ „Ist der etwa auch ...?“ „Antik? Ja.“ „Sehr?“ „Ja.“ „Oh nein!“ Verzweifelt umklammerte Niha die verletzten Finger, doch ihr Blut hatten dem filigranen Muster des Läufers bereits diverse Farbkleckse hinzugefügt. Sie hatte Lust zu heulen! Eigentlich hatte sie mehr als nur Lust dazu. Sie tat es. „Mistress? Setzt Euch hier hin. Ich hole sofort den Arzt.“ „Nein. Ich w ... will keinen Arzt! Ich will Sch ... Schweine!“ „Ihr habt Hunger?“ „NEIN!“, plärrte die Momentane UND Zukünftige von Prinz Lee. Die SEHR zukünftige. Und genau da lag das Problem. Übermorgen würden Lee und sie die Flammenzeremonie vollziehen. Vor da an wäre sie in den Augen der gesamten Feuernation die Frau von Prinz Charming. Es war einfach zu früh! Sie musste das mit dem ganzen antiken Kram und kostbaren Firlefanz in den Griff bekommen. Bis übermorgen! „Pria?“ „Mylord!“ Auch DAS noch! „Gibt es ein Problem?“ „Ich ... weiss nicht so genau, Hoheit.“ Im hastigen Bemühen, die Spuren ihrer Tränen zu vernichten, wischte Niha sich Blut übers Gesicht. Na ja. Wenigstens lenkte das von den roten Augen ab. „Schon gut, Pria. Ich kümmere mich um meine Schwiegertochter.“ „Wie Ihr wünscht.“ Am liebsten hätte Niha sich an den weiten Ärmel der Hofdame geklammert, doch die verneigte sich grazil und ward nicht mehr gesehen. Es war das erste Mal, dass die kleine Niha Koro, nein Tatzu, mutterseelenallein mit dem Feuerlord war. Sie schluckte. „Das mit den Vasen ...“ „Vasen? Welche denn? Es gibt hier so schrecklich viele.“, sagte Zuko der Sparsame leichthin. „U ... und der Teppich?“ „Durchgelaufen.“ Ein Laut zwischen Lachen und Schluchzen entwich Niha. Als ein Taschentuch in ihr Gesichtsfeld baumelte, griff sie dankbar danach. „Könnte es sein, dass der Zustand meiner Vasen und Teppiche mit der bevorstehenden Zeremonie zu tun hat?“ „Ja.“, hickste Niha. „Hm. Aber de facto seid ihr bereits verheiratet.“ „Ja. Aber ... aber nur amtlich. Nicht SO. Ich meine ... nicht so ... öffentlich und pompös. Bis jetzt konnte ich mir einbilden, diese Ehe sei normal.“ „Normal? Mit Lee?“ Damit erntete er ein weiteres, wackliges Lachen. „Oh, er ist ... ganz wundervoll. Ein wahrer Mustergatte.“ „Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Aber Scherz beiseite. Eure Ehe, Niha, IST normal. Normal, besonders und absolut legal.“ „Vielleicht gewöhn ich mich ja an die ganzen Vasen.“, flüsterte sie leise. „Hm.“, brummte Zuko. „Begleite mich ein Stück.“ Ein paar Gänge weiter öffnete er die Tür zu einer Bibliothek. In dem einladenden Raum roch es nach Leder, Holzpolitur, Kaminfeuern und altem Papier. Die perfekte Drachenhöhle. „Komm! Ich möchte Dir etwas zeigen.“ Schnurstracks ging Seine Lordschaft zu einer kleinen, verglasten Vitrine und holte ein schlichtes Ebenholzkästchen heraus. Dessen einziger Schmuck war ein Paar herrlicher Phönixe aus kostbarem Goldlack. Langsam und bedacht hob Zuko den Deckel. Auf roten Samt lag schimmernde, irisierende Seide. Er nahm den Stoff und breitete ihn vorsichtig aus. Das Gespinnst war nicht breiter als sein Handteller, maß in der Länge aber über zwei Meter. Zwei elegante Drachen waren in die dicke Seide gewoben. Einer grün, einer rot. Niha holte tief Luft. „Das ist wunderhübsch!“ „Ja, nicht wahr?“, lächelte Zuko. „Aber weißt Du auch, was es ist?“ „Vielleicht ein antiker Gebetsschal?“ „Nein. Es handelt sich um eine Schärpe. So alt ist sie noch nicht.“ Fast ehrfürchtig strich er mit den Fingerspitzen über den Stoff. „Es ist das Geschenk einer kleinen Weberin an ihren Bräutigam.“ Niha blickte auf. Meinte er etwa ... „Dieses Mädchen besass noch weniger als Du, Niha. Ihr gehörten ein paar abgetragene Kleider, eine Katze und das Herz eines zwielichtigen Individuums. Und doch gibt auf dieser Welt kein materielles Gut, das mir kostbarer wäre, als dieses Stück Stoff. Ich mag zwar der Feuerlord sein, aber wenn die Türen unserer Gemächer sich schliessen, sind wir Jin und Zuko. Es wäre mir Recht, wenn Du uns in diesem Licht sehen könntest.“ Er blickte sie forschend an und nicht zum ersten mal bemerkte Niha, dass dieses helle, durchdringende Gold das gleiche war, das die Augen ihres Lee zum funkeln brachte. Noch viel mehr, als er der Herrscher des Landes war, war er der Vater von fünf Kindern. Dieser Mann hatte ihren Gatten in den Schlaf gesungen, ihm Geschichten vorgelesen, seine Tränen getrocknet, nächtelang an seinem Krankenbett gewacht und ihn den Unterschied zwischen Recht und Unrecht gelehrt. Ihn ermahnt, ermutigt und zu einem aufrichtigen, selbstbewussten Menschen erzogen, der mit beiden Beinen fest im Leben stand. Dies hier war der über alles geliebte Papa ihres Lee. „Das tu ich.“, sagte sie leise. „Gut!“ Langsam faltete er die Drachenschärpe wieder zusammen und verstaute sie umsichtig. „Dann wirst Du Dich auch darauf freuen, morgen endgültig unsere Schwiegertochter zu werden, nicht wahr?“ „Ja.“ „Er liebt Dich Niha. Und in diesem Leben wird er damit nicht wieder aufhören, also solltest Du Dich daran gewöhnen.“ „Ich ... ich denke, das schaff ich.“ „Gut! Sehr gut!“ Er lächelte. Plötzlich war sich Niha sicher: bis in ein paar Jahren würde sie Zuko II ebenso lieben, wie seine Kinder es taten. Doch sie täuschte sich. So lange brauchte sie nicht. Feuerpalast, zwei weitere Monate später Zuko betrachtete seinen Erstgeborenen. Das tat er nun schon seit geschlagenen fünf Minuten. Ohne bemerkt zu werden. Bemerkenswert! „Weißt Du, man könnte wirklich glauben, Du legst es darauf an, mir den Thron unterm Hintern wegzuackern.“ Lu Ten blickte irritiert auf und runzelte die Stirn. Also kein Unterschied zu seinem vorangegangenen Gesichtsausdruck. „Unsinn!“, brachte er hervor. „Es gibt nur viel zu tun. Zuko hob die Braue. „Sicher.“, stimmte er nachdenklich zu und wechselte einen kurzen Blick mit Tian Fu. „Wie immer.“ „Eben.“ Nachdem er umständlich etwas von `Organisation alter Steuerakten´ gemurmelt hatte verliess der Kronprinz schliesslich den Raum und Seine Lordschaft wendete sich an seinen Freund und Helfer. „Tian?“ „Hoheit?“ „Ich mag mich irren, denn zugegebenermassen bin ich wenn es um meine Bälger geht wenig objektiv ... aber war ursprünglich nicht auch dieses Kind mit so etwas wie Humor gesegnet?“ „Äh ... eigentlich ja. Wenn auch einen schwer nachvollziehbaren. Irgendwas scheint mit ihm nicht zu stimmen.“ „Tian?“ „Ja?“, seufzte der Konsul, der diesen Tonfall nur allzu gut kannte. „Du bist wirklich ein Blitzmerker. Darauf wäre ich selbst nie gekommen.“ „Na ja, vielleicht schneidet die Hono die Blutzufuhr zum Hirn ab.“ Zuko entwich ein Lachen. „Fein. Ich denke zehn Peitschenhiebe dürften für diese Frechheit genügen, oder?“ „Ich schreib´s auf die Liste.“ „Ja. Und wir werden eine kleine Reise unternehmen. Ich fürchte, Lu Tens Zustand hängt mit meiner Strafaktion zusammen. Und ich HASSE es, ein schlechtes Gewissen zu haben.“ „Oder Unrecht.“ „Mach zwanzig draus.“ „Ja, oh Schlagwütiger.“ Eine halbe Stunde später bemerkte Jin eine gewisse Unruhe im Websaal. Als sie aufblickte, sah sie den Grund. „Zuko? Was tust Du denn hier?“ „Allem Anschein nach stören.“ „Unsinn! Ich bin nur nicht gewohnt, Dich um diese Uhrzeit in freier Wildbahn zu sehen." Bevor ihr Gatte auf die Idee kam, wieder zu gehen, schnappte Mylady ihm am Ärmel, zog ihn in ihr kleines, verglastes Atelier und drückte angesichts der vielen neugierigen Blicke einen wirklich nur sehr kurzen Kuss auf seine Lippen. „Also, mein Gebieter, was führt Dich her?