Die Söhne des Drachen von Xanderle (Fortsetzung von "Drachenherz") ================================================================================ Kapitel 1: Aber wehe, wehe, wehe, wenn ich auf die Prinzen sehe! ---------------------------------------------------------------- Zuko II war ein strenger, gerechter und unnahbarer Mann. Ein Mann mit unumstösslichen Grundsätzen. Er duldete weder Schlamperei, noch Nachlässigkeit. Zum großen Glück für alle, die seiner Gnade ausgeliefert waren, wurde diese Strenge durch ein tiefes Verständnis für die Schwächen der menschlichen Natur gemildert. Sich selbst gestand der Fürst allerdings nur wenige solcher Entgleisungen zu. Er war der schlichten Ansicht, in seiner Jugend mehr als genug Fehler begangen zu haben. Als Herrscher war er überaus klug, gerecht und gnadenreich. Als Vater überaus liebevoll, beschützend und geduldig. Nun hatte diese Geduld jedoch ihre Grenzen erreicht und DAS war immer genau der Augenblick, an dem eine der, zugegebenermaßen wenigen Schwächen Seiner Lordschaft zum Vorschein kam: ein ekliges, nahezu unberechenbares Temperament. Seine milde, wohlwollende Ironie wich beißendem Sarkasmus und seine gelassene Nachsicht, punktgenauer Kritik. Wenn er BESONDERS zornig wurde, steigerte er diese Umgangsformen bis hin zu ätzender Missachtung. In diesen Fällen ortete Zuko die Schwachpunkte seiner Opfer mit der Präzision einer Ultraschall geleiteten Flederratte. Im Augenblick war der Feuerlord wütend. Sehr wütend! Einer der Gründe für diesen Gemütszustand kauerte in Demutshaltung vor ihm. Die eckigen Bewegungen der tadellosen Stiefelspitzen seines Herrschers ließen den am Boden knienden jungen Mann überaus vorsichtig agieren. „Mein Lord...“ „Schweigt!“, zischte Zuko, „ich wünsche kein Wort mehr zu hören!“ Angesichts dieses Tonfalls schluckte Seine königliche Hoheit, Prinz Lu Ten Aang Tatzu, Erbe des Drachenthrons, hart. In diesem Schlamassel hätte er zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt stecken können, denn leider befand sich Lady Jin derzeit außer Landes. Und wie sich herausstellte, hatte ihre Abreise eine sofortige, rasante Talfahrt der fürstlichen Laune nach sich gezogen. Um es auf den Punkt zu bringen: Seit Mama nicht da war, hatte Paps eine Stinklaune! Da Mylady bereits seit dreizehn Tagen abwesend war, reichte nun schon die Lappalie einer entlaufenen Koalaschaf-Herde, den Gebieter der Flammen in ein absolutes Ekelpaket zu verwandeln. Ja, Babra, der ehrenwerte Bürgermeister von Kergram, hätte in der Tat keinen ungünstigeren Zeitpunkt wählen können, Lu Ten beim seinem Vater zu diffamieren. Doch nun beging der Beamte einen folgenschweren Fehler... Während die seltsamen, durchdringenden Augen des Regenten den Kronprinzen fixierten, mischte Babra sich ungefragt in das Geschehen ein. „Mein Lord,“, sagte er in überaus respektvollem Tonfall, „Ihr stimmt bestimmt mit mir überein, wenn ich vorschlage, Eurem Sohn einen kleinen Dämpfer zu verpa...“ Der legendäre, goldene Blick des Herrschers spießte Babra förmlich auf. „Sollte ich“, wie Samt schlich sich die Stimme Zukos in die Gehörgänge aller Anwesenden, „bezüglich meiner Kinder eines pädagogischen Rates bedürfen, werde ich mich umgehend an Dich wenden, Babra.“ „Nunäääh...“ „Schriftlich!“, setzte Seine Durchlaucht kalt hinzu. „Verzeiht Hoheit!“ Der Bürgermeister war klug genug, dem nichts hinzuzufügen. „Euer Dorf wird selbstverständlich eine großzügige Entschädigung erhalten. Und da ich rein gar nichts von fürstlicher Immunität halte, wird Lu Ten...“, der Genannte wagte es, kurz die Augen zu dem markanten, erbosten Profil seines Vaters zu erheben, „die Konsequenzen seines Handelns zu tragen haben, Dich nach Kergram begleiten und sich dort zu Deiner Verfügung halten. Soweit Deine Anweisungen zumutbar sind, wird er sie befolgen.“ „Vater, ich sollte Euch etwas sagen!“ Prinz Lee, der bislang unbewegt im Hintergrund gestanden hatte, trat einen Schritt vor. „Nicht jetzt“, knurrte Mylord. „Sei still!“, zischte Lu Ten seinem Bruder aus dem Mundwinkel warnend zu. „Nein! Ich werde nicht länger...“ „LEE!“ Mit diesem einzigen, strengen Wort brachte Zuko seinen Zweitgebohrenen zum Schweigen. „Aber... Mein Fürst ...“ Bürgermeister Babra, recht blass um die Nase geworden, ergriff zaghaft das Wort. „Was, Babra? Hast Du plötzlich Angst vor Deiner eigenen Courage?“ „Das... ist es nicht, Hoheit, aber... Er wird das ganze Dorf in helle Aufregung versetzten! ERNEUT!“ „Das,“, erwiderte Zuko genüsslich, „ist dann wohl Dein Problem. Du darfst Dich zur Abreise bereit machen, mein Sohn wird in einer Stunde soweit sein.“ Bis dato war Tato Babra noch nie Opfer eines Rauswurfs geworden. Es gibt jedoch für alles ein erstes Mal und so verneigte er sich hastig vor seinem Souverän und trollte sich. Zuko starrte ihm hinterher. Der Mann war zurecht aufgebracht. Niemand stand über dem Gesetz, und ein Mitglied des Fürstenhauses schon gar nicht! Da außer seinen beiden Söhnen und ihm selbst nur noch der ehrenwerte Konsul Tian Fu anwesend war, gestattete sich Agnis oberster Diener, seinem Unmut freien Lauf zu lassen. „Habt ihr beide auch nur die geringste Ahnung, WIE wütend ihr mich macht?“, knirschte Zuko und drehte sich zu ihnen. „Mir ein solches Possenspiel aufzutischen....! Wofür haltet ihr mich? Einen senilen, schwachsinnigen Narren?“ "Was?", schnaupte Lee. Die bloße Vorstellung, jemand könnte so unvorsichtig sein, war lachhaft. „Bestimmt nicht! Wir...“ „Glaubt ihr auch nur für eine Sekunde, ich wüsste nicht, wer der Urheber dieser kleinen Farce ist?“ „Ich wollte die Situation doch aufklären!“, verteidigte sich der jüngere der beiden Prinzen. „Wirklich, Lee? Hast Du es wirklich für ratsam gehalten, euren Mummenschanz vor dem Bürgermeister aufzudecken? Ich denke nicht, dass ausgerechnet das die Wogen geglättet hätte.“ Aufgebracht schritt Zuko auf und ab. „War es Deine Idee, zu behaupten, DU seist der Verursacher dieses Zwischenfalls?“, wandte er sich jetzt an den Erben seines Landes. Lu Ten nickte schicksalsergeben. „Dann verdienst Du auch diese Strafe!“ „Lu Ten wollte mich doch nur aus dem Schlamassel holen!“, rief Lee. „Schweig! Das Einzige, das ich DIR zugute halten kann, ist die Tatsache, dass Du bereit warst, die Wahrheit zu sagen. Dieser kleine Streich war eindeutig zu viel!“ „Aber, es ist doch nichts geschehen!“ „Ach WIRKLICH? Warum sagst Du das denn nicht gleich? Da hat der gute Bürgermeister die Geschichte also nur aufgebauscht? Dann darf ich annehmen, dass die Herde nicht durch das ganze Dorf getrampelt ist und dabei etliche Gärten und Äcker zerstörte?“ Der Tonfall Seiner Lordschaft war freundlich. ZU freundlich! „Äh... doch, aber...“ „Du darfst Dich jetzt entfernen!“ „Der Schaden lässt sich doch mit ein paar...“ „GENUG!“ Dieser gezischte, harsche Befehl war zu viel für den Stolz eines feuerblütigen Prinzen; zumal er sich eigentlich keinerlei unverzeihlicher Vergehen bewusst war. Lee verbeugte sich, ganz die gekränkte Unschuld, und stakste von dannen. Der Blick des Feuerlords fiel auf den immer noch knienden Kronprinzen. „Lu Ten... Wenn Du nicht möchtest, dass ich noch zorniger werde, stehst Du jetzt besser auf!“ Zuko ertrug es nur schwer, eines seiner Kinder in dieser Haltung zu sehen. Er hatte sie selbst all zu oft einnehmen müssen. Sein Sohn erhob sich schnell und geschmeidig. „Was auch immer Du glaubst, Vater, dieses Notlüge war nur für den Bürgermeister gedacht. Er war bereits ein wenig ungehalten, wegen Lees... äh, immenser Beliebtheit unter der weiblichen Hälfte der Dorfbewohner. Ich hielt es für besser, diesem Groll keine weitere Nahrung zu geben und so nahm ich die Schuld für die Sache mit den Schafen auf mich. Lee wollte das von Anfang an nicht.“ „Ich weiß sehr gut, was Lee wollte“, knurrte Zuko. „Er wollte seinen Spass! Ich möchte wetten, zum Vorspiel dieses kleinen Zwischenfalls gehörten eine laue Sommernacht, ein Heuboden und mindestens eine reizende Dorfschönheit. Und nun“, setze er kühl hinzu, „solltest Du besser packen gehen, der Bürgermeister wartet!“ „Gewiss!“, kam die resignierte Antwort. Als der große Raum komplett prinzfrei war, hielt der ehrenwerte Tian Fu es für angebracht einzuschreiten. Sein Fürst wirkte frustriert und ausnahmsweise müde. Tian stand schon seit der Krönung in den Diensten Zukos II und war nach all den Jahren durchaus in der Lage, dessen Körpersprache exakt zu deuten. Agni, wie lächerlich jung er damals gewesen war... Mit Achtzehn hatte er auf zittrigen Beinen vor dem gleichaltrigen Jungen gestanden, der am Vortag zum mächtigsten Mann der Feuernation gekrönt worden war. Er hatte bereits vieles gehört, über den Sohn Ozais, des Vernichters. Nicht nur Gutes. Helle, alles durchschauende Augen hatten ihn lange taxiert. So lange, dass Tian genau wusste: Er würde die Stelle nicht bekommen. Er war eben zu jung, zu unerfahren und viel zu idealistisch. Dann hatte der frisch gebackene Feuerlord den Mund geöffnet. „Du heißt also Tian? Gut. Du hast den Posten.“ „Ich... was? D...danke!! Euer Lordschaft!“ „Danke?“, hatte Zuko erstaunt gefragt. „Bis in spätestens einer Woche wirst Du mich dafür verfluchen! Das ist ungefähr die Zeitspanne, nach der selbst die geduldigsten Mitmenschen mir die Pest an den Hals wünschen.“ Durch die großen Fenster nach draußen starrend hatte er noch hinzugefügt: „Ich bin wohl nicht immer ganz einfach zu handhaben...“ Das war er wirklich nicht, aber Tian Fu hatte es keine Minute bereut, diesem ehrbaren, zielstrebigen Mann die Treue geschworen zu haben. Vor zehn Jahren hatte er sogar den Posten eines Kanzlers ausgeschlagen, da es in seinen Augen sehr viel aufregender war, sich mit den Grillen Seiner Lordschaft auseinander zu setzen, als einen langweiligen Posten im Kabinett zu besetzen. Er war jedoch ein wenig beleidigt gewesen, dass man ihn für so entbehrlich hielt und so hatte er in spitzem Tonfall dankend abgelehnt. Dann war dieses seltene, warme Lächeln über Zukos Gesicht gehuscht. „Agni sei dank, Tian! Wer sonst hätte denn bitte meine Sauklaue entziffern sollen, wenn nicht Du?“ Somit war alles wieder bestens gewesen. Momentan war von Zukos legendären Lächeln allerdings weit und breit nichts zu sehen. Im Gegenteil. Müde presste Mylord Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Tian hüstelte dezent. „Herr?“ „Ja, Tian?“ „Ich könnte den letzten Termin absagen. Eure gegenwärtige Stimmung scheint mir einer so delikaten Angelegenheit nicht... gerecht zu werden.“ „Warum, was liegt denn noch an?“ „Äh, ein Gespräch mit den Frauen des `Fördervereins für bändigungsfreie Zonen in Teehäusern´.“ „War das nicht etwas, um das meine Frau sich kümmern wollte?“ „Ja... doch, sie ist...“ „Nicht da!“ ergänzte der Strohwitwer seufzend. Wer wüsste das besser als er? Schließlich war er derjenige, der in Abwesenheit eines bestimmten, vorlauten Koboldes unter eklatantem Schlafmangel litt. Er konnte es nun mal auf den Tod nicht ausstehen, wenn er nicht wusste, ob es ihr gut ging... Und die klitzekleine Tatsache, dass er seine Nase nicht in ihrem duftenden Haar vergraben konnte, um zur Ruhe zu kommen, spielte mit Sicherheit auch eine Rolle. Einige Marmor-Mauern weiter weg betrat Lee das Zimmer seines Bruders. Ohne anzuklopfen. Ein Umstand, der kommentarlos hingenommen wurde. Ein schlechtes Zeichen; Je mieser Lu Tens Laune war, umso weniger sprach er. „Du packst selbst?“ Ein grob gewebter, warmer Wollmantel wurde mit warnendem Nachdruck in eine geräumige Tasche gepfeffert. „Ich.. äh... hätte nicht gedacht, dass Papa so überreagiert“, machte Lee einen erneuten Vorstoss in Richtung zwischenbrüderlicher Kommunikation. „ÜBERREA...?“ Lu Ten holte tief Luft. „Wenn Du weißt, was gut für Dich ist, verschwinde!“ „Lu! Das Ganze ist doch nicht meine Schuld!“ „Nicht Deine Schuld? WER musste sich denn mit dieser Schäferin auf dem Heuboden herumwälzen?“, fauchte der Kronprinz, dessen Laune ohne Vorwarnung von total mies zu wirklich beschissen wechselte. „Aber sie sagte, es wäre okay, die Viecher sich selbst zu überlassen!“ „ACH JA? Und wie immer hat Dein Hirn beim Anblick eines Weiberrocks seine Tätigkeit komplett eingestellt?!?“ „Sie... hatte einfach ein verflixt hübsches Hinterteil. Ich meine...“ „DU KANST DEIN EIGENES HÜBSCHES HINTERTEIL GLEICH SPAZIERENTRAGEN, DENN SONST WIRD ES GLEICH HÜBSCH BLAU-GRÜN WERDEN!“, brüllte Lu Ten. Jetzt wurde Lee die Sache zu dumm! „ACH JA?? KEINER HAT DICH GEBETEN, DEINEN FEHLERLOSEN, BRAVEN THRONFOLGER-ARSCH FÜR MICH HINZUHALTEN!!!“ JETZT, wiederum, wurde Lu Ten die Sache zu dumm! Er machte einen drohenden Schritt auf seinen jüngeren Bruder zu. Sie boten ein recht beeindruckendes Bild, wie sie da standen und sich gegenseitig anfunkelten. Die Beiden glichen sich sehr, waren ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten (sehr zur Freude Lady Jins) und besassen mittlerweile auch dessen Größe und Statur. Lu Ten hatte die goldenen Augen seines Vaters geerbt und war ebenso zurückhaltend wie dieser. Sein Gesicht trug zumeist den Ausdruck ernster Würde. Es galt als eher anspruchsvolles Unterfangen, ihm ein Lächeln zu entlocken. Lee dagegen, brach für gewöhnlich gerade dann in brüllendes Gelächter aus, wenn man es am wenigsten erwartete. Nicht selten eckte sein skurriler Sinn für Lächerlichkeit bei den Leuten an. Doch sein grüngoldener Blick galt als `hinreißend´ und verfehlte die Wirkung auf die Damenwelt so gut wie nie. Kam ihm unerwarteterweise doch ein skeptisches Exemplar der Gattung Frau unter, genügte ein einziges spitzbübisches Grübchenlächeln, um sie von seinen inneren Werten zu überzeugen. Lee war nicht unbedingt charmanter als seine Brüder, aber er setzte diesen Charme bei weitem skrupelloser ein. „Sagt mir Bescheid, wenn ihr gedenkt, euch gegenseitig umzubringen“, sagte eine gelassene, spöttische Stimme von der Tür. „Dann lasse ich zwei Gedecke weniger auftragen.“ „Vater...“ „Lee, ich würde gerne mit Deinem Bruder sprechen. Du darfst ebenfalls packen gehen.“ „Packen?“ „Sicher. Denkst Du allen Ernstes, ich bürde Lu Ten Deine Strafe auf und lasse Dich Däumchen drehen?“ „Aber...“ „Was, aber?“ „Himmel, es waren doch nur Schafe!“ Zukos Augen verengten sich unheilverkündend. Er zählte bis sieben, explodierte dann aber trotzdem. Nun zeigte sich, dass der Drache immer noch eindrucksvoller zu brüllen vermochte, als sein in dieser Hinsicht noch recht dilettantischer Nachwuchs. „NUR SCHAFE? HAST DU AUCH NUR DIE GERINGSTE VORSTELLUNG DAVON, FÜR WIE VIELE MENSCHEN GENAU DAS DIE LEBENSGRUNDLAGE DARSTELLT?“ Lee schluckte. Da war heute aber jemand mit dem falschen Fuss aufgestanden... „Schön!“, knisterte Papa Feuerfuzzi. „Diese Bemerkung zeigt mir wenigstens, wie bitter nötig Du eine kleine Abreibung hast. Geh packen! Eigenhändig! Für die nächsten acht Wochen keine Dienerschaft!“ „ACHT W...“ „SOFORT!“ „Fein!“ Lee straffte sich. „Dann will ich nicht weiter beim Betütteln Eures perfekten Thronfolgers stören und erspare Euch fürderhin meinen Anblick!“ Er stolzierte aus dem Zimmer. Lu Ten, des goldenen Brodelns in den Augen seines Vaters gewahr, beeilte sich die Wogen des königlichen Zorns zu glätten. „Er meint es nicht so!“, murmelte er hastig. „Doch!“, stieß Seine Lordschaft betroffen aus. „Doch, das tut er. Aber darum werde ich mich gleich kümmern.“ Er sah seinen Ältesten an. „Bürgermeister Babra verlässt und in einer halben Stunde." „Ja.“ „Um keine Unruhe zu verursachen, hält er es für besser, Dich bei seinem Bruder in Karia unterzubringen. Inkognito, selbstverständlich. Finde Dich bitte pünktlich auf der Flugplattform ein.“ „Gut“, seufzte Lu Ten. „Du weißt, dass mir nach eurer Scharade nichts anderes übrig bleibt, als Dir diese Strafe aufzubrummen.“ „Ja.“ „Hältst Du sie für ungerechtfertigt?“ „...nein.“ „Ah... Du zögerst?“ „Nicht wirklich. Ich habe die Schuld auf mich genommen, also muss ich wohl auch die Konsequenzen tragen.“ „Du denkst also nicht, Du hättest sie auch ein bisschen verdient?“, wollte Zuko milde wissen. „Verdient?“ „Lu Ten, Du kannst nicht ständig den großen Bruder spielen! Lass Lee seine eigenen Fehler machen. Akzeptiere sie, denn er selbst kommt sehr gut alleine damit klar. Vieles, was Du für Fehler seinerseits hältst, sind vielleicht gar keine. Du denkst, sein Verhalten sei oft ungebührlich? Zu würdelos, zu unüberlegt, zu volksnah? Nun, hast Du schon darüber nachgedacht, dass Du all dies eventuell zu wenig bist?“ „BITTE?“ Zuko seufzte. Er hätte diese Entwicklung wirklich eher sehen müssen. Der Kronprinz hatte einen - wenn auch nur sehr leicht ausgeprägten - Standesdünkel ausgebildet, der seinen Vater fatal an die eigene Jugend erinnerte. „Du bist Dir Deiner Stellung allzu bewusst, Lu Ten!“ „WAS? Ich bin mir nur der VERANTWORTUNG bewusst, ganz im Gegensatz zu Lee!“ Jetzt war Zuko sich sicher, dass es beiden Söhnen gut tun würde, ihre Nasen in das Treiben eines bürgerlichen Alltags zu stecken. Lee mochte es zwar ab und an zu bunt treiben und keinen blassen Schimmer von der Härte eines langen Arbeitstages haben, aber er hatte einen guten Draht zu den Menschen. Lu Ten, hingegen, war zwar nicht hochmütig, so aber doch ein bisschen zu... erhaben. Oder, wie Jin es auszudrücken pflegte: „Er ist vom Scheitel bis zur Sohle Dein Sohn, mein Gebieter. Demnächst könnt ihr Euch beim gepflegten Teeschlürfen mit anschließendem Nudelstricken Gesellschaft leisten.“ Agni! Er vermisste seinen Frechdachs wirklich mehr, als er sagen konnte! „Im Leben gibt es auch noch andere Dinge, als Verantwortung, Lu Ten“, sagte der pflichtbewussteste aller Feuerlords, seit den Tagen Wus, des Überarbeiteten. „Wenn Du in Deinem Amt nur eine Bürde siehst, wirst Du dem Volk nicht gerecht werden.“ „DU bist doch derjenige, der mich gelehrt hat, wie wichtig Verantwortung ist!“ Der Erbe des Drachenthrons verstand die Welt nicht mehr. Um wie viel mehr sollte er sich denn noch anstrengen, um allen Erwartungen gerecht zu werden? „Du verkrampfst!“ meinte sein Vater prompt. „Und Du missverstehst mich. Ich will Dich nicht unter Druck setzten, Lu Ten. Das tust Du selbst zur Genüge. Du bist erst fünfundzwanzig! Lass Dir mehr Zeit, diese Dinge zu lernen. Sie kommen nicht über Nacht. Aber ich bin mir sicher, dass Du dafür weitaus mehr Talent besitzt, als ich.“ „Mehr? Wohl kaum. Deine Untertanen lieben Dich auf geradezu unfassbare Weise.“ „Ja. Und ich habe mich wirklich lange gefragt, warum das so ist. Die Menschen reagieren auf das, was man ihnen gibt. Herrsche durch Angst und Hass, so werden sie sich ängstigen und Dich hassen. Bist Du ein pflichtbewusster Herrscher, wirst Du pflichtbewusste Untertanen haben. Wenn Du sie aber respektierst und liebst, werden sie es erwidern.“ „Na wundervoll!“, knurrte Lu Ten, „Du klingst wie Lee. Er wirft mir auch immer vor, dass ich zu wenig Gefühle zeige!“ „Oh, ZEIGEN musst Du sie nicht!“, beschwichtigte sein Vater. „Und bedenke, WER Dir das vorwirft. Hat dieser Hitzkopf es wirklich geschafft in nur einer Nacht ganz Kergram in Aufregung zu versetzen?“ „Das und beide Nachbardörfer ebenfalls!“, stöhnte der Prinz. „Verdammter Teufelskerl!“, brummte Seine Lordschaft anerkennend. Lu Ten verdrehte die Augen, wurde aber trotzdem in eine zermalmende Umarmung gezogen. „Pass auf Dich auf, mein Sohn!“ „Werd´ ich.“ Zuko malte mit dem Daumennagel das Zeichen einer Flamme auf die Stirn seines Kindes und erbat so Agnis Seegen auf dessen Haupt. „Wir werden Dich vermissen.“ „Ich werde zweifellos das Essen vermissen!“ „Ach...?“ „Die Familie natürlich auch“, räumte Lu Ten großzügig ein. Kurze Zeit später kümmerte sich Zuko um sein zweites Problem. Dieses Problem war ziemlich eingeschnappt und warf wahllos Kleidungsstücke in eine Art Seesack. „Lee...“ Der Prinz versteifte sich. „Vater? Möchtet Ihr mich zur Eile gemahnen? Keine Sorge, ich mache schon so schnell ich kann.“ „Eigentlich möchte ich über Deine Bemerkung von vorhin reden.“ „Oh. Sollte ich mich Euch gegenüber respektlos betrage haben, tut es mir sehr leid, Hoheit.“ „Lee! Du weißt, wie ich derartige Formalitäten verabscheue.“ „Bitte um Verzeihung. Ich bin leider kein solcher Musterknabe wie Dein Erbe. Es fällt mir manchmal schwer zu unterscheiden, ob ich mit meinem Vater spreche, oder mit meinem Lord. Den Mund hab ich wohl in beiden Fällen zu halten...“ Vater und Lord sogen bei diesem Vorwurf scharf die Luft ein. „Schön!“, murmelte Zuko rau. „Dann sprich Dich am besten ganz aus. Inwieweit habe ich Dich noch enttäuscht? Glaubst Du wirklich, ich würde Lu Ten bevorzugen?“ „Nein“, gab Lee stockend zu. „Aber... ich scheine immer unter besonderer Beobachtung zu stehen. Ich weiß ja, dass meistens ich derjenige bin, der die Schwierigkeiten macht. Und ich hab selbst nicht mal den blassesten Schimmer, warum“, rief er, gar nicht wissend, auf wen er nun wütend sein sollte. Zuko betrachtete seinen Zweitgeborenen. Wahrscheinlich WAR er ungerecht, denn diesem Sohn galt tatsächlich sein besonderes Augenmerk. Doch das war etwas, gegen das er beim besten Willen nicht ankam. Seit Prinz Lees erstem Geburtstag war Mylord übervorsichtig, denn dieses Kind hätte er damals beinahe verloren. Und als sei es nicht genug, dass der Junge mit grade mal einem Jahr vom Geist eines Urahnen heimgesucht worden war, hatte er mit vier Jahren auch noch Anfälle bekommen, für die die Ärzte keinerlei körperliche Gründe gefunden hatten. Eine Erklärung hatte erst Avatar Aang liefern können. Kam es in zu jungen Jahren zu einer intensiven Begegnung mit der Geisterwelt, konnte dies eine Art Epilepsie zur Folge haben, die - Agni sei Dank - mit Nachtwurz und Geistmohn behandelt werden konnte. Solange Lee diese Tinktur einnahm, bestand keinerlei Grund zur Sorge. Seine Eltern sorgten sich trotzdem. Selbstredend. „Du hast leider das Pech mein beklagenswertes Temperament zusammen mit dem grenzenlosen Übermut Deiner Mutter geerbt zu haben“, murmelte Zuko. „Was für ein Schlamassel das für Dich ist, mag ich mir gar nicht vorstellen.“ „Und trotzdem soll ich jetzt irgendeine dämliche Lektion lernen? Was ist, wenn der gewünschte Lerneffekt nicht eintritt? Werde ich dann erneut fort geschickt?“ `Ich werde Dich Respekt lehren!´ Zuko runzelte die Stirn, als die Stimme seines Vaters durch seinen Kopf streifte. Auch Ozai war davon überzeugt gewesen, seinem Sohn etwas wichtiges beibringen zu müssen, war davon überzeugt gewesen, das Richtige zu tun. „Du hast Recht“, sagte Seine Lordschaft nach einiger Zeit ruhig. „Du kannst wieder auspacken.“ „Ich... muss nicht gehen?“ „Nein.“ „Was? Warum?“ „Vor langer Zeit habe ich selbst eine aufgezwungene Lektion erhalten. Sie lehrte mich allerdings das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war.“ Lee wusste sofort, worauf sein Vater anspielte, denn in der rauen Stimme lag die gleiche Tonlosigkeit wie immer, wenn Zuko über Ozai sprach. „Das ist absurd, Papa! Ich könnte nie lernen, Dich zu missachten. Keines Deiner Kinder könnte das! Und... ich weiß auch sehr gut, dass ich einen Dämpfer verdiene. Also setzt um Agnis Willen endlich wieder Deine strenge Miene auf und schick mich dahin, wo der Pfeffer wächst.“ Für diese Selbstjustiz wurden Lee beinahe zwei Rippen gebrochen. „Ich wünschte wirklich, Du würdest Dir ein paar Maitressen zulegen, wie Lu Ten, dann hätte ich deutlich weniger Scherereien. Deine Mutter wird mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn sie erfährt, dass ich euch beide ins Kurzexil geschickt habe.“ „Und ich werde nicht mal da sein, um das zu sehen...", seufzte Lee resigniert. "Wohin geht meine Reise eigentlich?“ Zuko legte nur den Kopf schief, lüftete spöttisch seine Braue und wandte sich zur Tür. „Das sage ich Dir, bevor Du abfliegst... Ach, und Lee?“ „Ja?“ „Lass BITTE diesen grässlichen, monströsen Mantel hier, den Du für modisch erachtest, sonst laufen die Koalaschafe bei Deiner Ankunft gleich herdenweise davon.“ Lee seufzte. Es war beileibe nicht einfach, als einziger in der Familie mit modischem Gespür gesegnet zu sein. An diesem Abend war der Feuerpalast still. Viel zu still. Ein Umstand, der dem Hausherren gewaltig gegen den Strich ging. Vielleicht sollte er Jin nach Hause holen... Es wäre immerhin möglich, zu behaupten, die Zwillinge hätten Keuchhusten, oder so. Der Brief Ihrer Ladyschaft, der mit dem Abendkurier gebracht und umgehend geöffnet wurde, machte diese Vorstellung noch verlockender. `Mein herzallerliebster Feuerspucker!´ (Schon ihre verrückten, immer neuen Anreden verbesserten Zukos Laune ganz erheblich!) `Ich hoffe sehr, es geht Dir gut und Du arbeitest nicht zuviel! Mein eigenes Befinden ist ziemlich angebracht. Offen gesagt ist es also ziemlich gelangweilt. Bist Du wirklich der Meinung, diese `Konferenz´ hier wäre nötig, um die diplomatischen Beziehungen zu festigen? Ich fand sie eigentlich fest genug... Zugegebenermaßen ist die Gegend hier ganz wundervoll. Ebenso wie das Essen, und die Betten (na ja, nachts sind sie leider etwas kalt...) und all das Trallala. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich für die Diplomatie tauge. Die Frauen hier haben die seltsamsten Themen. Wie kann man nur stundenlang über Textilien quasseln, und doch SO wenig davon verstehen? Die Frau des Herzogs von Quan löste einen Riechsalz-Notstand aus, als ich ihr sagte, dass die schöne Seide ihrer Tunika aus den Hinterteilen kleiner Raupen stamme. So gesehen hab eigentlich ICH diesen Notstand ausgelöst. Du solltest wirklich herkommen, und mich schimpfen, denke ich! Am besten schon morgen, sonst stelle ich hier noch die Weltordnung auf den Kopf. Aber Du weiß ja, dass ich nur einen Vorwand suche, um Dich herzulocken, also bleib schön wo Du bist und mach Dir keine Sorgen, denn mir geht es gut, bis auf die Tatsache, dass ich Dich ganz schrecklich vermisse. Doch bevor ich zu jammern anfange, sollte ich wohl besser Schluss machen. Bitte arbeite nicht so viel! Ich werde Tian fragen, also sei lieb! Fühle Dich mit Küssen überschüttet und aufs heftigste umarmt, mein Lord! Dein frierendes Weib! P.S.: Wehe, Du arbeitest zu viel! Und wehe Du vermisst mich nicht ebenso!´ Ja, selbst tausende von Meilen entfernt schaffte es das ehemalige Fräulein We aus Ba Sing Se ein Lächeln auf das Gesicht des Drachen zu zaubern! Kapitel 2: Dreiwetter-Prinz --------------------------- Luftraum der Feuernation Wie ein dunkles Banner flatterte die schwarze Mähne des Kronprinzen im eiskalten Höhenwind. Eine der dicken, seidigen Strähnen wurde quer über seine an Aristokratie kaum zu überbietende Nase geweht und stoisch ignoriert. Seine Hoheit meditierte. Und das schon seit eineinhalb Stunden! Babra, der Bürgermeister von Kergram, rutsche unruhig hin und her. Diese ganze Sache wuchs ihm mehr und mehr über den Kopf! Was war ihm nur eingefallen, Seiner Lordschaft in die Erziehung seiner Söhne hineinreden zu wollen? Da saß er nun, flog mit seinem überaus königlichen und überaus unnahbaren Anhängsel nach Hause, wo seine drei Töchter sich mit Sicherheit überschlagen würden, dem Fürstensohn jeden Wunsch von den ach so goldenen Augen abzulesen. Babra verspürte den Drang, an seinen Fingernägeln zu kauen. Der junge Mann vor ihm hatte aber auch wirklich eine bezwingende Aura, alle Achtung. Prinz Lu Ten strahlte die gleiche, kompromisslose Autorität aus, wie sein Vater. Selbst der große Drache, der sie beide trug, schien nervös zu sein. „Ist... ist Euch nicht kalt, Hoheit?“ „Nein.“ Lu Ten verharrte trotz der Störung in seiner Lieblingshaltung; Aufrecht sitzend, ein Bein untergeschlagen, das andere ausgestreckt, die entspannt geöffneten Hände im Schoss ineinander gelegt. „In einer Stunde müssten wir da sein. Oder so.“ „Hm.“ Babra räusperte sich. Himmel. Hatte dieser einsilbige Stoiker da wirklich ganz Kergram aufgemischt? Alles in Allem hätte man ein so unbedachtes Verhalten nie mit dem ältesten Sohn der Tatzus in Verbindung gebracht. Er galt normalerweise als überaus vernünftiger, pflichtbewusster junger Mann. Der Lauser der Familie war eigentlich Prinz Lee. Den Rest des Fluges verbrachte Babra in vorsichtigem Schweigen. Den Rest des Tages verbrachte er in der Hölle. Nicht nur, dass es in Kergram wie immer höllisch heiß und höllisch trocken war, nein, schon auf dem kurzen Weg von der kleinen Flugplattform zu seinem Haus verursachte Babras `Besuch´ den einen oder anderen Zwischenfall (Der harmloseste forderte das Ableben eines alten Wasserkruges). So war es schon letzte Woche gewesen. Anfangs war ja nicht viel vorgefallen. Unter den tuschelnden Frauen des Ortes war nur von zwei teuflisch attraktiven, aufregenden Burschen die Rede gewesen. Ganz plötzlich schien jedes einzelne, heiratsfähige Fräulein etwas überaus wichtiges im Gasthaus zu tun zu haben. Die Verheirateten waren aus reiner Neugier und Solidarität gleich mitgekommen. DANN hatte einer dieser Trottel, deren Ortsvorsteher Babra war, die beiden hohen Herren erkannt. Das war der Zeitpunkt, an dem erwartungsvolle Aufregung in pure Hysterie umgeschlagen war. Die Prinzen waren los und das ruhige Dorf war zum Hexenkessel geworden. Zumindest für den Bürgermeister, der Ruhe, Ordnung und Beschaulichkeit liebte. Seine Mitbürger hingegen sonnten sich in dem Wissen, zwei Ableger ihres zutiefst geliebten Herrschers zu beherbergen. Die Männer staunten über Lees Bodenständigkeit, die Frauen über sein aufmerksames Wesen. Man lobte seine Trinkfestigkeit und seinen Charme. Lu Ten hingegen hatte sich sehr viel zurückhaltender gezeigt und wurde aus respektvoller Distanz bewundert. Ja, bis zu dem unglückseligen Vorfall mit der Schafherde hatte Babra den Kronprinzen um einiges besser leiden können als dessen jüngeren Bruder, der eh nur das Weibsvolk kirre machte. Aber so war das eben, der Schein konnte trügen, man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben und stille Wasser waren tief. Blablabla! Im Moment versuchte Babra nur, so schnell wie möglich ins Haus zu kommen. Seine Hoheit schien, Agni sei Dank, das gleiche Bestreben zu haben und klebte ihm förmlich an den Hacken. „Bürgermeister? Warum hast Du nich gesagt, dass so ein hochnobliger Besuch kommen tut?“, keuchte jemand hinter ihnen. „Bürgerm...?“ Mit einem lautem RUMMS schlug Babra die Tür zu. „Geschafft!“, schnaufte er. „In der Tat“, kam es ruhig zurück. Ach ne... der Bursche konnte also mehr als zwei Worte aneinander reihen? „AKEMI?“ Leichtfüßige Schritte waren zu hören. „Ja, Pa ...“ Die älteste der sprichwörtlich hübschen Töchter Meister Babras erstarrte mitten in der Bewegung. Anmutige Hände flatterten zu zart erröteten Wangen „... pa?“ „Würdest Du das Gästezimmer zurechtmachen?“ „Natürlich“, hauchte das Mädchen. Ihr Vater wandte die Augen gen Himmel. Ihm schwante Übles. Wenn schon Akemi sich so gebärdete, was war dann von den anderen zu erwarten? Es hämmerte an die Haustür. „Babra?“ Der Herr des Hauses ignorierte den spontanen Besucher. Der ließ allerdings nicht locker und drosch weiter auf die Tür ein. „Wollt Ihr nicht öffnen?“ Lu Ten, der mit verschränkten Armen dastand, konnte sich einen Hauch Schadenfreude nicht verkneifen. „BABRA?“ „Verschwinde Gao! Es ist keiner da!“ „Ich hab euch doch gesehen.“ „Hast Du nicht! Und jetzt zieh Leine!“ „Aber ... Du hast da drin eine Royalität!“ „HAB ICH NICHT!“ „Du lügst doch!“ „VERPISS DICH!“, schrie Babra. „Entschuldigt die Ausdrucksweise, Euer Hoheit“, murmelte er anschließend. „HA!“, kam es von draußen. „ALSO DOCH!“ „Gao!“, knurrte der Bürgermeister. „Hör auf Dein Ohr an meine Tür zu pressen und verzieh Dich endlich!“ „Schön! Fein! Aber, mein Zaun is IMMER NOCH kaputt“, maulte der Lauscher. „Nich, dass ich Euch das vorwerfen würde, Euer Prinzlichkeit. War eben ein Unfall, nich wahr?“ „Gao war Dein Name?“, mischte Lu Ten sich nun ein. „Ja, Euer Nobligkeit.“ „Dein Zaun wird ersetzt werden.“ „Oh! Toll! Das is... Wollt Ihr vielleicht an unsrer Tanzveranstaltung teilnehmen, Herr?“ „Was für ne Tanzveranstaltung?“, fragte Babra nun pikiert. „Es ist keine geplant.“ „Jetzt schon!“, kam die Antwort durch die Tür. „Warääh... war ein spontanischer Entschluss.“ „Ach ja? Seine Hoheit hat besseres zu tun, als schon wieder auf einem unsrer Heuböden herumzuhopsen. Spontan, oder nicht. Und jetzt verschwinde!“ „Pf! Dann eben nich!“ Mit diesem Worten dampfte der hartnäckige Bittsteller ab. Erleichtert wandte Babra sich ab, jedoch nur, um in ein dezent hochmütiges Gesicht zu blicken. „Schon wieder?“, fragte Lu Ten eisig. „Was meintet Ihr mit `Schon wieder´?“ „Öh... Ich meine nur. Wegen... na ja... schließlich WART ihr mit dem Mädchen auf einem Heuboden.“ Das konnte schlecht geleugnet werden, ohne eine Lüge zuzugeben, also hielt man den Mund. Die nächste Hürde erwartete den Bürgermeister im Flur. Die Damen des Hauses hatten sich zusammengerottet und kicherten im Kollektiv. Selbst seine geschätzte Gattin gebärdete sich wie ein Backfisch. Agni! Je schneller er seine fürstliche Bürde los wurde, umso besser. „Ist das Gästezimmer fertig?“, blaffte Babra. Die Frauen schreckten auf. Sofort hefteten sich andächtige Blicke an strenge, stolze Gesichtszüge. „Ja, Papa“, flötete Akemi „Ist es auch gelüftet?“ „Sicher, Papa.“ „Gut! Hier lang, Hoheit.“ Im Vorbeigehen fiel Babra etwas auf. „Jemma, Kind, hast Du was im Auge?“, fragte er süffisant. „N .. nein, Papa.“ Jemma wurde puterrot und stellte das Wimpernflattern vorerst ein. Im oberen Stockwerk maulte der Bürgermeister Dinge vor sich hin, die in ungefähr so klangen wie: „Verflixte Weiber, möcht nur wissen, was in die gefahren ist?“ Er öffnete eine Tür. „So, Hoheit. Ist unser bestes Zimmer. Ich hoffe, hier werdet Ihr nicht gestört.“ „Ihr hofft? Haltet Ihr es für ratsam, abzuschließen?“ Ein beinahe entsetzter Blick, dem ein resignierter Seufzer folgte, streifte Lu Ten. „Ich glaube ni... besser wär´s vielleicht. Habt Ihr noch Hunger?“ „Nein!“, log Lu Ten schnell. Lieber magerte er zu einem Gerippe zusammen, als Gefahr zu laufen, mit einer dieser Frauen allein in einem Zimmer zu sein! Immerhin hatte er vorausschauenderweise eine Notfallration mitgenommen. Das wirklich komische an dieser Situation war die Tatsache, dass, laut Onkel Iroh, die Sitten früher sehr viel lockerer gewesen waren. Frauen war nicht sofort der Gedanke an Heirat gekommen, sobald sie eines Mannes ansichtig wurden. Es hatte durchaus zum guten Ton gehört, `Spaß´ zu haben. Als verwerflich galt es zwar immer noch nicht, doch versuchten jetzt sehr viel mehr junge Damen, voreheliche Aktivitäten weitgehend zu vermeiden. Ein Verdienst Lady Jins, zweifellos! Mylady hatte die feuernationale Freizügigkeit zwar nie kritisiert, aber ihr liebevolles, überglückliches Selbst war ein so strahlendes Beispiel für die Auswirkungen völliger Monogamie, dass ganze Heerscharen von Frauen ihr nun nacheiferten. Mit anderen Worten: Zuko Tatzus prüder, frecher Kobold hatte die Moral wieder in Mode gebracht. Und als der älteste Sohn von Lord und Lady Turteltaub konnte Lu Ten wohl kaum damit anfangen, jede sich bietende Gelegenheit beim Schopfe zu packen, wie verlockend sie auch sein mochte. Sein kleiner Bruder sah die Sache zwar anders, aber der würde den gottverdammten Thron ja auch nicht erben. Der Kronprinz verbrachte die Nacht allein, in einem viel zu weichen Bett und viel zu viel Zähneknirschen. Babra selbst fand auch wenig Ruhe. Er wurde im ehelichen Schlafzimmer förmlich gelöchert. Wie er es denn geschafft hätte, den Kronprinzen wieder mit hierher zu bringen. Das musste man sich mal vorstellen... den KRONPRINZEN! Ihre Töchter seien ja allemal hübsch genug, und bestimmt eine Zierde für den Hof des Feuerlords! Und SO brave Mädchen. Ob er nicht auch glaube, dass Seine Hoheit ihrer kleinen Jemma einen besonders langen Blick zugeworfen habe? Um der endlosen Litanei zu entgehen, begrub Babra den Kopf unter seinem Kissen. Agni wusste, er liebte seine Frau wirklich, aber in Ausnahmefällen wie diesem stand er kurz vor einem Kapitalverbrechen! Am nächsten Morgen wurde im Hause des Bürgermeisters der Belagerungszustand ausgerufen. Jede kleinste Regung Seiner Hoheit wurde belauert. Sie belauerten sein Minenspiel, sie belauerten seinen Teller, sie belauerten seine Teetasse. Vier Frauen umschwirrten Lu Ten wie einen gesprungenen Honigtopf. Ob er noch Tee wolle? Oder Eier? Vielleicht doppelt gepfefferten Schinken? Gerne würde man ihm auch gebratene Nudeln zubereiten! Anstelle seines Gastes stieg jedoch nur Babra auf dieses Angebot ein. Und Lu Ten? Er wünschte sich nur weit, weit weg. Lieber hätte er einer Bande durchgeknallter Wasserbändiger gegenübergestanden, als diesem Haufen mannstoller Grazien. Dachten sie wirklich, ein üppiges Frühstück würde eine von ihnen zur Secondlady befördern? Das war einfach lächerlich! Er war das ganze Theater um seine Person einfach nur leid! Es war immer das Gleiche. Er tauchte irgendwo auf, alles war Bestens, doch sobald bekannt wurde, WER er war, wimmelte es nur so vor sich überschlagenden Damen, die sich aus heiterem Himmel für eine Karriere als Feuerlady qualifizieren wollten. Nur hatte Lu Ten weder Lust, für den sozialen Aufstieg einer ehrgeizigen Frau herzuhalten, noch hegte er den Wunsch, seinen Vater abzulösen. In der Familie der Tatzus wurde man alt. Sehr alt! Es sei denn, ein findiges Familienmitglied hatte etwas dagegen. Sein Urgroßvater Azulon beispielsweise hatte mit neunzig Jahren vor Gesundheit nur so gestrotzt. Erst das Gift seines Sohnes Ozai hatte dem Abhilfe geschaffen. Da alle Kinder Zukos des Zweiten ihren Erzeuger mehr als nur schätzten, entwickelten sie keine derartig kriminelle Energie. Damit stand zu erwarten, dass Mylord noch Generationen von Schildkröten überleben würde. Vielleicht sollte Lu Ten ein Banner vor sich hertragen: Werte Feuerlady-Kandidatinnen, mein Vater steht, Agni sei Dank, in der Blüte seines Lebens. Vor Ablauf von 40-50 Jahren ist mit einem Amtsantritt meinerseits also nicht zu rechnen. Sollten Sie Ihr Interesse dennoch beibehalten, melden Sie sich bitte vor Fristende bei Tian Fu, Stellvertr. i. A. Ja, Lu Ten Tatzu war tatsächlich der irrigen Ansicht, rund achtzig Prozent seiner Anziehungskraft auf das andere Geschlecht seinem familiären Hintergrund zu verdanken. Seiner äußeren Erscheinung maß er in dieser Hinsicht, wie auch in jeder anderen, nur wenig Bedeutung bei. Groß zu sein bedeutete lediglich, in einer Menschenmenge besser den Überblick bewahren zu können. Eine gut ausgebildete Muskulatur diente der effektiven Fortbewegung und einer gewissen körperlichen Überlegenheit im Kampf. Oder - noch besser - der sofortigen Abschreckung potentieller Feinde. Wenn der Thronfolger der Feuernation eines verachtete, dann war es rohe Gewalt. Sie bedeutete das Scheitern des Verstandes. War das Beherrschen aller Kampftechniken und Waffengattungen für seinen Vater noch überlebensnotwendig gewesen, so konnten die Kinder Seiner Lordschaft sich den Luxus leisten, sie als eine Art traditioneller Konzentrations- und Geschicklichkeitsübungen zu betreiben. Lu Ten liebte sein tägliches Training. Es lehrte ihn Disziplin, schnelle Reaktionen und das Zurücknehmen des eigenen Egos. Man wurde einfach bescheidener, wenn man flach auf dem Rücken liegend um jeden keuchenden Atemzug rang. Diese Bescheidenheit war nun das einzige Bollwerk gegen seinen aufsteigenden Unmut. Wenn ihn noch ein einziges Körperteil ganz ZUFÄLLIG streifen würde, konnte er für nichts mehr garantieren... Die einzige Entschädigung bot Babras Anblick. Er wirkte mindestens ebenso genervt, wie der Prinz sich fühlte. „Vielleicht doch ein wenig Honigkuchen?