“ „Vielleicht wollte ich mich nur ein bisschen umsehen.“ „Mhm. Und meine Frauen wuschig machen?“ „Bitte? Ich mache doch niemanden wuschig ... Was auch immer das ist.“ „Machst Du wohl. Aber Du kannst ja nichts dafür.“ „Nun, um ehrlich zu sein, habe ich einen Grund für mein Kommen.“ „Was Du nicht sagst.“ Zuko liess sich auf der Kante von Myladys kostbarem Schreibtisch nieder und drehte geistesabwesend eine Schreibfeder zwischen den Fingern. „Es geht um unser Lu Ten-Problem.“ Sofort wurde Jin ernst. „Ja?“ „Ich denke, wir haben jetzt lange genug gewartet. Er scheint sich von alleine nicht wieder einzukriegen.“ „Nein.“, meinte Jin bekümmert und setzte sich neben ihn. „Er wird nur von Tag zu Tag verschlossener.“ „Ich werde mir das Mädchen ansehen. Es muss einen Grund geben, warum aus dieser Sache nichts geworden ist.“ „Ich kann sie nicht leiden!“ „Das weißt Du doch noch gar nicht!“ „Doch!“, stiess Jin aus. „Sie macht mein Kind unglücklich.“ „Kobold.“, seufzte er. „So gesehen hätte Deine Tante mich davonjagen müssen.“ „Wollte sie ja auch. Aber dann hast Du all ihre Klöße gefuttert, und sie brachte es nicht mehr übers Herz.“ „Ah. Die Klöße! Wann ist wieder Kloß-Tag?“ Jin nahm seine Linke und verknotete ihre Finger mit seinen. „Dienstag in einer Woche.“ „Schön. Und jetzt versprich mir, dass Du dem Mädchen eine Chance gibst.“ „Natürlich tu ich das. Ich werd´s wohl müssen.“ „Jin ...“ „Ja. Ich versprech´s!“ „Gut. Dann geh ich mal den Kriegsrat einberufen, um einen Schlachtplan zu schmieden.“ „Endlich!“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Viel Spass, Drache.“ Der `Kriegsrat´ beinhaltete alle männlichen Tatzus (exklusive des Thronfolgers), Tian Fu und Fon. „Wo ist Lu Ten?“, fragte Kiram und schnappte sich einen Pfirsich aus der großen Ostschale. Er war erst vor zwei Tagen von seinem achtwöchigen Besuch am Hofe Ba Sing Ses zurückgekehrt, und genoss es sichtlich, wieder ordentlich herumlümmeln zu dürfen. „Abwesend, da er der Grund dieser Veranstaltung ist.“ „Endlich unternimmst Du was.“, seufzte Lee. „Was, unternehmen?“ Kiram sah von einem zum anderen. „Zum Beispiel werde ich gegen einen meiner Grundsätze verstoßen und eines meiner Kinder zu etwas zwingen müssen.“ „Hä?“, machte Kiram. „Das ich DAS noch erlebe!“, strahlte Iroh. Sie wurden beide ignoriert. „Der Plan ist folgender: Lee und Kiram gehen nach Kioshi und benehmen sich daneben.“ „Aus dem Alter bin ich seit drei Monaten, zwei Wochen und vier Tagen raus!“, protestierte Lee zurecht. „Dann benimmt sich eben nur Kiram daneben. Und zwar so sehr, dass DU ihn nicht zur Vernunft bringen kannst.“ „Verstehe! Dazu brauchen wir dann natürlich den Streber.“ „Lee!“ „Schon gut. Lu Ten eben.“ „Hä?“ „Sag mal Kiram ...“ Lee klang süffisant. „Hast Du heute Deinen Tee noch nicht gehabt?“ „Was? Also ... da ist man mal ne Weile nicht da, und schon spielt ihr alle verrückt! Geht´s vielleicht darum, dass Lu Ten gestern so seltsam war?“ „Das ist er leider seit drei Monaten.“, klärte Zuko seinen Jüngsten auf. „Was, echt?“ „Ja!“, erschallte die fünfstimmige Antwort. „Hm. Steckt bestimmt ne Frau dahinter.“ Kiram war in dem Alter, indem man als Kerl entdeckt, dass hinter den meisten Dingen eine Frau steckt. „Was hat König Nuro Dir eigentlich ins Essen gekippt?“, wollte Lee wissen. „Wenn, dann war´s seine Tochter. Die steht auf mich.“ „Könntet ihr beiden BITTE beim Thema bleiben?“ „Ja doch.“ „Gut. Dann wäre das geklärt. Ihr zwei lockt Lu Ten nach Kioshi, während wir vier alle Vorbereitungen für eine Hochzeit treffen. Inclusive des Beschaffens der Braut. An die Arbeit!“ „Ah. Das erinnert mich an früher, was Fon?“, schwärmte Iroh. „Mhm.“, brummte der alte Kämmerer. „Waren tolle Zeiten damals, als wir Mylady aufgerissen haben.“ Kiram spuckte seinen Pfirsichkern quer durchs Zimmer, während Lee sich an einem Ingwer-Keks verschluckte. „Vielleicht,“, merkte Zuko der Erhabene spitz an. „gehen wir alle schon mal packen. Und zwar BEVOR ich mich daran erinnere, das gewisse Individuen es dereinst für nötig hielten, meine Zukünftige zu betäuben.“ „Oh je. Der Junge ist immer noch so nachtragend wie früher.“ „Das war Deine Erziehung, Hoheit!“ Draußen holte Kiram seinen älteren Bruder ein. „War Lu wirklich die ganze Zeit so?“ „Ja. Seit er zurück ist.“ Lee blieb ungewohnt ernst. „Ich hab alles versucht, ihn aus der Reserve zu locken. Nichts! Er arbeitet nur wie ein Besessener.“ „Meine Güte. Ich war wohl zu lange weg.“ „Ja. Man kann nur hoffen, das Mädel ist all den Kummer auch wert.“ „Glaubst Du nicht?“ „Na ja ... immerhin ist sie dumm genug, ihn nicht zu wollen. Und wenn wir mal ganz ehrlich sind, ist er schon verdammt perfekt. Bei guter Pflege entwickelt er sogar Humor.“ „Ja. Perfekt. Und wir müssen versuchen mitzuhalten.“, seufzte Kiram. „Ph! Streber!“ „Selber!“ Schloss Tutuk Mimmis Zustand als trostlos zu bezeichnen wäre untertrieben gewesen. Sie benahm sich buchstäblich, wie ein geprügelter Hund. Weder Leckerlies, noch Stöckchen werfen konnten daran etwas ändern. Also gab Pippa es auf. Sie saß sowieso lieber in ihrem Arbeitszimmer und starrte Ewigkeiten auf ein und dieselbe Seite eines Buches. Dann merkte sie nicht, wie es draußen zu dämmern begann, oder wie die Kälte ins Zimmer kroch. Es war nett, wenn Eri den Raum betrat, um Feuer zu machen. Denn dann konnte man statt der Buchseite die Flammen anstarren. Schlimm - so wirklich schlimm - waren die Gewitter. Früher hatten sie sie in Angst und Schrecken versetzt. Heute ... brachten sie sie nur zum Weinen. Da half kein Keller, in dem man sich verkriechen konnte. Nein, sie hatte keine Angst mehr vor Unwettern, sondern die reine Panik. Sie hielten ihr das vor Augen, was sie nicht haben konnte. Und die Sehnsucht danach wuchs ins Unerträgliche. Manchmal war diese Sehnsucht so groß, dass sie kurz davor war einen Brief in den Palast zu schicken. Doch sie landeten alle im Papierkorb. Zerknüllt und tränenverschmiert. Genauso fühlte sich auch ihr Innerstes an. Das war gestern so gewesen. Heute. Und so würde es auch morgen sein. Morgen Das Herrenhaus der Tutuks lag in völliger Ahnungslosigkeit und Unschuld zwischen den Hecken und Büschen des weitläufigen Parks. Elegante Nebelschleier machten sich widerstrebend vom Acker, um den kräftiger werdenden Sonnenstrahlen Platz zu machen, als lautes Pochen an der Tür die andächtige Ruhe störte. Eri wuselte aus der Küche. Dass die Leute auch immer dann kommen mussten, wenn sie bis zum Ellbogen in irgendeinem Teig steckte. „Ja?“, fragte sie dann auch eher ungnädig. „Guten Tag.“ „Wir kaufen nichts! Außer es handelt sich um spektakuläre Neuerungen auf dem Gebiet der Mechanik oder Physik.“, leierte sie lieblos den Satz herunter, den der Professor ihr eingebleut hatte. „Ach ...“ „Wenn Sie ein anderes Anliegen haben, muss ich Sie zum Hintereingang bitten.“ Der große Kerl mit der Kapuze über dem Schädel holte tief Luft. Doch bevor er loswerden konnte, was auch immer ihm auf der Zunge lag, schnappte der kleinste und dickste des seltsamen, vierköpfigen Trupps ihn am Ellbogen. „Wundervoll. Hintereingang. Alles bestens.“ „Onkel ...“ „Was denn? Die Dame hat uns zum Hintereingang gebeten. Also beweg Dich, Junge!“ Der Dünnste, einer mit einer ziemlich spitzen Nase, holte erschrocken Luft. „Vielleicht sollten wir ...“ „Still, Tian! Du verdirbst den ganzen Spass!“ „Spass?“, fragte Eri misstrauisch. „Hört mal, ich hab nich den ganzen Tag Zeit. Und die Herrschaften nich mal den halben. Warum macht ihr eure Spässe nich einfach anderswo?“ „Weil wir,“, grollte der Große jetzt. „Den Professor zu sprechen wünschen.“ „Ja. Das wollen viele.“ Mit diesen Worten wurde das große Portal wieder ... geschlossen. Zuko blinzelte ungläubig das nur drei Zentimeter von seiner Nase entfernt materialisierte Holz an. Dann drehte er auf dem Absatz um und begann das Haus zu umrunden. Nicht, ohne vorher noch Iroh anzufunkeln. „Danke, ONKEL!“ „Nichts zu danken, mein Junge. Hatten lange nicht mehr so viel Spass, was Fon?“ „Tian? WARUM wollte ich die beiden noch mal dabeihaben?“ „Ich glaube Du hast etwas von `dann kann ich sie im Auge behalten´ gesagt.“ Da Sonntag war, griff Tian auf das „Du“ zurück, das Zuko ihm vor über 20 Jahren mühsam abgetrotzt hatte. „Jaja.“, kicherte der General. „Paranoia gehört doch zu den zuverlässigsten Motivationen.“ „Paranoia?“, fragte sein Neffe. „Seid wann basiert eine Paranoia auf Fakten?“ „Wie KANN man nur so kleinlich sein? Diese Statistik über zerbrochenes Porzellan und all den Kram sagt an sich noch GAR nichts aus.“ „Eine Rechnung über 14653 Jy sagt nichts aus?“ „Es war nur ein Haufen altes Geschirr!“ „Es war ANTIK!“ „Aber die Kinder hatten ihren Spass.“ „Ich denke eher, IHR hattet euren Spass, Onkel.“ „Das auch.“, räumte Iroh gut gelaunt ein. Als diese vier Kasper auch noch die Hintertür tyrannisierten, platzte Eri der Kragen. „Jetzt hab ich aber genug! Wenn mein Reng kein Suppengemüse aus euch machen soll, dannäh ... äääh ... Oh!“ Der Große hatte die Kapuze zurückgeschlagen. Neben dem arroganten Zinken, den er im Gesicht hatte, prangte eine verdammt große, verdammt markante Brandnarbe. „Ich denke, wir hatten schon das Vergnügen.“, schnarrte er von Oben herab. Angesichts seiner vertikal ausgeprägten Dimensionen kein Kunstwerk! „Äh ...“ „Das auch. Also nochmal: WIR würden gerne mit Professor Tutuk sprechen, falls seine, und auch DEINE Zeit es erlaubt.“ Eri schluckte. „`türlich.“, hauchte sie. „Ich ... ich hol ihn sofort. Aber ... Sie ... Ihr ... das mit der Hintertür war nicht so gemeint!“ „Will sie jetzt, dass wir noch ne Runde ums Haus traben?“, flüsterte Fon lautstark. „Hast Du etwas nicht die guten Schuhe an?“, fragte Iroh interessiert. „Na Du weisst doch ... mein Hühnerauge, Hoheit.“ Das `Hoheit´ gab Eri den Rest. Irgendwie drehte sich die Küche. „Tian? Stuhl!“ Der Spitznasige schoss an ihr vorbei und schob ihr gerade noch rechtzeitig ein Sitzmöbel unters Hinterteil. „Danke.“, stammelte sie. „Gern.“ Der Tonfall war so freundlich, dass Eri nach dem Rettungsanker griff. „Könnten Sie mich mal zwicken?“ „Wie bitte?“ „Zwicken? Richtig doll.“ Tian begriff. „Er wird dadurch nicht verschwinden.“, meinte er sanft. „Nein? Schade eigentlich.“ Nachdem es endlich gelungen war, Eri weitgehend zu beruhigen, stand einem Gespräch mit dem Professor nichts mehr im Wege. Außer der Abwesenheit dieses Herren. `Man´ wanderte also mit auf dem Rücken verschränkten Armen im großen Arbeitszimmer auf und ab. „Zuko. Müsst Ihr nun auch schon die Böden anderer Leute so überstrapazieren?“ „Wenn sie mich warten lassen: Ja!“ „Na ja. Immerhin sind wir unangemeldet gekommen.“ „Ich sollte eigentlich der Kabinettssitzung beiwohnen.“, murmelte Seine Lordschaft. „Ja. Stattdessen gibt´s Tee und ganz hervorragenden Butterkuchen. Etwas, das EINIGE von uns sehr zu schätzen wissen.“ „Ich bin nicht zum Teekränzchen hier!“ „Wär ich jetzt nicht draufgekommen.“ Zuko war eben im Begriff einen Vortrag über die Gefahren der Ironie an der Grenze zu selbstmörderischen Tendenzen vom Stapel zu lassen, als die Tür aufging. „Ah. Wundervoller Herbsttag, waswas? Eri meinte, dass Besuch da ist. Den Rest des wirren Zeugs hab ich nicht so ganz verstanden.“ Der Rest des wirren Zeugs trat einen Schritt vor. „Professor Tutuk?“ „Ja, ja. Bin ich. Und Sie ... Wir haben uns doch schon mal ... nicht wahr?“ „Ja. Des öfteren.“ „Aber natürlich! Hab ein schreckliches Namens-Gedächtnis! Der Lord, nicht wahr?“ „Ja.“ „Freut mich!“ Beo schüttelte enthusiastisch die dargebotene Hand. „Freut mich außerordentlich. Was führt Sie hierher? Wieder ein Problem mit den Düngemitteln, waswas?“ „Nein. Nichts dergleichen.“ „Dann eine Partie Pai-Cho vielleicht?“ „Später gerne.“ „Hattet eine undurchsichtige Taktik, soweit ich mich erinnere, nicht wahr? Erst kürzlich ist mir was ähnliches untergekommen.“, murmelte Beo und wurde ein wenig betrübt. „Wirklich schade, dass der Junge fort ging.“ Sein Gegenüber war von diesem Gedankensprung weder überrascht, noch überfordert. Im Gegenteil. „Um genau diesen Jungen geht es.“, sagte Zuko. „Wirklich? Lu Ten? Kann mir nicht vorstellen, dass er was angestellt hat.“ „Nein. Hat er nicht. Genau gesagt stellt er so gut wie nichts mehr an.“ Der Professor kniff die Augen zusammen und versuchte für einen Augenblick in der Realität Fuß zu fassen. „Ah!“, machte er. „War also doch kein Zufall, der Name! Jaja, jetzt seh ich´s auch. Frappierende Ähnlichkeit, wenn ich so sagen darf.“ „Danke.“ „Prinz also, hm? Hat man gar nicht gemerkt. Gut erzogen, der junge Mann. Wirklich sehr gut erzogen.“ „Wir gaben uns Mühe.“ „Jaja, tut man das nicht immer? Nur ... manchmal etwas schwierig, die Kinder. Durchaus schwierig.“ Von seinen eigenen Gedanken abgelenkt, seufzte der Professor tief. „Sie haben eine Tochter, nicht wahr?“ „Ja. Natürlich! Pineria. Ist grade nur etwas ... durch den Wind.“ „Klingt vielversprechend.“, brummte Iroh. „Wegen ihr sind wir hier.“ „Wegen meiner Pippa?“ „Ja.“ „Und Eurem Sohn? „Exakt.“ „Ja.“, sinnierte Beo. „Vielleicht keine schlechte Idee. Haben es vermasselt, die beiden, waswas?“ „So ziemlich.“ „Das Mädel kann manchmal ein rechter Dickschädel sein.“ „Na, sowas kommt in UNSRER Familie ja Agni sei Dank nicht vor.“ „Onkel!“ „Hm?“ Nachdem Iroh ein weiteres Mal streng angefunkelt worden war (wenn er richtig gezählt hatte war das das siebte Mal. Ein recht guter Schnitt, für 9 Uhr morgens), wandte Zuko sich wieder dem Gastgeber zu. „Wir würden gerne mit Pineria sprechen.“ „Gut, gut. Wollen mal sehen, ob sie sich her locken lässt.“ Eigentlich hatte Pippa keine Lust, die Besucher zu sehen, doch ihr Vater hatte gemeint, es sei dringend. Irgendwer hatte wohl Interesse, ihren Aufsatz über die verschiedenen Stadien der Verpuppung von Riesenhirschkäfer-Larven zu veröffentlichen. Hoffentlich würde es reichen, eine Tasse Tee zu trinken, ein wenig zu nicken, und über das dumme Wetter zu sprechen. Als sie das Zimmer betrat, wunderte sie sich ein bisschen. VIER? So bahnbrechend war ihr Aufsatz gar nicht gewesen. „Wer macht es denn nun?“, fragte der kleinste der Herren. „Wollt ihr Streichhölzer ziehen?“ „Nein! Tian wird anfangen.“ „Ist vielleicht besser, bevor jemand mit dem Kopf durch die Wand geht.“ „Verzeihung.“, sagte Pippa leise. „Sie wollten mich sprechen?“ Das Quartett wandte sich ihr zu, wobei einer der Männer sich sogleich diskret in die Schatten zurückzog. Dann trat Tian einen Schritt vor. Zu sagen, er sei geschubst worden, wäre übertrieben. „Äh. Wir haben einige Fragen an sie.“, sagte er vorsichtig. Die ganze Situation wirkte merkwürdig. Pineria schlang unsicher die Hände ineinander. „Kommen sie vom Studienkreis für Entomologie?“ „Nein. Nicht direkt.“ „Sondern?“ Konsul Fu räusperte sich und schaltete auf Sekretär. „Ich stehe im Dienste Seiner Lordschaft, Zukos II. Fräulein Tutuk, sind Sie Royalistin?