“ „Nein, danke. Momentan brauche ich nichts“, murmelte Lu Ten. „Er ist aber ganz frisch!“, gurrte es erwartungsvoll zurück. „Himmel, Lelly! Der Junge WILL nichts davon!“ Der Blick des `Jungen´ traf den des Bürgermeisters und sofort herrschte Eintracht. „Ich werd Euch noch heute zu meinem Bruder schicken, Hoheit. Inkognito!“ „Gut!“, erwiderte Lu Ten erleichtert. Doch in dieser angenehmen Empfindung wurde er jäh gestört. „Aber Babra!“, mischte die Dame des Hauses sich ein. „Du KANNST ihn nicht zu Deinem Bruder schicken!“ „Ach... Und warum nicht, Hefeklößchen? Lu Ten hatte Mühe, sich nicht zu verschlucken. „Weil dort alle Mumps haben!“, erwiderte Frau Bürgermeister triumphierend. „Was? Auf EINMAL?“ „Ja. Wenn Du mir nicht glaubst, hier ist der Brief.“ Madame kramte in einer Holzbox und hielt Babra schließlich einen Wisch vor die Nase. Er überflog das Schreiben und wurde zornesrot. „VERDAMMT!... Oh, Verdammt! Hattet Ihr schon Mumps, Hoheit?“ „Ich habe nicht die blasseste Ahnung“, liess Lu Ten beinahe fröhlich vernehmen und träufelte sorgfältig Honig auf ein Brötchen (überflüssig, zu erwähnen, dass kein Tropfen daneben ging). Ein Teil von ihm begann tatsächlich, sich zu amüsieren. „Hä? Warum wisst Ihr das denn nicht?“ „Nun, vielleicht solltet Ihr das nächste Mal, wenn Ihr meinen Vater um einen fürstlichen Leibeigenen ersucht, gleich ein ärztliches Attest mit anfordern? Ich bin mir fast sicher, er würde Euch postwendend unsere bezaubernden Kerkeranlagen zeigen.“ „Danke, aber ich hab Euren Paps erlebt, ohne dass er stinksauer war. Das hat mir schon gereicht!“ „Ja“, sagte Seine Hoheit milde. „Mein `Paps´ hat das unfehlbare Talent, seinen Standpunkt klar zu machen, ohne große Worte zu verlieren.“ „Äh....“ Babra hatte seine Entgleisung bemerkt und wurde konfus. „Äh, ja! Aber Seine Lordschaft ist trotzdem ein großartiger Mensch! Sehr... sehr nett!“ Nett? Das war zu viel, selbst für den beherrschten Spross der gestrengen Gebieter des Feuers. Für den Bruchteil einer Sekunde schummelte sich ein zutiefst amüsiertes Grinsen zwischen die Mimik des Kronprinzen. „Agni!“, hauchte Lelly, Babras Jüngste, und starrte ihn an. „Aber... Er hat ja ein Grübchen!“ Mit Ach und Krach verhinderte Hoheit es, Tee über den Tisch zu spucken. „WAS?“ „Äh... e... ein Grübchen?“, stotterte die erschrockene Maid. „Habe ich NICHT!“ Hatte er wohl, aber er klang so rigoros, dass es niemand wagte, ihm zu widersprechen. Lu Tens gute Laune verflog so schnell, wie sie gekommen war. Grübchen?!? HA! Lächerlich! Doch sein Hirn projizierte ungefragt ein Bild vor sein inneres Auge: Zuko Tatzu, aufmerksam seiner Frau lauschend, um dann unverhofft in schallendes Gelächter auszubrechen; auf der linken Wange eine lange, tiefe Furche des Amüsements. Verdammt! Es stimmte. Sein Vater HATTE ein Grübchen. Ebenso wie Lee. Und Aya und... VERDAMMT! Ein Grübchen hatte ihm gerade noch gefehlt! „Schluss jetzt!“, maulte Babra. „Dann schick ich ihn eben zu Deiner Schwester. Bei diesem Akademikervolk muss er zwar nicht so hart ackern, aber da erkennt ihn wenigstens keiner. DIE lesen garantiert nicht `Frau im Feuer´ und den ganzen Kram!“ „Warum muss er denn weg?“, schmollte Jemma. „Wenn er bleibt, kehrt hier nie wieder Ruhe ein!“ „Aber Papa... Du willst ihm doch nicht diese Hinterwäldler zumuten? Die sind sowas von langweilig!“, jammerte Lelly. Das königliche Subjekt, über das gesprochen wurde, horchte erfreut auf. Langweilig? Langweilig war gut! Langeilig bedeutete beschaulich, friedlich, geordnet. `Langweilig´ war genau das Adjektiv, welches seine Brüder ausgewählt hätten, wenn sie ihn beschreiben sollten. Babra erhob sich und stemmte beide Arme auf den Tisch. „Mir ist scheissegal, ob es dort langweilig ist - Verzeiht den Ausdruck, Hoheit - Er geht nach Tutuk, Ende der Durchsage!“ Seine Frau sah ihre Felle davon schwimmen. Es war zwar nur eine Spinnerei gewesen, aber die königliche Verwandtschaft konnte sie sich wohl abschminken. Ihre Nichte kam als Gemahlin eines Fürsten gewiss nicht in Frage. Selbst wenn man in der Lage wäre, über ihre komische Haarfarbe hinwegzusehen. Sie war einfach zu verschroben. `Interessant´ war das schmeichelhafteste was einem zu Pineria einfiel. Oh, das Mädel war fraglos lieb und nett, aber ab und an driftete sie in eine Welt ab, die anderen nicht zugänglich war. Zudem hatte ein bedauerlicher Unfall dazu geführt, dass das Kind ein steifes Bein hatte. Na ja... es wäre ja auch ZU schön gewesen. Seufzend machte Frau Bürgermeister sich daran, das Geschirr abzuräumen. Viele Meilen weit weg brach Lady Jin das blutrote Drachensiegel ihres Mannes und begann eifrig, die krakelig kühne Handschrift zu entziffern. Überaus geschätztes Weib, Erstens: Natürlich geht alles hier seinen gewohnten Gang! Lächerlich, etwas anderes anzunehmen. Zweitens: Deine martialische Brut tanzt mir fröhlich auf der Nase herum, wohl, um Dich in Abwesenheit standesgemäß zu vertreten. Doch Sorge bereiten mir allenfalls mein ehrbarer Onkel und sein Kumpel Fon. Wenn sie so fortfahren, darf ich binnen eines Monats nach Ba Sing Se, um erneute Friedensverhandlungen zu führen. (Das war wohlgemerkt Punkt Nummer drei.) Viertens und übrigens: Ich hatte recht! Dein `entzückendes, ingwerfarbenes Katerchen´, stellte sich gestern als entzückend schwangere Flohschleuder heraus. Ich fürchte sie hat ihr gutes Straßenstreuner-Blut mit dem einer reinrassigen Siampfote vermengt und jener Kater scheint sich tatsächlich vor seiner Verantwortung zu drücken. Adelspack eben. Ich sah mich genötigt, der werdenden Mutter ein warmes Plätzchen anzubieten, was mich übergangslos zu Nummer fünf in der Tagesordnung bringt: Diese rote Lieblingsdecke von Dir existiert nicht mehr. Zumindest nicht in der Form, die Du so zu schätzen wusstest, da die Geburt von vier Kätzchen sie doch etwas strapaziert hat. Ich hoffe, Du reagierst diesen immensen Schock nicht damit ab, mit Ihrer Hoheit, der Herzogin von Quan, erneut darüber zu diskutieren, welches ihrer Konsumgüter aus den Körperöffnungen diverser Tiere stammt. Wehe, Du sprichst mit ihr über Honig! An sechster Stelle muss ich Dir sagen: Wenn ICH schon nicht da bin, Frau, dann nimm, in Agnis Namen, wenigstens einen angewärmten Ziegelstein mit ins Bett! Siebter und letzter Punkt, um auf Dein Postskriptum zu antworten: Zu a) Nein tu ich nicht. Zu b) JA! Tu ich! Mindestens ebenso sehr. Gezeichnet, Zuko Tatzu, derzeit unausgeglichen. Ein Lächeln überzog Jins Gesicht, als sie sich seinen trockenen Tonfall vorstellte. Ihr Pedant und seine Listen ... Herrje, wie lange dauerte dieses dumme Damenkränzchen hier denn noch? Sie wollte nach Hause! Natürlich wäre dieser Drang noch größer gewesen, hätte sie geahnt, dass ihr liebender Gatte in seinem Brief einen immens wichtigen Punkt unterschlagen hatte. Tutuk, nördliches Randgebiet der Feuernation, später am Tag Pineria Tutuk saß hinter einem Fliederbusch und kämpfte mit den Unzulänglichkeiten ihres Verstecks. Sie war hier zwar gut verborgen, aber ihre Nase juckte ganz höllisch. Um den Niesreiz zu unterdrücken, kniff sie beide Nasenlöcher fest zusammen. Schließlich wollte sie nicht riskieren, von ihren drei Studienobjekten entdeckt zu werden. Ah! Jetzt kicherten sie. Aufmerksam registrierte Pippa die veränderte Tonlage der beiden Frauenstimmen. Höher als sonst. Es klang... sie biss sich auf die Lippen und suchte nach dem richtigen Wort. Perlend. Ja. Rasch notierte sie ihre Beobachtung. Jetzt änderte die Rothaarige ihre Körperhaltung. `Herausstrecken der Brust. Hüfte schief gestellt´, schrieb Pippa weiter. Um besser sehen zu können, beugte sie sich vor und beorderte die bedenklich tief auf die Nasenspitze gerutschte Brille wieder zurück an Ort und Stelle. „Da, jetzt klimpern sie.“, flüsterte sie dem großen Wolfshund an ihrer Seite zu. In schriftlicher Form sah das folgendermaßen aus: `Heftiges Flattern der Augenlider.´ Sie widmete sich dem männlichen Bestandteil ihres Experimentes. `Männchen hält sich extrem aufrecht. Das untermauert die These, dass Größe von den Frauen als attraktiv empfunden wird. Reckt ebenfalls die Brust nach vorn.´ Geistesabwesend streichelte Pippa über das grauweiße Fell von Mimmi und kritzelte weiter in ihr Notizbuch. `Ganz offensichtlich bemühen sich beide Seiten, ihre körperspezifischen Charakteristika so deutlich wie möglich zur Geltung zu bringen. Die Brust (sowohl die feminine, als auch die maskuline) scheint dabei eine zentrale Rolle zu spielen.´ „Wahrhaft faszinierendes Phänomen, das menschliche Balzverhalten!“, sinnierte sie halblaut. Seit rund zwei Wochen beschäftigte Fräulein Tutuk sich nun mit diesem Thema. Die ersten Auswertungen wiesen alle in die gleiche Richtung: Für den Erfolg beim anderen Geschlecht waren in aller erster Linie optische Merkmale ausschlaggebend. Zumeist fanden sich Menschen mit ähnlichem Schönheitspotential zusammen. Je niedriger die eigene Attraktivität, umso anspruchsloser war die betreffende Person bei der Partnerwahl. Natürlich gab es Ausnahmen. Lene, die hübsche Gärtnerin, war überglücklich mit ihrem Jo, einem unscheinbaren, aber herzensguten Mann. Oder Eri... sie wurde von ihrem imposanten Ehemann zärtlichst geliebt, ohne selbst eine Schönheit zu sein. Tiefere Gefühle schienen also auf weit mehr zu basieren, als bloßen Äußerlichkeiten. Doch momentan beschäftigten sich Pippas Studien noch mit den Absonderlichkeiten der ersten gegenseitigen Anziehungskraft. Und da hieß es schön sein, oder leiden. Ihr eigener Marktwert war nach diesem Maßstab erschreckend gering, aber glücklicherweise war ihr Interesse an der Liebe ja auch rein wissenschaftlicher Natur. „Pippa?“ Mimmi spitzte die Ohren. „PIPPA?“ Mist, ihre ganze schöne Tarnung flog auf. „Ja, Eri?“ Schnaufend kam die Hauswirtschafterin ums Eck. „Da bist Du ja, Kind! Wolltest Du nicht diesen Burschen vom Bahnhof abholen?“ „Gute Güte! Den hab ich ja ganz vergessen!“ „Pippa! Der arme Kerl wartet seit fast zwei Stunden dort. Und gleich wird es anfangen zu regnen!“ „Oh je. Es tut mir leid!“ Schuldbewusst biss Pineria sich auf die Lippen. „Sag das nicht mir, sondern Herrn Song.“ „Ach ja, Song... so stand es ja in der Nachricht. Gut! Song.“ Sie tippte gegen ihren Kopf. „Song, Song, Song!“ Die ältere Frau blickte Pippan hinterher, wie sie zu einer großen, gepflegten Scheune lief. „Armes Ding. Ist bald genauso verdreht, wie die Eltern.“ Das arme Ding mühte sich derweil mit dem motorisierten Fahrzeug ab, welches ihr Vater letzten Herbst entwickelt hatte. Das `Mobilium´. wie er es nannte, weigerte sich anzuspringen. „Oh, jetzt komm schon!“, bettelte Pippa und zerrte verzweifelt an Startleine. „Was ist denn nun schon wieder kaputt?“ Das Ungetüm tat ihr zwar irgendwann den Gefallen anzuspringen, der Preis, den sie zu zahlen hatte, war allerdings ein unschöner aber auch unbemerkter Ruß-Fleck mitten im Gesicht. Natürlich kam Pineria am Ende fast drei Stunden zu spät am Bahnhof an. Er bestand aus einem einzigen, umgekipptem Wegweiser neben den Gleisen, auf dem stand: Tutu , 9 Meilen ---> Das `k´ war leider dem vorletzten Hagelsturm zum Opfer gefallen. Ein Mann hockte neben dem Schild auf dem Boden. Sein mit Nässe vollgesogener Umhang modellierte ihn zu einer unförmigen Masse. Die Körperhaltung ließ sich lediglich erahnen, doch es schien als hätte er die Unterarme auf die angezogenen Knie gelegt, denn die Hände, das einzig Sichtbare von ihm, lugten aus der triefenden Wolle und baumelten locker an den Gelenken. Wasser troff von den langen, kräftigen Fingern. Insgesamt wirkte er recht entspannt. Allerdings dampfte er. „Äh... Herr, äh, Song?“, fragte Pippa zögerlich. Das Bündel regte sich kaum merklich. „Wie... schon da?“, ließ sich eine grollende, dunkle Stimme vernehmen. Was den Ausdruck anging, war Pippa sich nicht so ganz sicher. Könnte sich um Sarkasmus handeln. Oder gar Resignation? Sie hörte auf, darüber nachzudenken, als der Schemen sich erhob. Gute Güte! „Was?“, wollte Herr Song wissen. Verflixt! Hatte sie wieder laut gedacht? „Sie... Sie sind ja riesig!“ „Kommt auf die Perspektive an“, erwiderte das Knurren. „Ja! Da haben sie recht! Außerdem ist die Tatsache, dass Sie dampfen, viel faszinierender.“ „Bitte?“ „Haben Sie vielleicht beheizbare Drähte in ihren Umhang eingearbeitet?“ „Nein!“ Mit langen Schritten strebte der Riese in Richtung Mobilium. „Sondern?“ Pippa versuchte vergeblich, sein Tempo zu halten. „Ich habe meine Körpertemperatur erhöht, um nicht auszukühlen.“ Gut. Also... das hatte jetzt etwas vorwurfsvoll und übel gelaunt geklungen. Sie sollte sich besser entschuldigen, doch ein Einfall kam ihr dazwischen. „Ah! Demzufolge sind Sie also Feuerbändiger?“ „Ja.“ „Faszinierend!“ Wie angewurzelt blieb Pippa stehen und starrte an, was sie von dem Fremden sehen konnte. „Ich persönlich halte viel von Horungs Theorie, dass erst ein Ungleichgewicht des Säure-Basen-Haushalts im Stoffwechsel der Betreffenden die Fähigkeit Feuer zu erzeugen ermögli ...“ „Hören Sie!“, unterbrach Lu Ten das vor sich fabulierende Mädchen. „Ich weiß, Sie sind der Meinung, ich könne unmöglich NOCH nasser werden. Vollkommen korrekt! Ich zöge es trotzdem vor, endlich aus dem Regen zu kommen.“ „Oh... Natürlich! Entschuldigung!“ Pippa sah sich um. „Wo ist denn Ihr Gepäck?“ Lu Ten legte den Kopf schief. Hielt dieses... dieses Fräulein Naseweis ihn für einen Sumo-Ringer? „Unter meinem Umhang?“, antwortete er gedehnt und zählte im Stillen bis sieben. „Ach... Darum sind Sie so breit!?“ „Ja. Genau. Können wir?“ Die tiefe Stimme troff vor Ungeduld und bildete damit eine löbliche Ausnahme, denn alles andere troff vom Regen. „Natürlich!“ Lu Ten unterdrückte ein Zähneknirschen. Diese Frau ging mit dem Wort `natürlich´ etwas zu zwanglos um. Wenn hier irgendetwas `natürlich´ wäre, wären sie schon unterwegs ins Trockene. Bevor sie ihn weiter mit Fragen löchern konnte, stieg Seine Hoheit in das merkwürdigste Gefährt seines Lebens. Doch so brennend es ihn auch interessieren mochte, er hütete sich davor, sich danach zu erkundigen. Sonst stünden sie Übermorgen noch hier. So zuckelten sie also los. Langsam, gemütlich und unüberdacht. Unter seiner weiten Kapuze verzog Prinz Lu Ten schmerzvoll das Gesicht und warf einen Blick gen Himmel. Der nahm prompt die Herausforderung an, und goss hernieder, was die Wolken hergaben. 1 : 0 für das Element Wasser! Pippa, knochentrocken unter ihrem Spezial-Regenmantel, wagte es nicht, die vor sich hindampfende Gestalt in eine Konversation zu verwickeln. Nach fünf Minuten siegte ihre natürliche Neugier. „Woher kommen Sie?“ „Tiram Agni.“ „Sie kommen aus der Hauptstadt?“ „So ziemlich.“ „Ziemlich?... Ein Vorort?“ „Ja!“, blaffte Seine Klammheit. „Ein Vorort. Genau 0,7 Meilen vom westlichen Stadtrand, und 1,6 Meilen vom Stadtzentrum entfernt. Zu Fuss benötigt man zwischen 6 und 13 Minuten um zum Markt der Scherben zu gelangen. Bei einer inneren Schrittlänge von 100,5 Zentimetern sind es exakt 2869 Schritte bis zum südwestlichen Wachturm der Stadtmauer. Zufrieden?“ Pippa blinzelte. „... ja?“ Nach einer ungefähr zweiminütigen Stille stellte sie die nächste Frage. „So lange Beine haben Sie?“ Lu Ten schloss die Augen. Möge Agni ihm Geduld verleihen! „Ja.“ „Ich kenne niemanden, der seine innere Schrittlänge benennen kann.“ Tja, dann hatten diese Leute wohl keinen Hofschneider. „Darf ich annehmen, dass Sie ein sehr korrekter Mann sind?“ „Sie dürfen.“ Gute Güte... „Gut! Das ist gut! Mein Vater ist nämlich des öfteren ein bisschen... chaotisch. Er braucht jemanden, der die Dinge ordnet.“ „Aha. Demnach sind Sie Fräulein Tutuk.“ „Ja. Sicher.“ Mist. Sie hatte tatsächlich vergessen, sich vorzustellen. Sozialverhalten: mangelhaft! Von nun an schwieg Pineria wirklich. Dieser Mensch war schließlich auch nicht besonders gesprächig. Doch es war nichts neues für das einzige Kind der Tutuks, von Stille umgeben zu sein. Es gab Tage, an denen ihre Eltern vor lauter Schaffensdrang kein Wort von sich gaben. Aus diesem Grund hatte Pippa schon früh die Angewohnheit entwickelt, mit sich selbst zu sprechen. Jetzt summte sie nur munter vor sich hin. Lu Tens Respekt vor Babras Hinterhältigkeit wuchs von Minute zu Minute. Der Bürgermeister hatte ihn wahrhaftig zu einem Haufen Verrückter geschickt. Ohne Vorwarnung! Die Fahrt dauerte fünfundzwanzig sintflutartige Minuten. Der Regen war mittlerweile so dicht, dass man die Hand kaum noch vor Augen sah. Dennoch lenkte die junge Dame dieses wackelnde Ungetüm auf Rädern so sorglos durch die Gegend, als gäbe es keine Straßengräben oder Böschungen. Mehr als einmal wünschte Lu Ten sich, einen letzten Willen verfasst zu haben. Doch auch diese Tortur nahm ein Ende und schließlich lenkte Miss Tutuk das Mobilium in eine Scheune. Der gepflegte Kiesweg, der zu einem überaus imposanten Herrenhaus führte, wurde von hohen Hecken gesäumt und von etlichen bewachsenen Torbögen überspannt. Seine Hoheit widmete dieser Pracht allerdings nicht die geringste Aufmerksamkeit. Er wollte einfach nur ins Trockene. Sie betraten `Schloss Tutuk´, wie es von den Bewohnern des nahegelegenen, winzigen Dorfes genannt wurde, durch einen Nebeneingang. Im Inneren des alten Hauses war es duster, denn die Architektur entsprach ganz und gar nicht dem üblichen, luftig-hellen Standard der Feuernation. Ein steinerner Kasten wie dieser würde eher in die nördlichen Provinzen des Erdkönigreichs passen. Pippa entzündete rasch ein paar Kerzen und entledigte sich ihres Regenmantels. „Wollen Sie nicht ablegen?“, fragte sie ihren durchweichten Begleiter. Der mürrische Fremde stellte sein Gepäck auf den Boden und schlug seine weite Kapuze zurück. Zum ersten Mal erblickte Pineria das Gesicht des neuen Assistenten. Bei allen Göttern! Er war... Er war wirklich... Die Welt verschwamm vor ihren Augen. Oh Mist! Diese dummen Brillengläser! Mussten sie immer beschlagen? Schnell nahm Pippa das Drahtgestell von der Nase und polierte den feinen Schleier von den runden Gläsern. Als die Brille wieder an Ort und Stelle saß, fragte sie sich, ob etwas damit nicht stimmte. Das konnte nicht sein. Kein Mensch konnte so aussehen. Sie hatte in letzter Zeit ja nun wahrhaft genügend Messungen und Erhebungen durchgeführt, um beurteilen zu können, was GENAU an Männern als anziehend galt. Sie hatte sogar eine Liste aller ausschlaggebenden Merkmale erstellt. DIESER hier sprengte die komplette Skala! Schädelform und Knochenstruktur: Perfekt. Masse, Farbkraft, Glanz der Haare: Nass, aber perfekt. Form und Proportion des Gesichts: Markant. Perfekt. Schnitt der Augen: Perfekt. Von einer betörend perfekten Charakternase tropfte ein perfekt geformter Tropfen Regenwassers. Vor ihr stand zweifellos das perfekteste, triefendste Mannsbild, welches man sich nur vorstellen konnte. „G... gute Güte!“, stotterte Pippa. Sie blinzelte, um einen klaren Blick zu bekommen. Mr. Perfect stand immer noch da und war ebenso unglaublich, wie zuvor. Das Unglaublichste an ihm aber waren die Augen. Sie hatten die Farbe alten, polierten Goldes. Feuer glomm in ihren Tiefen. Quatsch! „Wie bitte?“ „Äh... ich meine... ich bin nur einer optischen Täuschung aufgesessen.“ „Wovon zum Teufel sprechen Sie?“ „Ihre Augen. Ich dachte für einen Moment, sie würden brennen. Doch sie sind vermutlich nur so hell, dass sie die Kerzenflammen widerspiegeln, nicht wahr?“ Er runzelte die Stirn und betonte so nur den perfekten Schwung seiner scharf gezeichneten, strengen Augenbrauen. Pippa kniff die Augen zusammen. „HA! Ein Makel!“ „Was?“ Lu Ten verlor nun endgültig die Lust, höflich zu bleiben. Das Weib war eindeutig meschugge! „Da! Ich hab doch einen Makel entdeckt!“, rief sie erfreut. Ganz ruhig bleiben, Lu, reg sie bloß nicht weiter auf... „Oh. Gut.“ Gut? Eigentlich nicht, denn es machte laut Pippas Forschungen so GAR keinen Sinn, dass ein Fehler seine Attraktivität noch verstärkte. Aber es war so. Eine Narbe teilte seine linke Braue, zog sie ganz leicht nach oben und verstärkte den Hauch gleichgültiger Arroganz, der ihn umgab. „Wo, zum Kuckuck, starren Sie hin?“ „Was?... Oh! Auf... auf Ihre Narbe.“ „Aaaah! Möchten Sie vielleicht einen schriftlichen Bericht, wie ich dazu gekommen bin?“, fragte Lu Ten täuschend sanft. „Hm...“ Eigentlich interessierte Pippa vielmehr, wie eine Macke so dekorativ sein konnte. Aber, ihre Lieblingstasse hatte schliesslich auch einen kleinen Sprung. „Haben Sie sie sich absichtlich zugefügt?“ „Absichtlich? Eine Narbe?“ „Na ja...“ „Nein! Sechsjähriger, Stein, unglückliches Stolpern, Platzwunde, Narbe. Ende der Geschichte.“ „Gute Güte!“, hauchte Pippa. „Sie haben ein Talent die Dinge zusammenzufassen, oder? Sie könnten die Klappentexte für die Bücher meiner Eltern schreiben.“ „Haben Sie eventuell verbotene Pilze gegessen?“, wollte Seine Lordschaft in spe wissen. „Pilze? Was für Pilz... Oh!“ Fräulein Tutuk blinzelte wie eine Eule. Mit einem Mal wirkten ihre Augen traurig. „Sie denken, ich hätte psychoaktive Substanzen eingenommen?“ hörte er ihre leise Stimme. „Nein. Hab ich nicht. Ich... Leider bin ich so.“ Schlechtes Gewissen, eine Folge seiner ausgeklügelten Erziehung, überfiel Prinz Macke. Es war nicht seine Art, andere absichtlich zu verletzen. Ganz und gar nicht. „Verzeihung! Das hätte ich nicht sagen sollen“, murmelte er entschuldigend. Pippa zwang sich zur Munterkeit. „Oh, das ist schon in Ordnung. Jeder findet mich seltsam, also machen Sie sich keine Sorgen.“ „Nein, wirklich... Es tut mir leid.“ „Schon gut! Kommen Sie bitte mit.“ Sie wandte sich ab und ging einen langen Korridor entlang. Jetzt, da Miss Tutuk keinen Mantel mehr trug, entging es den wachsamen Augen Lu Tens nicht, dass sie ihr rechtes Bein leicht nachzog. „Sie haben sich verletzt!“ „Wie? Oh... das. Das ist eine alte Verletzung. Sie würden es vermutlich folgendermaßen ausdrücken: Achtjährige, zu großer Reitstrauß, Sturz, zertrümmerte Kniescheibe.“ Agni! War er wirklich SO schroff gewesen? „Bereitet es Ihnen Schmerzen?“, fragte er vorsichtig. Die Vorstellung, dieses schrullige, kleine Ding hätte unter chronischen Schmerzen zu leiden, war überaus unangenehm. „Aber nein. Nur wenn das Wetter umschlägt. So. Da wären wir. Das hier ist Ihr Schlafzimmer, gleich rechts davon ist ein kleines Büro, das Sie für sich selbst nutzen können. Abendessen gibt es...“ Sie blinzelte nachdenklich und legte den Kopf schief. „Ich glaube so gegen Sieben. Dann werde Sie auch meine Eltern kennen lernen. Außer, die beiden sind zu beschäftigt.“ Dann konnte es nämlich vorkommen, dass man allein an dem riesigen Tisch saß, und auf die große, langsam tickende Wanduhr starrte. „Gut. Danke.“ „Also dann... Lasse ich Sie mal auspacken. Sollte Sie etwas brauchen, rufen Sie nach mir oder Eri; Das ist die Haushälterin.“ „In Ordnung.“ „Ja...“ Pippa wollte eben gehen, als eine Beobachtung sie aufhielt. Bei allen Enzyklopädien dieser Welt... Das Altgold seiner Augen war also doch keine Täuschung gewesen. Selbst in diesem trüben Licht schimmerten sie hell. „Ist noch etwas?“ Die tiefe Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „N... nein. Nichts.“ Für eine gute halbe Stunde versuchte Pippa mit den überwältigenden Eindrücken dieser neuen Präsenz im Haus selbst fertig zu werden. Doch es hatte keinen Zweck, sie MUSSTE mit jemandem sprechen! Leise klopfte sie an eine geschnitzte Holztür und öffnete sie. „Mama?“ „Ja, Schätzchen?“, kam es vage zurück. „Hast Du einen Moment Zeit?“ Ihr Tonfall veranlasste den Mutterinstinkt in Aktion zu treten. „Aber sicher.“ Nele Tutuk legte ihr rasch Schreibwerkzeug beiseite und blickte auf. Pippa setzte sich auf die Kante eines mit Papieren übersäten Sessels und verschlang die Finger ineinander. „Der neue Assistent ist da.“ „Assistent?“ Wie immer klang ihre Mutter zerstreut, doch dann ging ein Ruck durch ihre Person. „Oh, WIRKLICH? Wie... wie schön! Ist er nett?“, fragte sie verdächtig eifrig. „Keine Ahnung. Bisher eher schroff, würde ich sagen.“ „Schroff?“ Ihre Tochter zuckte mit den Schultern. „Bestimmt kann er auch nett sein. Auf alle Fälle ist er sehr... beeindruckend.“ „Beeindruckend?“ „Mama, warum wiederholst Du Alles, was ich sage?“, fragte Pineria misstrauisch. „Tue ich das?“ „Ja. Du warst noch nie eine gute Geheimniskrämerin.“ „Ach, na gut, was soll´s. Du kriegst es ja doch raus. Meine Freundin Kiko hat diesen speziellen jungen Mann hierher geschickt, um... Na ja, sie dachte, ihr würdet gut zueinander passen. Du kennst sie ja, sie ist zuweilen sehr exzentrisch.“ „Was? ICH... und DIESER Mann?“ Pippa schnaubte durch die Nase. „Du hast ihn noch nicht gesehen. Er ist so ziemlich das farbschönste, formvollendetste Exemplar der Gattung Mann, das Dir je unterkommen wird. Seine körperlichen Attribute reichen aus, jedes Weibchen im Umkreis von Dreihundert Meilen anzulocken.“ DAS hatte sie sogar durch die vielen Schichten nassen Stoffs erkennen können. „Bist Du sicher?“ „Ja!“ „Hm. Seltsam. Kiko beschrieb ihn als nett, bescheiden, aber vollkommen unspektakulär.“ „Dann sollte ihre Augen untersuchen lassen.“ Und ihre Ohren. Und ihre Nase. „Oh Pippa!“, seufzte Nele verzückt. „Wenn er Dir gefällt... Das wäre ja...“ „Mama! Ich WILL nicht verkuppelt werden! Ich heirate nicht und damit basta!“ „Das sagst Du jetzt.“ „Das sage ich auch morgen!“ „Ach was. So hab ich auch mal gedacht“, meinte ihre Mutter nur gelassen. „Und dann hab ich Deinen Vater getroffen.“ „Schon, aber er ist ja auch Papa. Er hat Dich in Deiner Arbeit immer unterstützt. Außerdem... ich komme für diesen Menschen eindeutig nicht in Frage.“ „Aber warum denn? Er sucht ein nettes Mädchen, und Du bist eins.“ „Mama! Du hörst mir ja gar nicht zu. Wenn er eine Frau sucht, dann bestimmt nicht mich. Er ist... toll! Ein Musterbeispiel maskuliner Anziehungskraft. Er...“, Erregt sprang Pippa auf. „Das IST es!“, rief sie. „Er ist das ideale Studienobjekt! Mit seiner Hilfe kann ich die Reaktion meiner weiblichen Probanden auf sexuelle Reize eindeutig klassifizieren! Er wird der ultimative Katalysator meines Experiments.“ „Kind... Wovon sprichst Du denn schon wieder?“ „Egal, Mama. Ich muss Vorbereitungen treffen!“ Rasch drückte sie einen Kuss auf die Wange ihrer Mutter und eilte, leicht hinkend, aus dem Zimmer. Nele sah ihrer Tochter hinterher. Sie wusste, dass sie manchmal zu wenig Zeit für das Kind hatte. Pineria war viel zu oft sich selbst überlassen. Inzwischen schien sie die Einsamkeit sogar regelrecht zu suchen. Doch endlich, ENDLICH, entwickelte sie Interesse an etwas, das mit Wissenschaft rein gar nichts zu tun hatte. Nele lächelte. „Er GEFÄLLT ihr! Kiko, das hast Du gut gemacht!“ Ein bedauerlicher Irrtum, denn der junge Mann, der von Nele Tutuks Freundin als Kuppel-Opfer auserkoren worden war, befand sich immer noch meilenweit weg. Und er wirkte in der Tat nett, bescheiden und unspektakulär. Um Punkt sieben betrat unser Musterbeispiel maskuliner Anziehungskraft das Speisezimmer. Seit rund einer Stunde wieder trocken, war Seine Hoheit nun bei weitem milder gestimmt. Der große Raum war noch verwaist und nichts deutete darauf hin, dass es hier bald etwas zu essen geben würde. Lu Ten nahm sich die Freiheit, Kamin und Kerzen zu entzünden. Als zehn Minuten später Pineria Tutuk das Zimmer betrat, war er positiv überrascht, denn eigentlich hatte er damit gerechnet, den Abend allein zu verbringen. In der kurzen Zeit, die er nun hier war, hatte er erste Recherchen betrieben. Die Tutuks waren beide angesehene Wissenschaftler, oft mit anderen Dingen beschäftigt, als der Realität. Ihre Tochter - Pineria, wie er jetzt wusste - begrub sich zwischen Büchern und Studien. Kein Wunder, dass sie ein wenig wunderlich war, doch das hatte ihm noch lange nicht das Recht gegeben, so rüde zu sein. „Guten Abend!“, sagte er artig. „Oh... ja. Wünsche ich auch! Das, äh, Essen müsste bald kommen.“ Er nickte. „Meine Eltern auch.“ „Wie schön.“ „Ich...“ Pippa räusperte sich. „Ich hoffe, Ihr Zimmer gefällt Ihnen?“ „Ja, es gibt nicht das Geringste auszusetzen.“ „Oh, sagen Sie das nicht. Ich bin mir sicher, Sie finden noch etwas.“ Sie kassierte einen unbezahlbaren Gesichtsausdruck. Seine durchbrochene Augenbraue konnte sich für keine genaue Richtung entscheiden und schwebte oberhalb ihrer üblichen Halbmast-Stellung. Als sei er zu verwirrt, um seine Überheblichkeit die Oberhand gewinnen zu lassen. „Normalerweise bin ich kein Nörgler!“, stellte Lu Ten in betont neutralem Tonfall richtig. „Gute Güte! Das wollte ich damit auch nicht sagen! Aber der Kamin im Gästezimmer raucht ein bisschen.“ „Ah. Ich bin sicher, ich werde es überstehen.“ Pippa blinzelte. Lag es an ihr, oder war ihr neuer Gast auf einmal viel pflegeleichter? Übertriebene Freundlichkeit konnte man ihm zwar immer noch nicht vorwerfen, aber er schien nicht mehr ganz so knurrig. Bei allen... Nein! Das konnte nicht sein. Ihre Mutter hatte Unrecht. Das KONNTE kein Annäherungsversuch sein. Er war einfach nur trockener und besser gelaunt. Kein Grund, ihm irgendwelche Absichten zu unterstellen. Sie machte einen taktischen Fehler, indem sie ihm in die Augen sah. Er seinerseits fand, dass Veilchenblau eine recht außergewöhnliche Farbe für eine menschliche Iris war. Das Essen kam. Dampfend, duftend und mit einiger Verspätung, wie Lu Ten wortlos registrierte. Pippa, die bisher noch nicht Platz genommen hatte, bemerkte erst jetzt, dass dies ein bedauerliches Versäumnis gewesen war. Als er ihr den Stuhl zurechtrückte schrillten sämtliche Alarmglocken in ihrem Kopf. Bislang war ihr gar nicht bewusst gewesen, über dergleichen zu verfügen, aber man lernte schließlich nie aus. Jedenfalls passte dieses aufmerksame Verhalten nun WIRKLICH nicht in Herrn Songs bisheriges Repertoire. Dass es sich nur um ein schlechtes Gewissen und ein Rückbesinnen auf erlernte Manieren handelte, konnte sie ja nicht ahnen. Pippas Gedanken überschlugen sich, wie so oft. Gut, sie GLAUBTE nicht, dass Mr. Perfect auch nur ansatzweise an ihr interessiert sein könnte. Nie im Leben! Egal, was ihre Mutter sagte. Aber: Sie WUSSTE es nicht! Am besten ergriff sie sofortige Maßnahmen. Abschreckende Maßnahmen! Sollte er trotz ihres Äußeren auf den unwahrscheinlichen Gedanken kommen, sie stelle ein akzeptables Weibchen dar, so musste dies im Kein erstickt werden! Den Informationen ihrer Mutter zufolge, war dieser Mann auf eine Ehefrau aus. Und DAS kam schlichtweg nicht in Frage! Pippa kannte zu viele negative Beispiele. Wie viele ihrer Kommilitoninnen des wissenschaftlichen Bildungszentrums für Mädchen waren schon in diese Falle getappt? Allesamt kluge, gebildete Mädchen, hatten sie nach der Heirat jeglichen Wissens- und Forschungsdrang eingebüßt. Nichts war für sie mehr von Interesse. Weder Bücher, noch Reiseberichte, noch empirische Erhebungen. Das war doch fürchterlich! Nein, Fräulein Tutuk hatte nicht die geringste Lust, ihre Studien und Forschungen aufzugeben. Ergo gab es auch keinen Mann. Punkt! Also musste Mr. Perfect, der allen Berechnungen gemäss ihr gegenüber ohnehin völlig gleichgültig zu sein hatte, NOCH gleichgültiger gemacht werden. Sie begann ihren Plan in die Tat umzusetzen, indem sie ein Glas umstieß. „Gute Güte! Das... das tut mir aber leid!“ „Schon gut!“ Gelassen tupfte Lu Ten die Feuchtigkeit aus seiner zweckmäßigen Kleidung. „Nichts passiert!“ Pippa blinzelte. Was denn nun? Er funkelte sie ja nicht einmal an. „Ach... Ach so! Ist das der neue Assistent?“ unverhofft stand Beo Tutuk im Türrahmen. „Ja, Papa.“ „Schön, schön“, murmelte der eher kleine Mann und kam näher. Pinerias Vater wirkte seltsam entrückt, als hänge sein grauer Wuschelkopf irgendwo in den Wolken. Er streckte Lu Ten, der sich schnell erhoben hatte, die Hand entgegen. „Kräftiger Bursche, waswas?“, fragte der Professor, obwohl seine Hand mit nur halber Kraft geschüttelt wurde. Scheinbar wahllos ließ er sich auf einen Stuhl nieder. „Nun...“ „Liegt an den Genen! Ja, alles an den Genen.“ „Ah.“ Lu Ten nahm erneut Platz. „Hm... brauche derzeit eigentlich keine Hilfe. Stecke mitten in den Recherchen und brauche meine schöpferische Ruhe. Vielleicht... Pineria?“ „Ja, Papa?“ „Hast Du Verwendung für diesen Menschen?“, fragte ihr Vater und griff nach dem Besteck. Pippa kniff misstrauisch die Augen zusammen. War dies ein Werk ihrer Mutter? Hatte Nele ihrem Mann eingeschärft, Herrn Song nicht mit Beschlag zu belegen und ihn der Tochter zu überlassen? Egal! Es war das Resultat das zählte; Und das war unverhofft passend! Sie brauchte ihn zwar nicht als Ehekandidaten, wohl aber als Studienobjekt. „Die habe ich in der Tat.“ Den seltsamen Blick seitens `ihres´ neuen Assistenten bemerkte sie sehr wohl. „Schön, schön!“ Beo strahlte. „Was gibt es denn heute zu essen?“ „Äh... ich glaube Rind mit Ingwer und Lauchzwiebeln.“ „Ah, gut! Lieblingsessen Deiner Mutter. Ich hoffe, sie kommt noch.“ „Aber natürlich tue ich das, Beo, mein Lieber!“ Nele betrat das Zimmer und Lu Ten erhob sich erneut. Pippas Mutter hielt ihre Neugier für exakt vier Sekunden unter Kontrolle, ehe sie das vermeintliche Überraschungspaket ihrer Freundin Kiko begutachtete. Himmel, ihre Tochter hatte Recht. Der junge Mann war recht überwältigend. `Nett´ schien eher eine unzulängliche Beschreibung zu sein und von `unauffällig´ war er, schon allein wegen seiner schieren Größe, auffällig weit entfernt. Unter rein ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet war das hier der eindrucksvollste Mensch, der ihr persönlich je untergekommen war. „Mama, darf ich Dir Herrn Song vorstellen?“ „Du darfst! Herzlich willkommen, junger Mann!“ „Danke, Dr. Tutuk.“ Lu Ten deutete eine respektvolle Verbeugung an. Nele blinzelte auf eine Art, die fatal an ihre Tochter erinnerte. „Liebes Bisschen... So gute Manieren hab ich nicht mehr gesehen, seit... eigentlich noch nie, glaube ich. Beo, mein Lieber, hast Du schon einmal eine so formvollendete Verbeugung gesehen?“ „Nein. Muss lange geübt haben, der Bursche. Waswas?“ „Er kommt aus der Hauptstadt“, half Pippa aus. „Wirklich? Wie aufregend!“ Nele setzte sich. „Ist dort jedermann so förmlich?“ „Die... meisten“, antwortete Lu Ten. Nun, da die Dame des Hauses Platz genommen hatte, erlaubte ihr Gast sich, dies ebenfalls zu tun. Zum dritten Mal! „Interessant! Nun, hier sind wir bei weitem legerer. Nele reicht also vollkommen. Diesen Doktor- und Professor-Unsinn lassen wir lieber weg, hm?“ „Wie Sie wünschen.“ Da man partout auf Förmlichkeiten verzichteten wollte, sah Seine Hoheit sich gezwungen etwas preiszugeben. „Mein Name ist Lu Ten.“ „Wie nett!“, strahlte Dr. Tutuk... nein, Nele. Erst fünf Minuten später wurde ein Mitglied der Tutuks misstrauisch. „Lu Ten?“, fragte Beo. „Heißt so nicht auch... der äh... der Krondings?“ Lu Ten blieb gelassen. Schließlich gab es seit seiner Geburt erstaunlich viele Jungen mit diesem Namen. „Mein Vater ist Royalist!