“ Bei Erwägung des Herrscherhauses hatte sich Pippas Herz schmerzhaft zusammengezogen. „Ich ... glaube schon.“ „Sie glauben?“ „Ehrlich gesagt habe ich darüber noch nie wirklich nachgedacht.“ „Nun, wenn sich der Feuerlord mit einer Bitte an Sie richten würde, würden Sie versuchen, ihr nachzukommen?“ „Warum sollte er so etwas tun?“ „Beantworten Sie bitte die Frage.“, sagte der Mann spitz. „Ich ... vermutlich würde ich das.“, stammelte Miss Tutuk nun doch ziemlich eingeschüchtert. „Sehr gut. Wir haben nämlich ein Anliegen an Sie.“ „Ein ... ein Anliegen?“ „Sie sind Pineria Tutuk, wohnhaft daselbst?“ „Äh ... ja.“ Pippa blinzelte. „Natürlich.“ „Sie ist süss!“, wisperte einer der beiden älteren Männer. „Onkel!“ „Gut.“, fuhr Tian unbeirrt fort. Er war ganz in seinem Element. Beamter durch und durch. „Ich habe hier ein königliches Gesuch.“ „Für ... mich?“ „Ja. Machen wir´s kurz.“ Mit dem kurzen Ruck seiner Rechten entfaltete Tian ein großes Pergament, während er mit der Linken ein Brillengestell auf der Nase platzierte. „Tiram Agni, 12. Oktav im Jahre des Drachen 1823. Im Namen Zukos II, Klammerauf, im Weiteren Regent genannt, Klammerzu, eröffne ich, Tian Fu, Konsul, der hier Anwesenden Pineria Tutuk, dass sie drei Tage Zeit hat, Ihre persönlichen Angelegenheiten zu ordnen und sich im Feuerpalast einzufinden, wo Ihre Verl ...“ „Das mit den Klammern macht er schön.“ Tian drehte sich um, um Fon einen kurzen, indignierten Blick zuzuwerfen, räusperte sich und fuhr fort. „Also wo war ich? Ah .. ja! ... im Feuerpalast einzufinden, etc. etc., wo ihre Verlobung mit Seiner Hoheit Prinz Lu Ten Aang Tatzu, erstgeborener Sohn des Regenten und Erbe des Drachenthrons, stattfinden wird. Dieser Verlobung hat nach 33 Tagen die Flammenzeremonie zu folgen. Fräulein Tutuk erklärt hiermit, keine anderweitigen Verpflichtungen amouröser Art eingegangen zu sein und Schrägstich oder eingehen zu wollen und dem Thronfolger fortan ein liebendes, treues Weib zu sein.“ Ungläubig, mit offenem Mund starrte Pippa den Sprecher an. „Sollten Sie den Wünschen des Regenten nicht Folge leisten, wird dieses Gesuch in einen Befehl umgewandelt. Gegen diesen Erlass kann innerhalb vierzehn Tagen schriftlich Widerspruch eingelegt werden. Allerdings ist diese Frist vor ...“ Konzentriert schielte Tian aus dem Fenster, um den ungefähren Sonnenstand zu überprüfen. „... etwa sechs Stunden abgelaufen.“ „Abgelaufen?“, quietschte Pippa, die rein gar nichts verstand. „Ja. Die bedauerlich langsamen Mühlen der Bürokratie.“ „Was? Das ... das können Sie nicht tun. Mich zwingen.“ „Sie sind Untertanin Seiner Lordschaft. Natürlich können wir!“ „Danke, Tian.“, mischte sich sanft aber bestimmt eine rauchige Stimme aus dem Hintergrund ein. „Vielleicht übernehme den Rest des Gesprächs doch lieber ich.“ „Sicher?“ „Sicher.“ „Ich dachte ...“ „Du warst wie immer vorbildlich! Doch ich denke, wir sollten Fräulein Tutuk jetzt beruhigen.“ Der große Herr aus dem Hintergrund trat nun ins Licht. Selbst Pippa, die mit Tratsch, Klatsch, Royalität und all dem Schnickes nichts anfangen konnte, erkannte das eklatanteste Merkmal dieses Gesichts auf Anhieb. Dass es - abgesehen davon - einem anderen Gesicht verblüffend ähnlich sah, veranlasste Fräulein Tutuk sich erst mal zu setzten. Jedoch nur, um gleich darauf wieder aufzuspringen. „Ich ... wenn das Lu Tens Idee war ...“ ... wäre das absolut wundervoll! „Mein Sohn,“, sagte der Herrscher der Roten Lande. „Hat derzeit keine Ideen. „Aber ...“ „Wir hatten eben ein sehr interessantes Gespräch mit Ihrem Vater.“ „Ach ja?“ „Ja. Und mir scheint, Sie haben ein ganz ähnliches Problem, wie Lu Ten.“ „Hat er das denn? ... Probleme?“ „Oh ja. Und es ist so gar nicht seine Art.“ „Also ... ich ...“ „Wollen Sie mir nicht sagen, wo IHR Problem liegt, Fräulein Tutuk?“ Die unruhig wandernden Augen trafen Zukos Blick für einen kurzen, sehr aufschlussreichen Moment. „Ist das nicht offensichtlich?“, flüsterte Pippa. „Nein.“ „Ich ... passe nicht in seine Welt.“ „Oh, aber seine Welt ist ziemlich groß.“ „Ach ja? Groß genug für eine Verrückte?“ Nach diesem unbedachten Ausbruch musste sie sich auf die Lippen beißen, um nicht loszuweinen. Zuko musterte die junge Dame eindringlich. Und er erkannte Dinge, die ihm in seiner Jugend tagtäglich aus dem Spiegel entgegen gestarrt hatten. Unsicherheit, Scham und Einsamkeit. „Angst, Fräulein Tutuk, ist etwas sehr mächtiges. Es gibt nicht viel, das in der Lage ist, eine wirklich tiefsitzende Angst zu überwinden. Aber Liebe und Vertrauen zählen mit Sicherheit zu den wenigen Dingen, die das vermögen.“ Angst? Er dachte, ihre Angst vor Menschen hätte sie von einer Ehe mit seinem Sohn abgehalten? Mittlerweile wusste sie, dass es schlimmeres gab, als ausgelacht zu werden. „Ich bin es gewohnt, für seltsam gehalten zu werden.“, gab sie stockend zu. „Aber Lu Ten ... Ist er es gewohnt? Was würdet Ihr sagen, wenn er wegen mir zum Gespött würde?“ „Niemand spottet über Lu Ten. Die Leute spotten nicht mal über Lee. Und seine Hosen gäben wahrhaft Grund dazu. Aber sagen Sie mir doch, inwiefern man Sie für seltsam hält. „Na ... das!“ Sie wedelte an sich rauf und runter. „Alles. Die komischen Haare. Die Brille. Und das mit dem Bein wird auch nicht mehr besser, falls Ihr das glaubt.“ „Ich weiss, dass die Versteifung dauerhaft ist.“, sagte Zuko sanft. „Ja. Gut. Dann wisst Ihr ja auch, dass es nicht geht! Außerdem bin ich zu wirr. Konfus. Rede über drei Sachen auf einmal. Und, und ... ich führe immerzu Selbstgespräche.“ „Nun, dagegen ist nichts einzuwenden.“, sagte Seine Lordschaft. „Ich halte es für sehr vernünftig, ab und an mal ein klares Wort mit sich selbst zu wechseln.“ Fräulein Tutuk war dem subtilen Humor momentan jedoch nicht zugänglich. „Aber meistens sind sie nicht klar!“, rief sie verzweifelt. Zuko merkte, dass es höchste Zeit war das Mädchen endlich zur Vernunft zu bringen. „Setzten Sie sich!“, sagte er knapp. „Aber ...“ „Bitte!“ Es war der gleiche Tonfall, der Mimmi dazu veranlasst hatte `Sitz´ zu machen, wenn dieser ganz spezielle Assistent ihres Frauchens es gefordert hatte. Als Pippa saß, nahm Zuko ihr gegenüber Platz. Nachdem er ihren Gesichtsausdruck ergründet hatte, beugte er sich vor und erlaubte sich, eine ihrer kalten Hände zu ergreifen. „Pineria. Über meine Söhne wurde vielleicht nie gespottet. Für mich gilt das jedoch nicht. Ich bin in meiner Jugend recht oft gedemütigt und zur Schau gestellt worden und das sogar von dem Menschen, der mich hätte schützen sollen. Ich kann mich nur zu gut daran erinnern, was Scham ist. In den meisten Fällen ist es ein Gefühl, das diejenigen, die es fühlen sollten nicht empfinden, wohl aber die, die keine Schuld trifft. Ich will nicht behaupten, dass Dich nicht der ein oder andere verwunderte Blick treffen wird, denn es ist leider menschlich, etwas, das man nicht kennt zu begaffen. Aber Du wirst mindestens ebenso viele Leute treffen, die Dich akzeptieren, mögen und verstehen werden. Und meine Familie ... nun, ich befürchte mit der Zeit werden sie Dich mit ihrer Fürsorge wahrscheinlich in den Wahnsinn treiben.“ „Aber ... ich passe doch nicht dazu. Ich bin immer zerstreut und zerzaust.“ „Zerzaust?“ Ein leichtes Lächeln überzog das Gesicht des Feuerlords. „Sie kennt offensichtlich unsere Jin noch nicht.“, murmelte Iroh, die Gedanken seines Neffen lesend. „Offensichtlich.