“, erklärte das Original... also, der Krondings. Am späten Abend hielt Lu Ten es an der Zeit, die Ereignisse Revue passieren zu lassen. Ein solches Wechselbad wie in den beiden letzten Tagen hatte er selten erlebt. Erst war er auf einem viel zu hoch fliegenden Drachen fast erfroren, dann, in der Höllenhitze Kergrams, hätte es beinahe Dörrprinz gegeben. Doch jedwede drohende Dehydration war vergessen, als er hier in Tutuk volle drei Stunden vom Regen eingeweicht worden war. Jede Wette, dass seine Haut schon schrumpelig geworden war! Allerdings war die Wetterlage nicht das einzige gewesen, was ihm Flexibilität abverlangt hatte. Zuerst war sein Vater sauer auf ihn gewesen, etwas, das Lu Ten absolut nicht gewohnt war. Dann waren ein paar Weiber scharf auf ihn gewesen, etwas, das Lu Ten leider nur all zu gewohnt war (Manchmal, ganz manchmal, wünschte er sich wirklich, nur der Sohn eines simplen Teekellners zu sein). Und um dem ganzen die Krone aufzusetzen, war er dann pitschnass von einem schrulligen Mädchen aufgelesen worden, das ihm die Würmer aus der Nase gezogen hatte. Dass sie für ihre seltsame Art nichts konnte, war ihm leider viel zu spät aufgegangen. Ja, er hatte einiges gutzumachen an Miss Tutuk. Er würde ihr assistieren, was das Zeug hielt... Während Lu Ten also in sich ging, spielten sich in seinem Zuhause wesentlich dramatischere Szenen ab. Sein jüngster Bruder hätte seine Hilfe momentan mehr als nötig gehabt! Kiram steckte in der Klemme. In die Ecke gedrängt, vor Anstrengung keuchend, rann ihm der Schweiß in die Augen. Seinen Gegner konnte er nur mit Ach und Krach lokalisieren und als sei dies nicht genug, drohte der verdammte Kampfstab, seinen schweissnassen Händen zu entgleiten. Kiram erahnte einen neuerlichen Angriff und suchte sein Heil in einem akrobatischen Flickflack. Jetzt war allerdings Ende der Fahnenstange, denn er hatte noch nicht ganz festen Boden unter den Füßen, als ein einziger, kurzer Schwung mit dem hölzernen Stab des Feindes ihm diesen auch schon wieder entriss. Ziemlich schade, denn den Sauerstoff, den es bei diesem Sturz aus seinen Lungen presste, hätte er bitter nötig gehabt. Prinz Kiram sah Sterne und fragte sich noch flüchtig, womit er diesen frühen Tod eigentlich verdient hatte... „Genug!“, klang die Stimme seines Lehrmeisters gedämpft durch die Maske. Er bot seinem Schützling die Hand, um ihm aufzuhelfen. Verzweifelt nach Atem ringend, kam Kiram auf die Füße, zerrte sich die Schutzhaube vom Kopf und ließ sie achtlos zu Boden fallen. „Hervorragende Beinarbeit!“ Das Lob des Ausbilders stieß auf taube Ohren. „Hervor... ragend?“, keuchte Kiram. Vor Erschöpfung beugte er sich vornüber und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. „Was war... daran gut? Ich... konnte... keinen einzigen Schlag... anbringen.“ „Ich sehe enorme Fortschritte.“ „Im... Verlieren?“ „Eine überflüssige und leider sehr alberne Bemerkung!“, maßregelte der Meister ihn. Kiram schielte aus seiner Kauerstellung ungläubig nach Oben. Wie bitte? Albern? Er war gerade nach Strich und Faden verdroschen worden! Vorsichtig betastete er eine seiner Rippen. Sein Sifu sog scharf die Luft ein und zog schnell die Schutzmaske vom Gesicht. „Tut es weh?“ „Nein. Kitzelt nur ein bisschen!“ „Kiram!“ „Es geht mir gut!“ Dieser Bemerkung wurde nicht viel Glauben geschenkt. „Hauptmann Kinoro? Einen Arzt!“ Der Befehl wurde über die Schulter gebellt. „Sofort, mein Lord!“ Zackig salutierte der Offizier und eilte davon. „Es geht mir gut, Vater!“ „Unsinn. Ich war wegen meiner schlechten Laune aggressiv und unkonzentriert.“ „Oh. Gut. Ich wollte... es schon persönlich nehmen“, schnaufte Kiram, immer noch außer Atem. „Das ist nicht komisch, Kiram. Lass mich die Prellung sehen!“ „Es ist nur eine Lappalie.“ „Weg mit dem Hemd!“, befahl Seine Lordschaft. Kiram verdrehte die Augen und entknotete den Gürtel seines schlichten Wickelhemdes. „Agni!“, flüsterte Zuko, als er die sich bereits verfärbende Stelle über den Rippen seines Sohnes sah. „Dafür wird Deine Mutter mich umbringen.“ „Dazu müsste sie ja erst mal hoch genug kommen.“ Vorsichtig betastete der Mylord die Verletzung. „Tut mir leid, Kind! Ich hätte meine Schwünge besser kontrollieren müssen.“ „Au!“, protestierte der Prinz. „Musst Du mich so nennen?“ „Entschuldige. Alte Gewohnheit“, kommentierte Zuko trocken. „WANN kommt Mama wieder? Ich glaube, Du brauchst dringen etwas zum betütteln.“ Für diese Frechheit wurde er angefunkelt. „Ist doch wahr!“, brummte Kiram. „Immer darf ich alles ausbaden.“ „Fein. Dann kümmere ich mich eben nicht um Dein Wohlergehen!“, sagte der Herr Papa steif. „Glaub mir, mein Stolz ist tiefer verletzt, als meine Rippe.“ „Warum? Deine Geschwister durchbrechen meine Verteidigung ebenso wenig wie Du.“ „Ja. Die landen allerdings nicht schon nach vier Minuten auf ihrem königlichen Arsch.“ „Wenn ich will schon!“, lautete die leicht überhebliche, aber sehr wahrheitsgemäße Antwort. „Wirklich?“ „Kiram, ich sagte bereits, dass Du gute Fortschritte machst. Aber, der Tag an dem einer von euch Grünschnäbeln mich besiegt, ist der Tag, an dem ich in Rente gehe!“ „Agni behüte!“, murmelte sein Sohn. „Dann käme ja der langweilige Streber auf den Thron!“ Er bekam einen Klaps auf den Hinterkopf. Angesichts seines bereits lädierten Zustands jedoch nur einen ganz leichten. „AU! Darf ich ab morgen vielleicht wieder mit Hauptmann Nezu trainieren?", maulte Kiram. „Der verdrischt mich wenigstens nur während des Unterrichts und nicht auch noch danach." Kapitel 3: Eine Maid in Nöten ----------------------------- Niha Koro warf nur einen einzigen, flüchtigen Blick auf den Fatzke, der ihr als neuer Hilfsarbeiter zugewiesen worden war, und hatte schon genug. Da konnte sie die Ähren ja gleich einzeln vom Feld tragen! Sie hatte weder Zeit noch Lust, neben all der Arbeit, die auf dem Hof tagtäglich anfiel, nun auch noch diesem Schnösel hier hinterher zu räumen! Sie musterte ihn scharf von oben bis unten. Diese Bekloppten hatten ihr doch tatsächlich einen hübschen Taugenichts geschickt. Was glaubten die denn, was auf einem Bauernhof zu tun war? Sollte der Geck den Kühen Gedichte vortragen, oder den Schweinen Komplimente über ihr unfehlbares Rosa machen? Gut, er war groß. Sehr groß. Kräftig auch. Doch drängte sich unweigerlich der Verdacht auf, dass er sich mit all seinen Muskeln eher bei einer Wirtshausprügelei würde behaupten können, als hinter einem Pflug. Sie könnte ihn ja in all seiner prächtigen Männlichkeit ausstellen, so wie Bauer Yi es mit seinen preisgekrönten Zuchtbullen tat. Die Weiber würden jedenfalls aus allen Himmelsrichtungen herbeiströmen, soviel stand fest! „Bist Du Lee?“, fragte Niha streng, die Hände in die Hüften gestemmt. Langsam, fast träge wurde sie gemustert. UNVERSCHÄMT gemustert. Der Kerl erdreistete sich doch wirklich, ihrem... Oberkörper einen besonders langen Blick zu widmen. „Ja.“ Seine rechte, wahrhaft meisterlich geschwungene Augenbraue hob sich ein wenig. „Bin ich!“ Etwas in der aufreizend sonoren Stimme ließ Nihas Nervenenden kribbeln. Die Augen, die nun frech in ihre starrten, hatten die seltsamste Farbe, die Niha je gesehen hatte. Sie waren von hellem, durchscheinendem Grün, wie das kühle Wasser aus den Bergen, wenn es sich schäumend über die großen Steine in den Ba Tze ergoss, und wurden von einem schmalen Ring gleißenden Goldes umrandet, der sie wie kostbare Schmucksteine fasste. In ihren Tiefen tanzten kristallgrüne Splitter mit winzigen, goldenen Fünkchen um die Wette. Verstärkt wurde die unglaubliche Wirkung dieser Augen durch einen Kranz lächerlich langer und lächerlich dichter, kohlschwarzer Wimpern. Ts! Das waren doch keine Augen für einen Mann! Gut, sie waren... hübsch. Nett anzusehen. Aber davon konnte sie sich nicht mal einen Morchelpfifferling kaufen. Was half es also? Man hatte Niha bereits vorgewarnt, dieser `Prachtkerl´ sei ein übler Schwerenöter. Als könne sie das nicht selbst sehen! Dass er sogar SIE auf diese ganz bestimmte Art und Weise ansah, war beredter als tausend Worte. Der selbst ernannte Charme-Bolzen würde mit allem flirten, dem ein weiblicher Artikel vorangestellt war! Aber, nicht mit ihr. Oh nein! Nach dem anfänglichen Schock, dass sein Vater ihn tatsächlich zwei Tage durch die Pampa hatte hetzen lassen, um ihn letztendlich in Agnam Ba zu stationieren (Agnam Ba!? Das musste man sich mal vorstellen! Hier sagten sich ja nicht mal Dachsfuchs und Igelhase Gute Nacht, weil sie nämlich des Sprechens noch nicht mächtig waren!), war Lee über die Entwicklung der Dinge einigermaßen erfreut. Sein neuer Boss war also eine Frau, hm? Das versprach einfach zu werden. Er zauberte ein kleines, durchaus respektvolles Lächeln herbei und ließ das lange Grübchen auf seiner linken Wange eine wohldosierte Winzigkeit aufblitzen. „Wenn der Herr sich dann in Bewegung setzen, würde? Ich hab nicht den ganzen Tag...“ Irritiert blickte Niha ihn an. „Was grinst Du den so? Los! Hopphopp, ein bisschen Bewegung!“ Jetzt war es an Lee, irritiert zu sein. Hatte er einen entstellenden Fleck auf der Nase? Oder war diese Frau gar mit einem Sehfehler gestraft? Niha zögerte. Ihr neuer Gehilfe gaffte sie nur wortlos an. Vielleicht war das ja das Problem? Eventuell war der arme Kerl unterbelichtet. Hübsch, aber bekloppt? An diesem Punkt sei dem geneigten Leser unterbreitet, dass eben dies der Punkt war, der Seine Hoheit, Lord Zuko, so ungemein störte. Der Junge konnte es seinetwegen so bunt treiben, wie er wollte. Jin war immerhin nicht die Einzige, die eine freie Persönlichkeitsentfaltung der Kinder für essenziell hielt. Zuko residierte schließlich auch nicht hinter der Sonne und wusste, wie wichtig dies war. Es gab jedoch eine Grenze zwischen der Entfaltung einer Persönlichkeit und deren Verschwendung. Er wusste einfach zu genau, dass Lee weit mehr war, als nur `Oh, ein ganz Schlimmer, das sieht man gleich´ oder `Der charmanteste Lausebengel, der mir je untergekommen ist.´. All diese Aussagen waren mit verklärten Mienen und säuselnden Stimmen von irgendwelchen bezauberten, hingerissenen Matronen gemacht worden. Und Lee? Der machte sich alle erdenkliche Mühe, diesem Image auch noch gerecht zu werden. Waren sie erst einmal dieses entwaffnend schurkischen Lächelns ansichtig geworden, merkten die Menschen gar nicht mehr, was für ein großherziger, kluger, wundervoller Junge da vor ihnen stand. Dieses Kind von ihm konnte im Handumdrehen jeden noch so handfesten Streit schlichten, spielend die Umlaufbahn des Merkur für die nächsten hundert Jahre berechnen, das Laufwerk einer winzigen Taschenuhr auseinander nehmen und wieder zusammensetzen, umsichtig eine mit Dornen gespickte Katzenpfote verarzten und ganz nebenbei noch unbemerkt eine Tagesproduktion Ingwerkekse aus der Küche stibitzen. Und, und, und... Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen! DAS waren Leistungen! Grübchen und weiß-blitzende Zahnreihen waren nur Begünstigungen eines wohlmeinenden Schicksals. Na ja, wahrscheinlich hatte sich das Schicksal von dem Bengel ebenso um den Finger wickeln lassen, wie alle andern. Kurz und gut: Zuko konnte es nicht ausstehen, wenn jemanden auf Äußerlichkeiten reduziert wurde. Und bei seinem eigenen Sohn brachte es ihn schlichtweg auf die Palme. Da er mittlerweile den Eindruck gewonnen hatte, dass Lee selbst sich ebenfalls nur noch in diesem zwar schillernden, jedoch recht einfarbigen Licht sah, war es höchste Zeit gewesen, etwas dagegen zu tun. Der Junge musste dringend begreifen, dass es für ihn größere Aufgaben gab, als das Bezirzen der halben Weltbevölkerung, und sich auf seine enormen Fähigkeiten besinnen! „Sieh mal,“, sagte Niha geduldig. „Es ist ganz einfach: rechts, links, rechts, links... Immer schön einen Fuß vor den anderen.“ DAS würde er ja wohl noch hinbekommen, oder? Lee meinte, sich verhört zu haben. Eine derartige Unverfrorenheit war ihm, dem Sohn Zukos des Erneuerers, noch nicht untergekommen. Was glaubte dieses Weib eigentlich, wer sie war? Niha bemerkte den konsternierten, überheblichen Blick ihres Gegenübers sofort. Also doch nicht bekloppt, sondern einfach nur bockig, hm? „Was glaubst Du eigentlich, wer Du bist?“, zischte sie. „Wenn Du denkst, Du könntest Dich vor der Schufterei drücken, hast Du Dich geschnitten. Um hier zu landen, musst Du wohl was ausgefressen haben, also mach Deine Arbeit und mach sie ordentlich, sonst kannst Du meinetwegen die Strafe auch im Kittchen absitzen. MIR ist das egal! Und wer weiß, am Ende dieser zwei Monate wirst Du vielleicht wenigstens ein paar Muskeln auf Dein mageres Gerippe bekommen haben.“ Lee blinzelte. BITTE? Ein paar Muskeln? Ein PAAR? Er hatte einen Bauch, auf dem sie die Dreckwäsche einer ganzen Woche schrubben könnte! DAS hatte er! Eine alberne Komtesse von sowieso hatte schon einen anzüglichen Limerick auf seinen Bizeps geschrieben! Wenn das nicht die Höhe war... Bevor Lee seine eigene Meinung zum Thema Körperbau an die Frau bringen konnte, wurde das impertinente Weib von einem aufgeregten Schreihals abgelenkt. „NIHAAAA?... Niha! Komm schnell...! Das Gatter... vom Schweinekoben war... nicht ganz... zu... Und jetzt...“ Wie von ihresgleichen gejagt, rannte die Furie davon. Der keuchende Knirps schielte nach oben. „Wer bist Du?“ „Lee.“ „Bist Du der Neue?“ „Ja. Denkst Du, wir sollten ihr hinterher?“ „Hm.“ Schulterzucken, „Ja, vielleicht.“ Ohne große Eile setzte man sich in Bewegung. Lees Boss stolperte einem quiekenden Ferkel hinterher und es war schwer zu sagen, wer bisher mehr Schlamm abbekommen hatte. Ein kühner Hechtsprung seitens Niha klärte diese Frage: 1:0 für die Dreck-Mensch-Kombination, denn das Schweinchen galoppierte, zum Großteil noch immer rosig schimmernd, weiter. Niha mühte sich schnaufend auf Hände und Knie und bemerkte, Agni sei Dank, die interessierte Musterung ihrer Person nicht. Nanu... also, der Hintern dieses Weibsbildes war durchaus nicht schlecht. Sie krabbelte auf das flüchtige Ferkel zu. Nein, ganz ansehnlich, in der Tat! Aber, das war ja genau eines der Probleme, mit denen Lee sich abplagte. Er liebte die Frauen. Jede Einzelne! Nun, manche liebte er ziemlich speziell und auch, äh... gekonnt, aber das war gar nicht der Punkt. Er MOCHTE Frauen ganz einfach. Es war ihm egal, was für eine Stellung sie hatten, ob sie hübsch oder hässlich, alt oder jung waren. Er mochte sie! Mädchen waren einfach nett! Er konnte einer neunzigjährigen Bibliothekarin einen ganzen Nachmittag lang zuhören, ohne auch nur eine Sekunde zu denken, sie sei langweilig. Wenn ein vierjähriges Mädel mit Triefnase ihm bis ins kleinste Detail von seinem Kätzchen erzählte, lauschte er ebenso aufmerksam, als erkläre man ihm den Lauf der Welt. Es gab wohl kaum eine Frau in diesem Universum, die Lee nicht respektiert und gemocht hätte (das schloss auch die ein, die er SPEZIELL mochte!). Er fand an jedem weiblichen Wesen etwas Schönes, sei es ein ausdrucksvolles Paar Augen, schlanke Fesseln, üppige Kurven, ein glockenhelles Lachen, ein bezaubernd schief stehender Zahn oder einfach nur ein Herz, groß wie der Ozean. (Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht ahnen, dass in unmittelbarer Nähe ein Wesen weilte, auf welches ALL diese Punkte zutrafen...) Frauen schienen vor Wärme zu leuchten und die verwobensten Geheimnisse des Lebens zu kennen. Lee fühlte sich in ihrer Gegenwart einfach wohl und sie schienen das zu spüren. „Komm! Komm schon Ferkelchen, komm zu mir!“, gurrte die mit Schlamm und weitaus schlimmeren Dingen besudelte Niha sanft. Lee schluckte. Himmel! Nur zu gern! Mit DIESER Stimme hätte sie alles von ihm bekommen. Wie von selbst setzten sich seine Füße in Bewegung, um einer Maid in Not beizustehen. „Hallo!“, flötete es plötzlich hinter ihm, „Sind Sie die neue Hilfs...“ Als Lee sich umwandte, erstarben die Worte auf vollen, weichen Lippen. „... Kraft?“, hauchte das Mädchen verzückt. Ja, DAS war schon eher die Reaktion, die Lee Tatzu gewohnt war! „Ich helfe immer gern!“, antwortete er in samtigstem Bass. Lange, gebogene Wimpern flatterten; verwirrt und lockend zugleich. Sie war die hiesige Dorfschönheit, jede Wette. Mit Dorfschönheiten kannte Lee sich bestens aus. Betörend dunkle Augen betasteten ihn von Kopf bis Fuß und wieder zurück. „Das sieht man gleich. Vor allem, das mit der... Kraft“, wisperte die junge Grazie. Ah, sie beherrschte das Spiel perfekt! Lees Mundwinkel hoben sich erfreut. Dann fand sein kleiner Flirt jedoch ein jähes, dreckiges Ende, denn ein stinkendes, heftig strampelndes Etwas wurde ihm in die Arme gedrückt. Also Bitte! „In den Stall bringen!“, schnappte Niha. War das wirklich die gleiche Stimme, die eben das widerspenstige Tierchen in die Falle gelockt hatte? „Maja", wandte sich die Schweinefängerin an die hübsche Kokette. „Sind die Hühner schon gefüttert?“ „Äh...“ „Dann MACH es!“ Lee sah sich um. Der `Stall´ war bestimmt der heruntergekommene Bretterverschlag neben der Weide, oder was auch immer dieses eingepferchte Stück Boden darstellen sollte. Tatkräftig marschierte unser königlicher Spross los, fand tatsächlich den Schweinekoben und setzte das Ferkel ab. Er war eben dabei, dem kleinen, entrüsteten Kerlchen begütigend den Rücken zu tätscheln, als hinter ihm die Stalltür zugezogen wurde. Trotz des vorherrschenden Zwielichts war an der kämpferischen Haltung sofort zu sehen, wer sich da vor ihm aufbaute. „Also gut, Freundchen...“ Lees Nackenhaare sträubten sich vor Ungläubigkeit. Meinte sie etwa ihn? „Ich werd gleich mal Folgendes klarstellen: Du bist hier, weil Du Dir was zuschulden hast kommen lassen und ich kann mir LEBHAFT vorstellen, was das war. Aber HIER wirst Du Deine Hände hübsch bei Dir lassen. Sollte ich sie, oder irgendetwas anderes von Dir, in der Nähe meiner Schwester erwischen, wirst Du Deines Lebens nicht mehr froh! Maja ist tabu! Haben wir uns verstanden?“ Lees Augen verengten sich. So langsam ging ihm dieses Frauenzimmer ziemlich gegen den Strich. „Ach? Sieh an“, schnurrte er sanft, verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. „So klein, und schon so eifersüchtig?“ Ungläubig starrte Niha ihn an. Sie versuchte erst gar nicht, ihre Sprache wieder zu finden. Statt dessen fand sie einen Eimer, tauchte ihn in die Tränke und kippte ihm den Inhalt über den Kopf. „Du magst ja ein Geschenk der Götter an alle Frauen sein“, stieß sie zornbebend hervor. „Aber ich bin leider so was von unbeeindruckt, dass mir gleich schlecht wird! Du wirst jetzt die restlichen Schweine einfangen, was bei Deinem Tempo ja ohnehin bis Mitternacht dauern wird; DANN darfst Du Dich waschen, DANN ins Haus begeben, um was zu essen. Schlafen,“, fügte sie hinzu, „Kannst Du da.“ Sie zeigte mit dem Finger Richtung Heuboden. „Sollte Dir das alles nicht passen, geh zum Bürgermeister. Der hat für die nächsten acht Wochen sicher ein kühles Plätzchen im Gefängnis, wo Du schön faulenzen kannst!“ In diesem Moment machte Niha eine spektakuläre, überaus fesselnde Beobachtung. Wenn er zornig wurde, verflüssigte sich das Gold in seinen Augen und überflutete sie, bis sie selbst in diesem Dämmerlicht zu glühen schienen. Sie ignorierte ihren trocken gewordenen Mund, machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihren tropfenden Schweinebeauftragten im Stall zurück. Mit gebleckten Zähnen stand Lee da und ballte die Fäuste. Dieses unverschämte Ding! Sie konnte von Glück sagen, dass er vor Wut nahezu außer sich war. Andernfalls hätte er sich keine Zurückhaltung auferlegt und ihr an Ort und Stelle gezeigt, mit WEM sie es zu tun hatte. Er würde ihr noch begreiflich machen, was es hieß, sich mit einem Tatzu anzulegen. Sie würde das hier bitter bereuen... Im Staub würde sie kriechen! Zornig stapfte Niha zum Haus. Der Kerl war Ärger auf zwei langen Beinen, das hatte sie sofort gesehen! Majas Reaktion auf ihn war nur die letzte Bestätigung gewesen. Sollte er sich doch sein extravagantes, langes Grübchen, seine grün-goldenen Augen und sein Pheromon sonstwo hinstecken! Interessierte sie alles nicht! Hatte es nie und würde es nie. Der einzige Mann, der sie je interessiert hatte, war... Schluss damit! Dieser Lee war jedenfalls einer von der arroganten Sorte. So sehr von sich selbst überzeugt, dass Andere sofort dachten, da müsse ja irgendwas dran sein. Wie mit allen ärgerlichen, unabänderlichen Gegebenheiten, beschloss Niha, keinen weiteren Gedanken an ihn zu verschwenden und machte sich ans Kochen. Sie knetete Teig... Dieser eingebildete Lackaffe! Schnippelte Gemüse... Dreister Flegel! Hackte Kräuter... Was fiel diesem anmaßenden Ekel eigentlich ein? Als der Eintopf vor sich hin brodelte, tat Niha es ihm gleich. Schon die Tatsache, dass sie nicht in der Lage war, ihre Gedanken mit etwas anderem zu beschäftigen als diesem Aushilfs-Schönling da draußen, zeigte eindeutig wie himmelschreiend unverschämt seine Selbstgefälligkeit war. Eifersüchtig? Auf WEN denn??? Maja war allerhöchstens zu bemitleiden, die Aufmerksamkeit dieses... dieses Verbrechers auf sich gezogen zu haben! Schön, Verbrecher war wohl zu viel gesagt. Nur kleinere Vergehen konnten mit Hilfsarbeit, statt Gefängnisstrafen abgegolten werden. Eine der vielen Reformen, die Zuko II (möge Agni ihn schützen!), eingeführt hatte. Nihas bemitleidenswerte Schwester betrat den Raum. „So, die Hühner sind versorgt.“ Ach was? Nach nur eineinhalb Stunden? Der helle Wahnsinn! Niha nickte nur. „Dieser Lee... wie lange bleibt er noch?“ Maja stellte die Frage überaus beiläufig, während sie ebenso beiläufig aus dem Fenster schielte. Niha drosch auf den Teig ein. „Schlag Dir diesen Kerl sofort wieder aus dem Kopf! Er ist ein Taugenichts und ein Phrasendreher, weiter nichts!“ „Ach ja? Woher willst Du das denn wissen? Der einzige Mann, mit dem DU jemals näher Kontakt hattest, war dieser Langweiler Riu!“ Niha verbrannte sich die Finger am Ofen und Tränen schossen in ihre Augen. Riu. Ruhiger, sanftmütiger Riu. „Niha! Es tut mir leid!“ Riu mit dem zurückhaltenden Lächeln und den ernsten Absichten. „Niha?“ Riu, der sie nie belogen hatte... „Deck den Tisch“, sagte Niha tonlos. Die Tür öffnete sich mit unnachahmlicher Lässigkeit und ließ einen größeren Haufen Männlichkeit auf die alte Küche los, als dieser zweckdienliche Raum verkraftete. Das Resultat war, dass alles zu schrumpfen schien, bis auf... IHN. Sein ebenholzschwarzes Haar schimmerte feucht. Offenbar hatte er sich draußen am Brunnen gewaschen. Das war also der Grund, warum Maja sich ihre kecke Nase am Fenster platt gedrückt hatte. „Sind die Ferkel versorgt?“, wollte Niha wissen. „Die Tierischen schon.“ Wirklich? Dann war das Ganze ja schneller gegangen, als sie gedacht hatte. Maja kicherte. Und schmachtete. „Maja, rufst Du bitte Jem und Zerfa?“ „Sicher! Ich hol sie.“ Hüftschwingend... Natürlich! Lee fing die Signale auf und schaute ungeniert. Doch dann wurde er von einem noch essenzielleren Trieb abgelenkt. „Hmm. Was riecht hier so gut?“ „Brot.“ Mit Nachdruck stellte Niha den Eintopf auf den Tisch. Beim Anblick und Duft der Vorspeise bemerkte Lee erst, wie hungrig ihn der muntere Schweinsgalopp gemacht hatte. Er setzte sich. „Oh, Bitte! Such Dir doch den besten Platz aus!“ Agni, war dieses Weib zänkisch! Das Getrampel kleiner Füße drang herein, gefolgt von den Besitzern. Jem, den er ja schon kennengelernt hatte, schenkte ihm nun, da das Essen auf dem Tisch stand, keine wirkliche Beachtung. Das Mädchen jedoch nahm Lee ins Visier und starrte ihn durchdringend an. Seltsame Augen hatte sie. Eines war schokoladenbraun, wie Majas; das andere von sanftem Taubengrau, wie die Augen ihrer ältesten Schwester. Lee hatte schon vom `Doppelblick´ gehört, ihn jedoch noch nie zu Gesicht bekommen. Menschen mit unterschiedlich farbigen Augen galten als notorische Lügner; Verschlagen und hinterhältig. Man drehte ihnen niemals den Rücken zu! „Hallo!“ Er lächelte ihr beruhigend zu, wurde aber nur misstrauisch fixiert. Kämpferische Frauen schienen in dieser Familie eindeutig die Mehrheit zu bilden. „Wie heißt Du denn?“, versuchte er es erneut. „Zerfa.“ Die Kleine näherte sich dem Tisch, ohne Lee aus den Augen zu lassen. „Ah, Zerfa. Wie die Gebieterin des Ostwindes?“ „Weiß nich...“ Blinzelte dieses Kind auch mal? „Habt ihr eure Hände gewaschen?“, erkundigte sich Niha, während sie herrlich duftende Fladenbrote auf den Tisch stellte. „Ja!“ krähte Jem. „Hast Du gesehen, wie schnell Lee rennen kann? Zzzzzzzt!“ Er machte eine rasche, weit ausholende Bewegung mit dem Arm. Sein neues Idol zwinkernd ihm zu. „Na... DAS glaub ich unbesehen“, meinte Niha süßlich, „Rennen muss er bestimmt oft!“ Wie schnell das Lachen und der Schalk doch aus den schimmernden Augen ihres neuen Zwangsarbeiters verschwinden konnte. Dahinter lagen kalter Zorn, scharfe Intelligenz und eine deutliche Kriegserklärung. Tja, hätte Maja doch nur DIESEN Blick kassiert, dann hätte das Wimpernklimpern bald ein Ende. Aber sie bekam natürlich nur diese unwiderstehliche Wangenfurche! Und Niha war froh darüber! Würde ihr gerade noch fehlen, ebenfalls Ziel seiner Schaumschlägerei zu werden. Statt dessen bekam sie eine Breitseite. „So?“, murmelte Lee trügerisch sanft. „Da spricht wohl die Expertin. Deine Schwester hat anscheinend viel Erfahrung mit davonlaufenden Männern, was Jem?“ Eine volle Schüssel wurde derart vehement vor Lee hingeknallt, dass einige Spritzer in seinem Gesicht landeten. „Die meisten Männer rennen doch nur sehenden Auges ins Unglück!“, fauchte Niha. Langsam aber sicher wurde Maja stutzig. Die gesamte Aufmerksamkeit des atemberaubenden, neuen Stallknechts galt nicht ihr, sondern Niha. „Ob ich wohl Brot haben könnte?“, flötete sie daher. Mit einer einzigen, zackigen Bewegung schnappte Lee den Brotkorb und hielt ihn so dicht unter Majas hübsche Nase, dass sie sich zurücklehnen musste. Dabei hörte er nicht auf, ihre große Schwester anzustarren, als wolle er sie am liebsten fressen. „Vielleicht fliehen sie einfach in Richtung des kleineren Übels?“, knurrte er. Seine neue Chefin holte empört Luft. Na bitte! Dieses Landei glaubte ja wohl nicht, ihm gewachsen zu sein? „Ich hab Hunger!“, rief Jem und brach so den Bann. Lee, der `Hunger´ im Augenblick mehr als nachvollziehen konnte, griff sich eines der Brote und begann zu essen. Verdammt! Kochen konnte das Weib, gar keine Frage. Selten war Gemüse schmackhafter gewesen. Für die nächsten Minuten waren ihm Schweine, biestige Amazonen und willige Dorfschönheiten egal. Er schaufelte genüsslich den köstlichen Eintopf in sich hinein. Vier Augenpaare starrten ihn ungläubig an. Halt, nein... es waren fünf! Lee verschluckte sich fast, als sein Blick auf die gegenüberliegende Wand fiel. „Was...“, ein Hustenanfall unterbrach ihn. „Was zum Kuckuck ist DAS?“ „Was meinst Du?“, fragte Jem. „Das Bild!“, krächzte der überrumpelte Gierschlund. „Das,“, erklärte Niha spitz, „ist seine Hoheit, Feuerlord Zuko II, möge Agni ihn schützen! RECHTSCHAFFENE Leute kennen ihn als ihren Herrscher.“ So stellten sich die Leute seinen Vater vor? Dieser Kupferstich stammte von der Hand eines offensichtlich minder talentierten Künstlers, der sich die Flamme des Volkes eher als verkniffenen Großkotz vorzustellen schien. Zudem war das Pergament vergilbt und schon ein wenig brüchig. „Ich weiß, wer er ist! Aber muss er ausgerechnet von dieser Wand starren? Ich komm mir so... so beobachtet vor!“ `Wirklich, mein Sohn?´, ertönte es ungefragt in Lees Hinterkopf. `Gut!´ „Ja, muss er, denn es ist MEINE Wand!“ Du liebe Güte! Zu allem Überfluss war das Weib auch noch eine ausgekochte Royalistin. „Da bekommt man ja paranoide Schübe.“ Lee verschränkte die Arme. „Nicht, wenn man nichts ausgefressen hat“, antwortete der fürstentreue Bauerntrampel süffisant. „Hat der Mann denn was ausgefressen?“, flüsterte Zerfa, die Jüngste, misstrauisch. „Äh...“, machte Niha nur. Es war ja eine Sache, auf der Hut zu sein, aber deswegen hatte sie noch lange kein Recht, Rufmord an jemandem zu begehen, den sie gar nicht kannte. „Nein... Nichts Schlimmes. Ich weiß nicht.“ „DOCH!“, rief Jem. „Zwei Teller Eintopf!“ Lee grinste ihn an. Das Kerlchen war wirklich aufgeweckt! „Stimmt.“ Er linste in den leeren Topf. „Was gibt es denn zum Hauptgang?“ Erneut starrten ihn fünf Augenpaare an. Hatte er etwas Falsches gesagt? „Zum WAS?“, Maja vergaß vor lauter Staunen, ihre Stimme um eine Oktave nach oben zu schrauben. „Haupt...“ Lee konnte spüren, wie die Scham über sein Gesicht kroch. Er hatte tatsächlich keinen Gedanken daran verschwendet, dass der Eintopf alles sein könnte, was diese Leute zu Essen hatten. „Schon gut“, lenkte er rasch ein. „Du hast noch Hunger?“ Jetzt wirkte sogar Niha perplex. „Äh... nein“, log er rasch. „Es ist sowieso nichts mehr da“, antwortete sie. Eine Lawine schlechten Gewissens überrollte Lee. Hatte er den andern alles weggegessen? In Gedanken zählte er rasch nach. Verdammt! Er hatte tatsächlich über die Hälfte der Brote vertilgt! „Verzeihung, ich...“ Niha nickte schroff. „Maja, hilfst Du mir beim Spülen?“, bat sie. „Natürlich.“ „Wenn nicht alle satt geworden sind...“, hob Lee erneut an. „Der Einzige, der nicht satt ist, bist Du. Morgen koche ich eben mehr.“ „Das ist nicht nötig!“ „Anscheinend doch.“ Niha begann die gebrauchten Schüsseln ineinander zu schichten. „Für heute war´s das. Morgen machen wir zuerst einen Rundgang. Ich nehme nicht an, Du kannst melken?“ „Nein.“ „Warum auch? Jedenfalls fängt unser Tag früh an. Frühstück gibt es zum Sonnenaufgang, also gegen fünf. Wenn Du Eier haben willst, sieh zu, dass Du pünktlich aus den Federn kommst, sonst gibt es nur Brot. Laken und Decken findest Du auf dem Heuboden.“ „Gut.“ Da die ausbrechende Geschäftigkeit ihn irgendwie auszuschließen schien, beschloss Lee, lieber seine neue Schlafstatt in Augenschein nehmen zu wollen. „Gute Nacht“, murmelte er und schob unschlüssig die Hände in seine Gesäßtaschen. „Nacht, Lee.“ rief Jem. „Schlaf gut, Lee!“ Maja begleitete diesen Gruß mit einem kecken Blick. Ihre beiden Schwestern hingegen hielten beide ein simples „Nacht!“ für ausreichend. „Jem... holst Du oben aus der Kammer noch zwei zusätzliche Decken und bringst sie zum Stall? Es war letzte Nacht ziemlich kalt,“ murmelte Niha, als sie durchs Fenster Lees Silhouette im abendlichen Zwielicht verschwinden sah. „Klar!“ Er rannte los. Stillstand oder Rennen. Das waren die einzige Geschwindigkeitsformen, die Jem zu kennen schien. „Zerfa, nimm bitte das übrig gebliebene Brot von heute Morgen und den Rest Käse und begleite Jem.“ „Na schön.“ Luftikus oder nicht, jeder verdiente einen warmen Schlafplatz und einen gefüllten Magen. „Was?“, wollte sie wissen, als sie Majas Seitenblick bemerkte. „Nichts.“ „Soll ich ihn hungern lassen?“ „Nein! Nein, es ist nur...“ „Was?“ „Du bist manchmal komisch.“ „Ich weiß“, antwortete Niha leise und spülte weiter. „Lee?“, brüllte Jem ins Halbdunkel des Stalls. „Ja?“ „Brauchst Du noch Decken?“ „Decken?“ Ein dunkler Schopf erschien am oberen Ende der Leiter. „Hast Du denn welche?“ „Klar! Willst Du?“ „Aber sicher! Vielen Dank.“ Behände manövrierte Lee seinen großen Körper nach unten. „Oh... Du bist auch da?“, fragte er freundlich, als er hinter Jem dessen kleine Schwester erkannte. „Ja.“ Brüsk hielt Zerfa ihm den halben Brotlaib und die Käseecke hin. „Ist das für mich?“ „Ja.“ „Ich danke Dir“, sagte er, aufrichtig erfreut. „Niha sagt, keiner soll hungrig schlafen gehen.“ „Das ist sehr nett von ihr. Und von Dir,“, fuhr Lee fort, „ist es sehr nett, mir das zu bringen.“ „Andere Menschen finden mich nicht nett!“ „So?“ „Nein. Sie mögen mich nicht besonders.“ „Tatsächlich?“ Sie wurde nachdenklich gemustert. Zerfa stutzte. Vielleicht sah der Mann in diesem Licht das Problem nicht so genau. „Es sind meine Augen!“, stieß sie streng aus. „Sie sind unterschiedlich!“ „Ja. Ich weiß. Sie sind hübsch.“ „Was?“ Sie starrte ihn an, als sei er gemeingefährlich. „Sehr hübsch. Alle beide.“ „Stimmt nicht!“ Die Stimme des Mädchens blieb fest. „Ich hab den bösen Blick!“ „Wirklich? Lass sehen...“ Lee ging in die Hocke und hob seine Laterne auf Augenhöhe. „Hm...“, machte er. „Ich kann gar nichts davon sehen.“ Er tat, als betrachte er das Mädchen noch genauer. „Nein. Kein böser Blick da. Nur ein Auge, dunkel wie Schokolade und eines, Grau wie das weiche Gefieder einer Taube.“ „Aber...“ „Weißt Du, manche Leute sind ziemlich albern. Wenn sie etwas Besonderes sehen, das sie nicht kennen, bekommen sie Angst und werden gemein. Wenn sie wüssten, wie Du bist, würden sie keine so fürchterlich dummen Sachen sagen!“ Er wurde verwirrt angeblinzelt. „Jem? Zerfa? Schlafenszeit!“, rief es vom Hof. Lee erhob sich. „Sieht so aus, als ob ihr euch sputen solltet. Nochmals Danke für die Sachen und gute Nacht!“ „Bis Morgen, Lee!“ Jem rannte schon wieder. „Gute Nacht“, murmelte Zerfa stirnrunzelnd, bevor sie ihrem Bruder folgte. Kurze Zeit später, zufrieden kauend auf seinem wenig standesgemäßen Bett lümmelnd, überlegte Lee, dass er es wirklich schlimmer hätte treffen können. Nachdem seine Nase es endlich geschafft hatte, den Geruch schweinischer Stoffwechsel weitgehend auszublenden, konnte er sich auf das duftende Heu konzentrieren und die ersten funkelnden Sterne durchs Dachfenster beobachten. Die leisen Geräusche der schlafenden Ferkel und das geschäftige Rascheln der Maus im Gebälk über ihm, wirkten einlullend wie ein Schlaflied, sodass Prinz Lee, Herzog von Goam, innerhalb weniger Minuten friedlich schlummerte. Heuböden zählten nun mal eindeutig zu seinen Lieblingsörtlichkeiten. `Liebster, teuerster, bester aller Tyrannen! Dein Rat mit dem aufgeheizten Ziegelstein war in der Tat ganz wunderbar; Er ersetzt Dich besser als erwartet und darum es ist fraglich, ob ich mich in Zukunft noch mit Deinem Temperament herumschlagen werde. Lebloser Ton ist um so Vieles pflegeleichter als Du! Ein vernünftiges Wort ist allerdings auch aus ihm nicht herauszukriegen. Überflüssig, zu erwähnen, dass dies eine weitere, ganz erstaunliche Parallele zu Dir ist, Mylord. Doch nun zu etwas anderem: Wie lange gedenkst Du eigentlich noch, mich NICHT nach Hause zu beordern? Ich hatte gehofft, dass Dein sonst so findiger Geist sich inzwischen einen Vorwand zurecht gelegt hätte. Was nutzt das ´Unangefochtener-Herrscher-Getue´, wenn Du mich nicht einfach heimholen kannst? So was Dummes! Du machst doch keinen Unsinn, oder? Nein... natürlich nicht. Du bist schließlich mein vernünftiger, nüchterner Hausdrache. Machst Du Unsinn? Wenn Du es tätest, müsste ich nämlich sofort abreisen! Aber nicht, dass Du jetzt denkst, ich würde versuchen Dich anzustacheln. Ich versuche lediglich, Dir eine neue Sichtweise der Dinge nahe zubringen. Du könntest beispielsweise die Weberei auf den Kopf stellen, dann hätten die Damen vollstes Verständnis für eine überstürzte Abreise meinerseits. Zum Schluss bleibt mir nur noch zu sagen, dass ich Dich kein Stück weniger vermisse, als vor zwei Tagen. Also ganz, ganz schrecklich! Gestern hatte die Herzogin doch tatsächlich die Stirn, mich zu fragen, ob ich an Asthma leide, weil ich ständig so laut `schnaubend´ aus dem Fenster stieren würde. Diese Frau kennt sich mit sehnsuchtsvollen Seufzern eben kein Stück aus, das konnte man gleich merken. Wobei, der Herzog ist auch nicht gerade jemand, der diese Art der Gefühlsäußerung provoziert. Ganz im Gegensatz zu Dir, oh mein Gebieter.´ Der provokante Gebieter Lady Jins wölbte die Braue. `Es küsst Dich tausend mal, Dein `schnaubendes´ Weib! P.S.: Vergiss bitte nicht Tians Amts-Jubiläum am Siebzehnten!´ Kapitel 4: Hahn im Korb - Huhn in der Pfanne -------------------------------------------- Müde schlurfte Niha zum Hühnerhaus, um die allmorgendliche Eierausbeute einzusammeln. In Anbetracht des unermesslichen Appetits ihres neuen Haushaltsmitgliedes wäre es für die Hühner wohl besser, eine Sonderschicht einzulegen. Sonst würden noch sie selbst auf den Tisch kommen, um dieses bodenlose Loch zu stopfen, welches der Kerl unterhalb seiner Nase klaffen hatte. Am Ende würde sie dieser impertinente Mensch mehr kosten, als er ihr nutzte. Vielleicht sollte sie die Idee, ihn auszustellen wieder aufgreifen und Eintritt dafür verlangen! „Bestaunen Sie ein Wunder der Natur! Der Mann ohne Hirn! Er atmet selbstständig und frisst Ihnen nebenbei die Haare vom Kopf! Ansehen: Fünf Yu. Anfassen: Preis auf Anfrage“, schimpfte Niha laut vor sich hin. Lee hörte das undeutliche Gemaule schon von Weitem. Er runzelte die Stirn und versuchte verzweifelt, sich weiterhin zu konzentrieren. `Blende Alles andere aus. Es existiert nur die Energie der Sonne in Deinem Inneren´, erklang die ruhige Stimme seines Vaters in seinem Kopf. `Atme ein... Aus... Lass die Wärme strömen. Gut so. Die Bewegungen folgen dem Atem, dem Licht und d ...´ Den Moment, in dem Niha um die Ecke bog, konnte Lee auf die Millisekunde genau definieren, da seine Kopfhaut sich abrupt zusammenzog. „Guten Morgen“, murmelte er mit geschlossenen Augen. Eine Mauer hätte Niha nicht schneller zum Stillstand gebracht. Er war schon wach? Was zum Henker tat er da? Für Morgengymnastik wirkte es recht lahmarschig. „Äh... Morgen!“ Die fließenden, eleganten Bewegungen wurden weiter zelebriert. „Konntest Du im Heu nicht schlafen, oder warum spielst Du schon um halb fünf den Hampelmann?“ [style type="italic"]`Ruhe, Lee. Ruhe und Harmonie. Und lass den Kiefer locker!´[/style] „Das mach´ ich jeden Morgen“, antwortete Lee mit erstaunlich gelassener Stimme. „Jeden Morgen?“ „Ja.“ „Um halb fünf?“, fragte Fräulein Frühaufsteherin ungläubig. „Uhren sind doch wirklich erstaunliche Erfindungen, was? Sagen jedem, der sie lesen kann, die genaue Zeit.