“, stimmte Zuko zu. „Pineria, ich kann Dir versichern, Du müsstest Deine Erscheinung noch erheblich mehr derangieren, um meiner Gattin Konkurrenz zu machen.“ „W ... wirklich?“ „Ja. Wenn im Palast Schuhe, Schals oder Haarbänder an dubiosen Orten auftauchen, ist davon auszugehen, dass es sich um Myladys Eigentum handelt. Sie ist - gelinde gesagt - eine Schusselnuß.“ „Sehr treffend formuliert, Hoheit.“, stimmte der Konsul zu. „Wenn jemand nicht zum Prunk und Pomp des Hofes passt, dann ist das meine Jin. Dafür danke ich den Göttern jeden Tag aufs neue. Und Lu Ten ... er muss sich den lieben langen Tag an Vorschriften, Regeln und ein kompliziertes Hofzeremoniell halten. Schenk ihm doch bitte einen wohlverdienten Ausgleich dafür. Sei verschroben, konfus und unberechenbar. Sei alles, was er nicht ist. Nicht sein darf.“ „Seid ... Ihr sicher?“ „Oh ja. Er ist sehr unglücklich ohne Dich.“ „Ich b ...bin auch nicht ...“ „Scht ... Schon gut!“ Zuko streckte den freien Arm aus, um das Taschentuch entgegenzunehmen, welches Tian ihm reichte. „Es wird alles gut.“, murmelte er, während Fräulein Tutuk hingebungsvoll seinen zweitliebsten Kimono durchnässte. Wieder zurück im Feuerpalast Lu Ten wusste nicht, wie oft er heute schon unterbrochen worden war. Zu oft! Als wäre die Rückrufaktion seiner jüngeren Brüder nicht genug gewesen, glänzte Sein Vater auch noch durch Abwesenheit. Das hiess dreifaches Arbeitspensum für den Kronprinzen. Eigentlich etwas, das er sehr begrüsst hätte, denn es hielt ihn vom Grübeln ab. Nur heute wollten ihn die Leute einfach nicht in Ruhe lassen! Ob sein Vater auch wegen jeder albernen Kleinigkeit gestört wurde? Just in diesem Moment ging die Tür schon wieder auf. „Was ist denn schon wieder?“, fragte er ohne aufzublicken. „Entschuldige. Mir war nicht bewusst, dass ich störe.“ „Vater ...“ „Gib Bescheid, wenn Du ein paar Minuten für mich erübrigen kannst.“ „Unsinn! Für Dich habe ich natürlich Zeit.“ „Bist Du sicher?“ „Ja! Worum geht es?“ Die Augenbraue Seiner Lordschaft wölbte sich langsam. Jetzt brauchte er also schon einen Grund, mit seinem Sohn zu sprechen? „Worum es geht?“, wiederholte er lakonisch und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Ich will Dir sagen, worum ES geht. Wir haben bemerkt, dass Du Dich sehr in Dich selbst zurückgezogen hast.“ In sich? Wenn Lu Ten derzeit etwas mied, dann war das innere Einkehr. „Ich weiß nicht, was Du meinst.“, murmelte er. „Es gibt also nichts, worüber Du Dein Herz ausschütten willst?“ „Nein.“ „Sicher?“ „Ja!“ Zuko seufzte. „Gut. Ich dachte eigentlich, dass Du uns vertraust ...“ „Vater, was soll das alles?“ „Was das soll? Du benimmst Dich seit drei Monaten wie ein wandelnder Eisberg, und fragst MICH, was das soll?“ „Ich benehme mich wie immer!“ „Tatsächlich?“, Seine Lordschaft lachte freudlos. „Sicher. Dann habe ich Dir eine Mitteilung zu machen. Du hast ja schon des öfteren verlauten lassen, dass Dir eine Vernunfts-Ehe nichts ausmachen würde. Ich habe beschlossen, Dich beim Wort zu nehmen.“ „Du .. was?“ Jetzt zeigte der Kronprinz doch eine Regung. Ungläubig starrte er seinen Vater an. „Vielleicht rüttelt es Dich ein bisschen auf. Bei Lee wirkt die Ehe jedenfalls wahre Wunder.“ „Ich soll heiraten, weil Lee die Ehe gut tut?“ „Nein. Du sollst heiraten, weil das Land einen Erben braucht. Ich habe die Minister bereits beauftragt, einen entsprechenden Ehevertrag zu formulieren. Die junge Dame ist mit den Konditionen einverstanden.“ „Junge Dame?“ „Ja. Da bereits alles geklärt ist, habe ich sie mitgebracht.“ „Aber ...“ „Ah. Du hast Einwände?“ Hatte er? Nicht wirklich. Was machte es schon für einen Unterschied? Auf diese Weise musste er schon niemandem etwas vorheucheln. Er betete nur, diese Frau erhoffte sich nichts von ihm, denn das war das einzige, was er zu geben hatte: Nichts! „Nein.“, sagte Lu Ten leise. „Keine Einwände.“ Zuko presste die Lippen zusammen. Diesen kalten, verschlossenen Menschen kannte er kaum. Beinah hätte er die Beherrschung verloren und den Jungen geschüttelt. Aber wie konnte er seinem Sohn einen Vorwurf machen, wenn er doch nur nach ihm selbst kam? War er nicht ebenso gewesen, in der Zeit nach der Krönung. Ohne Jin? „Gut.“, sagte Zuko. „Dann darf ich Dir Deine zukünftige Ehefrau vorstellen. TIAN?“ Eine Seitentür öffnete sich. „Mylord?“ „Bring das Mädchen herein.“ „Sofort, Hoheit!“ Die Tür schloss sich wieder. Eine Minute später wurde die Klinke erneut gerückt. Lu Ten sah aus dem Fenster und ballte kaum merklich die Fäuste. Doch was half es? Sich jetzt zu weigern, hiesse nur das Unvermeidliche aufzuschieben. Irgendwann würde das Land einen Erben brauchen. Dieses Land, um das sich sein ganzes Leben drehte, und es doch nicht füllte. Dieses Land, dass ihn schon so viel gekostet hatte. Dieses Land, das zu lieben er sich wahrscheinlich eines Tages würde zwingen müssen. „Lu Ten?“ Er schnellte herum. Ungläubig starrte er sie an. Woher wusste sein Vater ... Agni. Sie war so verunsichert. Die Hände auf die Art verschränkt, die so typisch für sie war, blinzelte sie ihr herzerweichendes Käuzchen-Blinzeln. Wie gern er die Wangen gegen ihrem wilden Haarschopf gedrückt hätte. Wie gern er sie gehalten hätte. Wie weh es tat, sie zu sehen ... „Nein!“, flüsterte Lu Ten rau. „Nicht sie!“ „Du hast die Wahl mir überlassen.“, stellte Zuko fest. „Nein! Ich werde nicht zulassen, dass Du sie hierzu zwingst!“ „Hältst Du dies für den geeigneten Zeitpunkt Dein überentwickeltes und bedauerlich fehlgeleitetes Ehrgefühl unter Beweis zu stellen, mein Sohn?“ „Ja, erschreckend, wie sehr er Dir ähnelt, Mylord.“ „Jin!“ Zuko hatte sich umgewandt. „Ich dachte, ich sehe mal, ob ihr zwei das hinbekommt. Allerdings habe ich so meine Zweifel.“ „Unsinn.“, sagte Mylord und runzelte die Stirn. „Zuko. Du hast sie schon hierher beordert. Denkst Du nicht, Du solltest alle weiteren Schritte Lu Ten überlassen?“ „Es gibt keine weiteren Schritte. Pineria wird wieder nach Hause geleitet.“, stiess Lu Ten hervor. „Solltest Du nicht vorhaben, mich zu entmachten, glaube ich das kaum.“, merkte Zuko kühl an. „Vater! Es widerspricht Deinen Prinzipien ...“ „Was? Für das Glück meiner Kinder zu sorgen?“ „Himmel! Ihr beiden habt jetzt wirklich nichts besseres zu tun, als zu streiten? Das Kind wird ja noch völlig verängstigt.“ Mylady eilte auf Pippa zu, zog sie in eine duftende Umarmung und sah ihr dann forschend ins Gesicht. „Ich bin Jin.“, sagte sie schlicht. JETZT bekam Pippa Angst. Eine Heidenangst, denn das warme Strahlen dieser grünen Augen übermittelte eine mehr als klare Botschaft. Sie war nun Teil dieser Familie. Dieser großen, liebevollen, mächtigen Familie. Nur ... der älteste Sohn dieser Familie schien mit der Sache nicht ganz einverstanden. „Ich werde nicht zulassen, dass Pineria ...“ „Was heisst hier, nicht zulassen?“, brauste Zuko auf. „Ich habe das Gefühl, Du vergisst, wen Du vor Dir hast!“ „Aufhören! Alle beide! DU ...“ Jin fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Lu Tens Gesicht herum. „... hörst auf so bockig zu sein. Und DU ...“ Sie schnappte ihren Gatten am Ellbogen. „... kommst mit mir.“ Dem mehr oder minder freiwilligen Abgang des Herrscherpaares folgte erdrückende Stille. Pippa war ratlos. Der Mann, dessentwegen sie hier war, hatte ihr den Rücken zugewandt. Die Arme fest verschränkt, starrte er durch die verglasten Türen nach draussen. Zu allem Überfluss schien er nicht bereit, eine Konversation in Angriff zu nehmen. „Du ... Du wärst also eine Verlobung mit einer Wildfremden eingehen?“, fragte sie schliesslich zaghaft. „Aus Vernunfts-Gründen?“ Lu Ten betrachtete die unpassend grünen Gärten. Sie waren so voller Leben. „Aus einem anderen Grund ist es mir nicht mehr möglich.“, gab er schliesslich zu. „Was?“ Pippas brauchbares Knie gab den Geist auf. Schnell suchte sie nach einer Sitzgelegenheit. „Ist es zu spät?“, fragte sie mit zittriger Stimme. „Zu spät? Wofür?“ „Ich ... Hast Du ...“ Sie holte tief Luft. „Wenn ich gewusst hätte, dass Du mich nicht mehr ... Ich werd jetzt gehen!“, piepste sie und drehte sich zur Tür. Vielleicht würde sie es noch schaffen, den Raum zu verlassen, bevor sie mit dem Weinen begann. „Pineria?“ Sie stockte. Hoffte. „Ich hoffe, mein Vater hat Dich nicht zu sehr erschreckt.“ „Nein.“, würgte sie heraus. „Er war sehr nett. Wiedersehen.“ „Ich ahnte nicht, dass er von Deiner Existenz weiss.“ Das war zu viel! Die Tränen, die Pippa bisher nur die Sicht getrübt hatten, quollen über und stürzten in Bächen über ihre Wangen. So schnell wechselte er also von „Ich würde alles dafür aufgeben, bei Dir zu sein.“ zu „Hab doch glatt vergessen meinem Papa von Dir zu erzählen.“? Diese ganze Aktion war umsonst gewesen. Der Mut, die Hoffnung ... alles umsonst. Warum war sie auch so dumm gewesen, zu denken, er würde sich dem gleichen Gram hingeben, wie sie selbst? Vor Kummer nächtelang wach liegen? Nichts mehr essen? Für ihn gab es schliesslich hunderte Möglichkeiten, Tausende. Sie war nicht seine einzige Chance auf Glück. Sie hatte den Fehler begangen, von sich auf ihn zu schliessen ... So schnell ihr Bein es zuliess hastete sie vollends zur Tür. Und Lu Ten? Er stand da und hörte mit an, wie seine einzige Chance auf Glück den Raum verliess. Sein Kiefer und seine Kehle schmerzten vor Anspannung, während die Umrisse des sonnenbeschienenen Teiches sich in seine Netzhaut brannten. „Zuko?“ Eine energische Hand zupfte an der schweren Seide des Odoro. „Agni, Jin! Und Du behauptest ICH sei ungeduldig. Lassen wir sie noch ein paar Augenblicke allein. Dann kannst Du sie meinetwegen beide mit Beschlag belegen.“ „Ja, oh Gebieter. Ich hielt es nur für angebracht, Dich darüber zu informieren, dass Deine zukünftige Schwiegertochter sich eben davonschleicht, wie ein geprügelter Hund.“ „WAS?“ „Das mir dem allein lassen hat wohl nicht ganz hingehauen.“ „Dieser Idiot!“ „Sprich bitte nur von DEINEM Erbgut.“ „Jin, bitte!“ „Ja, schon gut. Ich kümmere mich um das Mädchen.“ „Gut. Ich hab einen Kopf zurechtzustutzen.“ Nachdem er geschlagene drei Minuten blicklos ins Leere gestarrt hatte, ging ein Ruck durch den Kronprinzen. `Wenn ich gewusst hätte, dass Du mich nicht mehr ...´ Moment mal ... nicht mehr was? Dass er WAS nicht mehr? „Hirnverbrannter Idiot!“, fluchte er laut. Die Seitentür flog auf. „Agni verleihe mir Geduld, aber ich habe Dich doch nicht zum Trottel erzogen!“, grollte Zuko. „Scheinbar doch.“, schnappte Lu Ten und stürmte an seinem Vater vorbei und riss die große Doppeltür auf. „Wo ist sie?“, herrschte er die Wachposten an. „Äh ... was?“ „Nicht was. Wer! Wo ist Miss Tutuk?“ „Ich ... weiss nicht, Hoheit. Die junge Dame ging in Richtung der Galerie.“ „Danke!“ „Jetzt fängt der auch noch mit dem Herumgerenne an.“, murrte Tomo. „Ja.“, seufzte sein Kollege. „Und wir müssen dann wieder aufpassen, dass uns keiner aus Versehen in die Lanzen läuft.“ „Jepp.“ „Verrückter Haufen.“ „Jepp.“ „Verzeihung!“, schnurrte die Stimme des Drachen drohend sanft. „Aber ist euch bewusst, dass der Chef des verrückten Haufens eure Unterhaltung mitanhört?“ Pippa wusste gar nicht, wohin sie lief. Sie wollte nur weg. Doch das war gar nicht so einfach hier. Als sie rechts abbog, erstreckte sich vor ihr ein Gang, auf dem sich bedauerlich viele Leute tummelten. Ihre Hand ertastete eine Türklinke und drückte sie. Musik. Eine Gum Jo? Dunkelrote Seide, ein Ruck, leichter Schmerz im Rücken und ein enges Gefühl an der Kehle. Als sie zitternd und erschrocken nach Luft japste, erstarb die Musik und der muskulöse Unterarm minderte den unangenehmen Druck gegen ihren Hals. Keuchend registrierte Pippa, dass sie gegen eine Wand gedrückt wurde, doch wenigstens ging die überbreite, Orden-behangene Brust jetzt ein wenig auf Abstand. „Ich glaube nicht, dass von diesem Gast große Gefahr ausgeht, Hauptmann.“, sagte eine warme Frauenstimme ruhig. Der besagte Offizier trat zurück und gab Pineria den Blick auf ein sonnendruchflutetes, großes Zimmer frei. Den vielen, unterschiedlichen Instrumenten zufolge offensichtlich ein Musikzimmer. In der Mitte sass eine junge Frau auf einem prächtigen Seidenkissen. Sie legte eben ihre bauchige Kniegeige zur Seite und erhob sich. „Ich wollte nicht stören!“, krächzte Pippa. Das alles war einfach zu viel! „Das tun Sie nicht. Hauptmann Nezu hat nur ein unüberwindbares Misstrauen gegenüber sich öffnenden Türen und Fenstern.“ Bevor der jungen Dame klar gemacht werden konnte, dass `Ich wollte nicht stören!´ ja eigentlich `Ich will hier weg!´ heissen sollte, wurde Pippa unnachgiebig sanft zu einer kleinen Chaiselongue gezogen und dort platziert. „Tee?“ Das verwirrte Opfer nickte, sah auf und sog überrascht die Luft ein. Vor Pineria stand das wohl schönste Wesen, das sie in ihrem gesamten Leben zu Gesicht bekommen hatte, und blickte sie besorgt an. Wie es sich wohl anfühlte, so auszusehen? „Zucker?“ „Ja ... bitte.“ Mit unnachahmlicher Grazie legten elegante Finger ein Stück Kandis in die hauchdünne Tasse, griffen nach einer Kanne und schenkten dampfenden Tee ein. Wie konnte man nur solche Hände haben? Als könnten sie längst vergangene Geschichten erzählen. „So. Bitte sehr.“ Das Lächeln der jungen Frau war so allumfassend, dass sich der kalte, verkrampfte Klumpen in Pippas Magen ein wenig löste. „Danke.“, flüsterte sie. „Gern geschehen.“ Eine zweite Tasse Tee wurde mit der gleichen, selbstvergessenen Sorgfalt zubereitet, wie die erste. „Sie sind Fräulein Tutuk, nicht wahr?“ Pippa, die eben fasziniert zugesehen hatte, wie die junge Grazie ihren Tee rührte, riss ihren Blick los und nickte wieder. „Weiss jeder hier über mich bescheid?“, fragte sie bang. „Aber nein. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Sorgen? Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Morgen würden sich die Leute im Palast nicht einmal mehr an sie erinnern. Sie schluckte und konnte es trotzdem nicht verhindern, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. Rasch wurde ihr die Tasse abgenommen und auf ein kleines Tischchen gestellt. „Was haben Sie denn?“, fragte die Geigenspielerin leise. „N ... nichts!“ „Wirklich?“ Die Augen dieser Person waren viel zu verständnisvoll. Sie zauberten ans Licht, was versteckt werden wollte, gemahnten an das, was vergessen werden wollte. „Ich ... möchte nach Hause!“ „Ich denke nicht, dass Sie das sollten. Nicht bevor Sie die Sache mit meinem Bruder ins Reine gebracht haben.“ „Bruder?“ „Ich bin Aya.“, sagte Ihre Hoheit sanft. „Ich sollte wirklich gehen!“, stammelte Pippa nach einer Schrecksekunde. „Was ist zwischen Ihnen und Lu Ten vorgefallen?“ „Nichts! Gar nichts! Ihr Vater hat sich getäuscht, das ist alles.“ „Getäuscht? Das tut er eher selten.“ „Aber ... aber er will mich nicht mehr!“ Nachdem diese Worte endlich raus waren, wurde Pippa von abgehackten Schluchzern geschüttelt und schlug beschämt die Hände vors Gesicht. Sie wurde in eine unwiderstehlich tröstliche Umarmung gezogen. „Nicht doch.