“ „Nicht wahr?“, säuselte Niha trügerisch sanft. „Hier müssen wir extra ein Jahr länger die Schulbank drücken, bis wir das gelernt haben, dumm wie wir Bauerntrampel nun mal sind. Aber wenigstens sind wir clever genug, nicht jeden modernen Firlefanz mitzumachen!“ Jetzt verkrampfte Lees Kiefermuskulatur doch. „Der Tento ist ein ALTER Firlefanz! Ein URalter Firlefanz sogar! Und er muss vor Sonnenaufgang durchgeführt werden.“ „Firlefanz bleibt Firlefanz!“ „Dein ach so verehrter Feuerlord vollzieht ihn ebenfalls. Jeden Morgen, sagt man.“ Außer, der ach so verehrte Feuerlord hatte andere Dinge, wie zum Beispiel seine ehelichen Pflichten, im Kopf. Himmel, Lee hoffte wirklich, nicht nur das Temperament und die Hartnäckigkeit seines Vaters geerbt zu haben, sondern auch dessen Vitalität! „Ha! Und Du willst dann wohl im Feuerpalast Karriere machen, was? Aber aus einem Spatz wird keine Nachtigall, sagt man!“ „VERDAMMT!“, explodierte Lee. „Ich mache den Tento seit meinem zwölften Geburtstag. Mein VATER hat ihn mich gelehrt! Wenn Du etwas dagegen hast, dass auf Deinem Grund und Boden ein antiker Sonnenritus stattfindet, dann SAG es einfach, statt ständig an anderen Leuten herumzunörgeln!“ Niha schluckte. Er hatte Recht! Sie nörgelte. Grundlos! Und das nicht erst seit heute. Wurde sie tatsächlich zu einer dieser unausstehlichen Matronen, die weder andere Meinungen noch Lebensauffassungen gelten ließen, nur weil ihnen im Leben diese EINE Chance auf Glück durch die Lappen gegangen war? War ihre Einstellung zum Leben so feindselig, nur weil es darin keinen Riu mehr gab? „Entschuldigung!“, sagte sie steif. „Mach weiter.“ Konsterniert blickte Lee ihr nach. Er hatte eine Frau angebrüllt. Eine Frau! Zu was würde er sich als nächstes hinreißen lassen? Bewaffneter Raubüberfall? Seine ganze schöne Sonnenaufgangsstimmung sackte in sich zusammen! Zudem widersprach dieser neueste Ausbruch seiner zurechtgelegten Taktik. Er war letzte Nacht zu dem Schluss gekommen, dass es bessere Mittel und Wege gab, diesem streitbaren Weib eine Niederlage beizubringen, als offenen Krieg. Entschieden bessere! Er musste erst einmal hinter ihre Verteidigungslinien brechen, sich auf seine eigenen Vorteile besinnen. Wenn sie für seine männliche Ausstrahlung partout unempfänglich sein wollte, bitte sehr... Dann würde er einfach seine Signale auf ihre Antennen abstimmen müssen. Es hatte in der Vergangenheit schließlich auch einige Frauen gegeben, die Lu Tens subtilerer Art den Vorzug gegeben hatten. (Nur Agni wusste, warum. Aber man konnte schließlich niemanden zu seinem Glück zwingen.) So schien es Lee vorerst das Vielversprechendste zu sein, Charme nur noch in kleinen Dosen zu versprühen. So oder so, er würde Niha Koro dazu bringen, die Waffen zu strecken und dann würde sie den Preis für die ungerechtfertigten, impertinenten Schmähungen seiner Person zahlen. Ihre Vorurteile und Beleidigungen würden ihr bald sehr, sehr leid tun! Lee zwängte sich durch die winzige Tür in den noch kleineren Hühnerstall. „Ich wollte nicht schreien“, murmelte er wahrheitsgemäß. „Schon gut“, sagte Niha. „Nein, ist es nicht.“ „Doch! Ist es. Ich bin nicht aus Zucker!“ Nein, sie war ungefähr so süß wie Lebertran, DAS hatte er ja schon feststellen können. „Ich... vorhin...“, begann Niha, „Natürlich kannst Du dieses Sonnendings machen. Dann stehst Du wenigstens früh auf.“ „Ah! Ein Pragmatiker pro Familie muss einfach sein, hm?“ „Kommst Du an diesen Balken?“, fragte Lees pragmatischer Boss. „Sicher.“ „Gut! Dann hol die Eier runter. Müssten zwei oder drei sein.“ „Zu Befehl!“ Lee salutierte zackig, bevor er vorsichtig das Gebälk abtastete. „Da ist nichts.“ „Unsinn. Natürlich sind da Eier.“ „Nein!“ Niha schnalzte ungeduldig mit der Zunge, schnappte sich eine kleine Leiter und lehnte sie gegen den Holzpfeiler. Dieser Städter! Sie hatte ja gleich gewusst, dass die Arbeit an ihr hängen bleiben wür... WO waren die Eier? „Verdammter Mist!“, fluchte sie. „Ja. Das ist so ziemlich das Einzige, was da oben zu finden ist“, meinte Lee genüsslich, verschränkte die Arme und lehnte mit der Schulter gegen den Türrahmen. „Aber Berta legt ihre Eier immer da hin!“ „Tja, dann hat es sich die Gute heute wohl anders überlegt.“ „Anders? Sie ist eine Henne, kein Gockel.“ Der Gockel fixierte Niha aus schmalen Augen. „Sie scheint sich jedenfalls nicht an die Anweisungen des Oberhuhns zu halten“, knurrte er. „Das... Du bist doch wohl... Was glaubst Du...“, gackerte Miss Oberhuhn auf der Leiter. „Ja?“ Lee klang zerstreut, woraufhin er scharf ins Visier genommen wurde. „Gaffst Du etwa meine BEINE an?“ rief Niha empört. „Äh... nein! Nur die Knöchel.“ Vielleicht wäre es besser gewesen, zu lügen. „Du kannst gleich auch die Knöchel meiner Fäuste betrachten. AUS NÄCHSTER NÄHE!“ „Du hast was gegen Männer, oder?“ „Nichts Wirkungsvolles!“ „Oh, Deine unglaubliche Liebenswürdigkeit ist ein guter Anfang“, entgegnete Lee süßlich. „Gibt´s hier auch was zu tun, bei dem kein Kontakt mit Hennen vonnöten ist?“ „Ja!“, fauchte Niha. „Geh Holzhacken!“ „Fein! Ich bin zwar davon überzeugt, dass DU unschlagbar bist, wenn es darum geht auf etwas herumzuhacken, aber ich werde mein Möglichstes tun.“ Diese Furie machte es einem wirklich leicht, mit Charme und Esprit hinterm Berg zu halten, alle Achtung! Ein lautes und entsetztes „Oh nein!“ bremste Lees Rückzug. „Was ist?“, fragte er schnell. „Berta ...“, flüsterte Niha und starrte auf einen Punkt am Boden. „Das Huhn?“ „Oh nein...“ Irgendwie fand er es rührend, wie nahe ihr der Tod des Federviehs ging. „Verdammt! Sie hat doppelt so viele Eier gelegt, wie die andern.“ Ah... Also keine Trauer sondern ein reines Rechenexempel. „Gut. Dann gibt es heute eben Hühnerragout“, seufzte Niha. „Du willst sie ESSEN?“ Lee blinzelte ungläubig. „Natürlich.“ „Aber...“ „Aber was?“ „Sie... hatte einen Namen.“ „Ja. Sie war ja auch ein gutes Huhn. Doch jetzt ist sie ein... Exhuhn.“ „Du... weißt doch gar nicht, an WAS sie gestorben ist.“ „Natürlich weiß ich das. Sie war die älteste Henne im Stall. Ich glaube kaum, dass es Mord war." Lee schluckte. In seinem ganzen Leben hatte er noch nichts gegessen, das an Altersschwäche gestorben war, geschweige denn etwas, das einen Namen gehabt hatte. „Mhm. Ich geh Holzhacken“, murrte er. Holzhacken war gut! Mit Äxten konnte er umgehen. `Seltsam, hattest Du das von Frauen nicht auch gedacht?´ Lee fluchte die gelassene, rauchige Stimme aus seinem Kopf. Da sein Vater ihm diese Suppe eingebrockt hatte, könnte er ja wohl wenigstens die Güte haben, sich aus seinen Gedanken rauszuhalten, oder? Mit jedem genauen, wuchtigen Axthieb wurde der fürstliche Frust ein Wenig abgebaut und hatte beinahe schon einen erträglichen Pegel erreicht, als das Zauberwort `Frühstück!´ aus dem Haus schallte. Ein an sich freudiges Ereignis, sollte man meinen, doch selbstauferlegte Zurückhaltung brachte Lee dazu, verkrampft auf seinem Holzstuhl zu hocken, und darauf zu achten, auf KEINEN Fall mehr zu essen, als die anderen. Als seine Aufmerksamkeit für einen Moment von Jem abgelenkt wurde, bekam er schnell einen Nachschlag. „Äh...“, Lee zwang eine der größten Lügen seines privilegierten Lebens über die Lippen: „Eigentlich bin ich schon satt.“ „Da Du heute noch zu arbeiten hast, solltest Du lieber zulangen“, meinte Niha nur knapp. Er ließ es sich nicht zweimal sagen. Das würzige Rührei war in der Tat der letzte Lichtblick eines nicht enden wollenden, deprimierenden Tages. Lee hatte plötzlich nicht nur zwei linke Hände, sondern auch die entsprechenden Beine und Füsse dazu. Die Aufgabe des Pflugs schien es zu sein, den Sohn Zukos des Zweiten eben genannter Gliedmaßen zu entledigen. Und der störrische Ochs-Esel, der das Ding zog, hatte es scheinbar auf den restlichen Menschen abgesehen. Der Stacheldraht der Weidenumzäunung befleißigte sich einer hochgradig feindseligen Haltung und das simple `Stallausmisten´ entpuppte sich als komplettes Desaster. Lee zweifelte am Lauf des Lebens, am Lauf der Sonne UND... an sich selbst. Er galt als einer der herausragendsten Kampfmeister des Landes! Es gab nur etwa ein Dutzend Männer, das ebenso viele Waffengattungen beherrschte, wie er! Auf der ganzen Welt gab es vielleicht fünf oder sechs Menschen, die ihm mit einem Schwert gefährlich werden konnten. Und mit zweien davon war er verwandt! Der fürstliche Sohn der Sonne war es gewohnt, sich mit der Präzision und dem Gleichklang eines meisterhaften Uhrwerks zu bewegen. Doch mit einem Mal sollte er ein Tollpatsch sein? Niemals! Aber ach! Je verbissener er versuchte, die Dinge in den Griff zu bekommen, umso widerspenstiger wurden sie. Warum verschwor sich hier denn ALLES gegen ihn? Lag es an einer seltsamen, kosmischen Magnetstrahlung? Tatsache war, dass Lee in seinem gesamten Leben noch nie so frustriert gewesen war, wie jetzt. Und bestimmt war eben dies in der Absicht seines Vaters gelegen. Vielen Dank auch! Abends kaute Lee das Ragout, der an Altersschwäche dahingesiechten Berta, welcher auch die Kochkunst seines Furien-Bosses die Zartheit der Jugend nicht hatte wiederbringen können. Immerhin gingen ihre zähen Überreste gut gewürzt in die Geschichte ein. Um sich wenigstens noch ETWAS nützlich zu machen, bot Lee an, mit Maja zusammen abzutrocknen. Das trug ihm einen verführerisch dunklen und einen misstrauisch grauen Blick ein. Nach der zweiten zu Bruch gegangenen Schüssel, warf Lee im wahrsten Sinne des Wortes das Handtuch und verzog sich in den einsamen Stall. Seinen geschundenen Körper zur Ruhe bettend, fragte er sich, warum zum Teufel es bisher niemand für notwendig erachtet hatte, ihn wissen zu lassen, was für ein kompletter Volltrottel er war! Er schlief unruhig, träumte von einem Stacheldrahtgeflecht, das ihn in die Tiefen eines riesigen Milchbottichs zog, während ein strenger Ochs-Esel zu Gericht über ihn saß und mit einer Axt auf eine Pfanne eindrosch, um für Ruhe im Saal zu sorgen. Einen weitaus angenehmeren Abend verbrachte die Mutter Seiner Hoheit, bei der Lektüre einer mehr als willkommenen Nachricht. `Überaus geliebtes, fehlinformiertes Weib, Tians Jubiläum ist nicht am Siebzehnten, sondern am Sechzehnten. Du solltest also entweder Deine Informanten wechseln, oder aber Deinen Kalender überarbeiten. Ich habe übrigens beschlossen, dass dieser glorreiche Tag Deiner Anwesenheit bedarf. Somit sind es nur noch drei Tage, bis Du mich wieder zur Weißglut bringen kannst.´ Mylady musste sich beherrschen, nicht undamenhaft aufzukreischen. `Diese Nachricht ist einer Besserung Deiner `asthmatischen Beschwerden´ hoffentlich zuträglich. Mein eigenes Befinden hat sich seitdem jedenfalls um Einiges gebessert. (Deine älteste Tochter war tatsächlich der Ansicht, ich hätte Trübsal geblasen. Lächerlich!) Lass Dir versichern, sämtliche Mitglieder des Hofstaats, inklusive der Katzen, fiebern Deiner Rückkehr geradezu entgegen. Ich selbst erwarte sie mit einer gewissen Ungeduld. Das Problem mit den Damen des Fördervereins für bändigungsfreie Zonen in Teehäusern habe ich gelöst. (Du wirst mir erklären müssen, welcher Teufel Dich geritten hat, sie in den Palast zu bitten und es sollte besser eine GUTE Erklärung sein!) Allerdings scheine ich sie verärgert zu haben, also mach Dich bitte auf eventuelle Beschwerdebriefe gefasst, mein Herz. Solltest Du Deine Vorliebe für Ziegelsteine aufrecht erhalten wollen, führe Dir bitte vor Augen, wie das Land aussähe, sollte ich mich gezwungen sehen, diese Art Baumaterial von Angesicht der Feuernation zu tilgen. Doch Du siehst sicher ein, dass ich nicht zulassen kann, für überflüssig erklärt zu werden! Ich verbleibe in der Hoffnung, dass Du die wenigen Tage bis zu Deiner Heimkehr ohne weitere melancholische Anwandlungen überstehst. Also, sei schön brav! Dein Dich hochachtender, erwartungsfroher Gatte.´ Dem dünnen, im Grunde völlig unschuldigen Pergament wurde eine ziemlich unziemliche Behandlung zuteil. Es wurde an eine in kostbare Seide gehüllte Brust gepresst, beinahe zerdrückt und mit stürmischen Küssen bedacht. Danach begann Jin die Prozedur von vorn. Lee erwachte früh, aber ohne seinen üblichen Elan, alles andere als bereit, sich den Katastrophen zu stellen, die ihm dieser neue Tag bieten würde. Aber es half ja nichts. Ächzend erhob er sich, ließ seine müden Gelenke knacken und mühte sich die Leiter hinab. Nach einer halbherzigen Katzenwäsche am Brunnen, beschloss er, es sei an der Zeit, seine Lebensgeister zu wecken und eröffnete den Tento. Das alte Ritual half auch diesmal. Schon bald durchströmte neue Energie Lees Körper und Geist. Nihas Morgen begann ebenfalls ganz fürchterlich. Sie hatte verschlafen. Und es gab nichts, was sie mehr hasste! Sie spritze sich ein wenig Wasser ins Gesicht und hastete in die Küche. Zuerst entzündete sie ein Feuer, holte schnell den am Vorabend gekneteten Teig, formte hektisch die flachen Brote und schob sie in den Ofen. Jetzt musste sie nur fix zum Hühnerhaus und wieder zurück, da sonst die ganze Herrlichkeit verbrennen würde. Nun, sie war auch recht schnell. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie fast in dieses lange Elend gekracht wäre, welches gerade seinen meditativen Sonnenhokuspokus beendete. „Haben wir etwa verschlafen?“, schnurrte der samtweiche Bass des Störenfrieds. Eines musste sie ihm lassen, sein Sarkasmus war kaum wahrnehmbar. Niha selbst beschloss, weniger subtil zu sein. „Sind WIR als Kind vielleicht zu heiß gebadet worden?“ „Eigentlich,“, seufzte Lee, „wollte ich nur meine Hilfe anbieten.“ „Oh, bitte... Ich kann doch nicht zulassen, dass Du Dein Tantra unterbrichst, nur um auf meinem Hof Unheil zu stiften." „TENTO!", knirschte Seine Hoheit. „Und Eier holen werd ich wohl gerade noch schaffen." „Danke“, säuselte Niha, „Aber ich brauche sie GANZ.“ In Anbetracht seiner gestrigen Nutzlosigkeit, konnte er ihr eigentlich keine Vorwürfe machen. Lee tat es trotzdem. Agni! Diese Frau würde sogar eine Seekuh zum Mord verleiten! Bevor eventuelle kriminelle Energien freigesetzt werden konnten, stapfte ein zorniger Prinz zum Holzstapel neben dem Hühnerstall und begann mit seinem therapeutischen Holzhacken. Unverschämtes Weib! *Zack* Zänkische, feuerspeiende Furie! *Zack, zack* Dieses streitlustige, aufmüpfige, undankbare Frauenzimmer... „Fabrizierst Du schon wieder Deine riesigen Holzklötze, die ich nicht in den Ofen kriege?“ *ZACK* Ein einziger, mächtiger Hieb grub die Schneide der Axt tief in das harte Holz des Spaltblocks. Als Lee herum schnellte, hielt nur die Faszination Niha davon ab, ein paar Schritte zurückzuweichen. Himmel! Er war wirklich unglaublich wütend, und dabei - sie schluckte - unglaublich... äh, ansehnlich. Flammendes Gold hatte wieder die Vorherrschaft über seine Augen übernommen und brannte sich in ihren erschrockenen Blick. Alles, wirklich ALLES in diesem markanten Gesicht deutete darauf hin, dass sie in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Es war ziemlich unfair, fand Niha. Wenn man ihr schon einen mordlüsternen Buben ins Haus schickte, wäre eine kleine Warnung ja wohl das Mindeste gewesen. „Leider habe ich keine Ahnung von den Ausmaßen Deines Ofens“, spie der potentielle Assassine zornig aus. „Sondern nur von denen Deines schrillen Organs!“ Er wurde stetig lauter. „Vielleicht wären klare, sachliche Arbeitsanweisungen zweckmäßiger, als Dein unausstehliches Dauergekeife.“ Demnächst würde man Lees Lautstärke guten Gewissens als Brüllen bezeichnen können. „`Geh Pflügen!´ ist KEINE ausreichende Schulungsmaßnahme! Ebenso wenig wie: `Kümmere Dich um den Zaun!´. Und JETZT...“ Er beugte sich drohend über sie. „LASS mich in Ruhe!“ Bevor Niha Luft holen, oder auch nur blinzeln konnte, kam ihre Rettung in Form eines Rufes. „NIHAAAA?“, schrie Jem. „Ja?“, piepste die Gerufene. Sie räusperte sich schnell. „JA?“ „ICH GLAUB DIE BROTE SIND JETZT WIRKLICH FERTIG ...“ „Agni!“ Niha wirbelte herum und rannte zum Haus. „LASST JA DIE FINGER VOM OFE ...“ Ein hoher, schriller Schrei unterbrach sie. Ein Sekundenbruchteil später schoss ein Riesenkerl mit einer Geschwindigkeit an ihr vorbei, die ihr eigenes Tempo zum gemütlichen Sonntagsspaziergang degradierte. Als Lee in die Küche stürzte, lagen halb verbrannte, qualmende Brotleibe auf dem ganzen Boden verteilt. Mitten drin kauerte Zerfa, umklammerte mit der Linken das Handgelenk ihrer anderen Hand und wimmerte zum Steinerweichen. „Jem!“, stieß Lee hervor, „Kaltes Wasser! Schnell!“ Er kniete nieder, zog das weinende Mädchen in die Arme und untersuchte vorsichtig ihre Hand. „Zerfa?“ Niha stütze sich keuchend am Türrahmen ab. „Sie hat sich die Hand verbrannt.“ „WAS? Du sollst doch nicht an den Ofen!“ Zerfa schluchzte stockend. „Sie hat nur versucht, die Brote zu retten!“, knurrte Lee, der sich mit guten Absichten und deren weniger guten Ergebnissen bestens auskannte. Er wollte Niha eben empört anfunkeln, als er Schuld und Sorge in den weichen, grauen Augen erkannte. Schnell kam sie näher, nahm ihm das Kind ab und setzte sich auf einen Stuhl. „Schätzchen...“ Sanft wiegte sie die Kleine hin und her. „Die dummen Brote sind doch nicht wichtig gewesen!“, flüsterte sie. „Lass mich die Hand sehen.“ Schluchzend wurde ihr ein mit Brandblasen übersäter, zitternder Handrücken präsentiert. Als sie die Bescherung sah, schossen Niha die Tränen in die Augen. Das war IHRE Schuld! Sie hatte ja lieber gestritten, als sich um ihre Aufgaben zu kümmern. Mittlerweile war Jem mit dem Wasser vom Brunnen gekommen. Maja, die die Kuh gemolken hatte, war ebenfalls herbeigeeilt. Zusammen bemühten sich die Geschwister redlich, Zerfas Schmerzen zu lindern und sie abzulenken. Doch Brandwunden hatten einen ganz entscheidenden Nachteil, wie Lee aus zahlreichen Trainingsversuchen wusste: Mit der Zeit schmerzten sie mehr, statt weniger. „Wir brauchen einen Arzt. Gibt es im Dorf einen Wasserheiler?“ „Ja“, murmelte Niha und blickte zu Boden. „Aber den können wir uns nicht leisten.“ „Nicht leisten? Das ist eine ziemlich üble Verbrennung.“ „Ja...“ Trotzige, ratlose Augen bohrten sich in seine. „Wir haben aber kein Geld mehr. Letzte Woche musste ich Saatgut kaufen und.... Dr. Kwan arbeitet leider nur gegen Vorkasse.“ „Wirklich?“ Lee spürte seine Halsschlagader pochen. „Reizender Zeitgenosse. Dann werd ich ihn jetzt besuchen und ein kleines Schwätzchen halten.“ Er stapfte zur Tür. „Was soll das bringen?“, wollte seine Niha leise wissen. „Eine verheilte Hand“, antwortete Lee knapp. „Welches Haus ist seines?“ „Am Marktplatz, das mit der blauen Tür“, sagte Maja schnell. „Gut. Bin in einer Viertelstunde wieder da.“ JETZT wusste Niha, dass er verrückt war. Selbst wenn man den ganzen Weg rannte, brauchte man mindestens zehn Minuten bis ins Dorf. Sechs Minuten später hämmerte es an Dr. Kwans Tür. Acht Minuten später untermauerte Prinz Lee seine Argumente eindrucksvoll, indem er dem Heiler am Dorfbrunnen demonstrierte, wie verflixt knapp Atemluft unter Wasser werden konnte. Nach einer weiteren, ziemlich kurzen Minute, zeigte der Mediziner sich kooperationsbereit und stellte sogar sein Reit-Rhino zur Verfügung. Exakt dreizehneinhalb Minuten, nachdem Lee los gespurtet war, betrat ein etwas feuchter, aber stinkend freundlicher Dr. Kwan die Küche der Familie Koro. Beim Anblick des kleinen Mädchens, das verzweifelt versuchte, die Tränen zurückzuhalten, überkam den Arzt ein verteufelt schlechtes Gewissen, dass es tatsächlich erst der enorm handfesten Verhandlungstaktik des energischen, jungen Mannes hinter ihm bedurft hatte, um ihn hierher zu lotsen. „Gute Güte!“ Er schnalzte mit der Zunge, während er sachte die Wunde untersuchte. „Na, das haben wir gleich.“ Er öffnete einen Wasserschlauch und begann mit Hilfe des eisig schimmernden Wassers die Brandwunde zu behandeln. Nach nur wenigen Augenblicken fing Zerfa vor Erleichterung an, leise zu weinen. Niha drückte den Lockenkopf ihrer kleinen Schwester fest an ihre Brust. „So... das hätten wir. Hier ist noch eine Salbe, für die Nachbehandlung. Fünfmal am Tag auftragen, dann dürfte übermorgen nichts mehr zu sehen sein.“ Dr. Kwan fingerte einen Tiegel aus der Tasche, den er Niha in die Hand drückte. „Danke“, murmelte sie. „Ich werde Ihnen das Geld so bald wie möglich bringen.“ „Oh... äh... DAS... äh...“, stammelte der Doktor mit Seitenblick auf den großen Kerl, der immer noch mit verschränkten Armen an der Türschwelle stand, verlegen. „Ich mach Notfälle jetzt umsonst. Seit Neuestem! Also... ich bekomme Geld.“ „Wirklich? Von wem?“, wollte Niha wissen. „Ich... Von... von...“ „Vom Staat“, schaltete Lee sich schnell ein. „Ja... äh...“ Kwan schwitze mittlerweile ganz erbärmlich. „Vomääh Staat!“, log er heroisch. „Neue Reform!“, half Lee freundlich aus. In Gedanken machte er eine entsprechende Randnotiz. Er würde diesen Vorschlag so bald als möglich seinem Vater unterbreiten. „Reform?“, fragte Niha verwirrt. „Gut. Aber... ich werde zumindest die Hälfte zahlen!“ „NEIN! Äh ... Nicht nötig! Wirklich! War mir eine Freude!“ Hastig packte Dr. Kwan sein Sammelsurium zusammen. „Und Du, kleines Fräulein, versuch lieber, Dich vom Backofen fernzuhalten, ja?“ „Ja“, wisperte Zerfa schniefend. Der Doktor klopfte die Taschen seiner Jacke ab. „Herrje... jetzt hab ich gar keine Lollies mehr“, murmelte er entschuldigend. „Trotzdem noch einen schönen Tag allerseits.“ „Ja. Schönen Tag“, brachte Niha perplex hervor, als er auch schon wieder hinaus eilte. „Lollies?“, fragte Jem völlig baff. Seit wann verteilte der alte Knacker denn Lollies? Also, rein theoretisch gesehen. Draußen, am betagten Reittier des Arztes, wechselte eine erhebliche Geldsumme den Besitzer. „Das... ist unnötig!“, murmelte Kwan. „Sie haben mir heute etwas klar gemacht, das ich vergessen hatte, junger Mann.“ „Das wäre?“ „Warum ich Arzt geworden bin. Ich werd in Zukunft bestimmt nicht mehr JEDE Behandlung in Rechnung stellen.“ „Nun, dann sollten Sie sich bei den Leuten, die es sich leisten können nicht so anstellen“, antwortete Lee trocken, und drückte dem Heiler einen Beutel in die Hand. „Ich denke, das dürfte für alle in Zukunft anfallenden Behandlungskosten der Familie Koro reichen. Danke sehr. Und wegen des nassen Kopfs... nichts für Ungut.“ „Nein, nein. Äh ... Wiedersehen“, meinte der Doktor, zerstreut die prall gefüllte Börse befummelnd. Von Stund an wurde Lee Iroh Tian Tatzu, Prinz der geeinten Feuernation, auf Schritt und Tritt belauert. Wo auch immer er hinging, tauchte in der Nähe ein neugieriges, misstrauisches kleines Mädchen auf, das unbedingt herausfinden wollte, warum dieser komische Mann ihr geholfen hatte. Denn Freundlichkeit von Fremden, war etwas, das Zerfa in ihrem Leben nicht oft erfahren hatte. Kapitel 5: Von Unbekannten und Variablen ---------------------------------------- Schloss Tutuk, drei Tage zuvor Aus dem gespenstischen Grau der Abenddämmerung löste sich ein großer, stummer Schatten. Gemessenen Schrittes kam Lord Bedfield näher, sein langer Umhang umwogt von den geheimnisvollen, blassen Schleiern des ersten Nebels. Diese edle Gestalt hätte Lucinda überall erkannt. Als sie der Lähmung der Schrecken, die sie so süß durchzuckten, endlich entronnen war, fasste sie sich ein Herz und suchte ihr Heil in der Flucht. Dies konnte nicht sein. Es durfte nicht sein! „Nein! Bleibt hier, ich flehe Euch an!“, stieß er rau hervor. „Mylord ... ich kann nicht!“, wisperte sie, halb schluchzend. Mit abgewandtem Gesicht strebte Lucinda zur Kutsche. Sie hätte niemals hierher kommen dürfen. „Doch, Du kannst!“ „Alistair ...“ Zum ersten Mal kam sein kostbarer Name über ihre zitternden Lippen. „Eure Familie wird mich nie akzeptieren! Und ... was wird aus meiner armen, hilflosen Tante, wenn ich ihr nicht mehr beistehen kann?“  Vergebens versuchte sie erneut zu fliehen, doch mit einem energischen Schritt vertrat er ihr den Weg. Er konnte sie nicht gehen lassen. Niemals! Sanft und doch fest umfasste er ihre schmalen, bebenden Schultern. „Lucinda! Sieh mich an!“ Sein Flehen ließ sie die Unmöglichkeit ihrer verbotenen Gefühle beinahe vergessen. Dennoch blieb sie standhaft und blickte zu Boden, auch wenn ihr Herz etwas anderes gebot.. „Lucinda!“ Sein sonst so fester Bariton wankte. Ihre Augenlider hoben sich wie von selbst zu seinem bezwingenden Blick und sie versank in den aufgewühlten, kobaltblauen Tiefen dieser stürmischen See.   Pippa runzelte die Stirn, knuffte die Kissen in ihrem Rücken zurecht und stopfte sich noch eine Feuerflocke in den Mund. Nein. Allem Anschein nach klappte es heute nicht! Seltsam. Lord Bedfield war auf einmal bei weitem weniger anregend als gestern Abend. Was war denn bitte schön los? Ach was, sie musste sich einfach ein wenig mehr in die Geschichte hineinversetzten. Doch Mylords Augen weigerten sich weiterhin hartnäckig, so hinreisend wie üblich zu sein. Ihr aufgewühltes, stürmisches Kobaltblau zeigte die eigenwillige Tendenz zu hellem, durchscheinendem Honiggold zu wechseln. DANN allerdings, war der Mann schlichtweg spektakulär! Mürrischer als vorher, aber spektakulär. Mist! Oh, Mistmistmist! SO konnte sie sich nicht auf den verdammten Roman konzentrieren. Dabei war „Der Lord und das Mädchen“ eines ihrer Lieblingsbücher.    Um dieses, für die Tochter der Tutuks doch recht unerwartete Freizeitvergnügen zu verstehen, sei es kurz erlaubt, das vielschichtige Innenleben des Fräuleins zu beleuchten. So akademisch und intellektuell ihr Alltag auch sein mochte, abends saß Pineria in ihrem gemütlich warmen Bett und las mit glühenden Ohren von den Irrungen und Wirrungen der Liebe. Ganze Stapel schreiend bunter Bücher, mir mehr oder weniger geschmackvollen Einbänden, lagen rund um ihre Schlafstatt verteilt. Im Grunde war es dieser irrationalen Vorliebe zu verdanken, dass sie ihr forscherisches Augenmerk neuerdings auf die menschliche Leidenschaft gerichtet hatte. Sie wollte wissen, ob es dieses Sinnverwirrende, alles in den Schatten stellende Gefühl in Wirklichkeit gab. Wenn sie darüber las war alles ganz wunderbar und zuweilen spürte sie ein merkwürdiges Kribbeln, aber ERLEBT hatte sie es noch nie. Würde sie auch nicht. Wie denn auch? Die gefährlichste Situation, in die sie geraten würde, war ein Bienenstich beim abzählen irgendwelcher Blütenblätter irgendwelcher Pflanzen. Ein strahlender Ritter, FALLS es diese Spezies überhaupt gab, würde sie glatt übersehen. Aber sie wollte es wissen! Wollte wissen, wie es funktionierte. WARUM es funktionierte...  Kurz und gut: Sie wollte die Liebe auf die ihr einzig mögliche Art und Weise erleben. Denn ein winziger, unbelehrbarer Teil von ihr träumte. Und Träume ... dagegen kamen weder ihre Erbanlagen, noch ihre Erziehung an. Darum verschlang sie die billigen Romane mit herzklopfenden Eifer.  Trotz ihrer Schmähreden gegen den Stand der Ehe; tief in ihr gab es diese nicht enden wollende Sehnsucht nach jemandem, der sie verstand, egal, wie spontan oder skurril ihre Einfälle waren. Nach jemandem, der sie tröstete, wenn draußen ein Gewitter tobte, anstatt ihr nur zu versichern dass die elektrische Ladung ihr nichts anhaben konnte, da das Haus ja Blitzableiter habe. Jemand, der sie hübsch oder lustig oder liebenswert fand, obwohl sie es nicht war ... Aber da sich diese Sehnsucht nie erfüllen würde, wurde sie verleugnet, ja fast gefürchtet. Fakt war, dass sie für die „große Liebe“ wahrscheinlich so gut wie alles aufgeben würde und DAS jagte ihr eine Heidenangst ein ... rein hypothetisch natürlich.   Nur ... an diesem Abend gelang es ihr jedenfalls ganz und gar nicht, in die Geschichte einzutauchen. Sie konnte sich nicht konzentrieren! Es war nicht mehr zu leugnen. Der frisch eingetroffene Assistent hatte eine sehr beunruhigende Wirkung auf sie. Er war der erste Mann, der ihren Pulsschlag erhöhte, obwohl er NICHT irgendwelchen Buchseiten entsprang.  Umso wichtiger war es, nicht auf dumme Gedanken zu kommen. Bevor sie noch eigenartige Hoffnungen entwickelte, die ohnehin nur dem bitteren Untergang geweiht wären (Himmel, sie las eindeutig zu viele Schundromane!), musste sie ihren Plan ihn abzuschrecken weiter verfolgen! „Nett“ wäre er für ihren Seelenfrieden jedenfalls zu gefährlich. Wenn er sie weiterhin nicht leiden konnte, kamen auch keine unbekannten Variablen mit ins Spiel!     Am nächsten Morgen   Fräulein Tutuk schälte sich ungewöhnlich früh aus den Laken.  Ihr narrensicherer Plan erforderte leider ein derart großes Opfer. Schließlich wollte sie ihren Hausgast mit einem ganz besonderen Frühstück überraschen! Mal sehen, ob sie nicht wieder den ursprünglichen Motz-Klotz zum Vorschein bringen konnte. Der Stühlerücker von gestern Abend war eindeutig unheimlich gewesen. Operation „Abschreckung“ trat in eine heiße Phase ein: Den Herd. Da Pippa eine mehr als passable Köchin war, räumte Eri ohne viel Federlesen den Platz und wurde somit Mittäterin eines an Heimtücke kaum zu überbietenden Unterfangens. Eine solch mutwillige Grausamkeit, wie die nun folgende hatte Schloss Tutuk lange nicht mehr gesehen...   Lu Ten erwachte von den ersten Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Er schnellte hoch. Sonne? Was? Schon? Agni! Er hatte verschlafen!? Gab es denn hier keine Taubenhähne? Er katapultierte sich aus den Laken, hechtete zum Kleiderschrank, warf wahllos die ersten, griffbereiten Kleidungsstücke über und band in aller Eile sein Haar zurück.  Es dauerte wesentlich länger sich den Weg zur Küche, wo seines Wissens nach das Frühstück serviert wurde, zu erfragen. Sein Geruchsinn meldete jedoch ernsthafte Zweifel an, ob der ihm gewiesene Weg auch der richtige war.   Pineria linste konzentriert in die große, gusseiserne Pfanne. Gleich hatte das Röstbrot exakt den Verkohlungsgrad erreicht, der einem nicht als Vorsatz ausgelegt werden konnte. Perfekt! Sie begann zu summen. „Verzeihung!“ Sie fuhr herum. Im Türrahmen stand das personifizierte schlechte Gewissen. Das personifizierte, MÄNNLICHE schlechte Gewissen. „Wie bitte?“, fragte sie leicht verträumt. „Verzeihung!“, wiederholte Herr Song. „Ich ... habe verschlafen!“ Das klang, als würde er einen Mord gestehen. „Wirklich?“ mit der Fingerspitze stupste sie ihre Brille zurecht. „Das Frühstück ist doch eben erst fertig.“ „Die Sonne ist mindestens schon vor fünfunddreißig Minuten aufgegangen.“ „Ja. Ist das nicht nett von ihr?“  Lu Ten verengte die Augen. Sie wollte ihn foppen, oder? Doch sie wirkte so unschuldig wie ein Baby. „Setzten Sie sich doch bitte. Es gibt Eiertoast. Ich hab ihn selbst gemacht!“, setzte sie hinzu, um sicherzugehen, dass er wusste, WEM er das folgende Geschmackserlebnis zu verdanken hatte. „Klingt hervorragend!“ Sie lächelte leicht, streute noch eine großzügige Prise Salz über das schwarzbraune Zeug in der Pfanne, schaufelte es auf einen Teller und platzierte ihn vor dem neuen Hausgast.   Nach dem ersten, ungläubigen Blick auf die undefinierbare Masse, nahm Lu Ten drei tiefe Atemzüge, leerte seinen Geist und bemühte sich, positiv zu denken. Schließlich saß die Köchin ihm genau gegenüber. Das Kinn auf die Fäuste gestützt beobachtete Pineria erwartungsvoll, wie er den ersten Bissen zum Mund führte. Heiliger Himmel! Verzweifelt versuchte Seine Hoheit sofort alle Nervenbahnen zum Gehirn zu blockieren. Ungeahnte Geschmacksrichtungen trafen ihn von allen Seiten wie Vorschlaghämmer. Er unterdrückte ein Husten. Dieses Zeug würde jedem lebendem Menschen die Tränen in die Augen treiben.    Einen größeren Schwachpunkt hätte Pippa sich wahrlich nicht aussuchen können. Der Feuerlord und all seine Kinder waren, so unpassend es schien, wahre Vielfraße. Sie aßen gern, sie aßen viel, sie aßen ständig.  Der Kronprinz nahm jedoch eine gewisse Sonderstellung ein. Sein Geschmack galt als heikel, exquisit und delikat. Wenn die Feuernation je einen Gourmet hervorgebracht hatte, dann war es der anspruchsvolle Thronerbe. Er war beileibe nicht mäkelig, oh nein! Zu so etwas Banalem hätte er sich wohl kaum herabgelassen. Niemals kam ein unangemessenes Wort der Kritik über seine Lippen. Doch das kurze, vielsagende Heben einer royalen Augenbraue hatte schon so manchem vermeintlichen Meisterkoch die Karriere ruiniert. Lu Tens Gaumen war nun einmal von Kindesbeinen an verwöhnt worden. Er liebte einfaches Essen durchaus. Aber es musste gut zubereitet sein.   „Schmeckt´s denn?“ Einmal mehr blinzelte Pineria wie ein Waldkäuzchen. „Ja.“, keuchte der Kronprinz, seines Zeichens der Schrecken aller tonangebenden Gastgeberinnen. Er brachte es beim besten Willen nicht über sich, diesem großäugigen Wesen zu offenbaren, dass das Essen unzumutbar war. „Nicht .. zu viel Salz?“ „Äh ... vielleicht ein Hauch.“ sagte er vorsichtig, um seine Zunge nicht in Berührung mit irgendetwas Unaussprechlichem zu bringen. „Also ist es versalzen?“ Wieder dieses Blinzeln. „Nein. Das nicht.“   Himmel! Hatte der Mann denn keine Geschmacksknospen? Niemand, aber auch niemand würde ihr Machwerk freiwillig essen. Wenn er nicht merkte, WIE verbrannt alles war, musste sie ihn eben darauf aufmerksam machen. „Ich hab´s extra knusprig gemacht!“ „Ja. Danke!“, Lu Ten zwang schnell den vorletzten Bissen hinunter. So kurz vor der Zielgeraden konnte er nicht einfach aufgeben, das wäre eines Tatzus nicht würg ... äh, würdig. Nur noch einmal, Junge! Dann hast Du es hinter Dir! Seine Gastgeberin stand auf. „So, hier ist noch ein Nachschlag.“ „NEIN! Ich ...“ Platsch! „... bin satt.“, schloss er matt. Der „Nachschlag“ war zu allem Übel im Restfett eingeweicht worden und triefte fröhlich vor sich hin. Mit abgrundtiefer Verachtung starrte Seine Hoheit auf die rußigen, schmierigen Tropfen auf seinem Teller. „Ach was!“, widersprach die Köchin des Grauens. „Ein kräftiger Mensch wie Sie braucht doch ausreichend Nährstoffe, nicht wahr?“ Nährstoffe? Da WAREN keine Nährstoffe mehr! Ausgelutschte Briketts hatten mehr Nährstoffe als dieses Zeugs!   Innerlich mit der Stirn gegen die Tischplatte hämmernd, äußerlich die Ruhe selbst, schaffte Lu Ten es irgendwie, auch die zweite Portion in seinen rebellierenden Magen zu befördern. Er erntete ein strahlendes Lächeln.  Die Gedanken hinter ihrem Lächeln waren weniger strahlend. Verflixt und zugenäht! Wo war dieser Mensch nur aufgewachsen? Aß er ALLES? Sie ... wenn sie gewusst hätte, dass er den verkohlten Matsch-Toast ohne Protest essen würde, hätte sie diese dumme Idee nie in die Tat umgesetzt. Schließlich wollte sie ihn für den Fall der Fälle nur desillusionieren; nicht vergiften. Ihr schlechtes Gewissen erinnerte sich an seine Pflichten und meldete sich mit voller Wucht.    „Möchten Sie ... etwas Tee?“ Lu Ten schwankte zwischen Hoffnung und Entsetzten. Tee wäre verdammt gut zum runterspülen. Aber, wer wusste schon, WAS diese Person unter „Tee“ verstand. „Eri hat ihn gemacht.“, fügte Pippa aus Barmherzigkeit hinzu. „Gut! Ich hätte gerne eine Tasse.“ Seine Erleichterung war beinahe greifbar. Pippa schnappte sich das größte Trinkgefäß, das sie finden konnte und goss heißen, aromatischen Tee ein. Natürlich könnte man das als Inkonsequenz ihrerseits auslegen, aber sie wollte nicht Schuld sein, wenn er eine Magenverstimmung bekäme. „Bitte sehr!“ „Danke!“ „VORSICHT! ER IST ... noch heiß.“, fügte sie in normaler Lautstärke hinzu, denn der Inhalt der Tasse war bereits verschwunden. Verwundert hob Lu Ten die linke Braue. „Ich bin Feuerbändiger. Hohe Temperaturen machen mir nichts aus.“ „Entschuldigung. Das hatte ich vergessen.“ Sie füllte seine Tasse nochmals auf, die diesmal auch ganz manierlich und langsam genossen wurde. „Ich würde nachher gerne ein paar Vermessungen durchführen, wenn Ihnen das recht ist.“, sagte Pippa in die Stille. „Natürlich. Schließlich bin ich hier, um zu assistieren.“ Genau, schließlich war er hier, um zu assistieren!   Auf dem Weg zum Arbeitszimmer meldete sich der fürstliche Sinn für Gefahren, hellwach seit dem jüngsten Anschlag auf den Magen-Darm-Trakt seines Besitzers, erneut zu Wort. Das hektische Scharren riesiger Pfoten näherte sich mit großer Geschwindigkeit und um die Ecke schoss ein gigantischer Wolfshund. Hund? Dieses gewaltige Vieh würde ganze Armeen in die Flucht schlagen. Und es stürzte geradewegs auf Miss Pineria zu. Lu Ten war gerade im Begriff, eine heroische Rettungsaktion zu starten, als ihr freudiges „Mimmi!“ ihn innehalten ließ ... MIMMI?? Mit Schwanzwedelndem Eifer widmete Monster-Mimmi sich bellend der Begrüßung ihrer Freundin. Für dieses unhaltbare Verhalten wurde ihr sogar noch heftiges Lob zuteil. „Gutes Mädchen! Jaaaa! Ist ja gut ... und jetzt sitz. Sihiiitz!“ Energisch kraulte Pippa die weichen, grauen Schlappohren. Nach kurzer Zeit wandte der Hund sein hyperaktives Interesse dem männlichen Zweibeiner zu. Doch Lu Ten war nicht umsonst durch die Schule seines Vaters gegangen. Zuko Tatzu hatte sich stets bemüht, seine Kinder auf alle erdenklichen Situationen des Lebens vorzubereiten, also auch auf den drohenden Ansturm monströser Freundschaftsbekundungen. Die tellergroßen Pfoten des Kolosses lasteten zwar schon auf seinem Brustkorb, aber blitzschnelle Reaktionen bewahrten den Kronprinzen immerhin vor einer massiven Schlabberattake. „SITZ!“, donnerte er. Schnell rutschen Mimmis Vorderbeine tiefer. Irgendein verborgener, uralter Hundeinstinkt sagte ihr, dass sie diesmal nicht so tun sollte, als verstehe sie den Befehl nicht. Etwas unentschlossen ließ sie sich auf die Hinterbeine nieder und sah ergeben zu dieser neuentdeckten Autorität auf. „Gute Güte! Sieh sich das einer an.“, staunte Pippa. „Sonst gehorcht sie nie.“ Warum wunderte ihn das nur so überhaupt nicht? „Hunde brauchen eben eine feste Hand.“ „Ja ... oder eine laute Stimme. Vielleicht können Sie sie ja ein bisschen erziehen? Sie scheint Sie ziemlich zu mögen“, sagte sie mit Blick auf den hechelnden Vierbeiner, der noch immer zu Füssen ihres Assistenten saß und diesen anhimmelte. „Sie reagiert nur auf einen klaren Befehl.“ „Sag ich ja.“, meinte sie munter. „So, bitte hier lang.“, bat sie.   Wenig später verfluchte Lu Ten seinen Bruder, Bürgermeister Babra und, zur Sicherheit, auch gleich die ganze verdammte Feuernation. Wäre er nur nie hierher gekommen! In Pinerias gemütlichem, hellem Arbeitszimmer herrschte das pure Chaos. Wacklige Stapel alter Bücher und dicker Folianten belagerten scheinbar jede freie Stelle. Verschiedenste, undefinierbare Instrumentarien lagen auf unterschiedlich großen Tischen. Ihre einzige Aufgabe schien es zu sein, langsam aber sicher eine dicke Staubschicht anzusammeln.  Und was Miss Tutuks derzeitige Aktivitäten anging ... die waren so merkwürdig wie die ganze Person selbst. Vermessungen?!? Ja, in der Tat! Seit einer Stunde hampelte sie mit einem Maßband um ihn herum. Er hatte ihr ja seine Maße geben wollen, aber nein! Man traute ja nur den eigenen Messergebnissen. Darum hatte sie sich auf einen Stuhl gestellt, das vergilbte Meterband um ihn gewurschtelt und ein „Ooh“, „Aha“ und „Wie breit?“ nach dem anderen von sich gegeben. Aber JETZT ging sie eindeutig zu weit! „Dürfte ich bitte den Zweck dieser Aktion erfahren?“ Seine Stimme schrammte schon wieder ganz knapp an einem Knurren vorbei. „Nein.“ Sie kritzelte kurz Daten in ihr Büchlein. „Sie sollten möglichst unbefangen bleiben.“ „Unbefangen?“ „Ja.“ „Mit einem Zirkel an der Nase?“ „Oh ... fühlen Sie sich unwohl dabei?“ Sie war jetzt so nah, dass er die Sommersprossen auf ihrer vorwitzigen Stupsnase zählen könnte. Es sah aus, als hätte eine freche Fee sie mit Zimt bestäubt. Fee? Aber klar ... sicher! Er wurde schon so verrückt wie alle anderen hier. Man musste sich ja nur mal den Kopf dieses verschrobenen Dings ansehen. Im Ernst ... wer hatte schon an die sieben Haarfarben auf einmal? Ihr Schopf war ungefähr so dezent wie ein festliches Freudenfeuer. Warmes Braun, Rot, Lohfarben, Kupfer, Honigblond und sogar ein paar hellgoldene Strähnen bildeten den wildesten Wuschelkopf, den er je gesehen hatte. Dieses Haar wäre niemals zu bändigen, egal, wie fest der Knoten war, in den man es zwingen wollte.   „Ich bin es leider nicht gewohnt, dass technische Gerätschaften in meinem Gesichtsfeld herumlungern.“, antwortete er schließlich. „Das ist eben eines der Opfer, das die Wissenschaft verlangt.“ „Aha. Verlangt ihre „Wissenschaft“ immer das Opfer anderer?“ „Äh ... Nein. Nicht immer.“ Sie drehte den Zirkel, um das Ergebnis abzulesen. „Hm ... die ist ja wirklich ganz schön groß.“, murmelte sie. „Wie bitte?“ „Ihre Nase. Ziemlich groß.“ „Na ... danke.“ „Was? Oh. Nein! Sie ... ist völlig in Ordnung. Ich meine ... trotz ihrer Ausmaße ist sie, äh, ziemlich mustergültig. Wirklich ganz erstaunliche Proportionen.“ „Sie erfüllt ihren Zweck!“  „Nun, ja. Aber auch unter ästhetischen Gesichtspunkten ist sie durchaus sehr ... na ja, gelungen.“ “Ich werd´s ausrichten.“ „Ausrichten?“, fragte sie zerstreut und klemmte ihren Stift hinters Ohr. „Meinem Vater.“ „Ach? Sehen Sie ihm sehr ähnlich?“ „So sagt man.“ Soso ... So sagte man? Glückliche Mutter, konnte sie da nur sagen ... denken. Sie hatte es doch hoffentlich nur gedacht, oder!?   Pippa stieg von ihrem Schemel, um einen Farbfächer vom Tisch zu holen. „Was ist das?“, wollte ihr Versuchskaninchen misstrauisch wissen. „Eine Farbskala mit 640 Schattierungen..“ Sie spreizte den Fächer in den Bereichen „Ocker“ bis „Gold“ auf. „Wozu?“  Agni! Er konnte den schroffen Unterton beim besten Willen nicht mehr unterdrücken. „Um Ihre Augenfarbe exakt zu bestimmen.“ „Und warum, zum Teufel?“ Momentan würde sie auf „Hellloderndes Bernstein“ tippen. „Weil sie recht ungewöhnlich ist.“ „Ungewöhnlich? Sie sind einfach nur HELLBRAUN.“ HA! Das war, als bezeichne man die schillernden Farben des Meeres als einfach nur „blau“. „Doch wohl eher Gold.“ „Das ist lächerli ...“ „`Helles Antik-Gold´, um genau zu sein.“, meinte Pippa triumphierend und hielt ihm den entsprechenden Farbstreifen vor die Nase. „Natürlich gibt es auch dunklere und hellere Schattierungen in Ihrer Iris.“ „Ach wirklich? Und müssen wir jetzt jede einzelne analysieren?“, fragte er ätzend. „Aber nein! Der Grundton reicht mir. Obwohl er auch zu variieren scheint. Je wütender Sie sind, umso heller ist er. So wie jetzt, zum Beispiel.“ „Wütend? Ich BIN nicht wütend!“ „Verstehe. Dann ist dieses Stirnrunzeln also Ihr normaler Gesichtsausdruck?“ „Ich ... was? Nein!“ „Hm ...“ Sie legte die Farbskala beiseite. „Welcher Ihrer Eigenschaften sind ein Erbteil Ihrer Mutter?“, fragte sie unvermittelt. Lu Ten stutzte. Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Dieses Mädchen konnte einen aber auch wirklich aus dem Konzept bringen. „Optische?“, wollte er wissen. „Ja, das auch.“ „Also ... äh, nichts, würde ich sagen.“ Zuko hätte an dieser Stelle vehemente Einwände geltend gemacht, denn der Junge hatte die Angewohnheit, den Kopf beim Nachdenken auf eine Art und Weise schief zu legen, die ihn frappierend an seine Jin erinnerte.   „Und charakterlich?“, bohrte Fräulein Tutuk weiter. „Mein ... Optimismus, denke ich.“ „Ihr WAS?“ „Optimismus.“, presste er knirschend durch seine Zähne. Sie starrte ihn an. Aha. Der hatte dann wohl grade eine kleine Auszeit, der Optimismus. Ihr Assistent bemerkte ihre Skepsis und bemühte sich, sie aufzuklären. „Ich weiß, ich wirke nicht immer so, aber ich bin der festen Überzeugung, dass alle Dinge und Situationen sich regeln lassen.“ „Hm, ja. Das kann man wohl gelten lassen.“, meinte sie erstaunt. Eine solche Geisteshaltung hätte sie ihm gar nicht zugetraut.  „Einfühlungsvermögen.“ „Was?“ DAS kam jetzt aber wirklich unerwartet. Sie klang auch prompt dermaßen ungläubig, dass er sich veranlasst sah, sie anzufunkeln. „Das ist die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzten zu können.“, erklärte er sarkastisch. „Äh, ja. Das ... das können Sie?“ „Außerhalb von Wolkenbrüchen und Sintfluten ... ja.“ „Oh.“ Sie befummelte eines ihrer Instrumentarien. „Für die gestrige Verspätung sollte ich mich wohl noch entschuldigen.“ „Das ist unnötig.“ „Hm ... wenn Sie meinen.“, murmelte sie. Dann wechselte sie wieder abrupt das Thema. „Sonst noch irgendwelche Erbteile mütterlicherseits?“ „Keine, von dem ich wüsste. Befassen sich Ihre Studien mit Erbanlagen?“ „Nein. Das war reine Neugier.“ Natürlich. Was auch sonst? Diese Frau hätte sogar einen Floh nach seiner Biographie ausgequetscht.      Für die nächsten zwei Tage hielt diese Neugier Lu Ten mächtig auf Trapp. Miss Tutuk trug ihm Dinge auf, deren Sinn selbst dem Weisesten verborgen bleiben würde. Ihm ließen sie jedenfalls die Haare zu Berge stehen. Am Anfang war es ja noch relativ harmlos. So musste er zum Beispiel zwei junge Damen im Garten nach der Uhrzeit fragen, obwohl er auf die Sekunde genau wusste, wie spät es war. Das Schlimmste war: Diese albernen Frauenzimmer schienen das zu wissen. Das nächste Mal wurde er zum Brunnen entsandt, an dem sich die gleichen Mädchen herumtrieben. Angeblich um Wasser zu holen. HA! Zu allem Übel wurden ihm diesmal eindeutig zweideutige Blicke zugeworfen. Wussten sie etwa, wer er war? Anscheinend nicht, denn selbst die eifrigsten Damen zeigten sonst aufgrund seines Titels eine gewisse zurückhaltende Scheu. Etwas, das diesen Grazien hier leider völlig abging.   Am dritten Tag seiner „Assistenzzeit“  platzte Hoheit der Kragen. „Ich soll WAS?“ „Zum Brunnen gehen.“ Pippa schielte aus dem Küchenfenster in besagte Richtung. Gut, da kamen Miu und Bell, pünktlich wie immer. Jetzt musste sie ihrem Experiment nur noch den goldäugigen Katalysator beimengen. „Ja, danke. DAS beherrsche ich dank zahlreicher Versuche zwischenzeitlich ganz hervorragend. Nur was die diesmaligen Rahmenbedingungen angeht habe ich mich wohl verhört?!“ „Na ja, äh ... das Ganze soll ohne, äh ... Hemd vonstatten gehen. Also ... ohne Ärmel eben.“ „Nein!“ „Gute Güte! Es sind doch nur Arme. Es geht nur um das Hemd. Diese lange, ärmellose Ding dürfen Sie ja anbehalten.“ „Und warum zum Teufel sollte ich mich zum Wasserhohlen umziehen? Außerdem ist noch genug da!“ Penibel hielt er ihr einen vollen Eimer unter die Nase. „Es geht ja nicht ums Wasser, sondern um eine soziologische Studie. Ich möchte einfach, dass sie mit bloßen Armen zu diesem Brunnen gehen. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt.“ „Ach nein?“ „Jetzt haben Sie sich doch nicht so. Durch diese ignorante Geisteshaltung behindern Sie die Wissenschaft!“, sagte sie in diesem besserwisserischen Blaustrumpf-Tonfall, den er inzwischen zur Genüge kannte.  „Sie sind mein Assistent! Wenn Sie nicht gewillt sind, mir zu helfen ...“ „Fein.“, knurrte er. „Noch so ein Schwachsinn, für den ich herhalten muss.“ Schneller, als man `verkohlter Toast´ denken konnte, fehlte sein knielanger Kimono. Das schlichte, rostfarbene Leinenhemd wurde ebenso effektiv entfernt.   Pippa schluckte. Und starrte.  Schluckte erneut und starrte weiter. SO ... konnte ein Mann also aussehen? Selbst in ihren wildesten Phantastereien hätte sie sich ein derart ansprechendes Gesamtbild nicht zusammenreimen können. Aber, was war von Mr. Perfect denn schon anderes zu erwarten gewesen? Nur allzu bald wurde ihr der bei weitem interessanteste Anblick ihres Lebens wieder verwehrt, denn er hatte es leider verdammt eilig, wieder in seine ärmellose Tunika zu schlüpfen. Wobei ... es war ja nicht so, dass seine Arme allein nicht auch schon genug Grund zum Schwelgen gegeben hätten. „So. Zufrieden?“, fauchte er. Zufrieden? Ihre weiblichen Probanden würden vermutlich der Hysterie anheim fallen. „Äääh ... äh, ja. Das ist ... ausreichend.“, stammelte sie und blinzelte ihr Eulenblinzeln. „Ah! Wundervoll! Das bedeutet also, ich muss nicht auch noch auf den Händen laufen, um mich vollends zum Affen zu machen?“ „Das können Sie?“, fragte das verwirrte Waldkäuzchen. Pippa wurde von goldener Glut schockgefrostet, bevor er zwei leere Eimer schnappte, sich wortlos umdrehte und die Küche in Richtung Brunnen verließ. Gute Güte! Er hatte aber auch ein paar Blicke drauf...  Von den AN-Blicken ganz zu schweigen. Es viel wirklich verflixt schwer, die Augen von dem Mann loszureißen, um sich auf die Mädchen zu konzentrieren, deren Reaktion immerhin der Grund für diesen Versuch war.   Als Lu Ten sich näherte, reizte das zweistimmige Kichern seine ohnehin überstrapazierten Nerven. So wie er taxiert wurde, hätte er die Weste auch gleich weglassen können. „Oh, aber Hallo! Wer kommt denn da?“ „Tag.“ Ignorier sie, Lu. Immer auf das Ziel. Brunnen, Kurbel, Wasser, Eimer. „Ist das Wasser schon wieder alle?“ Hielt sie dieses Geschnurre etwa für lasziv? „Na ja, bei all dieser ... Hitze.“, gurrte die Andere. Der Sohn Zukos des Hitzigen enthielt sich einer Antwort. Gurri und Schnurri schwangen ihre Hüften halb auf die Brunnenmauer und fummelten sich durch die Haare. Dem beschränkten Repertoire nach zu urteilen, gaben sie sich gegenseitig Unterricht. „Na, Dir macht es ja nichts aus, die ganzen schweren Eimer zu schleppen.“ „Aber klar nicht!“, raunte ihre Freundin. „Bei all den Muskeln!“  „Sag mal ... Wie war Dein Name doch gleich?“ „Lu.“ „Olala. Schön kurz und knackig!“  WAGTE sie es etwa, ihre Finger nach seinem Arm auszustre .... „Und ich wette KURZ trifft es sehr genau!“, meldete sich eine Zornbebende, trotzige Männerstimme.   Langsam drehte Lu Ten sich um, was sich jedoch als reine Zeitverschwendung herausstellte, denn er sah sich mit dem größten Schnösel konfrontiert, den die Welt je gesehen hatte. Dieser Mensch hatte eindeutig zu viel Sonne abbekommen. Und ebenso eindeutig verstand er die Situation falsch. Seine gesamte Haltung entsprach ganz der eines herausgeforderten Platzhirsches. „Oh. Hallo Ken.“, sagte die Rothaarige und klang auch prompt nach schlechtem Gewissen. Die Brünette dagegen bezeugte nur deutliches Desinteresse durch ein knappes „Hi.“ Ken kniff die Augen zusammen und starrte in die seines vermeintlichen Widersachers. Das sollte wohl bedrohlich wirken, aber Seine Hoheit fand, dass Himmel-Baby-Blau die beabsichtigte Wirkung im Keim erstickte. „Wer ist der Typ?“, blaffte der bisher begehrteste Nachwuchsmacho des Dorfes. „Lu arbeitet zurzeit für Fräulein Tutuk.“ Da keine Gefahr drohte, beschloss der Prinz aller Wasserträger, sich wieder seiner „Aufgabe“ zu widmen.  „Arbeiten? Soso. Als WAS arbeitest Du denn?“ Eine berechtigte Frage, wie Lu Ten fand, aber er ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen. Nur noch einmal hochziehen, dann wären die vermaledeiten Eimer voll und er könnte sich endlich vom Acker machen... „Hey! Ich REDE mit Dir!“ „So?“ Aus irgendeinem bescheuerten Grund seufzten die Mädchen kollektiv auf, was Ken Platzhirsch natürlich noch aggressiver machte. „Glaubst wohl, Du bist was besseres, nur weil Du unter der Fuchtel dieser Durchgeknallten stehst.“ Mit einem vernehmlichen Scheppern wurden zwei Wassereimer auf den Boden gestellt. „Wie bitte?“ „Du hast mich ganz gut verstanden!“ „Miss Pineria“, sagte Lu Ten mit tödlicher Ruhe, „hat mehr Verstand, als Du in Deinen nächsten hundert Reinkarnationen zusammenkratzen wirst. Solltest Du trotzdem noch weitere derart unqualifizierte Kommentare parat haben, verschone mich gefälligst damit. Und nun,“, er nahm seine Last wieder auf, „überlasse ich Dich Deinem staunenden Publikum." „Grmpf! Hast wohl Schiss, was?“ „Ich schlottere.“, kam die ungerührte Antwort.   Auf ihrem Posten am Küchenfenster kaute Pippa auf ihrer Unterlippe. Dieser dumme Ken hatte die Konstellation ihres Versuchs durcheinander gebracht. Allerdings war die daraus resultierende Szene auch recht aufschlussreich gewesen. Konkurrenz machte Männchen also aggressiv ... das war ein Phänomen, dass auch bei anderen Spezies zu beobachten war. Ihr Assistent schien darauf allerdings nicht einzugehen. Entweder war er extrem friedfertig, oder er hatte schon auf den ersten Blick erkannt, dass er der Überlegene war. Oder beides ... Momentan stapfte er jedenfalls voll beladen in ihre Richtung.   Kaum im Raum, stellte er die Eimer auf den steinernen Boden. „Was hat er gesagt?“ „Wer?“ „Na, Ken.“ „Nichts.“ „Nichts? Er hat aber geredet.“ „Ja. Unsinn.“ „Was für Unsinn?“ „Bedeutungslosen Unsinn.“, beschied Lu Ten knapp und schnappte sich sein Hemd. Pippa merkte, wie ihr Mund schon wieder trocken wurde. Sie hatte bestimmt nichts dagegen, diesen Anblick erneut zu erleben. Im Augenblick hätte sie sogar ihre Seele für ein fotographisches Gedächtnis verkauft. Diesmal drehte er ihr allerdings den breiten Rücken zu. Doch, bevor sie das bedauern konnte, stellte sie fest, dass der mindestens ebenso interessant war wie Brust und Bauch. All diese anmutigen Wellen, die seine Muskulatur schlug, waren einfach ... Ihre folgende mentale Katatonie hatte zwei Dinge zur Folge. Zum einen entfuhr ihr unwillentlich ein leiser, bewundernder Seufzer und zum andern bekam sie nicht mit, dass ein Besucher den gepflegten Kiesweg entlangkam. Erst als von der Tür ein mittellautes Räuspern kam, wurde sie aus ihrer andächtigen Starre gerissen und fuhr herum.   Im Rahmen der Hintertür stand ein junger Mann. Sein gesamtes Erscheinungsbild war in die Kategorie „unauffällig“ einzuordnen. Ein Bild besonnener Korrektheit. Er wirkte nett, bescheiden und unspektakulär. Trotzdem fand Pippa, dass sein Timing überaus unpassend war. „Ja bitte?“, fragte sie. „Einen wunderschönen Tag wünsche ich!“ „Äh ... gleichfalls.“ „Darf ich annehmen, dass ich die Ehre habe, mit Fräulein Tutuk zu sprechen?“ „Ja ...“ Pippa wurde misstrauisch. Dieser Mensch klang wie ein Vertreter für motorisierte Besen. „Sie sind, wenn ich das so sagen darf, genauso, wie Frau Quon Sie beschrieben hat.“ „Quon? Kiko Quon? Sie kennen die Freundin meiner Mutter?“ „Aber ja. Sie hat mich doch hierher entsandt.“ „Wirklich?“ „Sie meinte, ich könnte mich bei Ihnen bestimmt nützlich machen. Hier ....“, er wühlte eifrigst in seiner enormen Reisetasche, „ist ein Empfehlungsschreiben.“ Völlig perplex nahm Pippa den Schrieb entgegen. „SIE ... sind der Assistent, den Kiko schicken wollte?“ „Nun, ja. Ich wurde leider aufgehalten.“ Gute Güte! Was für ein Schlamassel war denn das nun schon wieder? Diesmal war SIE aber nicht daran schuld!   „Assistent?“, schälte sich eine dunkle Stimme aus dem Hintergrund. „Ich wusste gar nicht, dass zwei vonnöten sind", schnarrte Lu Ten und fragte sich ganz kurz, warum er diesen Griffelspitzer, der da aus dem Nichts aufgetaucht war, partout nicht leiden konnte. Miss Tutuk, ihrerseits, wirbelte herum und starrte ihrem Erst-Assistenten in die Augen. Der stand, inzwischen wieder korrekt bekleidet, mit verschränkten Armen an den großen Küchentisch gelehnt und musterte den Neuankömmling auf eine Art, die nur als ungnädig bezeichnet werden konnte.  Pippas Gedanken rasten wirr im Kreis. Sie konnte sich beim besten Willen nur daran erinnern, dass Eri sie gefragt hatte, ob Sie die Zeit hätte, den neuen Assistenten vom Bahnhof abzuholen. Von wem diese Nachricht gekommen war, hatte sie gar nicht gefragt. „Und wer sind dann SIE?“, fauchte sie Lu Ten ungewöhnlich streng an. „Bitte?“ „Wer hat Sie hergeschickt?“ „Bürgermeister Babra.“ „Onkel Tato? Ach Du meine Güte!“ „Ist daran etwas verkehrt?“, verlangte ihr gereizter Wasserträger mit seidenweicher Stimme zu wissen. „Was? Nein ... ich ... wir dachten nur, Sie wären er.“ Sie wedelte in Richtung des Griffelspitzers. „Nein, tut mir leid. Ich habe nur diese eine Identität.“ Eigentlich war das ja gelogen... „Aber ... wir dachten, Kiko hätte Sie geschickt.“ „Ich kenne keine Kiko.", knirschte Lu Ten. Pippa blinzelte. DAS erklärte so manches. Oh Gott, sie war ja so eine Idiotin! Am schlimmsten war, dass sie hatte den armen Menschen ganz umsonst mit dem ganzen Schweine-Fraß gequält hatte. Er suchte schließlich gar keine Frau. Warum auch? Er brauchte sich nur umzudrehen, und sie standen in sabbernden Scharen vor ihm. Dass sie auch nur für den Bruchteil einer Sekunde geglaubt hatte, jemand würde denken, sie könnte zu diesem Musterexemplar passen... Gut! Das war gut, oder? So musste sie sich schon keine Sorgen mehr machen, vielleicht doch mal den Kopf zu verlieren. Nein .... Dieser Mann hatte sie niemals - wirklich niemals - auch nur ansatzweise in Betracht gezogen. Und sie war glücklich darüber. Jawohl! Totglücklich!   Hinter ihr stand jedoch einer, der ziemlich viel in Betracht zog. Nemo Ran räusperte sich. „Ich kann selbstverständlich auch wieder gehen.“, meinte er etwas pikiert. „Gut!“, griff Lu Ten den Vorschlag ebenso schnell wie sarkastisch auf. Den folgenden, kurzen Starr-Wettbewerb gewann er mit Leichtigkeit. „Natürlich nicht!“, schnappte Pippa und bedachte ihn mit einen strengen Seitenblick.  „Sie bleiben erst mal hier.“, wandte sie sich an Nemo. „Wenn Kiko denkt, Sie könnten uns zur Hand gehen, dann ist dem auch so.“ „Ich danke Ihnen! Frau Quon sagte ja Sie wären ein Engel!“ Der Speichellecker strahlte, dass Lu Ten fast das versalzene Essen hochkam. Er verspürte den rätselhaften Impuls Tritte zu verteilen. „Oh wirklich?“ Pippa blinzelte.  Moment ... Hatte sie etwa gesäuselt? Bekam DIESER Typ etwa ihr Wäldkäuzchen-Zwinkern? Langsam aber sicher begann Herr Lu Ten Song-Tatzu mit den Zähnen zu knirschen. Über diese äußerst seltsame Reaktion seinerseits würde er sich später wohl noch Gedanken machen müssen.       `Wohltemperiertester aller Drachen,     Ist das wirklich Dein Ernst? Ich darf nach Hause kommen? Obwohl dieser Unsinn hier noch nicht vorbei ist? Habe ich Dir heute schon geschrieben,  dass ich Dich wirklich ganz, ganz schrecklich lieb hab? Falls nicht, ist das eine unzumutbare Nachlässigkeit,  für die ich mich entschuldige. Aber Du hast vollkommen Recht: Tians Jubiläum ist kein Pappenstiel  und es wäre respektlos von mir, diesem Ereignis nicht beizuwohnen. Die meisten meiner Koffer sind also schon gepackt. Selbst mein inzwischen unentbehrlicher Ziegelstein ist bereits verstaut. Ihr werdet bestimmt interessante Monologe führen, Du und er. Was die Damen des Anti-Bändigen-Vereins angeht, kann ich dazu nur sagen: Es beschweren sich ohnehin die ganze Zeit irgendwelche Leute über Dich, da machen ein paar mehr oder weniger auch keinen Unterschied.   In Anbetracht der langen Zeit, die ich Dich jetzt schon entbehren musste, wird es Dich nicht wundern, zu hören, dass ich nach meiner Ankunft  aller Wahrscheinlichkeit nach erst mal extrem müde sein werde. Stell Dich also auf ein oder zwei ausgedehnte, private Nickerchen ein. Dafür darfst Du Dir schon mal eine passende Ausrede zurechtlegen, denn darin bist Du eindeutig besser als ich.  Und lass Deine Augenbraue unten, denn Du weißt sehr gut,  dass ich Recht habe. Schließlich warst Du es, der jahrelang mit einer falschen  Identität durch die Gegend gerannt ist. Zu guter Letzt weise ich Dich noch offiziell darauf hin, dass Trübsalblasen keine angemessene Beschäftigung  für einen Feuerlord ist, also unterlass dies bitte.   Jetzt leg Deinen Schreibkram beiseite, geh ein bisschen Gum Jo  oder Pai Cho spielen und küss die Kinder von mir!     Jin Tatzu, Berufskobold und fürstlicher Feuerlöscher     P.S.: Nur falls Du es noch nicht wissen solltest:  Du bist mit Abstand der beste, wenn auch einzige, Ehemann, den ich je hatte!´ Kapitel 6: In dem stures Hornvieh handzahm gemacht wird ------------------------------------------------------- Der nächste Tag begann für Lee um einiges vielversprechender, als der letzte. Niemand störte beim Tento, so dass er spielend seine innere Balance fand. Hatte die Frau etwa schon wieder verschlafen, oder ließ sie ihn einfach nur in Ruhe? Er beendete das Ritual pünktlich zu Beginn der Morgendämmerung mit der vorgeschriebenen Verbeugung gen Osten. „Sind DAS diese Spinenzen, die Du immer machst?“ Lee drehte sich um, nicht sonderlich überrascht, Zerfa am Eck stehen zu sehen. „Die was?“ „Spi ... nenzen ...?“, sagte das Mädchen etwas verunsichert. „Äh. Sperenzien?“ „Ja. Das.“ Sie nickte. „Hat Niha es so genannt?“, seufzte er. Sie nickte erneut. „Ja.“, bestätigte er, „Das waren die Sperenzien, die ich immer mache.“ „Aha. Musst Du die machen?“ „Ich muss nicht. Aber ich möchte.“ „Aha. Macht das Spaß?“ „Äh, irgendwie schon. Es ist sehr beruhigend ... und es entspannt.“ „Aha. Kann das Jeder machen?“ „Ja, sicher.“ Lee fragte sich, wohin diese Konversation noch führen würde. „Hm ... Niha auch?“ WAS? Der Tento war eine Ehrerbietung an die Sonne. Sich seine Chefin dabei vorzustellen war ... ziemlich amüsant. Wie er sie kannte, würde sie eher dastehen, die Hände in die Hüften gestemmt und in Richtung des Horizonts brüllen, die Sonne solle sich gefälligst erheben, aber zackig! Lee grinste breit. „Ja. Selbst Niha.“ „Aha. Wenn es einen beruhigt, dann werd ich ihr mal sagen, dass sie das machen soll.“ Bei diesem besorgten Tonfall horchte ihr Gesprächspartner auf. „Du denkst, sie sollte ruhiger werden?“ Zerfa schrummelte mit einem ihrer bloßen Füße auf dem anderen herum. „Sie ... hat sich gestern schlimm aufgeregt.“, murmelte sie. „Wegen mir.“ „Zerfa!“ Seine Hoheit begab sich in die Hocke. „Sie hat sich nur Sorgen gemacht.“ „Ja.“ Sie blickte nur stur nach unten. „Sie macht sich immerzu Sorgen. Und gestern wegen mir!“ „Hm. Du sorgst Dich selbst auch viel, oder?“ Dem folgte ein kurzes Schulterzucken. „Es ist einfach immer meine Schuld, wenn was passiert. Im Dorf sagen das alle.“ „Ach ... dann wohnen dort aber wirklich dumme Menschen, das muss ich schon sagen!“ „Weiß nicht ....“ Sie war mittlerweile so leise, dass er sie kaum verstand. „Aber ich weiß es. Manche Leute finden es eben sehr bequem, sich für alles einen Sündenbock zu suchen.“ „Ein Sündenbock?“ Jetzt linste Zerfa doch nach oben. „Ja, das ist jemand, dem man die Schuld zuschieben kann, wenn man zu faul oder zu dämlich ist, sich um das EIGENTLICHE Problem zu kümmern.“ Ihre Augen wurden groß. „Man darf doch aber nicht dämlich sagen!“ „Oh? Ich darf das. Hab ne Genehmigung dafür.“ Er grinste sie kurz an und wurde wieder ernst. „Wie geht´s eigentlich Deiner Hand?“ „Gut. Tut fast nicht mehr weh!“ „Freut mich, das zu hören.“ „Dass Du den Doktor geholt hast, war ... nett.“, sagte sie verlegen. „Danke!“ „Gern geschehen!“ „Magst Du Pfannkuchen?“, fragte sie unvermittelt. Lee vollzog den Gedankensprung mit Bravour. Schließlich ging es ums Essen! „Na klar!“, sagte er mit Inbrunst. „Ich durfte mir nämlich was zum Frühstück wünschen und ich dachte.“ Sie zwirbelte den Stoff ihrer Schürze zwischen den Fingern, „die magst Du bestimmt auch.“ „Ich mag alles! ... Außer Rosinen.“ „Keine Rosinen?“ Ihre großen, ernsten Augen fixierten ihn. „Igitt, nein! Rosinen sind leckere Trauben, denen man gemeine, fürchterliche Dinge angetan hat!“ Er wurde mit einem leisen, ansteckenden Kichern belohnt. „Du bist ein Vielfraß, oder?“ „Ja. Leider.“, gab er kläglich zu. „Aber ... isst Du auch Haare?“ Hä? „Haare? Nein. Wie kommst Du denn ... Oh. Verstehe. Jemand hat gesagt, ich ess euch die Haare vom Kopf, hm?“ „Ja.“ „Niha?“ „Ja.“ „Dachte ich mir. Aber, das ist nur so eine Redensart. Wenn .. Also äh ... wenn einer so viel isst, dass für die anderen nichts mehr übrig bleibt, dann ... äh ... machen sie Witze und fragen, ob er nicht auch noch ihre Haare essen will. Glaub ich.“, schloss er lahm. Himmel! Er war gar nicht gut im erklären. „Aber keiner isst Haare!“ „Doch! Katzen schon!“ „Äh ...“ Also, langsam kam er wirklich ins Schwitzen. „Sie spucken sie nur dauernd wieder aus.“, belehrte Zerfa ihn. „Ja, weil sie sie verschlucken.“, sagte Lee. „Beim Putzen. Also .... aus Versehen.“ „Aha? Ich dachte, sie würden sie fressen.“ In der Küche runzelte Niha gerade die Stirn.. Sie hatte Zerfa nach draußen geschickt, um Lee zum Frühstück zu holen. Doch weder ihre kleine Schwester, noch der Herr mit dem monströsen Appetit tauchten auf. Die Hände an der Schürze trocknend, ging sie zur Tür, und öffnete sie. „ZER ...“ Der Rest des Rufs wurde beinahe von einer breiten Männerbrust erstickt. „... fa?“ Da stand dieser Baum von einem Menschen wie aus dem Boden gewachsen im Türrahmen. „Ja?“, fragte Zerfa von unten. Niha erwischte sich dabei, in kristallgrünen Tiefen verloren zu gehen. „N ... nichts!“, stieß sie hervor. Die goldenen Funken unter der Oberfläche glommen matt. Sie sollte sich lieber dem Herd zuwenden. Schleunigst! Der war zwar auch heiß, aber bei weitem weniger gefährlich! „Ich wollte nur wissen, wo ihr bleibt.“ „Wir haben über Katzen gesprochen.“, sage Zerfa. „Über Katzen?“ „Und Rosinen.“ „Rosinen?“, echote Niha verwirrt. Aus den Augenwinkeln lugte sie zu ihrem Hilfsarbeiter. MUSSTE der Kerl unbedingt so ein Hingucker sein? „Ja. Lee mag sie nicht.“ „Ach wirklich?“, murmelte sie. „Wie schade, dass keine da sind.“ Niha hätte sich am liebsten einen selbst einen Tritt verpasst. Sie hatte sich doch so fest vorgenommen, vorerst nicht mehr auf ihn loszugehen. Schließlich war seine Hilfe gestern unendlich kostbar gewesen. Mittlerweile schien es jedoch ein Art Reflex zu sein, mit ihm zu zanken. Lee verdrehte prompt die Augen und verschränkte die Arme. Eigentlich hätte er es dabei belassen sollen, doch dann hätte er sich vermutlich die Zunge abgebissen. „Tja, wer braucht schon Rosinen, wenn es verdorrte Jungfer gibt?“ Beim Anblick ihrer erschrockenen Verletztheit, hätte er seine Zunge am liebsten geschnetzelt und in Salzlake eingelegt. In diesem Moment betraten zum Glück Maja und Jem, die ihre morgendlichen Aufgaben erledigt hatten, die Küche. „Pfannkuchen!!!“, rief Jem begeistert. „Ja, Du Rabauke.“ Niha würgte den Kloss, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte hinunter. Betont sorglos wuschelte sie ihrem Bruder durch die Haare. Was scherte es sie, wenn dieser Nichtsnutz sie für eine alte Jungfer hielt? Weit weg von der Wahrheit war er damit schließlich nicht ... Weh tat es seltsamerweise aber doch. „Geh schnell Deine Hände waschen.“ Jem raste zur Hintertür, um sich am dortigen Brunnen des überschüssigen Drecks zu entledigen. „Leckeeeeeeeeeeeeer!“ Diesem fachmännischen Urteil konnte Sich Seine Hoheit trotz schlechten Gewissens nur aus tiefster Seele anschließen. Seine Chefin mochte eine giftspuckende Chimäre sein, aber sie fabrizierte reines Ambrosia. Er kratzte seine ganze Willenskraft zusammen, um sich die Dinger nicht gleich dutzendweise einzuwerfen. Zerfa machte ein überaus zufriedenes Gesicht. Sie hatte gut gewählt, der seltsame Mann mochte ihr Wunschfrühstück! Beinahe zufriedenstellend satt, stand Lee schließlich auf, um sich an die Arbeit zu machen. Die Tiere zu versorgen klappte zwischenzeitlich ganz hervorragend, aber beim Pflügen traten erneut die zu erwartenden Komplikationen auf. Und wieder war von Niha, die ihm die Tücken des Objekts hätte näher bringen können, keine Spur zu sehen. Wo war sie nur? Nun ... die Pflugschar musste tiefer ins Erdreich, soviel war klar. Doch wenn er sein Gewicht auf den Pflug stemmte, bekam er einen nicht zu kontrollierenden Linksdrall. Bogenförmige Furchen waren bestimmt nicht der Sinn der Sache. Verdammt...! Wie würde sein Vater diese Situation meistern? Äh ... schlechtes Beispiel. Seine Lordschaft würde selbstverständlich pflügen LASSEN. Aber wenn keiner da wäre, die Befehle auszuführen? Analyse! Ja, Paps würde sich zuerst distanzieren, statt sinnlos vor sich hin zu fluchen und dann analysieren, statt zu resignieren. `Wenn Du etwas nicht begreifst, ändere einfach Deine Perspektive, mein Sohn. ´ Schwitzend und dreckig zog Lee den Pflug aus der Erde und drehte ihn um. Ha! Das Ding war krumm, und zwar auf eine Art und Weise, die nur einen Schluss zuließ... „Er ist kaputt.“, sagte Zerfa, die plötzlich aus dem Nichts erschienen war. „Ja. Offensichtlich.“ „Schon lange. Niha hat versucht, ihn zu reparieren, aber sie hat´s nicht hingekriegt.“ Das wunderte Lee kein bisschen. Dieses Monster wog Tonnen. „Da muss ein Schmied ran!“, rief Jem und kletterte über den Zaun. „Hm .... ein Schmied? Wollen doch erst mal sehen, was WIR ausrichten können.“, murmelte Lee. „Steht im Stall nicht ein Amboss?“ „Ja.“ „Gut! Holt ihr Beide mir den Leiterwagen? Dann können wir dieses Ding transportieren.“ Zwei eifrige Helferlein stoben davon, während der prinzliche Reparaturdienst den Pflug von Dreck und Erde befreite. Schnell war der Patient in den Stall gebracht, wo an ihm gehämmert, gebogen, erhitzt und geflucht wurde. Nach einer starken halben Stunde ging Lee in die Hocke und sah an der Pflugschar entlang, um sein Werk zu überprüfen. Perfekt! „So weit, so gut!“, sagte er und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. „Jetzt lasst uns sehen, ob wir gradere Furchen ziehen.“ Sie zogen. Nur der verdammte Ochsesel zog nicht. Nach der ersten Euphorie, dass der Pflug seine Arbeit wieder ordnungsgemäß verrichtete, streikte das Zugtier. „Komm schon!“, schnaufte Lee. „Warum bist Du denn so störrisch? Du heißt doch nicht Niha!“ Die Kinder kicherten. „Du muss Boggo hinter den Ohren kraulen! Das mag er.“, erklärte Jem. „Wenn Du die richtige Stelle findest, macht er alles, was Du willst!“ Lee vergrub die Finger in der flauschigsten Stelle des Fells und spürte sofort, wie der Riesenochse sich entspannte. „Tatsächlich! Er ist ja wie ausgewechselt ...“, staunte er. Wie praktisch. Ob es bei seinem Boss auch so eine Stelle gab? Vielleicht die zarte, empfindliche Haut im Nacken? `Lee! Reiß Dich zusammen! ´ Aber das Bild einer nachgiebigen, willenlosen Niha ließ sich nicht so leicht abschütteln. Für Ablenkung sorgte Zerfa, die ihrem Bruder in nichts nachstehen wollte. „Wenn Du magst, zeige ich Dir morgen, wie man melkt.“, bot sie eifrig an. „Melken? Aber sicher!“ Seine Hoheit grinste dankbar in das ernste Kindergesicht.. Er hatte nämlich die Schnauze gestrichen voll davon, hier nichts auf die Reihe zu bekommen und gedachte dies zu ändern! Es wurde höchste Zeit, den Lebensraum Bauernhof genauer zu beleuchten und zu erobern. Für die nächsten zwei Stunden zog Lee gemeinsam mit seinem neuen Freund Boggo Furchen in den Acker. Er fand es seltsam befriedigend, die fruchtbare Erde zu lockern und ihren lebendigen, schweren Geruch zu atmen. War das vielleicht ein bisher unentdecktes Erbteil seiner Mutter? Jedenfalls hatte er die ihm aufgetragene Arbeit in weniger als der Hälfte der Zeit erledigt. Weit, weit weg beendete eine durchaus bedeutende Persönlichkeit ihr Mittagsmal. Wieder einmal seufzte die Feuerlady ... nun allerdings glücklich, statt sehnsuchtsvoll. Sie würde bald abreisen dürfen! Endlich! Die Frauen hier waren alle so ... eidudeidei. Gestern hatte Jin sich doch tatsächlich dabei ertappt, beim Teetrinken den kleinen Finger abzuspreizen! Sie vermisste ihr zu Hause! Hier konnte sie nie lauthals und schief singen. Im Feuerpalast konnte sie sich in ein abgelegenes Zimmer verziehen, um sich einzubilden, niemand könne ihre unmelodischen Ausbrüche hören. Webstühle? Völlige Fehlanzeige! So etwas Profanes gab es in dieser kultivierten Umgebung nicht. Und Drachen? Die waren hier höchstens auf der Tapete, nicht aber zum Anfassen, oder Necken, oder Küssen, oder... Herrje! Soweit war es mit ihr also gekommen?! Ohne Zuko schien sie rein gar nichts mit sich anfangen zu können. Das war ja sowas von armselig! Nach fast siebenundzwanzig Jahren Ehe sollte man nicht mehr von Sehnsucht zerfressen werden. Erst gestern war ihr klargemacht worden, dass sich das eigentlich nicht gehörte. Das gemütliche Nachmittags-Pläuschen der Damen hatte diesen ernsthaften „Hach ... mein Mann bringt mich noch zur Verzweiflung mit seinen Marotten“ Unterton bekommen, den die Frauen so gerne anschlugen. „Denkt er denn wirklich, ich würde mir DAS antun?“, fragte die Gattin eines Ministers. „Soll er die Provinzen doch alleine abklappern!“ Allseitiges Zungenschnalzen und Kopfschütteln hatte das kollektive Unverständnis gegenüber der Spezies Mann zum Ausdruck gebracht. Dann hatte Jin sich erwartungsvollen Blicken ausgesetzt gesehen. „Ganz im Vertrauen, Mylady ...“, wisperte die Herzogin von Quan „Seine Lordschaft hat doch bestimmt auch einige Anwandlungen?“ Anwandlungen??? Aber sicher! Und Mylady liebte es, wenn er sie bekam. „Äh ...“ „Man hört ja, er sei zuweilen recht ...“ Jahaaa? Was hörte MAN denn? „ ... schwierig.“ „Schwierig?“, fragte Jin harmlos. „Nun, sein Temperament ist ja kein Geheimnis. Er soll teilweise etwas unbeherrscht sein.“, meinte die Herzogin verschwörerisch. Wie Piranhas saßen die restlichen Damen da und warteten, dass Ihre Hoheit nun aus dem Nähkästchen plauderte. „Unbeherrscht?“ Jin hatte sich inzwischen versteift und saß stramm wie ein Brigademajor auf ihrem Sessel. „Seine Lordschaft“, sagte sie spitz, „ist nur DANN unbeherrscht, wenn es die Situation erlaubt oder erfordert. Und ich glaube NICHT, dass man in diesem Fall von Unbeherrschtheit sprechen kann. Außerdem, “, setzte sie mit ihrem gefährlichsten, zahnreichsten Lächeln hinzu, „Kann ich mir seiner Loyalität ebenso sicher sein, wie er sich der meinen!“ „Also ... ich ... ich bin doch nicht illoyal.“, hatte eine der jüngeren Frauen gestammelt, als sie die Anspielung begriff. Jin hatte lediglich vielsagend die Brauen gehoben und an ihrem Tee genippt. Wenn sie wollte, konnte sie nämlich auch pikiert tun! Sie ließ sich hier doch nicht dazu verleiten, über Zukos schlechte Seiten herzuziehen. Um sie zum Vorschein zu bringen, musste sie ihn sowieso erst wenden lassen. Falls sie doch einmal das Bedürfnis haben sollte, sich über ihn zu beklagen, tat sie das bei Tante Ria und Sela, die ihn beide abgöttisch liebten und ihr immer nur sagten, sie sei eine Meckerziege. „Also ... Seine Lordschaft besitzt zweifellos einen ganz hervorragenden und integeren Charakter!“, wiegelte eine der älteren Frauen ab. „Und einen, äh, sehr ausgeprägten Willen.“ „Ja.“, sagte Jin milde. „Beides!“ Sie würde hier niemandem auf die Nase binden, dass sie zu Hause den größten Dickschädel seit der Erschaffung des Y-Chromosoms hocken hatte. Die blutjunge Frau des Ministers für Familienrecht seufzte auf. „Agni!“, hauchte sie entrückt, „dann war es also wirklich eine reine Liebesheirat ...?“ „NATÜRLICH war es das!“, meinte Ihro Gnaden die Herzogin. „Ihre Ladyschaft war schließlich eine Bürgerliche. Nichts für Ungut!“, fügte sie in Jins Richtung hinzu. „Oh, aber bitte!“ Jin winkte ab. „Um ehrlich zu sein, fällt es mir immer noch schwer, diese ganze höfische Etikette einzuhalten. Zuko muss mir jedes Mal zuflüstern, ob und wie tief ich meinen Kopf zu senken habe, wenn mir jemand vorgestellt wird. Die Meisten sind von ihm so eingeschüchtert, dass ich ihnen am liebsten nur aufmunternd auf die Schulter klopfen würde.