“, murmelte Aya. „Das muss ein Missverständnis sein.“ „N ... nein. Er ...“ Hicks „... hat gesagt ...“ „Was hat er gesagt?“ „Dass er ... mich nicht mehr ...“ Hicks „LIEBT!“ „Waren das seine genauen Worte?“ „N ... nein. Aber er ...“ Hicks „... hat gesagt, dass ... dass er ... nur noch ... aus ...“ Hicks „Vernunftsg ... gründen h ... h ... heiraten kann!“ Aya versuchte, sich die Situation vorzustellen, während sie ihr bestes tat, die sogutwie-Verlobte ihres Bruders zu beruhigen. Sie brauchte nicht allzu lange, um das Dilemma zu erahnen. „Ich verstehe.“, sagte sie leise. „Hat mein Vater Lu Ten gesagt, dass Sie aus freien Stücken hierher gekommen sind?“ „N ... nein.“ Hicks „Ichweissnicht!“ „Nun, das ist wichtig. Solange Lu Ten denkt, Sie würden zu etwas gezwungen, wird er niemals damit einverstanden sein.“ „Aber er selbst w ... wäre doch eine Zwangsehe eingegangen.“ Das Schluchzen hatte ein wenig nachgelassen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass Miss Tutuk bereit war, den ein oder anderen Punkt noch einmal zu überdenken. „Ja. Das wäre er. Weil er für einen Erben zu sorgen hat. Aber er glaubt, er hätte Sie verloren. Darum ist es ihm egal, wen unser Vater für ihn bestimmt. Weil er die Frau ohnehin nicht lieben könnte. Verstehen Sie?“ „Ich ... nein.“ „Die einzig mögliche Liebesheirat wäre die mit Ihnen. Und er denkt, Sie wollen ihn nicht.“ „Das ... das TUT er?“ „Aber ja.“ „Aber ich ... ich WILL ihn ja!“ „Ich weiss.“, sagte Aya. „Nur muss er es auch wissen.“ Pippa nickte schwach, und wischte sich linkisch die Tränen vom Gesicht, als der Hauptmann sich beinahe aufs Neue genötigt sah, sich auf einem hereinplatzenden Eindringlich zu stürzen. Agni sein Dank erkannte er diesen Störenfried jedoch sofort und blieb unverrückbar wie ein Fels auf seinem Posten. „Pineria?“ Da ihr die dummen Tränen schon wieder in die Augen schossen, presste Pineria die Hände im Schoss zusammen und brachte kein Wort heraus. „Fratz, ich wollte nie sagen, dass ich Dich nicht mehr ...“ Angesichts der anwesenden Personen (es waren immerhin zwei zu viel) verstummte Lu Ten und räusperte sich. Aya verstand und erhob sich. „Da hätte ich doch fast meine Fechtstunde vergessen.“, murmelte sie entschuldigend. Als sie die Tür schloss, sah die Prinzessin noch einmal zurück, eine unerklärliche Wehmut in ihrem Blick. Doch das bemerkte zum Glück niemand. Pippa hatte viel zu weiche Knie, um aufzustehen. „Fratz ... Ich dachte Du ... Ich dachte er hätte es Dir befohlen. Ich dachte, Du willst das nicht. Und ich dachte ...“ „Du denkst zu viel!“, flüsterte Pippa tränenerstickt. „Viel zu viel!“ Sie hatte Recht. Also umfasste Lu Ten ihre Handgelenke, zog sie hoch und in die Arme. Für die nächsten Minuten dachte NIEMAND mehr in diesem Zimmer. Das war auch der Grund, warum die beiden den Rest ganz gut hinbekamen. Aya war noch keine zehn Meter weit gegangen, als man sie aufhielt. „Aya!“ „Papa.“ Lächelnd wartete die Prinzessin, bis ihr Vater aufgeschlossen hatte. „Begleitest Du mich ein Stück, Schatz?“ „Gerne.“ „Deine Mutter hat Fräulein Tutuk schon überall gesucht. Aber das Mädchen scheint zuerst Dir in die Arme gelaufen zu sein.“ „Zuallererst natürlich Hauptmann Nezu.“ „Oh nein! Gab es Verletzte?“, fragte Zuko mit einem spöttischen Seitenblick auf den bis auf die Zähne bewaffneten Kage seiner Tochter. „Nein. Nur Tee.“ „Ich nehme an, die Situation hat sich jetzt geklärt?“ „Ja, das hat sie.“ Zuko legte einen Arm um seine Tochter und drückte einen Kuss auf ihre Schläfe. „Das ist mein Flämmchen! Und Du meinst, sie kommen jetzt ohne Hilfe klar?“ „Nun ... als ich die Tür zugemacht hab, sah es ganz danach aus.“ „Dann wollen wir hoffen, dass Deine Mutter nicht mitbekommt, wo sie sind, sonst kriecht sie noch durchs Schlüsselloch.“ „Soll ich ihr das sagen?“ „Willst Du ohne Nachtisch ins Bett?“ „Himmel. Nein!“ Zwei Tage später In seinem Arbeitszimmer widmete sich der Kronprinz der überaus wichtigen Aufgabe, seine zukünftigen Ehefrau auf das höfische Leben mit all seinen Regeln und Pflichten vorzubereiten. Das tat er. Mit sehr großem ... äh, Enthusiasmus. Miss Tutuk - wie immer sehr verständig - wendete das Gelernte voller Eifer an. Mit anderen Worten: man knutschte selbstvergessen herum. Schweratmend und mit geröteten Wangen machte Pippa sich los. „Das ... das Küssen gehört also zu meinen wichtigsten Aufgaben als Ehefrau?“ , schnaufte sie. „Zu den allerwichtigsten!“ „Und was noch?“ „Nun, wenn es dunkel wird, dann ...“ „Lu TEN!“ „Du hast gefragt.“ „Schon. Aber DAS muss warten!“ „So?“ „Ja. Bis nach der Hochzeit.“ „Und die Tatsache, dass wir auf Tutuk schon aktiv waren?“ „Agni!“ Pippa wurde noch roter und begrub ihr Gesicht an seiner Brust. „Ich hatte wahrhaftig ein Techtelmechtel mit dem Thronfolger. Ich fasse es nicht!“ „Ich dachte, Wissenschaftler stünden über solchen Dingen.“, spottete besagter Thronfolger. „Das ... äh ... gilt nicht, wenn gekrönte Häupter involviert sind.“ „Ach.“ „Ja, ach! Sag mir lieber, was Deine Aufgaben als Ehemann sein werden.“ „Hm. Also zuerst natürlich das Küssen.“ „Auch?“ „Selbstredend. In einer Ehe sollte man immer an einem Strang ziehen.“ „Sehr lobenswert!“, nickte Fräulein Tutuk. „Eben. Und dann muss ich noch die ein oder andere Liste vervollständigen.“ „Liste?“ „Für die Statistik.“ „Welche denn?“ Da sie in just diesem Moment ihr Eulenblinzeln unter Beweis stellte, kam Lu Ten nicht umhin, zärtlich ihr Gesicht zu umfassen. „Zum Beispiel die über Sommersprossen. Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, sie alle zu zählen, Fratz. Ich bin grade mal bis zweihundertsiebenunddreissig gekommen.“ Sacht presste er die Lippen auf Sprosse 237, gleich neben dem Schlüsselbein. Pippa schmolz. „Ich bin wirklich froh, dass Dein Vater vernünftiger war als wir.“, seufzte sie. „Wir? Ich war die Vernunft selbst. DU wolltest nicht heiraten!“ „Ich wollte ja. Ich dachte nur ...“ Sie stockte, unsicher, ob sie dieses Thema ansprechen sollte. „Was dachtest Du?“ „Ich ... hatte Angst Dich zu blamieren.“ „Bitte? Blamieren? Du mich?“ Ungläubig starrte er sie an. „Das ist das Schwachsinnigste, das Du je gesagt hast.“ „Wirklich?“, fragte sie leise. „Du hast mich anfangs doch auch für verrückt gehalten.“ „Was?“ „Stimmt es etwa nicht?“ Sie forschte in seinen Augen. Lu Ten erinnerte sich an die ersten Tage seines Kurzexils. Zugegeben: ein-, zweimal war ihm dieses Wort durch den Kopf gegangen. Aber er war aufgebracht gewesen. Übellaunig. Voreingenommen. Er hatte es nie wirklich so gemeint. „Nein.“, antwortete er wahrheitsgemäss. „Ich hielt Dich für seltsam. Für anders. Aber nicht für verrückt. Und außerdem,“, fügte er hinzu. „hat sich herausgestellt, dass seltsam und anders genau das ist, was ich brauche.“ Er legte seine Stirn an ihre. „Die Zeit ohne Dich war ... leer. Endlos. Und irgendwie ...“ „Unwirklich.“ „Ja.“ „Ich weiss.“, flüsterte Pippa. „Mir ging es genauso. Allem Anschein nach wies ich fast alle bekannten Entzugserscheinungen auf.“ „Ah, Fratz. Jetzt muss ich Dich doch wieder zum Küssen verdonnern.“ „Mein Leben scheint ja wirklich aufreibend zu werden.“ „Natürlich. Aber dafür zeig ich Dir nachher auch Dein neues Labor.“ „Was? Oh! Können wir nicht gleich ...?“ Ihr strenger Ex-Assistent hob ungnädig eine Braue. „Tsts, Fräulein Tutuk. Ich muss doch sehr bitten. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ „Na gut.“, seufzte sie und schmiegte sich schicksalsergeben an ihn. „Tu, was Du tun musst.“ Während die beiden also diesem kaum überschaubaren Berg an Pflichten tapfer ins Auge blickten, sahen sich die Wächter des Palastes mit einem ganz anderen Problem konfrontiert. Die meisten von ihnen hatten in ihrem Leben schon so einiges erlebt und aufgehalten. Doch nun raste ein riesiges, fellbehangenes Etwas in einem solchen Tempo an ihnen vorbei, dass die Wandteppiche Schräglage bekamen. Wenn man es aufzuhalten versuchte, witschte es einem zwischen den Beinen hindurch, an gezückten Hellebarden vorbei und gallopierte auf Tellergroßen Pfoten munter weiter. Die Wachen riefen sich Warnungen zu, erschrockene Diener liessen stapelweise Geschirr fallen und unschuldig flanierende Hofdamen kreischten ängstlich auf. Der Aufruhr wurde immer größer. So groß, dass zu guter Letzt sogar die Kage, die persönlichen Leibwächter der fürstlichen Familie, allarmiert wurden. „Haltet das Vieh auf!!!“ „Verdammter ...“ „Um Gottes Willen, tut doch was!“ Mit ungebremster Energie raste das Monstrum weiter seinem Ziel entgegen. Und Erschreckenderweise schien dieses Ziel irgendwo in Richtung der Büroräume des Kronprinzen zu liegen. Einer der Palastwächter erkannte das tatsächliche Ausmass der Gefahr. „DER PRINZ!“, schrie er. „SCHÜTZT DEN PRINZEN!!!“ Fast zeitgleich mit diesen Worten krachte am entgegengesetzten Ende des Flurs eine Tür gegen die Wand und brachte die tödlichste Waffe Seiner Lordschaft ins Spiel. Hauptmann Takeru Nezu, Zukos Blutwolf. Der zur Zeit hochrangigste diensthabende Offizier der königlichen Leibgarde. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern spurtete der Kage der Katastrophe entgegen. Todesmutig. Präzise. Unaufhaltsam. Jetzt wussten alle: Entweder würde es tote Feinde geben, oder toten Leibwächter. Dem Prinzen würde jedenfalls kein Haar gekrümmt, soviel stand fest. Etwas anderes kam Hauptmann Nezu einfach nicht in die Tüte. „NACH LINKS!“, brüllte er Lu Ten an. Seine Hoheit, eben erst aus der Tür getreten, um die Ursache des ganzen Lärms zu ergründen, reagierte instinktiv. Wenn Nezu einen „bat“ nach links zu gehen, dann ging man nach links! Und zwar schleunigst. Er sah die rotgoldene Uniform an sich vorbei fliegen, hörte einen dumpfen Aufprall und dann wehleidiges Jaulen. Wehleidig? Jaulen? Bevor er die Situation jedoch klären konnte, brachte jemand anders sie erst so richtig durcheinander. „Was machen Sie denn da? Lassen Sie sie los!“ Der Hauptmann erinnerte sich dunkel an die Person, die seine Schultern so stümperhaft malträtierte. Doch da ihre Einmischung als irrelevant eingestuft werden konnte (ein kräftiger Huster von ihm hätte sie umgeworfen), ignorierte er sie kurzerhand. Statt dessen setzte er lieber das schraubstockartige Gebiss dieses Viehs außer Kraft, indem er die Schnauze umklammerte. „Lassen Sie meinen Hund los!“, zeterte Pippa. „Hören Sie bitte auf, mich zu schlagen, Miss, da ich Sie andernfalls in Gewahrsam nehmen muss.“ Dieser Mann klang so ungerührt, als bitte er um einen Schuss Milch in seinen Tee. Dass sie einen der seltenen Kaffe-Trinker vor sich hatte, konnte Fräulein Tutuk ja nicht ahnen. Zudem trank er dieses Gebräu stark, schwarz und so bitter wie irgend möglich. Hätten Dinge, die irgendwann aus einer Kuh getropft waren, diese geschmackliche Folter verunreinigt, hätte der Hauptmann sich genötigt gesehen, seinen Adjudanten zu entlassen. „Sie ungehobelter Mensch!“ Belustigt lehnte Lu Ten im Türrahmen und beobachtete, wie sein Waldkäuzchen sich mit dem kühnsten und gefürchtetsten Krieger des ganzen Reiches anlegte. Der Hauptmann hielt die Mimmi-Situation spielend unter Kontrolle, beziehungsweise im Nackengriff. Lediglich die junge Dame vor ihm veranlasste ihn zu einem leichten Stirnrunzeln. „Fräulein Tutuk ...“ „Sie ... Sie ... was verstehen Sie an dem Wort loslassen nicht?“ „Ich kann nicht zulassen, dass dieser Hund wild durch den Palast rennt.“ „Es ist doch nicht Ihr Palast!“ Pippa traf ein Blick, so eisig wie die ewigen Gletscher sturmumtoster Pole. „Nein.“, sagte der Kage kalt. „Nur meine Verantwortung!“ Das war dann doch etwas einschüchternd. „A ... aber Mimmi tut keinem was.“, versuchte sie es ein letztes Mal, mit deutlich weniger Wind in den Segeln. „Sagt wer?“ „Na .... ich.“ Seiner Hoheit entwich ein leises Lachen. „Lu Ten!“ „Hoheit.“ JETZT neigte der uniformierte Rüpel natürlich demütig das Haupt. „Probleme, Hauptmann?“ „Nein.“ „Nein?“, ereiferte sich Pippa. „Nein? Dieser Mensch da drangsaliert Mimmi. DAS ist das Problem.“ „Er tut nur seine Pflicht.“ „Pflicht? Es ist seine Pflicht wehrlose Hund zu foltern?“ Der wehrlose Hund versuchte gerade inbrünstig, sich im Leder dicker Militärstiefel zu verbeissen. „Gib auf, Fratz. Gegen dieses Bollwerk des Pflichtbewusstseins kommst Du nicht an.“ „Aber das ... ist Mimmi!“ „Ja. Und DAS ... ist Hauptmann Nezu.“ „Sie wollte doch nur zu Dir!“ „Wie wahr.“, räumte Lu Ten ein. „Hauptmann, Ihr könnt den Hund jetzt loslassen.“ Schneller als man `Tierschutz´ sagen konnte, lockerte sich der unbarmherzige Griff des Hünen. Da Mimmi besseres zu tun hatte, als es diesem fiesen Kerl heimzuzahlen, wurde er nur kurz angeknurrt. Sie wollte sich gerade auf ihr ursprüngliches Ziel stürzen, als dessen donnerndes „Platz!“ sie aufhielt. Eigentlich hatte sie diesmal keine Lust auf Gehorsam, doch ihre Hinterbeine sahen das anders, und knickten ein. „Braves Mädchen!“ Die meisten Zuschauer trauten ihren Augen nicht, als Prinz Lu Ten sich nun in die Hocke begab und dieses mehr-rassige Riesenungetüm freudig umarmte. Mimmi, direkt im Hundehimmel angekommen winselte enthusiastisch vor sich hin. „Ja. Ist ja gut. Du hast mir auch gefehlt.“, sagte Lu Ten und kraulte die flauschigen Ohren. „Da sehen Sie´s? Ganz brav ist sie!“ Stoisches Schweigen. „Sind Sie nicht der Mensch, der mich gestern gegen die Wand geworfen hat?“ „Ja.“ „WIE bitte?“ Lu Ten sah von einem zum anderen, stand auf und überliess der seligen Mimmi eine Hand zum bekauen. Der Leibwächter stand nur stumm da, in die aufmerksame Betrachtung des gegenüberliegenden Mauerwerks vertieft, und sah offensichtlich keine Veranlassung, sich zu verteidigen. Das liess wiederum nur einen Schluss zu. „Verstehe. Du bist gestern also einfach so ins Musikzimmer geplatzt.“ „Ich wusste ja nicht, dass überhaupt jemand da drin war.“, murmelte Pippa, jetzt ein wenig kleinlauter. Hauptmann Nezu hätte die ein oder andere ätzende Bemerkungen zum Thema Anklopfen einwerfen können, doch so etwas stand ihm nicht zu und so liess er sich nur ungerührt von den halb ungnädigen, halb belustigten Blicken des Kronprinzen durchlöchern. „Gut. Ich möchte eins klarstellen. Diese junge Dame wird in Zukunft nicht mehr gegen Wände geworfen!“ „Natürlich.“ „Auch vom Foltern unschuldiger Hunde bitte ich abzusehen.“ „Ja, Hoheit.“ „Ach, und Eure Stiefel sehen auch ziemlich mitgenommen aus.“, plagte Lu Ten den Offizier weiter. Jeder wusste, dass Takeru Nezu nicht einmal ein Staubkorn auf den Epauletten seiner Uniform duldete. „Ich werde sie entsorgen.“ „Ja. Tut das.“ Nach einer zackigen Verbeugung entfernte sich der Hauptmann. Als ihn niemand mehr sehen konnte, gestattete er sich ein kurzes, zufriedenes Lächeln. Der Kronprinz war endlich wieder der Alte. Hervorragend! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)