“ Das folgende Gelächter entspannte die Atmosphäre ganz erheblich und Jin sah sich nicht weiter gezwungen, ihren Drachen vor ungewolltem Tratsch zu schützen. Unfreiwillig hatte sie jedoch den Gerüchten, sie sei nach wie vor unrettbar in ihren Gemahl verliebt, neue Nahrung gegeben. Obwohl ... das waren ja keine Gerüchte, sondern unumstößliche Tatsachen! Eines der Nebenprodukte dieser legendären Zuneigung genoss zwischenzeitlich ein ländliches zweites Frühstück in Gesellschaft der gemächlich grasenden, einzigen Kuh der Koros und den beiden jüngsten Familienmitgliedern. „Niha wird bestimmt ganz aus dem Häuschen sein, wegen dem Pflug!“, sagte Jem. „Weiß sie es denn noch nicht?“, wollte Lee wissen. „Nein. Sie ist auf dem Markt in Leng-Leng.“ „Eigentlich ist das ja Majas Aufgabe.“, ergänzte der Junge. „Aber seit drei Wochen taucht da immer ein ganz seltsamer Mann auf, darum ist Niha selbst hingegangen.“ „Maja ist belästigt worden?“, fragte Lee, plötzlich hellhörig geworden. „Ich glaub schon.“ „Von wem?“ „Weiß nicht. Sie kannte den Typ nicht.“ „Ja, komischer Typ!“, piepste Zerfa, und mümmelte an ihrem belegten Brot. „Aha. Und Niha belästigt er nicht?“ Die Kinder zuckten mit den Schultern „Hm.“, machte Lee. Komische Typen waren seiner Erfahrung nach nicht besonders wählerisch, wenn sie sich ihre Opfer aussuchten. Niha mochte ja wehrhaft sein, aber sich gegen einen aufdringlichen Mann zu behaupten, könnte selbst bei ihr schief gehen. „Eigentlich hab ich meine Arbeit für heute erledigt.“, sinnierte er. „Wie wär´s, wenn wir zum Markt gehen und Niha helfen?“ „Au ja! Zum Markt!“ Jem war sofort Feuer und Flamme, da er eigentlich dringend für die Schule lernen sollte. „Dann nehmen wir aber noch die Äpfel mit.", warf seine Schwester ein. "Was für Äpfel?", fragte der frisch gebackene Meister der Pflugschar. "Die waren zu viel zu schleppen." "Ah! Also gut ... bringen wir die Äpfel zum Markt!" Eine dreiviertel Stunde später trudelten also ein frisch gesäuberter Fürstensohn, zwei Bauerngören, eine Steinschleuder, eine einäugige Puppe und eine Handkarre voll mit Äpfeln in Leng-Leng ein. Der Marktplatz war bunt, laut und groß. Allzu verlockende Düfte hatten dazu geführt, dass alle drei Apfellieferanten dampfende Fleischpasteten vertilgten, während sie nach Nihas Stand Ausschau hielten. Er befand sich natürlich an der denkbar ungünstigsten Stelle, doch alles andere hätte zu höheren Standgebühren geführt. Aufgrund der Qualität ihrer Waren hatte Niha sich trotzdem im Lauf der Zeit eine kleine, treue Stammkundschaft aufgebaut. Der schmierige Kerl, der sich seit knapp einem Monat jede Woche hier herumtrieb drohte jedoch, diese Einnahmequellen zu vertreiben. „Ich muss schon sagen“, meinte der zahnlückige Widerling. „Du und Deine Schwester habt wirklich immer die nettesten ... Früchte.“ Niha hatte auf Ignorier-Modus geschalten und bediente eine ältere Dame, die standhaft versuchte ihr Unbehagen zu überspielen. „Danke, Frau Kong. Kann es sonst noch was sein?“ „Äh ... nein, Danke.“ Mit diesen Worten beeilte sich die Kundin, den Schauplatz zu räumen. „Mal ehrlich: Ich vermisse Deine kleine Schwester!“ Der anzügliche Ton des Strolchs verursachte bei Niha eine Gänsehaut. Dies war zweifelsohne einer der Momente, in denen das Leben ihr eine Breitseite verpasste. Sie hatte schon zu viele bekommen, um das nicht zu wissen. Der Kerl war eindeutig unheimlich. Das würde sie weder Maja, noch sich selbst noch einmal zumuten. Das war´s dann also, mit dem Wochenmarkt in Leng-Leng, blieb nur noch der in Waboo am Mittwoch. Falls der Typ nicht herausfand, dass sie auch dort einen Stand betrieben. Sie hatten das Geld zwar nötig, aber nicht so sehr, dass sie sich einem gemeingefährlichen Irren aussetzen mussten! Um dem Ganzen noch die Krone auf zu setzten, brachte der Widerling seine Visage viel zu dicht an Nihas Dunstkreis. „Das soll aber nicht heißen, ich würde Dich nicht auch mögen, Schätzchen!“, feixte er. „Wirklich?“ Eine Stimme wie eingedickter Karamellsirup erklang aus dem Nichts. „Dann muss ich ihr wohl mein Beileid aussprechen ... SCHÄTZCHEN!“ Mitten im letzten Wort schwenkte der Tonfall zu ätzendem Sarkasmus um, der durch strahlend weisse Zähne in Form gepresst wurde. „Wer bistn Du?“ „Dein Albtraum, Du stinkende Rinnstein-Ratte!“ Obwohl die tiefe Stimme wieder freundlich klang, ließ das Ekelpaket sich davon nicht täuschen, denn in den Augen des großen Kerls, der sich eingemischt hatte, loderte goldener Feuerbrand, jederzeit bereit, das hochexplosive, fürstliche Temperament zu entzünden. „Wenn Du nicht dauerhaft als Teil der Kanalisation in die Geschichte eingehen möchtest, entschuldigst Du Dich bei der Dame... AUGENBLICKLICH!“ „Dame?“, fragte der lebensmüde Knilch. „Welche Da..." Lee beschloss umgehend, der Worte seien genug gewechselt. Er packte den Mann am Kragen und zerrte ihn zu einem nahen Brunnen. Ein kleiner Teil seines Selbst fragte sich, ob diese etwas exzentrische Angewohnheit, diverse Leute in diverse Dorfbrunnen zu tunken, zu einem neuen Markenzeichen werden würde. Der weitaus größere Teil aber genoss die Aktion in vollen Zügen. Als der Gehörgang des keuchenden, schleimigen Individuums endlich wieder frei von Wasser war, brachte der Sohn des Feuergesalbten eine letzte Warnung an: „Ah, SCHÄTZCHEN! Jetzt riechst Du schon viel besser ... Aber, solltest Du noch mal auf die Idee kommen, Dich, Deine dreckigen Hände, oder Deinen absonderlichen Gestank auch nur in der Nähe dieser Frauen zu zeigen, werde ich Röst-Trottel aus Dir machen. Diese Familie steht unter meinem persönlichen Schutz!“ Seine Warnung war offensichtlich angekommen, denn jetzt wurde er panisch angestiert. „Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt! Ich bin mir nämlich nicht sicher, Dein Niveau zu treffen, ohne mich bis zum Erdmittelpunkt vorzuarbeiten!“ „N ... nein, g ... glasklar!“, stotterte Lees tropfnasses Opfer. „Gut!“, flüsterte Prince Charming vertraulich. „Das steigert Deine Überlebenschancen um einhundert Prozent!“ Er ließ den Widerling los, der auch prompt das Weite suchte. Das GANZ Weite! Somit war dies einer der wenigen Menschen, die Lee Tatzu mitnichten für einen lausbübischen Schlingel hielten. Eine winzige, nicht sehr exklusive Menschenmenge bejubelte die Szene. Lee war das egal. Warum hatten diese Leute nicht schon vorher etwas unternommen? Bei näherer Betrachtung, lag die Antwort auf der Hand. Die Menschen in diesem Teil des Marktes wandelten nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. Die Meisten waren älter und ziemlich verarmt, sie hatten einfach nicht die Kraft, sich gegen einen solchen Möchtegern-Tyrannen zu wehren. Als Lee auf Nihas Stand zuschlenderte, starrte diese ihn nur mit offenem Mund an, während ihre kleinen Geschwister begeistert auf und ab hüpften. „Wir haben die Äpfel gebracht!“, murmelte Lee und nahm einen aus der Handkarre. „Ich ... Du ... Du hättest doch den Acker pflügen sollen!“, hauchte seine Chefin. Gelassen polierte ihr Retter die knackige, rote Frucht an seinem Ärmel. „Hab ich schon!“ Genüsslich biss er in das Obst. „WAS?“ „Hag ich chong.“, wiederholte er mit vollem Mund. „Aber, aber ... selbst ICH hätte dazu fast einen ganzen Tag gebraucht.“ Zerfa konnte die tollen Neuigkeiten nicht mehr für sich behalten. „Lee hat den Pflug repariert!“, platzte sie heraus. „WAAAS??“ Niha war perplex. Und ihr Hilfsfuzzi? Dieser Ausbund an Überraschungen hatte die Frechheit sie breit anzugrinsen. Verdammtes, langes Grübchen! "JA! Und er kann Feuerbändigen!", schrie Jem begeistert. Innerlich verfluchte Lee sich. Er hatte dieses blöde Pflugblech nicht heiß machen sollen! "FEUERBÄNDIGEN?", würgte Niha hervor. Kein Wunder warnten einen die alten Tratschweiber immer vor solchen Typen! „Jem, Warum gibst Du Deiner Schwester nicht eine von den Pasteten?“, lenkte dieser spezielle Typ so schnell wie möglich ab. Flugs wurde eine der Köstlichkeiten aus der Papiertüten gefischt und Niha in die Hand gedrückt. „Da! Dürfen Zerfa und ich uns noch eine teilen?“, wollte der Junge wissen. „Sicher!“, meinte Lee. Um ihn endlich nicht mehr angaffen zu müssen, biss Niha in die warme Teigtasche. Die Dinger schmeckten in der Tat so gut, wie sie rochen. Wie oft war ihr dieser verlockende Duft schon in die Nase gestiegen? Es war der Himmel! Ihr entfuhr ein genüssliches Stöhnen und unwillentlich schlossen sich ihre Augen. Als sie sie wieder öffnete, starrte sie direkt in das durchscheinende, glitzernde Grüngold dessen, was dieser Schuft als Sehorgane benutzte. Sie schluckte. Lee ertappte sich dabei, diese Geste zu imitieren. Von der Butter im Teig glänzten ihre Lippen ... Das Grau ihrer Augen war sanfter, als er es je gesehen hatte. Agni...! „AGNI! Kuck mal den Riesenkürbis da drüben!“, schrie Jem in diesem Augenblick. Somit tat er seiner Schwester, ohne es zu ahnen, einen unermesslichen Gefallen: Er rettete sie vor ihrem Retter! Und das ihr ... wo sie mit dem Gerettet werden so GAR keine Erfahrung hatte... Kapitel 7: Sprachlos in Agnam Ba -------------------------------- Irgendwann fand Niha ihre Sprache wieder. Sie wusste jedoch nicht das geringste damit anzufangen. Natürlich hätte sie sich bedanken sollen. Für die Reparatur des Pfluges, für die Lieferung der Äpfel, für die Rettung vor einem miefenden, aufdringlichen Strolch ... Nur, wenn man Hilfe nicht gewohnt ist, fallen Worte des Dankes schwer. „Und?“, fragte Lee vergnügt. „Wo sollen die Äpfel denn nun platziert werden?“ „Am ... am besten hier in den großen Korb.“, stammelte Niha. „Gut.“ Behände und umsichtig wurde das Obst kundenfreundlich arrangiert. Doch damit nicht genug ... „Guten Tag die Dame!“ Die noch recht skeptische Kundin in spe wollte eben eilends weiter, als ein charmantes Lächeln nebst passendem Grübchen und einem Paar lachender Augen sie aufhielten. „Äh ... guten Tag.“ „Wie ich sehe, sind sie eine Frau mit untrüglichem Geschmack. Darf ich Ihnen eine Kostprobe unsrer Äpfel anbieten? Erntefrisch, saftig und köstlich.“ „Äpfel? Saure, oder süße?“ „Süß und ein kleinwenig sauer. Wie ein neckisches Lächeln. Ein Kuchen davon und Ihr Gatte wird den Göttern auf Knien dafür danken, mit einem so liebenden Weib gesegnet zu sein.“ „Oh, aber ... ich bin nicht verheiratet.“ „WIE bitte? Eine solche Dummheit hätte ich den hiesigen Männern dann nun doch nicht zugetraut.“ Die Lady errötete zart und zögerte. Noch. „Gibt es denn keinen netten Herren in der Nachbarschaft, den der verlockende Duft von Apfelküchlein mit Zimt in Versuchung führen könnte?“ Ein ertappter, verunsicherter Blick ließen ihn wissen, dass er einen Treffer gelandet hatte. „Ich ... ich weiß nicht.“ „Ah! Ich wette, er ist nur zu zurückhaltend.“ Die Frau, etwa Mitte dreißig, biss sich auf die Lippen. „Glauben Sie?“ „Na ja, Sie könnten sich mit der Menge zubereiteter Apfelküchlein ja vertun. Man hat schließlich schnell mal zu viel gemacht. Ein netter, alleinstehender Nachbar wäre sicher entzückt. Sowohl über die Nascherei, als auch über den Besuch der reizenden Bäckerin.“ Die Augen des Fräuleins begannen zu glänzen. „Er ... er grüßt jedenfalls immer sehr freundlich.“, murmelte sie zögernd. „Seien Sie gnädig und erlösen Sie ihn von seinen Zweifeln. Er hat bestimmt nur noch nicht den Mut gefasst, die hübscheste Dame des Viertels anzusprechen.“ „Ich .... glaube ich nehme drei Pfund.“ Was soll man noch groß sagen? Mit fast prophetischem Weitblick hatte Seine Hoheit die Entwicklung einer wundervollen Romanze erahnt. Auf der Hochzeit wurden selbstverständlich Apfelküchlein mit Zimt serviert. Mit fassungslosem Staunen beobachtete seine Niha, wie der blaublütigste Marktschreier der Weltgeschichte nach und nach ihre gesamte Ware an den Mann, äh, die Frau brachte. Wobei sie von der Farbe seines Blutes natürlich nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung hatte. Lee lobte den Sachverstand seiner Kundschaft, neckte allzu schüchterne Maiden und knuddelte speckige, glucksende Babys. Nie zuvor hatte Niha so viele Leute in diesem Teil des Marktes gesehen. Und seltsamerweise waren es nicht nur Frauen. Dieser Luftikus schaffte es sogar, die Sympathien der Männer für sich zu gewinnen. „Vielen Dank! Beehren Sie uns wieder.“ „Nein, bedaure ... die Äpfel sind leider ausverkauft.“ „Aber selbstverständlich nehmen wir Vorbestellungen entgegen.“ „Bitte sehr, der Herr. Von unseren Eiern wachsen Ihnen garantiert ordentlich Haare auf der Brust. Sollte die werte Gattin allerdings welche auf die Zähne bekommen, übernehmen wir keinerlei Garantie.“ Nach knapp zwei Stunden war Nihas Kasse praller gefüllt denn je und am Ende schwatzte Lee den Leuten sogar noch die Schüsseln und Krüge auf, in denen sie die Sachen transportiert hatte. Ein ausverkauftes Sortiment war für ihn jedoch noch lange kein Grund, seine propagandistischen Tätigkeiten einzustellen. Oh nein. Er trug Taschen und Körbe zu den Handkarren der etwas betagteren Kunden, schichtete Einkäufe um, sodass selbst das empfindlichste Gemüse keinerlei Druckstellen bekam und ließ nebenbei alle Welt wissen, dass sie nächste Woche auch wieder hier anzutreffen wären. Dann gäbe es auch Schweinefleischbällchen. Die köstlichsten, die er persönlich je gegessen habe ... WIE bitte? „Wie bitte?“, zischte Niha. „Von Fleischbällchen hat keiner was gesagt!“ „Doch, ich!“, murmelte er aus dem Mundwinkel, während er ein älteres Ehepaar mit einem strahlenden Lächeln bedachte. „Besten Dank! Bis nächste Woche!“ „Ach ... und WER soll die kochen?“, wollte Niha wissen. „Wenn sie verkauft werden sollen, ich bestimmt nicht!“ „Und ICH, muss am Markttag die Waren vorbereiten! Da kann ich nicht auch noch kochen!“ „Nein. Das machst Du natürlich hier.“ Er begann, ganz selbstverständlich mit der Demontage des kleinen Standes. „HIER?“ „Na sicher! Schließlich sollen die Dinger heiß und frisch sein!“ „Aber ...“ „Um den Stand werd ich mich kümmern!“ „Aber ...“ „Das macht einen Mordsspass!“ Ja, ganz offensichtlich! „Aber ...“ „Was meinst Du, wie viele Leute erst kommen, wenn es dazu noch so lecker riecht?“ „Ja, aber ...“ „Was aber?“ „Ich ... ich müsste Unmengen davon machen.“ „Ja. Schon.“, sagte er schulterzuckend, während er die Teile des Holzgestells fachmännisch auf den großen Leiterwagen schichtete. „Und woher nehme ich das Fleisch? Momentan kann ich es mir nicht leisten, ein Schwein zu schlachten.“ „Dann kauf es.“ „Womit denn?“ „Mit dem heutige Gewinn, zum Beispiel?“ „Davon geht aber noch einiges ab. Unter anderem Dein Lohn.“ Sie kramte in ihrer Börse und hielt ihm ein kleines Bündel Scheine hin. „Was?“ „Dein Lohn. Es ist zwar nicht viel, aber ...“ „Ich bin Zwangsarbeiter. Schon vergessen? Ein paar Wochen hinter Schloss und Riegel, oder Arbeiten. Unentgeltlich. Das ist der Deal.“ „Ich kenne den Deal. Aber wer für mich arbeitet, bekommt auch Bezahlung, also nimm es.“ Lee überlegte ernsthaft, ob es sich lohnte, einen Streit vom Zaun zu brechen. Vermutlich nicht. Dieses sture Weib würde noch bis Mitternacht hier stehen und ihm Geld unter die Nase halten. Außerdem ... Mit seinem Lohn konnte er tun und lassen, was er wollte, oder nicht? „Also gut. Danke!“ „Fein! Dann machen wir uns am besten auf den Heimweg, hm?“ Fragend sah Niha zu ihren beiden Geschwistern. „Ihr solltet bestimmt noch Schulaufgaben machen.“ „Ich nicht!“, piepste Zerfa. Jem hingegen brummelte unverständliches. „Ich werd noch ein bisschen über den Markt schlendern, wenn´s recht ist.“, meinte Lee beiläufig. Dagegen konnte man schlecht etwas sagen, denn für heute hatte er seine Pflichten mehr als erfüllt. „In Ordnung.“, willigte Niha daher ein. Bestimmt machte er sich sofort auf die Suche nach den beiden hübschen Mädchen, mit denen er so lange und schamlos geflirtet hatte, bis jede von ihnen etwas gekauft hatte. Und in der Tat stand Lee der Sinn nach Hühnern. Aber richtigen. Also ... mit Federn und all dem Kram. Der nun leere Apfeltransport-Karren war ein wichtiger Bestandteil seines Plans. Die anderen Verkäufer des Marktes waren, Agni sein Dank, nicht ganz so erfolgreich gewesen wie er selbst, sodass unser Prinz sein eben verdientes Geld doppelt und dreifach wieder unters Volk brachte. Sein Konsumrausch konzentrierte sich vor allem und zentnerweise auf Kartoffeln, Reis, Zwiebeln und Mehl. Außerdem erstand er vier Hühner (extrem „legefreudig“, wie ihm versichert worden war), noch ein paar dieser leckeren Fleischpasteten, eine riesige Menge bunten Naschwerks und ein Pfund Kirschen, das den Heimweg allerdings nicht überstand. Zufrieden Kerne spuckend steuerte er seinen temporären Heimatort an und ließ sich die Sonne auf den Rücken scheinen. Das Landleben war gar nicht so übel. Bis auf die bedauerliche Tatsache, dass sein modisches Feingefühl hier in keinster Weise gewürdigt wurde. Clownshose, also WIRKLICH! Manche Leute hatten eben keinen Geschmack. Die Sonne begann sich dem Horizont zu nähern, als Lee seinerseits sich dem Bauernhof näherte. Auf den Flachen Stufen der kleinen Veranda saßen Zerfa und Knäulchen, die einäugige Katze, mit dem zerfetzen Ohr. Als das Mädchen ihn sah, sprang sie auf und rannte auf ihn zu. „Da bist Du ja wieder!“ „Ja, da bin ich wieder.“ „Was ... hast Du denn da?“ „Lauter gute Sachen, Fräulein Naseweis.“ Mit den Zeigefinger schnippte er über ihre Nase. „Bin ich zu neugierig?“, fragte Zerfa erschrocken. „Unsinn. Man kann kaum zu neugierig sein ... na ja, höchstens ein bisschen.“, fügte er in stillen Gedenken an all die Tratschweiber im Palast hinzu. „Und jetzt mach den Mund auf und die Augen zu!“, forderte er sie auf. „Warum?“ Sie stemmte die Arme auf eine Art und Weise in die Hüften, die sie nur von ihrer großen Schwester abgeschaut haben konnte. „Tsts ... ein bisschen mehr Vertrauen, wenn ich bitten darf.“ Nach kurzem Zögern wurden die Augen zu- und der Schnabel aufgesperrt. Als ihr ein zartschmelzendes, weiches Himbeerbonbon auf die Zunge gelegt wurde, riss sie beides wieder auf. „Oh!“ „Ja, Oh!“, grinste Lee und steckte sich ebenfalls eine der Leckereien in den Mund. „Das ist ja lecker!“, hauchte die Kleine hingerissen. „Nicht wahr? Lass und mal sehen, ob die anderen auch Bonbons möchten.“ „Bestimmt!“ „Magst Du die Tüte tragen?“ „Darf ich??“ „Natürlich.“ Begeistert hüpfte sie die Stufen hoch und öffnete die Tür. „NIHAAAA?“ Na gut, dann begann jetzt wohl der brenzlige Teil ... „Was denn?“ Die Gerufene erschien auf der Bildfläche. „Schau mal, Bonbons!“ „Was?“ „Probier mal!“ Lee verkniff sich eine Bemerkung. Er fand die Taktik „Taten statt Worte“ genau richtig im Umgang mit seinem Boss. „Aber ... wo sind die denn her?“ „Jetzt probier doch!“ „Ja, Niha ... Probier doch einfach.“ Nihas Blick zuckte von ihrer kleinen Schwester zu ihrem Hilfsarbeiter. Der Kerl stand tatsächlich da, als gehöre ihm der ganze Hof. Leicht breitbeinig, die Arme arrogant vor der gestrafften Brust verschränkt, seine verdammte rechte Augenbraue gelüftet. Und wieder einmal hatte er diesen provokativen, irritierenden Zug um den Mund. „Ich will erst wissen, wo sie her sind!“ „Ah. Verstehe.“ Der königliche Vulkan begann sich leise und ungefragt zu aktivieren. „Du hast mich ja von Anfang an für einen Gauner gehalten. Warum nicht auch noch ein Dieb? Nett!“ Zerfa sah erschrocken von einem zum anderen, doch leider hatte Lees Temperament keine Zeit, sich um das besorgte Kind zu kümmern. Es war viel zu sehr damit beschäftigt, aus dem Ruder zu laufen. „Wenigstens hältst Du mich für talentiert genug einen ganzen Leiterwagen voll Hehler-Ware unbemerkt vom Markt zu schaffen. Wirklich sehr schmeichelhaft!“ „Ich meinte nicht ...“ „Mir EGAL, was Du meinst!“, brüllte er aufgebracht. „Kipp das Zeug doch in den verdammten Schweinetrog!“ „Lee ...“ Doch der hörte nicht mehr zu und stampfte zum Stall. „Essen ist bald fertig!“, rief sie ihm hinterher, im verzweifelten Versuch, ihren Fehler wieder auszubügeln. Bisher war ihr nicht bewusst gewesen, dass man die Stalltür knallen konnte. Mit einem lauten Rumms wurde diese klaffende Bildungslücke geschlossen. „Ist ... ist Lee wirklich ein Dieb?“, hauchte Zerfa bang. „Nein! Nein Schätzchen. Ist er nicht.“, stellte Niha hastig richtig. „Warum sagst Du es dann?“ Das Mädchen klang ungewohnt trotzig. „Ich hab es doch gar nicht gesagt.“ „Aber immer streitest Du mit ihm!“ „Schätzchen ...“ „NEIN!“ In bester Hitzkopf-Manier stampfte die kleine Miss mit dem Fuss auf. „Du bist einfach nur gemein zu ihm!“ Nach diesem Ausbruch kam nun auch die Küchentür in den Genuss zugeknallt zu werden. Niha stand verloren auf den Stufen und kam zu dem traurigen Schluss, dass Zerfa recht hatte. Sie war schlicht und einfach nur gemein. Vielleicht wurde es Zeit, daran etwas zu ändern ... „Lee?“ „Was?“, blaffte es aus dem Halbdunkel. „Es ... Gleich gibt`s Essen.“ „Toll.“ „Äh, kommst Du?“ „Hab noch.“ „Du hast was noch?“ „Pasteten.“ „Davon wirst Du aber nie und nimmer satt.“ „Ah, stimmt! Ein Fresssack wie ich ...“ „Jetzt mach Dich nicht lächerlich!“ „Warum nicht? Das kann ich scheinbar doch ganz gut, seit ich hier bin.“ „Das stimmt nicht! Ich ...“ „Es stimmt nicht? Du bemühst Dich doch nach Leibeskräften, mich vor mich hin murksen zu lassen, denn sonst müsstest Du ja zugeben, mich falsch eingeschätzt zu haben. Könnte ja sein, dass ich kein so hohler Trottel bin, wie Du vermutet hast. Könnte ja sein, ich leiste ganze Arbeit. Könnte ja sein, ich bin DOCH kein fauler Taugenichts!“ Mit jedem bitteren Vorwurf war er einen Schritt näher gekommen und stand nun dicht vor ihr. Jetzt, Niha! Sag´s schon! „Danke.“ „Aber weißt Du was? Es interessiert mi ... Was?“ Sie schluckte. „Was hast Du gesagt?“ Er klang völlig perplex. „Danke!“ „Für`s Anschreien?“ „Nein, für ... vieles. Den Arzt. Den Pflug. Obwohl ich ja noch nicht weiß, ob er funktioniert ...“ „Tut er.“ „Für die Äpfel. Und für Deine Hilfe auf dem Markt. Und ... die Lebensmittel. Ich weiß ja auch, dass Du sie nicht gestohlen hast.“ „Woher?“ Niha, ganz in ihr Geständnis versunken, kam aus dem Konzept. „Was?“ „Woher willst Du das wissen?“ „Weil ...“, ihre Stimme wurde leiser. „Weil Du das gar nicht nötig hast. Du könntest den Leuten ihr letztes Hemd abschwatzen. Sie würden es Dir vermutlich frisch gewaschen, gestärkt und gebügelt überreichen. Und ... Du scheinst ein ganz anständiger Kerl zu sein.“ „Auf einmal?“ „Nein, nicht auf einmal.“ Sie holte tief Luft und stürzte sich in ihre Erklärung, bevor sie es sich noch anders überlegen konnte. „Ich ... hab zu oft erlebt, wie Leute versucht haben, mich reinzulegen. Das hat mich Fremden gegenüber wohl ein bisschen zu misstrauisch gemacht. Tut mir leid.“ Lee betrachtete sie nachdenklich. Er war sich mehr als bewusst, einem überaus seltenen Schauspiel beizuwohnen: Niha Koro, wie sie sich entschuldigte, ja sogar rechtfertigte. „Entschuldigung akzeptiert.“, sagte er leise. Erleichtert atmete Niha auf „Um eins würde ich Dich noch bitten.“ „Das wäre?“ „Tu Maja nicht weh.“ Sie starrte mit verschränkten Armen auf den Boden. „Hab ich nicht vor.“ „Die Gefahr besteht aber trotzdem. Sie ... sie mag Dich.“ „Ich glaube nicht so sehr, wie Du denkst.“ „Es mag vielleicht nicht so aussehen, aber sie hat nicht viel Erfahrung mit ... äh ... Jungs. Und wenn Du ihr das Herz brichst, dann werde ich ...“ „Ich habe nicht vor, irgendein Herz zu brechen.“ „Kann ja sein. Doch ich denke nicht, dass Du viel Einfluss darauf hast. Und jetzt gibt es Abendessen.“ Damit ließ sie ihn, vom Scheitel bis zur Sohle sprachlos, einfach stehen. Lee blinzelte. Sie glaubte nicht, dass er viel Einfluss darauf hatte? Auf was? Ob Frauen ihn ... mochten, oder nicht? Das wüsste er aber! Oder? Langsam ging Lee Richtung Haus, brachte schnell noch die vier neuerstandenen Hühner zu den anderen, trug den Rest seines Einkaufs in die Vorratskammer und schrubbte sich dann energisch die Hände. Nach einem friedlichen und wie immer leckeren Essen nahmen sich die Damen einen Korb voll Strümpfe und Socken vor und machten sich daran, diverse Löcher zu stopfen. Zerfa, ihrerseits, wickelte die Überreste der unrettbaren Kandidaten zu säuberlichen Wolle-Knäulen. Nur Jem schien an seiner Aufgabe zu verzweifeln. Er seufzte, schnaubte, raufte sich die Haare und warf zu guter Letzt seinen Stift durch die Küche. „Jem!“, mahnte Niha milde. „ICH KANN DAS NICHT!“ „Wenn Du Dich konzentrierst, schaffst Du das.“ „NEIN!“, schrie ihr Bruder verzweifelt. „Ich ... bin einfach zu dumm!“ „Wofür?“, fragte Lee, der für Zerfa die Wolle entwirrt hatte. „Mathematik!“ Aus dem Mund des Jungen klang es, als rede er über die Pest. „Mathematik? Lass mal sehen.“ „Da.“ Schmollend gab Jem dem verhassten Heft einen Schups über den Tisch. „Aha ... Grundlagen der Algebra.“, meinte der Fachmann. „Was?“, schniefte der Knirps. „Es ist Mathe!“, setzte er in seinem angewidertsten Tonfall hinzu. „Das ist gar nicht so schwer, wenn Du mal weißt wie´s geht.“ „Weiß ich aber nicht!“ „Dann erklär ich es Dir.“ Ein wütendes, frustriertes Augenpaar war das einzige, das von Jem zu sehen war. Der Rest seines Gesichtes verbarg er hinter seinen Fäusten. „Ich kapier´s ja doch nicht!“ „Natürlich kapierst Du´s! Bist schließlich ein schlaues Köpfchen.“ Jetzt schaute Jem ziemlich erstaunt drein. Seine Lehrer behaupteten nämlich das Gegenteil. Für die nächsten anderthalb Stunden wurde ihm mit spielerischer Raffinesse die Magie logischer Denkprozesse und kausaler Zusammenhänge nahe gebracht. Wirklich erstaunlich war, dass Lehrer und Schüler gleichermaßen ihren Spass hatten. „Also ist das hier, das gleiche, wie das hier?“, fragte Jem gegen Ende der Lektion zögerlich. „Absolut korrekt!“ „ECHT?“ „Natürlich. Ich hab doch gesagt, Du kannst es.“ „Ich ... ich kann es.“, hauchte der Junge. „Glaub ich. Noch eine Aufgabe?“ „Gut ...“ Sein Nachhilfelehrer kritzelte kurz etwas ins Heft. Keine fünf Minuten danach vollführte ein überglücklicher, stolzer Jem seinen Freudentanz um den Küchentisch. „Ich hab´s kapiert!“ jubelte er. „Kahaaapiihiiert!“ „Und diese Aufgabe war viel schwerer, als Deine Hausaufgaben.“ „Oh MENSCH!!! Danke Lee!“ Die folgende, ungelenke und sehr stürmische Umarmung ließ Seine Hoheit in schallendes Gelächter ausbrechen. Das wiederum führte zu unterschiedlichsten Reaktionen im weiblichen Publikum. Zerfa ließ sich von dem tiefen, ansteckenden Grollen zu einem vergnügten Kichern verleiten. Maja bekam Kuhaugen, Niha stach sich in den Finger und ... starrte ebenfalls. Sie wusste nicht einmal, was herzergreifender war: Der Anblick ihres strahlenden kleinen Bruders, der jetzt gnadenlos durchgekitzelt wurde, oder der spontane Übermut dieses Hühner-Hypnotiseur-Pflug-Reparaturdienstleister-Apfel-Aufschwatzers. So, als Ausdruck reiner Lebensfreude und ohne Hintergedanken zum Einsatz gebracht, war sein lausbübischer Charme noch umwerfender als üblich. Den Kopf in den Nacken geworfen, das einsame Grübchen tiefer und länger denn je, die Augen funkensprühender als eine Wunderkerze, war er ... Atemberaubend. Schlicht und einfach atemberaubend. Und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Niha nahm einen hastigen, wackligen Atemzug und riss ihren Blick los. Schnell steckte sie ihre Fingerspitze in den Mund, um den verdächtigen Blutstropfen loszuwerden. Doch Lee, dieses verkappte Mathematik-Genie, war heute nicht nur erstaunlich fleißig, erstaunlich hilfreich und erstaunlich erstaunlich, sondern auch noch erstaunlich wachsam. „Was ist?“, fragte er. „Nichts!“, murmelte sie. „Ich hab mich nur in den Finger gestochen.“ „Tut´s sehr weh?“ „Quatsch!“, wimmelte sie ab. Fehlte ihr grade noch, in den Fokus des Herrn Wunderbar zu geraten. Aber es war zu spät. „Lass mal sehen.“ Er war aufgestanden und näherte sich. „Es ist nichts! Es blutet ja nicht mal mehr. Außerdem,“, fügte sie hinzu, „muss ich jetzt den Brotteig für morgen machen.“ Ihr Tempo sah zwar eher nach heilloser Flucht, als nach geschäftigem Fleiß aus, aber das war ihr im Augenblick egal. Hauptsache weg von dieser Testosteron-Schleuder! Mit derart übereifrigem Elan stürzte sie sich planlos in die Arbeit. In Rekordzeit hatte sie einen geschmeidigen Sauerteig in der Schüssel und Löffelweise Mehl im Gesicht. Dann wurde es auch schon Zeit, Zerfa und Jem ins Bett zu verfrachten. Nach dem Zähneputzen versuchten es die Kinder mit ihrer üblichen Verzögerungstaktik. „Kriegen wir heute eine Geschichte, Niha?“ „Aber, es ist noch gar nicht Sonntag ...“ „Bitte, Niha!“ „Ja, bitte!“ Vergebens versuchte Niha die flehenden Kinderaugen zu ignorieren. Sie hatte noch so viel zu tun ... Aber Tatsache war auch, dass ihre Geschwister aus eben diesem Grund all zu oft den kürzeren zogen. Sie hatte kaum Zeit für die beiden. Ihr schlechtes Gewissen versuchte sie dann immer Sonntags zu mildern, indem sie ihr Möglichstes tat, das Versäumte nachzuholen. Aber das reichte bei weitem nicht, um ihnen die Nestwärme zu geben, die sie wollten; die sie brauchten. Seufzend griff sie nach dem etwas zerfledderten Märchenbuch und hockte sich in den alten Sessel. Dann würde sie eben wieder erst weit nach Mitternacht ins Bett kommen. „Also gut ... Was wollt ihr hören? Max der Mäuseritter?“ „Nein!“, rief Zerfa. „Der Prinz aus Timbu-Tambu!“ „Bäh! Das gibt´s am Schluss nur wieder ne Küsserei!“, maulte Jem halbherzig. „Ja, aber heute darf Zerfa die Geschichte aussuchen. Das letzte Mal warst Du dran.“ „Schon gut.“ Jem gab nach, denn um ehrlich zu sein, SO schlimm fand er die Küsserei ja auch wieder nicht. Es war halt einfach Mädchenkram. Heroisch erduldete er also das zuckersüße Happy-End inclusive Küsserei, sowie das sorgfältige Zugedeckt-Werden (selbstverständlich auch inclusive Küsserei). Nachdem Niha leise die Tür hinter sich zugezogen hatte ging sie in die Küche. Sie kochte Kompott, legte Gurken ein, konservierte sie und machte sich dann ans Saubermachen. „So, die Strümpfe sind alle gestopft.“, riss Majas Stimme sie aus ihrer Arbeitstrance. „Sehr schön. Ich danke Dir.“ „Kann ich Dir hier noch helfen?“ „Nein, ich bin gleich fertig. Geh ruhig schlafen.“ „Sicher?“ Niha drehte sich zu der Jüngeren um. „Ja, sicher.“ Sie trocknete sich die Hände ab und strich dann mit der Rechten über die Wange ihrer Schwester. „Du musst nicht auf mich aufpassen, Maja.“ „Aber sonst tut´s ja keiner. Und ich ... ich helf Dir manchmal nicht genug.“ „Doch, das tust Du. Mit sechzehn braucht man schließlich seinen Spass!“ „Siebzehn. Und als Du so alt warst, hattest Du auch nur Arbeit.“ „Nein.“, sagte Niha leise. „Mit siebzehn hatte ich auch noch etwas anderes.“ Träume. Hoffnung. Und die Aussicht auf Liebe. DAS würde sie Maja nicht kaputt machen. „Dass Du immer noch um diesen ... diesen Trottel trauerst ...“ „Er war kein Trottel!“ „Doch, war er! Sonst wäre er nicht gegangen! Wer Dich einfach so sitzen ließ, der ...“ „Riu hatte nicht vor, mich sitzen zu lassen. Es ... ist eben passiert.“ „Ach ja? Weil er beim Anblick von ein paar blonden Locken sein Gehirn nicht mehr durchbluten konnte?“ „Maja!“ „Ist doch wahr! Denkst Du, ich wüsste über solche Sachen nicht bescheid? Sie musste ihn doch nur einmal anschmachten, und schon wurden seine Entscheidungen ein Stockwerk tiefer getroffen.“ „Er hatte sich eben in eine andre verliebt, da kann man nichts machen.“ „Nichts machen? Agni!“ Maja setzte sich auf den Tisch. „Hast Du schon immer so wenig vom Leben erwartet?“, wollte sie leise wissen. „Das Leben ist, wie es ist. Ich war nie hübsch genug, um was anderes erwarten zu können. Du schon. Du wirst einen finden, der Dich liebt und damit auch nicht einfach so aufhört.“ „Und wenn ich nicht nur hübsch sein will?“ „Hm?“ „Was ist, wenn ich genug davon habe, immer nur „hübsch“ zu sein?“ „Maja.“ Schnell drückte Niha ihre Schwester an sich. „Was soll denn das? Du bist so vieles mehr! Lieb, großzügig, loyal. Ich weiß, dass Du für die Familie alles tun würdest. Du ... würdest Dich ja sogar mit diesem Ekel Naro abgeben, nur um uns zu helfen.“ Bei der Erwähnung dieses Namens presste Maja die Lippen aufeinander. „Seine Familie ...“ Sie klang unsicher und eine Spur trotzig. „Ja, was?“ „Es würde uns besser gehen, wenn ... wenn ...“ „Wenn Du recht nett zu ihm wärst?“, fragte Niha ätzend. „Niha! Das würde ich nie tun! Aber vielleicht ... würde er mich ja heiraten.“ „Ja, und vielleicht kannst Du ihn nicht ausstehen! Halt, warte ... Du kannst ihn ganz SICHER nicht ausstehen. doch Du willst ihn HEIRATEN? Seit wann ist so ein unüberlegter Schwachsinn eine Lösung?“ „Unüberlegt? Worauf soll ich denn warten? Auf die große Liebe? Dass auf die kein Verlass ist, haben wir ja bei Riu gesehen. Wenn Naro mich nimmt, hätten wir endlich keine Sorgen mehr!“ „Ach ja? Ich bin mir sicher, dass die Zukünftige dieses Großkotzes ziemlich viele Sorgen haben wird.“ „Jedenfalls keine Geldsorgen!“ „Maja! Ich ... bisher haben wir´s doch auch so geschafft! Wir können zwar keine großen Sprünge machen, aber es reicht für das Nötigste!“ „Aber wie lange noch?“ Niha ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Es ist MEINE Aufgabe, euch durchzubringen. Und eigentlich dachte ich auch, ich bekomme es ganz gut hin.“ „Tust Du ja auch!“ „Ja? Nur scheint es Dir plötzlich nicht mehr zu reichen.“ „Es geht ja nicht um mich! Es geht um ... um die Kleinen und um Dich auch. Das wäre meine Chance endlich mal etwas für die Familie zu tun.“ „Endlich? Du tust doch schon Dein Möglichstes!“ „Im Vergleich zu Dir mache ich so gut wie nichts.“, flüsterte Maja. „Quatsch! Ohne Dich würde ich den Hof niemals durchbringen.“ Am Gesichtsausdruck ihrer Schwester konnte Niha erkennen, dass sie genauso gut auf einen Felsbrocken hätte einreden können. „Maja bitte ... Das kommt überhaupt nicht in Frage! Kein Geld der Welt ist es wert, sich dafür an einen fiesen Kerl zu binden. Ich werd bestimmt nicht einfach dabei zusehen, wie Du Dich unglücklich machst.“ „Aber vielleicht macht´s mich ja glücklich!“ „Naro? Naro Fuguro und Glück sind zwei Dinge, die sich niemals unter einen Hut bringen lassen. Nicht mal mit tonnenweise Phantasie! Ich will nichts mehr davon hören.“ Damit stand sie auf und schrubbte den Küchentisch. „Fein! Ich hatte ganz vergessen, dass Du ja keine Hilfe nötig hast!“, fauchte Maja. „Nicht, wenn meine Schwester sich deswegen unter Wert verschleudert!“ „Ich bin bald volljährig und dann kann ich machen, was ich will!“ „Na toll, denn WOLLEN tust Du´s ja eigentlich nicht!“ „Agni! Warum rede ich überhaupt mit Dir darüber? Ich geh ins Bett!“ „Maja ...“ „Nacht!“ Wunderbar ... noch eine überstrapazierte Tür. Verdammt! Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Maja spielte allen Ernstes mit dem Gedanken, sich auf dieses Ekelpaket Naro einzulassen, nur um sie alle finanziell abzusichern? Nie und nimmer! Nur über ihre verwesende Leiche! Doch, bevor sie sich das Fräulein zur Brust nehmen würde, musste sie sich erst mal abreagieren. Wahrscheinlich ein paar Tage lang. Auf seinem Heuboden in die zufriedene Betrachtung diverser Sternbilder versunken, hätte Lee das Schließen der Küchentür beinahe überhört. Irritiert setzte er sich auf. So spät verließ im Normalfall keiner der Bewohner das Haus. Neugierig geworden ging er zu dem runden Dachfenster und späte nach draußen. Niha. Natürlich. Die Frau war unermüdlich. Jetzt schleppte sie tatsächlich einen riesigen Korb voll Wäsche mit sich herum. Es sah so aus, als hätte sie vor, um diese Zeit noch waschen zu gehen, was ein wahrhaft grandioser Plan war, denn NOCH kälter konnte das Wasser des kleinen Bachs hinter dem Stall kaum werden. Dieses Weib schien auf eine zünftige Erkältung auszusein. Seufzend stieg Lee die Leiter hinab. Irgendwie schien er sich hier langsam aber sicher um ALLES kümmern zu müssen ... Niha schwenkte, tunkte, schrubbte und drosch auf den durchweichten Stoff ein. Das Wasser im Bottich war kurz davor seinen Aggregatzustand zu ändern, so kalt war es. Doch die Arbeit half beim Abreagieren. Und beim Nachdenken. Nachdenken war essentiell! Sie musste Maja um jeden Preis davon abhalten, sich auf Naro einzulassen. Der Sohn des reichsten Mannes der Stadt war gelinde gesagt unberechenbar. Seine an Grausamkeit grenzende Gleichgültigkeit gegenüber den Mitmenschen, die er für unbedeutend hielt, war legendär. Er wollte Maja nur als Trophäe, als dekoratives Anhängsel. Niha vermutete hinter seiner tumb vertraulichen Art ihrer Schwester gegenüber einen fatalen Hang zu herrschsüchtigem Sadismus. Sie wollte bestimmt nicht miterleben, was er tun würde, sollte sein Weib es wagen, einen eigenen Willen zu entwickeln. Er war ein frauenverachtender, fauler, ignoranter Kotzbrocken. Alles wäre besser, als Naro Fuguro. ALLES!!! Wenn sie nur wüsste, wie Maja dieser ganze Unsinn ausgeredet werden konnte ... „Niha?“ Sie fuhr herum und starre Lee für geschlagene sieben Sekunden ungläubig an. Bekam sie etwa gerade einen Wink des Schicksals? Er hingegen legte den Kopf schief und musterte sie streng. „Was zum Teufel tust Du da?“ Ja ... alles wäre besser als Naro. Der Mann, der hier vor ihr stand, auf jeden Fall! „Du hast den Bottich ja nicht mal angeheizt!“, schimpfte er. Er mochte ein Herzensbrecher sein, aber auf keinen Fall war er ein Sadist oder Frauenschläger. „Legst Du´s auf eine Lungenentzündung an?“ Nein, Lee würde Maja niemals absichtlich weh tun. Und sollte er doch zu weit gehen ... Ein gebrochenes Herz heilte irgendwann. Einem leichtlebigen Filou hinterher zu trauern war allemal besser, als einen brutalen Ehemann ertragen zu müssen. „Hörst Du mir überhaupt zu?“ „Was?“ „Agni!“ Statt noch länger erfolglos Monologe zu führen, ging Seine Hoheit zu dem großen Waschzuber, steckte seine Hände in die eiskalte Seifenlauge und erhitze sie. Durch das leise Murmeln seiner Flüche hatte er Mühe, ihre nächsten Worte zu verstehen. Doch selbst als er schwieg und die akustischen Verhältnisse somit ideal waren, begriff er nichts von dem, was sie da faselte ... Lee starrte seine Chefin an, als wären ihr auf einmal Hörner aus dem Kopf gewachsen. Er hatte alle relevanten Informationen schon vor zwei Minuten erhalten, doch sie weigerten sich, ein nachvollziehbares Gesamtbild zu formen. „WAS? Ich soll mich an Maja ranmachen? Auf einmal? Was ist aus „Hände weg, oder sonst“ geworden?“ „Nicht ... ranmachen. Nur flirten. Ihr ein bisschen den Kopf verdrehen.“ Sie meinte das Ernst!?! Diese Erkenntnis setzte sich nur widerwillig durch. „Ach ... ein bisschen?“ Seine muskulösen Arme bildeten ein Bollwerk des Trotzes vor seiner Brust. „Wie groß soll dieses Bisschen denn sein? Soll ich´s ab und zu machen, oder unentwegt? An geraden oder ungeraden Tagen?“ „Ich ... so war das nicht gemeint.“ „Nein? Wie war es denn gemeint?“ „Sie ... sie hat sich was furchtbar dummes in den Kopf gesetzt und ... Du sollst sie einfach nur ablenken.“ Selbst im Halbdunkel sprühten seine seltsamen Augen Funken. „WOFÜR HÄLTST DU MICH EIGENTLICH?“ „Was?“, entfuhr es Niha entsetzt. Wieder einmal hatte eine völlig harmlose Bemerkung ihn unerklärlicherweise in Rage versetzt. „Kommandier mich herum, solange Du willst, aber darüber, wem ich „den Kopf verdrehe“ entscheide ich immer noch selbst. Kapiert?“ „Aber, aber ... ich dachte, Du würdest gern mit ihr ... anbandeln.“ „Dachtest Du? Wirklich? Da hast Du leider verdammt falsch gedacht. Eines interessiert mich aber doch brennend: Was wäre wenn ich darauf eingehe? Was verstehst Du bitte schön unter „anbandeln“? Darf ich das volle Programm abziehen? Pfeifst Du mich zurück, wenn ich grade in Fahrt komme? Oder ...“ Drohend beugte er sich über sie. Sein warmer Atem roch nach Ingwer und Minze und seine Stimme wurde zu wisperndem Samt. „bist Du bereit, Deine kostbare kleine Schwester abzulösen, bevor es richtig zur Sache geht? Damit sie nicht in meine dreckigen Fänge gerät?“ Mittlerweile hatte die bedauernswert massive Stallwand Nihas langsamen Rückzug aufgehalten. „Sag mir, Niha,“, flüsterte ihr ebenso massiver Hilfsarbeiter. „Bist Du bereit, dieses Opfer zu bringen? Schließlich kann so ein widerlicher Lüstling wie ich für nichts garantieren, wenn sein ohnehin nur erbsengroßes Hirn nicht mehr durchblutet wird.“ „Hör auf!“, stieß Niha hervor. Sie war inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes in die Ecke gedrängt worden. „Aufhören?“ Er platzierte seine Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes, um jeglichen Gedanken an Flucht im Keim zu ersticken. „Warum denn aufhören? Ich möchte nur noch eben die Bedingungen für unseren kleinen Handel klären. Werde ich stundenweise gemietet? Möchtest Du vielleicht einen Sonderrabatt aushandeln?“ Okay ... sie schien ihn wirklich beleidigt zu haben, denn jetzt wurde er eklig. „Wenn Du recht nett zum mir bist, könnte ich meine Dienste auch gratis anbieten. Schwestern hatte ich nämlich noch nie.“, raunte er anzüglich. KLATSCH! Niha war froh, mir dem Rücken an der Wand zu stehen! Sonst hätte die goldglimmende Rage in seinen Augen sie glatt in die Knie gehen lassen. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, ihn zu ohrfeigen. Er schäumte vor Wut. Bebte vor Entrüstung. War blass vor Zorn. „Ah!“, knirschte er durch die Zähne. „Vorkasse. Wie entgegenkommend!“ Das war alles, was Niha Koro an Vorwarnung erhielt, bevor sie von ihrem Hilfsarbeiter geküsst wurde, dass ihr sämtliche Felle davon schwammen. Eigentlich war sein Kuss zu heftig. Zu zorngeladen. Eigentlich hätte dieser Kuss schmerzhaft sein müssen. Aber, stinkwütend oder nicht, Lee Tatzu war einfach nicht imstande einer Frau Schmerzen zuzufügen. Es war nicht das erste Mal, dass Niha geküsst wurde. Es war auch nicht so, als hätte sie dieses Gefühl vergessen, oder es sich nicht zurückgesehnt. Es war nur .. DIESES Gefühl hatte sie noch nie erlebt. Das zwischen Riu und ihr war Liebe gewesen. Ehrerbietung. Respekt. Vertrauen. Sie hatten sich von Kindesbeinen an gekannt. Der harte, bezwingende Mund, der ihr jetzt seinen Stempel aufdrückte, erstickte jede Emotion außer der Leidenschaft. Der große, heiße Körper, der sie gegen die Bretterwand presste, machte dabei jegliche Gegenwehr unmöglich. Doch dazu wäre Niha ohnehin nicht in der Lage, denn der Mann war ein wahrer Meister seines Fachs. Statt Ablehnung fand sie in ihrem Inneren nur weiche, kribbelnde Bereitwilligkeit. Agni möge ihr beistehen, doch er war einfach zu verlockend! Sie wühlte ihre Finger in seinen dunklen Schopf, überließ ihm eifrige, wissbegierige Lippen, stöhnte in seinen Mund und bog sich ihm zu allem Überfluss auch noch entgegen. Als Antwort auf ihren Überschwang knurrte er rau, packte ihre Hüften und presste sie gegen seine. Nihas Inneres gab noch weiter nach, schmolz endgültig zu warmem Sirup zusammen und entlockte ihr ein Wimmern. Seine Reaktion kam prompt, aber unerwartet. Er löste seine Lippen von ihren und hob den Kopf um ein winziges Stück. „Ende der Vorstellung.“, wisperte er rau gegen ihren Mund. „Ich hoffe die kleine Kostprobe hat Deinen Beifall gefunden.“ Mit diesen Worten stiess er sich mit dem rechten Arm von der Wand ab. „Falls Dich nach mehr gelüstet, weißt Du ja, wo Du mich findest!“ Nach einer tiefen, spottriefenden Verbeugung ließ er sie in der kalten Nachtluft stehen. Fassungslos. Atemlos. Sprachlos. Zuko II stand scheinbar unberührt am Fuss der großen Flugplattform. Die Flügel des enormen, orangefarbenen Drachen ließen seine Mähne aufwallen und wirbelten auch sonst eine Menge Zeug auf. In leichter Verwunderung wölbte Seine Lordschaft das, was Lady Jin seine Rabenschwinge nannte (für Menschen, die den Feuergesalbten in weniger verklärtem Licht sahen, war es schlicht und einfach eine Augenbraue. Fürstlich, ohne Zweifel, aber eben doch nur eine Braue). Sollte es im Bereich des Möglichen liegen, dass sein Hofmeister es versäumt hatte, hier gründlich sauber machen zu lassen? Doch dann erinnerte eine kleine Gestalt, die schnell näher kam, ihn daran, dass es erheblich wichtigeres gab als keimfreie Böden. Eine tiefe Verbeugung, die, wie er sehr wohl wusste, nur dazu dienen sollte, ihn aus der Reserve zu locken, erwiderte er mit einem leichten Neigen des gekrönten Hauptes. „Willkommen zu Hause!“, sagte er ruhig. „Danke! Ihr könntet wirklich mal wieder den Hof fegen lassen, oh Beschmutzter.“, erwiderte der alte Mann, und schnippte vorsichtig ein Stäubchen von den Schultern des Erhabenen. „Soll ich Euch einen Besen holen lassen, Onkel?“ „Agni behüte! Mein Buckel ist schon krumm genug. Außerdem, muss ich sagen, dass Eure Begrüssung wirklich zu wünschen übrig lässt.“ Ein kurzes, unfreiwilliges Zucken strenger Mundwinkel und eine feste Umarmung holten das Versäumte nach. „Schon besser!“, brummte Iroh Tatzu. „Geht es Euch gut, Onkel?“ „Aber natürlich, Junge. Hab mich ganz köstlich amüsiert, solange ich nicht unter Deiner Fuchtel stand.“ „Offensichtlich.“, sagte Seine Lordschaft mit Blick auf die Blütenkette um den Hals seines Onkels. „Ich hoffe, Fon ist ebenfalls wohlauf?“ „Oh, sicher! Hatte aber trotzdem dauernd was zu meckern.“ „Ich hab nur gesagt, dass es eine blöde Idee war, in Deinem Alter auf wilden Gazellenzebras zu reiten, Hoheit.“, maulte es hinter ihm. Nach diesem kurzen Statement wuselte der alte Kämmerer des Feuerlords pflichtschuldigst näher und verneigte sich tief vor seinem Herrscher. „Agnis Segen auf Euer Haupt, oh Erhabener!“ „Und das Deine, Fon. Wie schön, Dich wiederzuhaben.“ Die Augen des Dieners leuchteten kaum merklich auf. Er mochte „Urlaub“ nicht besonders und war heilfroh, wieder hier zu sein. Kritisch musterte er die Erscheinung seines Souveräns. „Wie ich sehe, hat mein Neffe Huro mich würdig vertreten, Mylord.“ „Ja, in der Tat. Um die Unvergleichlichkeit Deiner Haarbinde-Kunst zu erreichen bedarf er allerdings noch der Übung.“ „Wart Ihr mit ihm nicht zufrieden, Durchlaucht?“, fragte Fon erschrocken. „Doch, durchaus. Ein sehr fleißiger Bursche. Aber es war ... nicht das selbe.“ Damit war Fon mehr als zufrieden. Nicht wäre entsetzlicher, als für überflüssig erklärt zu werden. „Wo bleibt denn das Mädel?“, mischte sich Iroh wieder in das Gespräch. „Bedauerlicherweise noch auf der „Konferenz der harmonischen Gedanken“.“ , antwortete sein Neffe sichtlich missmutig. „WAS? Ihr habt sie wirklich zu diesem Unsinn geschickt?“ „Ja.“, murrte Zuko. „Die Weiberkonferenz?“ „Ja.“ Das Murren war Zähneknirschen gewichen. Iroh brach in schallendes, nicht enden wollendes Gelächter aus. „Leider können wir nicht alle nur unserem persönlichen Vergnügen hinterher jagen.“, betonte sein Neffe steif. „Nun,“, kicherte Iroh und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Ihr jedenfalls nicht, solange Jin fort ist. Soviel steht fest.“ Er wurde aus frostiger Höhe angefunkelt. „Wie lange seit Ihr denn schon Strohwitwer?“ „Zu lange!“ „Armer Junge! Und wann kommt sie wieder?“ „Morgen.“ „Na, solange schafft Ihr es bestimmt noch, den Palast nicht in Schutt und Asche zu legen, hm?“ „Die Chancen stehen im Moment Fifty-Fifty.“, knurrte Zuko drohend. Er litt unter eklatantem Kobold-Entzug. Und das war NICHT lustig! Eine Stunde später stand der Feuerpalast wirklich kurz davor, in Schutt und Asche gelegt zu werden. Der Kurier, der eine Nachricht des Erdkönigs, Nuro V überbracht hatte, stolperte kratzbuckelnd rückwärts, als das schreckliche Drachengebrüll die Säulen erbeben ließ. "WAS???" Wutschnaubend tigerte Zuko vor dem zittrenden Mann auf und ab. „E ... ein G ... Gipfelt ...treffen, Euer H ... Hoheit.“ „Gipfeltreffen?“, spie Seine Lordschaft. „MORGEN?“ „N ... n ... nun. Ja.“ „Quatsch! Man beruft kein Gipfeltreffen für den nächsten Tag ein!“ „Es i .. ist wichtig, Oh, oh F ... Flammender.“ Eine bebende Hand bot dem Feuerlord mit äußerster Demut eine Schriftrolle dar. „WICHTIG?“, fauchte der Drache. „Nichts kann SO wichtig sein!“ „I ... ich f ... fürchte, Seine M ... Majestät b ... besteht auf E ...Euer Erscheinen.“, stammelte der Kurier todesmutig. Gleich würde er geröstet werden, jede Wette. Stattdessen wurde ihm die Nachricht aus der Hand gerissen und mit verächtlichem Blick überflogen. „Scheiße!“, entfuhr es dem Herrscher. „BEI DEN SCHLEIMIGEN EXKREMENTEN EINES FEUCHTEN GROTTENMOLCHS ...“ Das war nur der Anfang einer wilden Fluch-Tirade. Der Bote des Erdkönigs blinzelte. DIES sollte der besonnene, kühle Taktiker sein, der die Feuernation nach dem Krieg wieder geeint und einen legendären Friedenspakt mit dem Rest der Welt ausgehandelt hatte? Der Kerl fluchte wie ein Bierkutscher ... wie ein Bierkutscher mit viel zu viel bildlicher Vorstellungskraft! Ne ... also echt! Agni sei Dank waren sämtliche Bewohner des Palastes klug genug, den brenzligen Bereich um den Gebieter der Flammen bis zum Zeitpunkt seiner Abreise weiträumig zu umgehen. Hastig gepackte Koffer, in aller Eile aufgebügelte Prunkgewänder und panisch zusammengetragene Dokumente wurden kreuz und quer durch den Palast geschleppt und zu den geduldig wartenden Flugtieren gebracht. Der Nachwuchs des Feuerlords hatte sich am Rand der Plattform wie die Orgelpfeifen aufgestellt, um ihn dort ordnungsgemäss und zärtlich zu verabschieden. Zirah, die Kleinste (zu ihrem Leidwesen war sie unter den hochaufgeschossenen Tatzus die einzige, die die eher beschauliche Größe ihrer Mutter geerbt hatte), kam zuerst an die Reihe. „Vergiss bitte Deinen Termin bei der Gräfin nicht, Zirah.“ „Nein Papa. Auch wenn ich vor Langeweile sterben werde ... ich werd hingehen.“ „Das ist mein Floh!“ Er küsste sanft ihre Stirn und malte mit dem Daumen das Zeichen einer ewigen Flamme darauf. „Aya, versuch Deine Mutter zu beruhigen, wenn sie erfährt wo Lu Ten und Lee sind.“, wandte er sich an das einfühlsamste seiner Kinder. „Ja, Papa.“, antwortete Prinzessin Aya. „Aber, sie wird wahrscheinlich bei weitem enttäuschter darüber sein, dass Du nicht da bist.“ „Ja, ich fürchte auch, sie wird etwas Dummes anstellen.“, murmelte ihr Erzeuger. „Kopf hoch, Papa!“, ermunterte sie ihn sanft. Mit einem etwas kläglichen Lächeln bedachte er nun auch dieses Kind mit dem obligatorischen Kuss und dem anschließenden Segen. „Kiram. Die Sonnenriten überlasse ich während meiner Abwesenheit Dir und Iroh.“ Die Augen seines jüngsten Sohnes weiteten sich kurz. Eine derart große Verantwortung hatte er bisher noch nie übertragen bekommen. „Ich werde mein bestes tun, Vater!“, versicherte er. „Das weiß ich.“ Auch dieses Haupt wurde zum Abschied gekost und gesegnet, bevor Zuko sich schließlich an seinen Onkel wandte. „Onkel, ich muss Euch ja nicht bitten, auf alles Acht zu geben?!“ „Aber nein. Ich werde mich um alles kümmern, doch es ist nicht nötig, mir deswegen auch noch die Stirn zu befeuchten.“, sagte der alte Mann milde und wippte auf den Zehenballen. Kapitel 8: Pippa und die sieben und eins Lektionen des Herrn Song ----------------------------------------------------------------- „Schloss“ Tutuk, am Abend zuvor Lu Ten sass neben dem Kamin der grünen Bibliothek (Sprach- und Geisteswissenschaften, antike Sagen und Mythen) in „seinem“ Lieblingssessel. Die einzigen Geräusche, die die beschauliche Stille durchbrachen, waren das leise Knacken brennender Scheite und das zufriedene Schnaufen von Mimmi, die sich nicht davon hatte abhalten lassen, ihren Wolfsschädel auf seinem Knie abzulegen. UND natürlich das verschwörerische Flüstern, das Fräulein Tutuk mit diesem Ran austauschte. „Ich werd´s ihm einfach sagen!“, wisperte sie. „Ich glaube nicht, dass er ...“ „Sssscht!“ Der royale Bücherwurm blendete die komplette Szene aus und widmete sich mit betonter Konzentration der Sammlung altphilologischer Aufsätze, in die er nach dem Abendessen seine Nase gesteckt hatte. Wenn sie etwas von ihm wollten, würden sie es schon ... „Herr Song?“ „Ja?“ Er hob leicht den Kopf und wölbte fragend den Rand der durchbrochenen linken Braue. Sein Blick blieb weiterhin an den überlieferten Texten haften. „Ich ... wir haben ein klitzekleines Problem.“ „Ja?“ „Ja.“ Pinerias unruhig ineinander verschlungenen Finger gerieten in sein Sichtfeld und ließen ihn seufzend aufblicken. „Ich höre.“, sagte er, obwohl er wusste, dies gleich bereuen zu müssen. „Bezüglich der Unterkünfte. Wir ... haben nicht genug freie Zimmer.“, platze sie heraus. Seine Hoheit kannte ihre verschrobenen Gedankengänge mittlerweile gut genug, um zu wissen, was nun auf ihn zu kam. „In diesem Riesenkasten?“, fragte er kühl. „Sind alle vollgestopft mit Krimskrams.“, kam die Antwort. „Aber für eine Nacht könnten Sie bestimmt...“ „Nein.“ „Es wäre doch nur für eine Nacht. Morgen kann ich ein Zimmer für Nemo vorbereiten lassen.“ Ah, Säusel-Memme-Ran war heute erst angekommen, und schon waren wir bei „Nemo“? „Unmöglich.“ Gelassen blätterte Lu Ten eine Seite um. „Und warum, bitte sehr?“ Weil er eher in einer Besenkammer schlafen würde, als in einem Raum mit diesem Tintenkleckser. „Ich schnarche.“, behauptete er unverfroren. „Das macht nichts.“, beeilte Nemo sich zu sagen (als hätte der was zu melden). „Ich habe einen sehr tiefen Schlaf.“ „Und ICH schnarche ...“ Lu Tens Augenbraue zuckte warnend. „LAUT!“ Sollte diese dreiste Lüge ans Licht der Öffentlichkeit gelangen, hätte Prinz Mustergültig seinen Ruf als ehrenhafter, tadelloser, pflichtbewusster Mann glatt in die Tonne klopfen können. Doch er schmückte das Märchen munter weiter aus. „Nahezu ohrenbetäubend.“, sagte er genüsslich und lehnte sich in dem überaus bequemen Sessel zurück. „Oh?“, blinzelte Pippa. „Sie sehen aber gar nicht so aus.“ „Ich wusste nicht, dass dazu eine spezielle Physiognomie vonnöten ist.“ Jetzt blitzten seine Augen schon wieder so ... ungnädig. „I ... ist es auch nicht. Glaube ich.“ Fragend sah sie in Nemos Richtung. Der zuckte mit den Schultern, eine Studie unwissender Bescheidenheit. „Ich habe nicht die geringste Erfahrung mit Schnarchern.“, gab er zu. „Na bitte. Er kann also unmöglich in meinem Zimmer schlafen.“ Nach diesem Beispiel verdrehter, aber unwiderlegbarer Logik wurde das Buch in Lu Tens Schoß energisch zugeschlagen. Mit einer fließenden Bewegung erhob er sich. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“ Das Scharren riesiger Hundepfoten, die ihm aus dem Zimmer folgten, minderte die Wirkung seines Abgangs nur leicht. Die Nacht verbrachte er, dank seiner Unehrlichkeit und verblüffend funktionstüchtiger Atemwege in völliger Stille. Nur ... zur Ruhe kam er nicht. Am nächsten Morgen stand Lu Ten im Türrahmen der hellen, freundlichen Küche und analysierte die vorliegende Situation zum dritten mal. Das konnte einfach nicht wahr sein. Irgendetwas übersah er doch ... Vielleicht hatte er auch schon wieder verschlafen und träumte noch. Da sass dieser ausgelutschte Leisetreter, der gestern unaufgefordert hereingeschneit war, und frühstückte. Mit GENUSS! Er hockte auf SEINEM gottverdammten Stuhl und verspeiste etwas, das verdächtig nach Eiertoast mit warmem Ingwer-Honig aussah. Unverkohlt! Goldgelb! Köstlich duftend! Als Fabrikantin des appetitlichen Happens kam, so unbegreiflich es auch schien, nur die zerstreute, wie immer leicht zerzauste Tochter des Hauses in Frage, denn außer diesen beiden war keine Menschenseele anwesend. Eine Unschicklichkeit, die auf der hohen Stirn Seiner Hoheit tiefe Runzeln entstehen ließ. Wie KAM dieser Mensch dazu, ein genießbares Frühstück zu verspeisen? Wo zum Teufel war die rußige, pampig fettige Matsch-Kruste um seinen Toast? Wo war der klumpige, kristallisierte Honig, in dem sich die Brotkrümel einer ganzen Woche tummelten? Nein, DAS war zu viel. Lu Ten erkannte eine Kriegserklärung, wenn er sie bekam. „Morgen!“, knurrte er. Der verzückte brandneue Zweit-Assistent riss seinen Blick nur widerwillig von Miss Tutuk los. „Guten Morgen wünsche ich.“, näselte er. „Oh! Guten Morgen!“ Pineria sprang auf. Sie wirkte eindeutig wuselig und eindeutig ertappt. „Möchten Sie ... vielleicht auch etwas Toast?“, fragte sie hastig. „Nein!“, antwortete der Sohn des Erhabenen mit verschränkten Armen und unheilvoll verengten Augen. „Ich hätte gerne die gleiche Pampe wie sonst!“ „Die gleiche ...? Oh je ... äh, ja. Wie es aussieht, war wohl die Pfanne kaputt. Ich ... habe heute eine andere benutzt. Sie scheint viel besser zu sein.“ Pineria versuchte sich an einem strahlenden Lächeln. Das Weib log tatsächlich, ohne rot zu werden. „Wirklich?" Lu Tens Blick zuckte zu dem gusseisernen Monstrum auf dem Herd. "Seltsam. Sie sieht haargenau so aus, wie die alte.“ Der übertrieben schmeichelnde Tonfall stand in starkem Kontrast zu dem glühenden Lavastrom seiner Augen. „Selbst dieser Kratzer hier.“, fügte er knirschend hinzu. „Das ... das ... also, ich ...“ Verzweifelt suchte Pippa nach einer Ausrede. „Sind Sie Morgens immer so unausgeglichen, Herr, äh, wie war der Name doch gleich?“, rettete Nemo sie. „SONG!“, blaffte Herr, äh, Tatzu. „Ja, Song. Verzeihung!“ „Ich bin so ausgeglichen, wie man nur sein kann, HERR Ran!“ „Daskannmansehenwiemanwill.“, nuschelte Mr. Uneingeladen lebensmüde. „Bitte?“ „Ach Du liebe Güte!“ Pippas Blicke flogen von einem zum anderen. Diese Situation überforderte ihre soziale Kompetenz bei weitem. Was war denn da los? Klar war, dass die Chemie zwischen den beiden Männern höchst explosiv zu sein schien. Also musste einer der reaktiven Stoffe entfernt werden. Am besten die hitzige Komponente ... „Ob ich Sie wohl draußen sprechen könnte?“, fragte sie den vor ihr stehenden Riesen freundlich. Lu Ten merkte kaum, wie etwas an seinem Ärmel zerrte, da er viel zu inbrünstig damit beschäftigt war, diesen Schmalspur-Casanova anzufunkeln. Nachdem sie ihn endlich in den Garten bugsiert hatte, stellte Fräulein Tutuk ihren Assistenten zur Rede. „Verraten Sie mir bitte, warum Sie sich so aufführen?“ „Aber gern! Wenn SIE mir verraten, seit wann Sie kochen können.“ „Ich ... also. Seit wann? Na ja ...“ Himmel! Sie konnte ja schlecht zugeben, gedacht zu haben, er könne ein persönliches Interesse an ihr entwickeln, welches es zu ersticken galt. Er würde sie für noch bekloppter halten, als er es ohnehin schon tat. „Sie sagten stets, es würde schmecken!“, ging sie mutig zum Gegenangriff über. „Geben Sie meiner beklagenswerten Erziehung die Schuld.“, knurrte er. „Falls Sie mich loswerden wollen, genügt es durchaus, mir das ins Gesicht zu sagen, statt zu versuchen, mich mit ihrem Fraß dem ewigen Feuer zu überantworten!“ „Nein ... ich habe nicht versucht, Sie loszuwerden!“ „Sondern?“ „Es war Teil der Studie“, improvisierte Pippa, die Wahrheit nach eigenem Ermessen etwas ausdehnend. „Ach ja; das ominöse Experiment! Wollten Sie wissen, ob ich mich Vergiftungserscheinungen gegenüber resistent zeige? Oder, ob ich eines Mordes fähig wäre? Darf ich annehmen, dass der ach so ehrenwerte Nemo nicht als Versuchskaninchen herhalten muss?“ „Er ist ungeeignet.“ DAS hingegen war so wahr, dass es ihre vorangegangene Flunkerei bestimmt wettmachte. Schließlich ging es in ihrem Versuch um Attraktivität. Und Nemo hatte ungefähr die Anziehungskraft einer Kaulquappe. Er war klein, irgendwie zappelig und weckte Mutterinstinkte. Das war auch der Grund, warum sie ihm, wider besseren Wissens, eine ordentliche Malzeit kredenzt hatte. Erstens: Nemo Ran war ein zurückhaltender, bescheidener junger Mann, der bestimmt niemals aufdringlich werden würde. Ihn auf Distanz zu halten war schon allein deshalb ein Kinderspiel, weil er ihre Vital-Funktionen nicht im mindesten beeinflusste. Zweitens hatte er die Nacht auf dem viel zu kleinen Sofa der blauen Bibliothek (Astrophysik, Sternen-Kartographie und Astrologie) verbringen müssen. Und drittens und überhaupt, musste er ganz dringend aufgepäppelt werden! Der Hüne vor ihr jedoch nicht. Obwohl ... war er nicht etwas schmaler, als noch vor einer Woche? „Tut mir leid!“, entfuhr es ihr. „Ich meine ...das mit den verkohlten Broten.“ „Tatsächlich?“ „Ja. In Zukunft werden Sie nur noch anständige Malzeiten bekommen.“ „Ach. Dann sind Sie mit ihren Studien am lebenden Objekt also jetzt fertig?“ „Ja.“, murmelte sie. Leider! „Leider?“ „Ääh ...“ Oh Mist! Schon wieder verplappert! „Warum leider?“, hakte er nach. „Nur so.“ Weil ich von Dir nie etwas anderes ernten werde, als finstere Blicke. Nun, genau genommen war der Blick den sie nun bekam eher forschend. Und verflixt irritierend. „Aha. Und wie sieht es mit den anderen Mätzchen aus? Muss ich weiterhin diese albernen, gackernden Wasserkrug-Nymphen ertragen?“ „Miu und Bell? Sie finden Sie albern?“ „Gelinde gesagt: Ja. Zutiefst!“ Er fand die beiden hübschesten Mädchen des Dorfes also albern? Na, DAS war ja mal hochinteressant. Vielleicht gab es aber auch schlicht und einfach niemanden, den Mr. Perfect leiden konnte. Der Gedanke war ... ziemlich traurig. „Gibt es eigentlich Menschen, die Sie mögen?“ „Wie bitte?“ Sein Tonfall verhieß nichts gutes. „Ich ... Nur die übliche Neugier. Verzeihung.““ „Ja!“, fauchte er. „Es gibt durchaus Menschen, die mich mögen.“ „Oh Gott, nein! So war das nicht gemeint! Ich wollte vielmehr wissen, ob es Leute gibt, die von Ihnen gemocht werden.“ Agni! War er wirklich so unausstehlich? Überheblich? Arrogant? Weltfremd? Hatte sein Vater recht? War er so abgeschirmt, dass nichts mehr an ihn herankam? Wusste er am Ende ja gar nicht, wie normale Menschen miteinander umgingen? „Ich habe meine Familie.“, sagte Lu Ten sehr leise. Zum ersten Mal hatte Pineria das Gefühl, hinter seine Maske zu blicken. Der makellose Panzer hatte mit einem Mal haarfeine Risse bekommen. „Sie bedeutet Ihnen viel, nicht wahr?“ Warum zum Teufel wollte sie das alles wissen? Warum bohrte und scharrte sie in ihm herum? Konnte sie eine verschlossene Tür nicht einfach akzeptieren? Und warum ließ er das alles zu? „Ja. Sind wir bald durch mit der Psychoanalyse?“ Pippa fragte sich flüchtig, weshalb sie sich überhaupt je die Mühe gemacht hatte, ihm ihren Kampftoast vorzusetzen. Sie verärgerte ihn doch ohnehin mit allem was sie tat. Der Kloss in ihrem Hals wurde ein bisschen größer. Lu Ten seinerseits war sich ziemlich sicher, dass er, wäre seine Mutter in diesem Augenblick hier, eine kräftige Kopfnuss kassiert hätte. Denn in den Augen Fräulein Tutuks lag wieder einmal dieser verletzte Blick. Soviel also zu seinem Einfühlungsvermögen. Es sah ganz so aus, als funktioniere es nur bei Leuten, die er in- und auswendig kannte. „Entschuldigung.“, bat er steif. „Nein ... schon gut. Ich bin diejenige, die sich entschuldigen sollte.“, murmelte sie. „Ich werde zukünftig versuchen, nicht mehr so neugierig zu sein und Sie nicht mehr für irgendwelche Studienzwecke einzuspannen.“ „Aber ich bin hier, um Ihnen zur Hand zu gehen.“ Nachdenklich biss sie sich auf die Lippe. „Hm, Sie kategorisieren und katalogisieren doch gerne. Dann tun Sie von nun an eben das.“ Ach ... Man hatte jetzt wohl einen geeigneteren Kandidaten für die Feldstudien. Anscheinend war „man“ nur noch scharf darauf Nemilein ohne Hemd sehen. Lu Tens Kiefermuskeln verhärteten sich. „Fein.“, schnappte er schmallippig. „Gut.“ Etwas unschlüssig stand sie da, schielte zu ihm hinauf und knetete ihre Finger. „Tja ... wie gesagt. Ich muss ...“ Wage gestikulierte sie in Richtung Küche. „Ja.“ Er sah ihr nach, wie sie mit ihren unregelmäßigen Schritten zurück ins Haus ging. Heilige Asche! Hier stimmte etwas nicht. Er war unzufrieden. Launisch, unausgeglichen und ... na ja, eben unzufrieden. Was war los? Wo war sein Gleichmut geblieben? Diese Geduld, über die seine Eltern sich so oft wunderten. Wo zum Kuckuck war seine ... seine Lu Tenheit? Die innere Stimme, die ihn fast immer wissen ließ, was zu tun war. Ein paar lange Schritte brachten ihn zu einem ruhigen Sonnenplätzchen, wo er seinen bevorzugten „halben“ Lotussitz einnahm und die Augen schloss. Anscheinend war trotz des morgendlichen Tentos eine kleine Zwischenmeditation vonnöten. Einige tiefe Atemzüge später kümmerte sich Seine Hoheit einzig und allein um seine innere Sonne. Alles begann zu fließen, sich aufzulösen, eins zu werden. Sein Ego zerfaserte sich in der schieren Größe des Universums. ... ... ... `Kategorisieren!´ ... ... `Katalogisieren!´ ... also wirklich! ... ... Wofür hielt ihn dieses Mädchen eigentlich? Für einen Karteikasten? Oder einen Abakus? Einen Sozial-Phobiker? Dachte sie tatsächlich, er wäre ein gefühlsarmer Sonderling, ohne emotionale Bindungen? Wirkte er SO auf seine Umwelt? Nichts könnte weniger wahr sein. Für seine Familie würde er alles tun. ALLES. Lu Ten Aang Tatzu war jede Minute seines Lebens mit Liebe überschüttet worden und jede einzelne an die er sich erinnern konnte, hatte er diese Liebe vorbehaltlos erwidert. Fakt war jedoch, dass er, außer mit den Mitgliedern seiner Familie und deren Freunden, keine engen persönlichen Kontakte pflegte. Privatlehrer hatten ihm das gesamte, verfügbare Wissen dieser Welt zugänglich gemacht. So etwas wie Schulen kannte er nur vom Hörensagen. Aber das war noch lange kein ausreichender Grund zum Einzelgänger zu werden. Lee hatte schließlich auch keinerlei Probleme, Freunde zu finden. Doch, anders als bei seinem aufgeschlossener Bruder war dem Kronprinzen diese verdammte Zurückhaltung in die Wiege gelegt worden. Dieses allgegenwärtige Bewusstsein um seine Pflichten. Pflichten, denen er stets den Vorrang gegeben hatte. Dabei hatte ihn niemand dazu drängen müssen. Ganz im Gegenteil. Wie oft hatte Lady Jin ihm ein Buch aus der Hand genommen, um ihn nach draußen zu scheuchen. Wie oft hatte sein Vater ihn klammheimlich zu Streichen animiert? Und trotzdem; es hatte ihn geprägt, im Studierzimmer zu sitzen, seine Geschwister in den Gärten herumtollen zu hören, während seine Lehrer ihm sanft, aber unmissverständlich klargemacht hatten, er habe sich um wichtigeres zu kümmern, als Ballspiele oder Wasserschlachten. Damit hatte er auch nie ein Problem gehabt. Nicht wirklich. WOMIT er ein Problem hatte, war die Tatsache, dass es ihm das Feingefühl eines Rhinos beschert hatte. WOMIT er ein gravierendes Problem hatte, war das Gefühl, ein aufgeblasener Wichtigtuer geworden zu sein. WOMIT er ein wahrlich ausgewachsenes Problem hatte, war die Kränkung in den veilchenblauen Augen Pineria Tutuks. Lu Ten öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne. „Danke für diese Erkenntnis!“, seufzte er resigniert. Offensichtlich musste er das Wissen, nur ein kleines Staubkorn im Gefüge der kosmischen Ordnung zu sein, noch tiefer in sich verankern. Er erhob sich und wäre beinahe über Mimmi gestolpert. Sie schien sich für kleine Staubkörner sehr begeistern zu können, denn sie sass hechelnd da, blickte ergebenst zu ihm auf und klopfte erwartungsvoll mit dem Schwanz auf den Boden. „Also schön.“, murmelte Lu Ten. „Stöckchen werfen?“ Zustimmendes Bellen war zu hören. Aber darauf durfte man sich nicht zu viel einbilden, denn Mimmi hätte ALLE Pläne dieses speziellen Zweibeiners abgesegnet, ohne mit der Lefze zu zucken. Da im Augenblick keinerlei Pflichten auf ihn warteten, stürzte Seine Hoheit sich in eine hirnlose, ausgelassene Toberei mit dem eselkälbergroßen Schoßhündchen seiner Arbeitgeberin. Pippa versuchte schon seit einer Weile, die Quelle der seltsamen Geräusche auszumachen. Hinter dieser Hecke? Oder dieser? Nein ... aus Richtung Sonnenuhr. Mimmi knurrte grollend. Und irgendjemand atmete schwer. Hatte der Hund einen ahnungslosen Menschen als Beute deklariert? „Gute Güte!“ Sie lief, so schnell ihr steifes Knie es zuließ. Dann stoppte sie, so schnell ihre Reflexe es zuließen. Und starrte mit offenem Mund auf die Szene hinter der hohen Buchsbaumhecke. Da ... da war ihr Assistent. Ihr strenger, korrekter, zurückhaltender Assistent. Er war, unglaublich aber wahr, zerzaust und derangiert, zog und zerrte am Ende seines eigenen Ledergürtels, während Mimmi ihre Zähne in das andere Ende gegraben hatte und es leidenschaftlich beutelte. „Ist das alles, was Du zu bieten hast, Flohschleuder?“, schnaufte Lu Ten und beschloss kurzerhand, das Tauziehen für sich zu entscheiden. Mit einem kurzen, wohlkalkulierten Ruck. Leider war das der Moment, indem der Wolfshund die Witterung seines Frauchens aufgenommen hatte ... Ohne die berechnete Gegenkraft des kolossalen Hundegebisses lief Lu Tens Körperkraft Amok und wendete sich gegen ihn selbst. Sein fürstliches Gesäß kam in unerwarteten, harten Kontakt mit dem Erdboden. Prompt stürzte Mimmi sich mit den ganzen, ihr zur Verfügung stehenden zwei Zentnern auf ihn. Pineria hätte sich ja gezwickt, wenn sie nicht so starr vor Staunen gewesen wäre. Das da war tatsächlich Herr Song, der sich mit ihrem Hund auf dem Boden balgte. Und ... und ... er lachte. LACHTE! Ein tiefes, grollendes, ungezähmtes Lachen, welches einfach so aus ihm herausbrach. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh über die mangelnde Flexibilität ihres rechten Beines, denn es bewahrte sie davor einzuknicken. Das, und die Hecke, an die sie lehnte. Sein Gesicht ... Grund Gütiger! Sie hätte nie angenommen, das sich die Mine eines Menschen so verändern konnte. Da war kein Schimmer der üblichen Unnahbarkeit, keine Spur der sonstigen, nie nachlassenden Kontrolle. Nur ein übermütiges, unglaublich ansteckendes Strahlen. Der Mensch hatte tatsächlich Lachfältchen! Lachfältchen und ... „Gute Güte!“, hauchte sie. „Ein Grübchen?“ Mimmi drehte den Monsterkopf in ihre Richtung und bellte auffordernd. Ihr Spielgefährte rappelte sich halbwegs auf und lag, auf die Ellbogen gestützt, auf dem zerdrückten Rasen. In den goldenen Augen, die nun in ihre starrten, tanzten noch immer winzige Feuerkobolde, funkelte für den Bruchteil einer Sekunde noch immer dieses überschäumende Lachen. Doch dann verlosch das Schimmern langsam, und mit ihm auch das unerwartet köstliche Grübchen. „Ist etwas?“ Mit einem Schlag war er wieder ihr pflichtbewusster Assistent. Ernst und gefasst wie eh und je, selbst wenn er zerrauft am Boden lag. „W ... was?“, stammelte Pippa. „Brauchen Sie mich?“ Mögen die Götter ihr beistehen, aber das tat sie! „Was? ... Äh, nein!“ Sie versuchte verzweifelt, endlich ausreichend Sauerstoff in ihre Lungen zu bekommen. „Ich wollte nur sagen ... also, Eri lässt fragen, ob Sie noch frühstücken möchten.“ „Ja. Danke.“ Inzwischen war er aufgestanden und behob mit einigen, wenigen Handgriffen die Unordnung seiner Erscheinung. Die herumspringende Mimmi brachte er mit einem knappen „Sitz!“ augenblicklich zur Ruhe. Ein keiner, eifersüchtiger Stich durchfuhr Pippa. Ihr Hund schien diesen Mann ja zwischenzeitlich zu vergöttern. „Ist wirklich nichts?“ Diese hellen Augen sahen eindeutig zu viel. „Nein!“, sagte Pippa mit etwas trotzigem Unterton. „Was sollte sein?“ „Ich habe keine Ahnung.“ Für den Rest des Tages durfte Lu Ten sich erstaunlich sinnvollen Aufgaben widmen. Er stürzte sich förmlich in die Arbeit und bereits am Mittag hatte er es geschafft, das urzeitliche Tohuwabohu in ein vorsortiertes Chaos zu verwandeln, das seinem Organisationstalent und Ordnungssinn nicht mehr viel entgegenzusetzen hatte. Er war völlig in seinem Element. Erstellte Register, Listen, Register der Listen und Listen der Register. Das ganze wurde schließlich einer ausgeklügelten Kartei einverleibt, die eine Suche nach Themen, Datum und Alphabet zuließ. Selten hatte Seine Hoheit mehr Spass gehabt. Auch der kommende Abend verlief recht unerwartet. Pinerias Eltern waren beim Essen ausgesprochen redselig. So redselig, dass sie die wortkarge Zurückhaltung zwischen ihrer Tochter und deren persönlichem Assistenten nicht bemerkten. Sie schwatzten über Götter und Welten, Wissenschaft und Spekulation. Beide Gäste wurden mühelos ins Gespräch einbezogen. Nur Pippa stocherte lustlos in ihrem Essen und lauschte mit halben Ohr, wie ihr Vater Lu Ten eben um seine Meinung zum Thema „Messverfahren der anorganischen Chemie“ bat. NATÜRLICH waren seine verdammten Antworten klug, durchdacht und fundiert. Na klar. Sicher. Mr. Perfect wusste selbstverständlich auf allen Gebieten bescheid. Mr Perfect war sogar in der Lage, einen Fehler in einer recht unklaren Rechnung ihres Vaters zu finden. Mr. Perfect konnte auch wertvolle Ratschläge zur derzeitigen Arbeit ihrer Mutter abgeben. Er war ja „Ach, so vielseitig“! Mr Perfect schmeckte sogar die feine Kurkuma-Note aus Eris köstlichem Essen heraus. Mr Perfect war heute ja wirklich enorm zugänglich, enorm geistreich und beinahe enorm charmant. Ihre Eltern zeigten sich hingerissen. Seine Allgemeinbildung sei nahezu schwindelerregend. Ob er auch ein Spezialgebiet habe? Politikwissenschaften und Geschichte? Wirklich? UND Soziologie? Faszinierend! Ob das keine trockenen Themen wären? Aber NEIN, weit gefehlt! Mr. Perfect war in der Lage diese totlangweiligen Sachgebiete überaus farbenreich und anschaulich zu umreißen. Mr. Perfect hing ihr allmählich mächtig zum Hals raus! Sie wollte ihn nicht mehr hier haben. Sie wollte sich nicht mehr so vollkommen unvollkommen fühlen, wenn er in der Nähe war. Sie wollte sich nicht mehr fragen müssen, ob er ihr vielleicht wohlgesonnen wäre, wenn sie „Mission-Abschreckung“ nicht gestartet hätte. Sie wollte sich nicht mehr dem subtilen Unmut dieses funkelnden Blicks aussetzten. Sie wollte sich nicht mehr kindisch, linkisch oder albern vorkommen. Sie wollte endlich wieder ihre blöden Liebesschnulzen lesen können, ohne dabei ständig SEIN Gesicht vor sich zu sehen. Und sie wollte nicht jedes mal, wenn sie ihm über den Weg lief diesen Stich im Innern spüren. Doch sie lief ihm über den Weg. Ziemlich direkt nach dem Essen. Er sass in der grünen Bibliothek vor dem Kamin und spielte Pai-Cho mit ihrem Vater. „Pippa, Kind! Setz Dich ein wenig zu uns. Wir haben ganz köstlichen Tee.“ „Ich ... wollte eigentlich nur ein Buch holen.“ „Ah, Schnickschnack. Du musst Dir ansehen, wie dieser Junge Pai-Cho spielt. Wahrhaft seltsame Strategie. Waswas?“ „Eine Strategie, die Ihnen eine Niederlage bescheren wird, fürchte ich.“, bemerkte Lu Ten und machte einen Zug. „Niederlage? Ich?“ Beo lachte gackernd. „Das wäre aber das erste ...“ Stirnrunzelnd starrte er auf das Spielbrett. „Verdammt!“ Erneut studierte er die Lage aller Steine. „Haben Sie geschummelt?“, fragte er neugierig, ohne die geringste Spur eines Vorwurfs. „Nein.“, erwiderte sein Gegner ruhig. „Aber in drei Zügen werde ich die Partie beenden.“ „HA!“ Mit zusammengekniffenen Augen suchte Professor Tutuk, nach einem Ausweg. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, ein vorangegangenes Gesprächsthema wieder aufzugreifen. „Hm ... dieser Tentu, von dem Sie sprachen ...“ „Tento.“ „Ah. Ja. Tento. Ist also ein überliefertes Sonnenritual? Von wann,“, er verschob einen seiner Steine, „ist die erste schriftliche Überlieferung?“ „Aus dem Jahr 47.“, antwortete Lu Ten. „Hochinteressant! Und Sie glauben wirklich, sie stammt aus der Feder des ersten Feuerlords? Tatzu?“ „Ich glaube es nicht, ich weiß es!“ „So? Woher wissen Sie das denn so genau?“ „Ich habe die entsprechenden Aufzeichnungen studiert.“ Der ausnahmsweise scharfe Blick der grauen Augen des Professors traf ihn. „Die Originale? Die werden im Palast aufbewahrt, sagt man.“ „Ja, das werden sie.“ Lu Ten und nahm einen von Beos Steinen vom Feld. „Pai.“, murmelte er beiläufig. „Was? Da soll mich doch ... Sie beschummeln doch!?“ „Nein. Ich nutze lediglich Ihre Ungeduld zu meinem Vorteil.“ „Ungeduld? Schnickschnack!“ Hastig versuchte Professor Tutuk seine letzten Steine durch einen kühnen Zug zu retten. „Mhm.“ Eine letzte Bewegung auf dem Brett beendete das Spiel. „Cho Tsum!“, sagte Seine Hoheit ruhig und verkündete somit seinen Sieg. „Ts!“, machte Beo. „Ts! Na so was! Revanche?“ „Wenn Sie möchten.“ „Natürlich! Kann doch keine Niederlage auf mir sitzen lassen!“ Ein leichtes Lächeln dämmerte auf dem Gesicht von Mr. Perfect. Pippa schluckte. Höchste Zeit, sich das Buch zu schnappen und zu verschwinden. `Schau einfach nicht hin, Pineria. Um irgendwelche Lachfältchen oder -furchen brauchst Du Dich nicht zu kümmern. Ignorieren, ignorieren, ignorieren!´ „Wem möchtest Du imponieren, Kind?“ „Ich ... WAS? Niemandem! Absolut niemandem!“, versicherte sie hastig. Das große Buch fest an sich gedrückt. „I ... improvisieren, sagte ich. Kann das Buch, das ich wollte nicht finden. Also muss ich improvisieren.“ „Ah. So.“, meinte ihr Vater zerstreut, da die zweite Partie bereits eröffnet war. „Welches Buch suchen Sie denn genau?“ Gute Güte! Musste ER sich einmischen? „Bitte?“ „Welches Buch?“, wiederholte ihr Assistent geduldig. „Äh ... äh. Die ... äh, Kultur der Feuerweisen.“ „Ach. Interessant. Steht, soviel ich weiß, da drüben im Regal.“ „Oh. Äh. Wo?“ „Da wo es hingehört. Unter N, wie Nuruk. Der Autor.“, fügte er hinzu, als sie ihn verständnislos anblinzelte. „Ja. Danke.“, hauchte Pippa. Sie hinkte in die angegebene Richtung. Vielleicht konnte er dann ihren hochroten Kopf nicht sehen. Nach einem wirklich sehr knappen „Nacht“ floh sie aus dem Zimmer. Endlich draußen, lehnte sie sich gegen die Tür, schloss die Augen und wartete, dass das Zittern aufhören würde. Agni! Sie war so eine dumme Pute! Warum konnte sie in seiner Gegenwart ihren Verstand nicht beisammen halten? Warum führte sie sich auf, als sei ihr ein dicker Felsbrocken auf den Schädel gestürzt? Warum benahm sie sich wie eine tollpatschige Halbwüchsige? Warum konnte sie in der Nähe dieses Mannes nicht einfach normal bleiben? Weil sie nicht normal war. Punkt. Sie war schrullig. Seltsam. Nicht kompatibel. Und zum ersten Mal in ihrem Leben als Erwachsene trieb ihr diese Tatsache die Tränen in die Augen. Zum ersten Mal, seit langer, langer Zeit hätte Pineria Tutuk alles dafür gegeben, normal zu sein. Sie nahm einen tiefen, wackligen Atemzug und stieß sich von der Tür ab. Es ist schwer, zu sagen, wie es zu folgenden Ereignissen kommen konnte. Auf jeden Fall spielte das Gefühl der Unzulänglichkeit, das Pippa plagte eine wesentliche Rolle. Und die Tatsache, dass sie zur Abwechslung mal einfach nur gemocht werden wollte mit Sicherheit auch. Jedenfalls lief sie zwei Zimmer weiter, dem privaten Archiv ihrer Eltern, Nemo Ran in die Arme. „Miss Pineria!“ „Oh. Nemo. Wie kommen Sie hier her? Haben Sie sich verlaufen?“ Kläglich sah er ihr in die Augen. „Es ist alles ... so unübersichtlich.“, murmelte er entschuldigend. „Wie wahr!“ Sie lächelte ihn beruhigend an. „Wenn ich zerstreut bin, lande selbst ich in den falschen Zimmern.“ „Sie sind zu gütig!“ Himmel. Er sah sie an, als denke er das wirklich. Er sah sie nicht an, als fasele sie wirres, unverständliches Zeug. Er gab ihr auch nicht das Gefühl, seine Geduld auf sträfliche Art und Weise überzustrapazieren. Nein, im Gegenteil. Nemo Ran betrachtete sie mit einer ungewohnten, tiefen Ehrerbietung. Er schien sie in keiner Weise seltsam, oder nervenaufreibend zu finden. Er war der bisher einzige Mann, der Pippa ansah, als würde er sie gerne ... „Würden Sie mich küssen?“, platze Pippa heraus. Nemo starrte sie an. Bei den Göttern ... das war ja nun wirklich einfacher, als er gedacht hätte. „K ... küssen? Jetzt?“ „Ja. Für eine Studie.“ „Wie? Äh ... Studie?“ „Eine Studie. Über den Fortpflanzungstrieb. Menschliches Balzverhalten. Ich würde gerne wissen, warum man sich überhaupt küsst.“ „Äh ... nun.“ Na bitte! Nicht einmal Nemo konnte sich dazu überwinden. Ihre persönliche Ausstattung war eben einfach zu miserabel. „Wenn sie nicht wollen, müssen Sie es nicht tun.“, murmelte sie, leicht gekränkt. „Nein! Ich will ja.“ „Oh!“, blinzelte Fräulein Tutuk. „Gut.“ „Ja ... also ...“ „Bevorzugen Sie eine bestimmte Haltung?“ „Was?“ „Ich meine ... möchten Sie es im Stehen machen? Oder im Sitz... Gmpf!“ Ganze Zehn Sekunden lang, versuchte Pineria dahinter zu kommen, was DARAN so toll sein sollte. Um sich voll und ganz auf die Sache konzentrieren zu können, hatte sie ihr schweres Buch inzwischen auf einer kleinen Kommode abgelegt. Sie hatte sogar die Augen geschlossen, weil es so in den Romanen stand. Da dies aber nur dazu führte, dass sie sich der feucht-labbrigen Konsistenz der Männerlippen umso bewusster wurde, öffnete sie sie schnell wieder. Es brachte jedoch keine besondere Verbesserung. Sie runzelte die Stirn. Na ja, wenigstens war sein Mund jetzt nicht mehr so klamm und kalt, wie zu Beginn. Trotzdem ... es war, als würde man sich eine Nacktschnecke an die Lippen halten. Eine Nacktschnecke, die versuchte ZWISCHEN ihre Lippen zu gelangen??? Also, das war jetzt eher ... unappetitlich. Sie unternahm einen dezenten Versuch, Nemo von seinem Tun abzubringen, indem sie ihm sanft auf den Rücken tippte. Vergeblich. Die Schnecke wurde sogar erstaunlich agil und verdoppelte ihre Anstrengungen. Pippa die ihrigen ebenfalls. Sie drückte die Hände gegen seine Schultern. Doch irgendetwas schien sein Wahrnehmungsvermögen zu trüben, denn jetzt umklammerte er sie hingebungsvoll. Das Drahtgestell ihrer Brille drohte zu verbiegen, der Druck seines Mundes wurde unangenehm fest. Also ... das ... NEIN! Was wollte er denn jetzt mit seiner Zunge??? Igitt! Sie begann nun ernsthaft ihre Gegenwehr einzuleiten und stemmte sich gegen ihn. „Verzeihung!", schnarrte eine brüske Stimme durch den Raum. "Mir war nicht bewusst, dass ich störe.“ Pippa wurde so abrupt losgelassen, dass sie gegen die Kommode taumelte. Oh Nein! Nicht das! Bitte nicht das!!! Warum musste ausgerechnet ER in diesem Moment auftauchen? Was tat er überhaupt hier? Resigniert zwang sie sich, die Augen zu öffnen. Herrn Songs Mine war selbstredend nicht die geringste Regung abzulesen. Lediglich seine, durch die Narbe leicht angehobene Braue schien distanzierte Missbilligung auszudrücken, die ebenso kühl war, wie sein Blick. Pippa sah sich diesem Blick ausgesetzt, unfähig den eigenen abzuwenden. Dabei wollte sie nur noch verschwinden und weinen. Nemo räusperte sich. Ach ja ... der war ja auch noch da. „Stören? Keineswegs. Ich habe ... Pineria lediglich eine gute Nacht gewünscht.“ „Ja. Ich bin sicher, die wird sie haben.“, meinte Lu Ten nur und beobachtete das seltsam betreten wirkende Waldkäuzchen eingehend. „Ihr Vater bat mich, diese Notizen von ihm hier einzulagern.“, sagte er schließlich. „Tatsächlich?“, wisperte Pippa. „Nun ... ich werde mich jedenfalls zurückziehen. Gute Nacht allerseits.“ „Gute Nacht Nemo.“ „Nacht.“ Nemo verließ den Raum recht zügig. Fast so, als wüsste er, was gut für ihn war. „Nach welchen Gesichtspunkten sind die Schriften geordnet?“, verlangte Seine Hoheit zu wissen. „Rechts die Sammlung meines Vaters, links die von Mutter.“, murmelte sie tonlos. „Keine weitere Aufteilung?“ „Nein. Doch. Weiter vorn liegt der neuere Kram.“ „Kram? Verstehe.“ „Ich ... ich glaube nicht, dass ... dass Sie das tun. Das hier ... was Sie gesehen haben ...“ „Geht mich nichts an.“ „Ja. Aber ... ich. Ich hab ihn darum gebeten.“ „FRÄULEIN Tutuk.“, abrupt drehte er sich um. Ach Du Schande. Jetzt hatte sie den Salat. Sie befand sich mit einem Mal im Fokus kalt glühenden Goldes. „Was Sie tun und lassen, ist allein Ihre Sache. Sie können auch küssen WEN, was und wann Sie wollen!“ Dass eine derart tiefe Stimme so hart klingen konnte ... „Aber ... es war nur ein Experiment.“ „Ihr Privatleben ist ... WIE bitte?“ „Forschungsarbeit für meine Studie, sozusagen.“, flüsterte sie mit verschränkten Fingern. „Das ist lächerlich!“, entfuhr es ihm, zorniger als gewollt. „Was für eine Art Versuch sollte das bitte schön darstellen? Das kauft Ihnen doch keiner ab! Und es ist auch irrelevant, da es mich nichts angeht.“ Mittlerweile hatte Herr Penibel ein Plätzchen gefunden, das ihm zusagte. Er legte das Notizbuch des Professors ab und hielt inne. „Was für eine Studie?“, knirschte er, wider besseren Wissens. „Menschliches Balzverhalten. Die Grundlagen gegenseitiger Anziehungskraft. Meine ganzen letzten Forschungen haben sich um ... um das Thema menschlicher Fortpflanzungstaktiken gedreht. Darum habe ich Sie auch immer wieder zu den Mädchen geschickt und all das. Verstehen Sie? Da ... da Sie nach allen gesammelten und ausgewerteten Daten als ein ... ein über die Maßen attraktiver Mann eingestuft werden konnten, wollte ich Ihre Wirkung auf Frauen erkunden.“ Lu Ten war sprachlos. Und er wusste nicht einmal, welcher ihrer haarstäubenden Bemerkungen er diesen Umstand zu verdanken hatte. Da er sie nur verständnislos anstarrte, referierte Pippa in ihrer Ausweglosigkeit einfach weiter. „Jedenfalls scheint das Küssen ein wichtiger Bestandteil der Sexualität zu sein, darum wollte ich etwas mehr darüber erfahren, Allerdings ist es mir nach wie vor ein Rätsel. Ich konnte dem Vorgang nicht das Geringste abgewinnen.“ Unnötig, zu erwähnen, dass sie plapperte, wenn sie nervös war... „Sie wollten etwas über das Küssen erfahren?“, fragte Lu Ten verdattert. „Ja.“ „Und nun sind Sie mit dem Ergebnis unzufrieden?“ „Das kann man so nicht sagen. Ich fand es eher ... unhygienisch. Wie lauwarmes Sushi. Aber vielleicht sind meine Triebe einfach nicht weit genug entwickelt. Jedenfalls werde ich diesen speziellen Versuch nicht wiederholen. Es ... sagt mir nicht sonderlich zu.“ „Sie fanden es unhygienisch?“, echote er. „Ja.“ „Und jetzt schließen Sie einfach daraus, dass Ihnen das Küssen nicht zusagt?“ „Äh ... ja. Warum auch nicht?“ „Weil es ganz erhebliche Unterschiede gibt.“ Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kaum merklich, wurde irgendwie ... selbstgefällig. „Wenn Sie keinen Gefallen daran fanden, scheint Nemo nicht in der Lage gewesen zu sei, Ihnen das Erlebnis in seiner vollen Bandbreite zu vermitteln.“ Mittlerweile sah er sie auf eine Art an, die doch ziemlich beunruhigend war. Als wäre das nicht genug, kam er langsam aber sicher näher ... „Unterschiede? W ... wirklich? Interessant.“, Pippa versuchte krampfhaft, neutral zu klingen. „Ah. Die Neugier. Eine starke Triebfeder, nicht wahr? Werden Sie jetzt durch die Gegend rennen, und um Küsse betteln?“ „Ich ... nein! das heutige Ergebnis reicht mir völlig. Ich sollte jetzt wirklich geh...“ „Das ist aber kein besonders gründliches Vorgehen, für eine Wissenschaftlerin. Um etwas so komplexes zu erfassen, muss man sehr bedacht vorgehen.“ Seine Stimme war mit jedem Wort rauer geworden. Wie ein hypnotisiertes Murmelkaninchen starrte sie auf seinen Mund. Es war, trotz der recht schmalen Lippen, ein ausgesprochen formschönes Exemplar. So ... symmetrisch. Energisch. Fest. Er sah so gar nicht nach lauwarmem Sushi aus. Und er murmelte diese Dinge, die sie ganz kribbelig machten. „Sie sollten sich vielleicht jemanden suchen, der ihnen die unglaubliche Vielfalt dieser Beschäftigung detailliert darlegen kann.“ Er war jetzt so nah, dass sie seine Körperwärme spüren konnte .... Was hatte er gerade gesagt? „Was?“, quiekte Pippa, „N ... nicht nötig! I ...ich scheine das ganze nicht wirklich ... zu mögen.“ Warum ihr Herz dann so raste, blieb ihr allerdings schleierhaft. Ihm jedoch nicht. Sein Blick glitt zu ihrer Halsschlagader. „Wirklich? Aber Ihr Pulsschlag ist bereits erhöht.“ Blitzmerker! „W ... weil Ihr Verhalten ... unangemessen ... ist.“ „Ich nehme an Nemos war angemessener?“ Als er auf diese Spitze hin ein irritiertes Eulenblinzeln erntete, umfasste er mit einer Hand ihr Kinn und hob es sanft an. „Sie sollten mit ihrem Urteil über das Küssen nicht zu vorschnell sein.“ Sein Kopf neigte sich langsam und warmer, schmeichelnder Atem strich über ihre Lippen. „Vielleicht sollte ich es anhand praktischer Beispiele erläutern? Als Ihr Assistent habe ich immerhin gewisse Pflichten.“ Das klang so verlockend logisch! „Ich denke, wir beginnen mit dem neckenden Kuss.“ Sein Flüstern war nur Zentimeter von ihrem Mund entfernt. „Er besteht aus nichts, als der Verheißung. Spielt mit einem Versprechen, das er niemals erfüllen wird.“ Für einen winzigen Augenblick streiften warme Lippen kaum merklich die ihren. Schon jetzt war Pineria aufgelöster, als sie es sich hätte träumen lassen. Um den Kontakt mit der Realität nicht zu verlieren, hatte sie ihre Hände flach an die Wand hinter sich gelegt. „Dann ... der Schüchterne? Er nähert sich niemals frontal. Setzt nichts voraus.“ Kurz, ganz sacht wurden ihre Mundwinkel gekost. „Hmm.“, entfuhr es Pippa wider Willen. „Ah ... Sie kommen auf den Geschmack.“ Nein. eben nicht, verflixt noch mal. Er ließ sie herzlich wenig schmecken. Aber, er war ja, Agni sei Dank, noch nicht fertig. „Der Zurückhaltende. Dieser Kuss verleugnet sein Begehren und knistert dabei vor Ungeduld.“ Nun übten seine Lippen wohlberechneten, verlockenden Druck aus und ihre eigenen begannen derart zu prickeln, dass sie meinte er müsse es auch spüren. „Da gäbe es noch den Ehrerbietigen. Er ist selbstlos, zart, trachtet im Stillen nach mehr.“ Nun umfasste er mit beiden Händen ihr Gesicht und küsste sie mit einer Sanftheit und Süße, die eine unerklärliche Sehnsucht weckten. Als er den Kopf wieder hob, folgte sie der Bewegung, um das Ende des Kusses so lange wie möglich hinauszuzögern. Mit einer Stimme, die sich nicht mehr ganz wie die seine anhörte, fuhr er fort sie zu martern. „Jetzt vielleicht den Verspielten?“ Er klang leicht atemlos. Pippa entfuhr ein kleines Ächzen. Sein entspannter, ganz leicht geöffneter Mund strich ohne erkennbares Muster hierhin, dorthin, liebkoste sie scheinbar ziellos, bis sie glaubte, ihre Ungeduld hinausschreien zu müssen. Um ihm einen dezenten Hinweis zu geben, grub sie die Hände in den Stoff seines Kimonos und zerrte ihn näher. „Der Zärtliche.“, raunte er, während er ihr vorsichtig die Brille von der Nasenspitze nahm und beiseite legte. Da sie ohnehin alles verschwommen wahrnahm, war das auch egal. Jedenfalls wurden ihre Knie tatsächlich NOCH weicher. So weich, dass sie wankte. Heiße, feste, leicht raue Lippen umwarben sie, brachten ihre dazu, sich kaum merklich zu öffnen. „Der Forschende ...“ Gute Güte! Er brachte seine Zungenspitze mit ins Spiel und erkundete fragend Beschaffenheit, Kontur und Geschmack des zu erobernden Terrains. Doch anders als bei, wie war sein Name doch gleich, war dies überwältigend, berauschend. Befriedigt merkte Lu Ten, wie Miss Tutuk die Arme um seinen Hals schlang. Ihre Finger verirrten sich im Haaransatz seines Nackens. „Fehlt noch der Leidenschaftliche.“, wisperte er gegen ihren Mund. „Fändest Du es sehr unhygienisch, Deine Lippen für mich zu öffnen, Pineria?“ Pippa konnte nicht mehr anders; sie umklammerte mit beiden Händen seinen Kopf, presst sich an ihn und holte sich diesen Kuss. Sie war schon immer gelehrig gewesen und schließlich war das ja wohl das Ziel seiner schwindelerregenden Pädagogik, oder nicht? Ihr Gehirn, das von den kurzen, aber intensiven Lektionen schon mehr als benebelt war, schaltete komplett auf Wahrnehmung. Es gab keine Gedanken mehr, keine Ideen, keine Fragen, keine Antworten. Zum ersten Mal gab es für die gebildete, belesene Pineria Tutuk nur fühlen, riechen, schmecken, schmelzen, vergehen, hingeben. Mit allen Sinnen. Mit vollem Eifer. Sie genoss es. Genoss die feste Hitze, gegen die sie gepresst wurde. Inhalierte den Duft seiner Haut, seines Haars, seines hetzenden Atems. Schwelgte in den warmen Aromen des gestrengen und jetzt so ungestümen Mundes. Das herausfordernde Spiel seiner Zunge, zuerst neckend, dann drängend, imitierte sie begierig. Sie versuchte sich noch enger an ihn zu schmiegen, klammerte sich fest und gab kleine, schmachtende Laute von sich. Ihr Assistent hatte seine Sinne noch beisammen. Aber nur grade mal so. Agni! So ungenießbar ihre morgendlichen Malzeiten auch gewesen waren, so unglaublich delikat war die Köchin selbst. Er, der er die raffiniertesten Arrangements gekostet, die teuersten Spezialitäten versucht und sich an den herrlichsten Verlockungen ergötzt hatte, hatte doch nie etwas derart köstliches genossen wie Pineria Tutuk. Sie war wie eine erlesene Komposition der kostbarsten Gewürze aus aller Welt. Noch nie hatte Lu Ten Tatzu, Kronprinz der Feuernation etwas vollkommeneres geschmeckt, als dieses kleine, wissbegierige Persönchen. Klein, wissbegierig und eifrig. So eifrig, dass er beim besten Willen nicht imstande war, den Kuss zu beenden. Er hätte es tun sollen! Stattdessen umfasste er ihren Nacken und vertiefte diesen verdammten Kuss noch, bis seine Vernunft, seine unbestechliche, unerschütterliche Vernunft kaum noch etwas zu melden hatte. Doch es gelang ihm trotzdem, sie Sache zu beenden. Zumindest das mir dem Küssen ... Heftig atmend standen sie da, die Lippen quälend nah beieinander. „Ich hoffe ... Sie werden Ihre Meinung zu diesem Thema nun überarbeiten.“, flüsterte er rau. Was? Welches Thema? Momentan war sie mehr als bereit, jede Meinung zu vertreten, die ihm so vorschwebte. Zu ihrem Leidwesen löste Lu Ten sich vollends und trat einen Schritt zurück. „Gute Nacht, Fräulein Tutuk.“, sagte er leise. „Ja.“, hauchte Pippa vage. „Gute Nacht.“ Einige Zeit nachdem er das Zimmer verlasen hatte, merkte sie, dass ihre Brille nicht dort war, wo sie hingehörte. Aber irgendwie war ja nichts mehr da, wo es hingehörte. Feuerpalast, am nächsten Morgen Lady Jin erreichte den Feuerpalast wesentlich früher als erwartet. Ihre Ungeduld, endlich nach Hause zu kommen, hatte dazu geführt, dass sie ihre arme Dienerschaft zu nachtschlafender Zeit aus den Federn gescheucht und ungewohnt despotisch durch die Gegend gejagt hatte. Allerdings hatte sie keine sonderliche Begabung für die Tyrannei. So war es wohl eher der unerschütterlichen Routine der gut geschulten Mannschaft Seiner Lordschaft zu verdanken, dass sie den Schauplatz der Konferenz ohne gravierende Zwischenfälle hatten verlassen können. Noch bevor das Flugtier festen Boden unter den Tatzen hatte, hampelte Mylady auf ihrem Sitz umher und wäre beinahe zu früh auf den harten Marmorboden der Realität gehüpft. Nur ihr persönlicher Leibwächter und seine jahrelange Erfahrung mit ihrer Schusseligkeit bewahrten ihren Knöchel vor einem überaus schmerzhaften Zwischenfall. In ihrer üblichen Unbekümmertheit klopfte sie ihm auf die Schulter und strahlte ihn dankbar an. Dann hatte sie allerdings wichtigeres zu tun, wendete sich der kleinen, wartenden Menschenmange zu und stockte prompt. Moment ... die Menge war zu klein. Also ... jedes EINZELNE Mitglied der Menge war zu klein! Wo zum Urschlamm war Lord Langbein? Sie verschwendete keine Zeit mit Begrüßungsfloskeln, sondern drückte ihre drei anwesenden Kinder kurz aber fest an sich und kam sofort zur Sache. „Wo ist denn euer ...“ „Jin, Mädel! Prächtig siehst Du aus.“, lenkte Iroh Tatzu geistesgegenwärtig ein. „Iroh!“ Auch der General wurde nun stürmisch geherzt. „Wie schön Euch zu sehen. Zuko ist bestimmt überglücklich, Euch wieder hier zu haben.“ „Hm ... so in etwa.“ „Ja, aber wo ist er de ...“ „Knubbelchen! Wie wäre es, wenn Du erst mal die ANWESENDEN begrüßt?“, fragte eine ältere Dame streng. „Entschuldige, Tante Ria.“ Liebevoll umarmte Jin ihre Ersatzmutter. Das war nun aber wirklich das letzte Eingeständnis, zu dem sie bereit war. „Sagt mir jetzt mal jemand, wo mein werter Gatte steckt?“ Der Boden schien für alle Anwesenden plötzlich von höchstem Interesse zu sein. Aya schielte fragend nach rechts und links ... allerdings wollte sich niemand erbarmen. Es blieb wieder mal an ihr hängen. Sie holte tief Luft und stellte sich, wie stets, ihren Pflichten. „Er musste leider unerwartet fort.“ „Fort?“ Die Feuerlady blinzelte. Noch weigerte sie sich hartnäckig, beunruhigt zu sein. „Wohin fort? Zur Kabinettsbesprechung?“ „Nun ... nein.“, Millimeterweise tastete ihre älteste Tochter sich vor. „Etwas weiter weg.“ Zur moralischen Unterstützung fasste sie schnell nach Jins Händen. „Er musste ... zu einem spontanen Gipfeltreffen ins Erdkönigreich.“ „Was?“ Das Strahlen erlosch langsam, aber sicher. „Ins Erdkönigreich? Aber ... er ...“ „Mama ...“, sagte Aya bekümmert. „Er war selbst furchtbar aufgebracht deswegen.“ „Ich ... ich glaube, ich muss auspacken gehen.“, flüsterte Zukos einsamere Hälfte mit abgewandtem Kopf. Ihre unangebrachte, mit Sicherheit übertriebene Reaktion auf diese Nachricht brauchte schließlich niemand zu sehen. Endlich allein in ihren Gemächern, machte Jin sich nicht länger die Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie plumpste in Zukos Lieblingssessel und starrte in die kalte Asche des Kamins. Kamin kalt, Zimmer kalt, Sessel kalt. Und das verdammte Bett bestimmt ebenfalls. Ohne den dummen Drachen war sein ganzer dummer Horst kalt, riesig und leer. Ganz egal, wie viele Menschen ihn bewohnten. Sie hatte sich so auf ihn gefreut. Und jetzt sass sie hier und fing zu allem Überfluss auch noch an, zu heulen. Erbärmlich! Zornig wischte sie mit den Handballen die Tränen fort und versuchte ihre Beherrschung wiederzuerlangen. Doch leider schien dies einer jener Tage zu sein, an denen graue Wolken Myladys sonniges Gemüt verdunkelten. Als es leise klopfte, überlegte sie ernsthaft, nicht zu antworten. Aber das wäre überaus unhöflich ... `Reiß Dich endlich zusammen, Missy!“ „Ja?“ Die großen Flügeltüren öffneten sich und Aya betrat den Raum. „Mama?“ „Was gibt´s denn?“, fragte Jin, um einen unbekümmerten Tonfall bemüht. „Ich hab hier einen Brief für Dich.“ „Von Deinem Vater?“ „Ja.“ „Danke, Maus. Ich les ihn gleich.“ „Sei doch nicht traurig! So lange wird diese Versammlung schon nicht dauern.“ „Ja. Hast recht.“ Die Prinzessin ließ sich auf einer der breiten Armlehnen nieder und legte den Kopf auf den Scheitel ihrer Mutter. „Hilft es Dir, wenn ich Dir sage, dass er ebenso untröstlich war wie Du?“ Lediglich ein leises Schnüffeln verriet Mylady. „Ich bezweifle doch ernsthaft, dass er geheult hat.“, krächzte sie. „Nein. Aber er zeigte das feuerfürstliche Pendant dazu.“ „Einen Tobsuchtsanfall?“ „Ja.“, kam die Antwort. „Siebenundzwanzig Minuten lang.“ „Wirklich?“ Jin straffte sich ein wenig. „Nun ... das ist ja wohl auch das mindeste.“, murmelte sie. „Nicht mal eine halbe Stunde ...“ „Mama!“ Trotz ihres Kopfschüttelns entfuhr Aya ein Lachen. „Ja, ich weiß ... armselig, nicht wahr?“ „Seit wann ist es armselig, jemanden über Alles zu lieben?“, fragte die junge Frau in einem Tonfall, bei dem ihre Mutter zu jeder anderen Gelegenheit überrascht aufgehorcht hätte. „Es ist armselig, sich in meinem Alter noch wie ein verschossener Backfisch aufzuführen.“ „Ich glaube, das hält jung. Außerdem ... welches Alter? Und Du BIST ja schließlich noch verschossen!“ „Ja“, gab Jin kläglich zu und drückte ihre Tochter eine Weile an sich. „Wie kommt es nur, dass ihr Mädchen euch noch knuddeln lasst, während ich von Deinen Brüdern nur „Mutter!“ oder „Muss das sein?“ oder „Hast Du Dir schon wieder Babyportraits angesehen?“ höre?“ „Nun,“ Aya schmiegte sich bereitwillig an sie. „Ich vermute, Frauen sind emotional einfach leichter auszubeuten.“ „Momentan wäre mir nichts lieber, als mich ordentlich ausbeuten zu lassen.“ „Mutter!!!“ „Ich sagte ja: Armselig!“, seufzte Jin. „Wo wir gerade von Deinen Brüdern sprachen, wo treiben sich eigentlich Lu Ten und Lee herum? Wenigstens einer von ihnen hätte die Güte haben können, kurz aufzutauchen.“ Aya nahm einen tiefen, bewusst ruhigen Atemzug. „Also, da ist noch etwas, das ich Dir ausrichten soll ...“ „Er hat WAS???“ Wenigstens hatte die Nachricht bewirkt, dass Ihre Hoheit nicht mehr wie ein Häufchen Elend im Sessel kauerte, sondern aufgebracht auf und ab stapfte. „Soweit ich weiss sind sie mehr oder weniger freiwillig gegangen.“, versuchte Aya ihr Glück. „HA! Wie ich Deinen Vater kenne, wohl eher weniger! Er hat sie weggeschickt? OHNE Eskorte?“ „Mama. Die beiden können sehr gut selbst auf sich aufpassen.“ „Ach? Immer?“ „Ich denke ja.“ „Und wenn schon!“ Mylady begann, sich in Rage zu rennen. „Kannst Du mir verraten,“, zischte sie. „warum die goldene Regel unseres obersten Despoten „Wichtige Dinge erst miteinander zu besprechen“ nur für mich gilt, und nicht für IHN?“ „Er ... ist der Feuerlord?“ „Ach? Und was bin ICH? Sein Brutkasten?“ „Bitte?! Ich habe nie ...“ „Ich bin eure Mutter, auch wenn das scheinbar niemanden interessiert. Wir hatten absolute Gleichberechtigung vereinbart, wenn es um euch Kinder geht.“ Aya blieb still. Wenn Lady Jin so richtig wütend wurde, machte sie selbst dem hitzköpfigsten Feuerbändiger Konkurrenz und neigte zu extremen, zuweilen etwas einseitigen Sichtweisen. „Wie kann er sich so einfach über mich hinwegsetzten?“ „Du warst doch nicht da. Und der Bürgermeister ...“ „Und WARUM stellt sich immer jeder auf SEINE Seite?“ „Ich stehe auf keiner Seite.“, meinte die Prinzessin ruhig. „sondern dazwischen.“ „Ja. Tut mir leid.“, sagte ihre Mutter steif. „Ich werd jetzt in der Weberei nach dem Rechten sehen. Bestimmt hat er die Hälfte der Belegschaft entlassen.“ Aufgebracht marschierte sie aus dem Raum. Die Wut über die Eigenmächtigkeit ihres Gatten hielt Jin leider nicht davon ab, weiterhin fürchterliche Sehnsucht nach ihm zu haben. Neunzehn Tage. Sie war noch nie so lange ohne ihn gewesen. Und sie HASSTE es, nachts in diesem Monsterbett zu liegen, ohne das dazugehörige Monster. Irgendwann krabbelte sie auf Zukos Seite, drückte sein Kissen an sich und versuchte, dem leblosen Ding wenigstens einen Hauch seines tröstlichen Sandelholzduftes zu entlocken. Doch auch das brachte sie dem ersehnten Schlaf nicht näher. Ihr war kalt. Sie wollte ihren verdammten Ehemann und außerdem hatte sie das bohrende Gefühl, etwas vergessen zu haben. Sein Brief! ... Natürlich! Schnell strampelte sie die Decken von sich und entzündete ungeduldig einige Kerzen. Das war AUCH wieder typisch! Da hätte man EINMAL eine sinnvolle Verwendung für einen Feuerfuzzi, und dann glänzte er durch Abwesenheit. Wo hatte Aya die Nachricht hingelegt? Ah ... dort. `Jin, mein Herz, ich weiß, momentan bist Du überaus enttäuscht und mit Sicherheit auch überaus ungehalten. Doch vielleicht hat Aya es geschafft, Dich soweit zu beruhigen, dass Du Dir meine Zeilen wenigstens durchliest, statt sie in den Kamin zu werfen. PAH! Es tut mir unendlich leid, nicht hier sein zu können, doch Dein ehemaliger König besteht leider auf die Anwesenheit ALLER Staatsoberhäupter. Sollte dies wieder nur einer seiner paranoiden Schübe sein, dann schwöre ich, Die nächsten beiden Sätze waren dreifach durchgestrichen, und somit leider (oder den Göttern sei Dank ...) unleserlich. Ich habe leider nicht die Zeit, Dir die Situation näher zu erläutern, da ich in diesem Augenblick bereits unterwegs sein sollte. Nur so viel: Lu Ten und Lee haben ihre Strafe sowohl verdient, als auch akzeptiert. Es kann den beiden nur gut tun, dem höfischen Leben für eine Weile den Rücken zu kehren. Trotzdem ist mir bewusst, wie zornig Du auf mich bist, und glaube mir, ich würde mich diesem Zorn liebend gerne stellen, doch dieser verfluchte Cretin Nuro besteht auf sein Gipfeltreffen. Zu allem Übel kannst Du Deinem Unmut mir gegenüber nicht einmal in schriftlicher Form Ausdruck verleihen, da Ort und Grund dieses Affentheaters geheim sind. Bitte verzeih mir, Kobold, und versuch zu verstehen, weshalb ich so gehandelt habe. Bei meiner Rückkehr steht es Dir selbstverständlich frei, Dich der groben Majestätsbeleidigung schuldig zu machen. Aber, BITTE tu solange nichts Unüberlegtes! In Liebe, Zuko´ WAS??? Nicht mal schreiben konnte sie ihm? Oh ... dieser verflixte Kerl! Kapitel 9: Drei Frauen und das Problem „Mann“ --------------------------------------------- Niha starrte aus dem winzigen Fenster ihrer Kammer und fragte sich, wann der dringend benötigte Schlaf endlich kommen würde. Vielleicht morgen? Oder Übermorgen? Heute jedenfalls nicht mehr, so viel stand fest. Sie hatte sich in den vergangenen Tagen daran gewöhnt, schlecht zu schlafen, oder konfuse Dinge zu träumen. Die meisten hatten mit Hilfsarbeitern und zu hohen Temperaturen zu tun, was dann stets eine unzureichende Bekleidungssituation des männlichen Protagonisten (unnötig zu erwähnen, dass es immer derselbe war) zur Folge hatte. Doch jetzt ... jetzt hatte sie wahrhaft einen Grund wach zu liegen. Um genau zu sein, sogar mehrere. Zum einen war es der Kuss selbst. Die Erinnerung. Ihre blöden Lippen kribbelten und pulsierten immer noch vor sich hin ... Warum hatten Rius Küsse nie eine solche Wirkung gehabt? Sie waren nett gewesen, angenehm. In keiner Weise verstörend. Und dann war da noch der Grund, aus dem sie diesen betörenden Rausch erlebt hatte. Lee war so unglaublich zornig gewesen. Er hatte förmlich gekocht vor Wut. Dabei war ihr Anliegen doch gar nicht so unzumutbar. Sie hatte ihn auch bestimmt nicht beleidigen wollen. Nicht nach all dem, was er in der jüngsten Vergangenheit für sie alle getan hatte. Dummerweise hatte sie ihn gerade in dem Augenblick, als sie beschlossen hatte Misstrauen und Missgunst aufzugeben, offenbar tödlicher beleidigt, denn je. Wenn sie gewusst hätte, wie er auf diesen Vorschlag reagierte, hätte sie ihn gleich am ersten Morgen gebeten, mit Maja zu flirten. Als sie ihn noch nicht gemocht hatte. Als er in ihren Augen nichts weiter, als ein von sich selbst eingenommener Taugenichts gewesen war. Doch jetzt, da sie es besser wusste, hatte sie es geschafft, ihn fürchterlich zu kränken. Und seine Reaktion darauf ... Agni! Sie würde sich wirklich beherrschen müssen, ihn nicht absichtlich in Rage zu versetzten. Mit diesen Gedanken schloss sich ihr bittersüsser Teufelskreis aufs Neue, denn nun musste sie schon WIEDER an diesen Kuss denken. An ihn, und sämtliche Begleitumstände. Geschmack, Duft, seltsames Summen im Ohr ... Es war nicht mehr abzustreiten: Sie hatte es gewollt; hatte es die ganze Zeit über gewollt, seit dieser verfluchte Kerl hier war. Und somit schloss sie sich vermutlich einer lachhaft großen Schar verblendeter Frauen an. Mit der Tatsache, dass sie keinerlei Gegenwehr, und dafür umso mehr Genuss gezeigt hatte, wohl ebenso. Frustriert warf sie sich auf den Rücken und drückte sich ihr Kissen aufs Gesicht. Wie, bitte schön, sollte sie ihm denn jetzt noch in die Augen schauen? Am Besten überhaupt nicht mehr. Wäre ohnehin von Anfang an die bessere Alternative gewesen. Stattdessen hatte sie ihn lieber ständig angegafft. Hatte heimliche Blicke riskiert, wenn er hinter dem Pflug schwitzte. Hatte beinahe jeden Tag mitangesehen, wie er seinen verdammten Astralkörper wusch. Wirklich ganz toll, Niha! Das Problem, das eigentlich ihr dringendstes hätte sein sollen, nämlich die unbesonnene Sturheit ihrer jüngeren Schwester, ging ihr nur so circa anderthalbmal durch den Kopf. Sie war sich sicher, dass das immer noch weniger als ein Prozent ihrer Grübeleien ausmachte. Niha war beileibe nicht die einzige, deren Schlafgewohnheiten durcheinander gerieten. Schon vor Sonnenaufgang sass Pippa über ihren Notizen und starrte ins Leere. Sie versuchte vergebens, sich zu erinnern. GENAU zu erinnern. Doch jedes mal, wenn sie versuchte, sich ein Detail der gestrigen Szene ins Gedächtnis zu rufen, war dieses warme Rieseln wieder da. Heiß, kribblig, schwebend. Ein erregtes Zittern nach dem anderen. Das konnte man ja wohl schlecht als wissenschaftliche Auswertungen bezeichnen. Aber sie fand beim besten Willen keinen Ansatz für eine objektive Betrachtungsweise. Sie war ja nicht mal mehr imstande, über Herrn Song nachzudenken, ohne dass diese kleinen, angenehmen Schauer sie durchrieselten. Wie er gerochen hatte! Dieses raue Murmeln. Seine bezwingende Nähe. Und ... sein Mund. Agni! Stöhnend legte sie den Kopf auf ihre, auf dem Schreibtisch verschränkten Arme. Das Einzige, das sie mit Sicherheit sagen konnte, war, dass SIE auf seine offensichtliche Anziehungskraft ebenso stark und prompt reagierte, wie ihre Geschlechtsgenossinnen. Nein .. das Einzige war das eigentlich nicht. Durch diesen Vorfall hatte sie auch zweifelsfrei erkennen können, dass er ZURECHT attraktiv war. Es war nicht nur wundervoll, ihn anzusehen, sondern ... na ja; er war einfach wundervoll. So alles in Allem. Insgesamt. Was die Verpackung versprach, wurde mehr als eingehalten! Sacht legte sie die Finger ihrer rechten Hand an die Lippen. Für den Rest ihres Lebens würde sie sich an diesen kurzen, berauschenden Augenblick erinnern, indem der korrekteste, strengste, unnahbarste und effektivste Assistent, den sie je gehabt hatte, ihr offenbart hatte, zu welchen Empfindungen ein simpler Körper fähig war. Sie konnte dieses Wirrwarr an Gefühlen zwar nicht wissenschaftlich verwerten, aber vergessen würde sie es ebenso wenig. Oh ... Warum konnte sie sich nur nicht detailliert daran erinnern? Sie hätte sich unmittelbar nach dem Ereignis Notizen machen sollen. Obwohl ... ihre Schrift wäre wahrscheinlich viel zu verwackelt gewesen. Die einzige Möglichkeit, verwertbare Daten zu bekommen, wäre es, das Ereignis nachzustellen. Der Haken an der Sache war nur, dass Lu Tens Bereitschaft dazu vermutlich gegen Null tendierte. Lu Ten ... sie seufzte. Konnte es einen klangvolleren Namen geben als diesen? Eine Stunde später eilte eine unauffällige Gestalt den stark gewundenen Pfad durch den Wald von Tutuk entlang. Mit viel gutem Willen hätte man sie für ein harmlosen Spaziergänger halten können, hätte es nicht in Strömen geregnet. Immer wieder sah sich der Fremde unter seiner triefnassen Kapuze vorsichtig um. Doch bei diesem Wetter war, wie erwartet, keine Menschenseele unterwegs. Wenigstens etwas! Sein Auftrag, der ihm vor einigen Stunden noch lächerlich einfach erschienen war, war seit gestern Abend gefährdet. Hochgradig gefährdet. Momentan sah es ganz so aus, als würde er die Formel des Professors entwenden müssen. Doch dazu müsste er sie erst einmal finden ... Auf Höhe einer großen, verkrüppelten Kiefer vertrat ihm plötzlich ein dicht vermummtes Individuum dem Weg. Nemo Ran bleib abrupt stehen. „Verdammt! Musst Du mich so erschrecken?“, zischte er. „Du kommst spät.“ „Ja. Die alte Jungfer war leider schon wach, und hat mir einen ihrer blöden Aufträge erteilt.“ „Denk lieber an Deinen eigentlichen Auftrag! Wie läuft es ... frisst sie Dir schon aus der Hand?“ „Nein.“, knurrte Nemo. „Tut sie nicht. Sie zeigt sich von meinen Annäherungsversuchen nicht sonderlich beeindruckt. Allem Anschein nach habe ich Konkurrenz.“ „Konkurrenz?“ „Ja. Riesiger Kerl. Bisschen ruppig, ziemlich hochnäsig. Reine Muskelmasse. Sieht nach einem gerissenen, zähen Bastard aus.“ „Und? Das ist doch meilenweit von den Vorlieben dieses Blaustrumpfes weg.“ „Wirklich? Na, dann lass Dir gesagt sein: Wer auch immer ihre Vorlieben recherchiert hat, lag damit verdammt falsch. Von wegen „feinfühliger Träumer“. Sie steht offensichtlich auf wortkarge Finsterlinge. Von dem, der sich im Schloss breit macht, ist sie jedenfalls ganz hingerissen.“ „Dann leg Dich mehr ins Zeug!“ „Hab ich ja versucht. Aber ihr fallen jedes Mal fast die Augen aus dem Kopf, wenn diese Type auftaucht.“ „Wirklich?“ Der Vermummte war hellhörig geworden. „Ziemlich komischer Zufall, dass sich ein so unwiderstehlicher Kerl hier auftaucht und ihr schöne Augen macht.“ „Du denkst, er wurde auch auf sie angesetzt?“ „Denkst DU denn, Pineria Tutuk zöge die Männer reihenweise an?“ „Nein. Aber ... eigentlich macht er ihr alles andere, als schöne Augen.“ „Und WARUM ist er dann ein Problem?“ „Weil sie sich von ihm aufs ausgiebigste hat küssen lassen. Bei der mach ICH keinen Stich mehr, glaub mir.“ „Grmpf! Schätze, er hat eben die bessere Taktik, im Umgang mit späten Mädchen.“ Nemo Ran (wir wollen vorerst annehmen, dies sei sein richtiger Name), runzelte unwillig die Stirn. Dies hier war sein erster, wichtiger Einsatz. Wenn er ihn vermasselte, konnte er sich von der `Organisation´ gleich verabschieden. „Ich werde das Problem aus der Welt schaffen.“, versprach er. „Tu das. Du weißt, wie der Chef mit Versagern verfährt.“ Ja, das wusste Nemo. Erfolglose Mitglieder wurden `aussortiert´. „Ich werde nicht versagen!“ Mit diesen Worten drehte sich der nette, unauffällige Assistent der Tutuks brüsk um und suchte sich seinen Rückweg durch den strömenden Regen. Verdammt! Das hatte ihm grade noch gefehlt. Wirklich zu bedauerlich, dass er jetzt auf radikale Massnahmen würde zurückgreifen musste. Aber Auftrag war Auftrag und Zimperlichkeit ein Luxus, den er schon lange hinter sich gelassen hatte. Lu Ten Song musste wohl oder übel aus dem Rennen geworfen werden. Und Nemo würde bestimmt nicht den Fehler begehen, seinen Gegner zu unterschätzen ... `Verdammt! Ich hätte sie nicht küssen sollen!´ Dieser, für alle weiblichen Beteiligten der jüngsten Ereignisse doch wenig schmeichelhafte Gedanke, ging den beiden ältesten Söhnen Zukos II recht zeitgleich durch den Kopf. Lu Ten dachte ihn nach dem Erwachen, als er feststellen musste, dass ihn der Geschmack des werten Fräuleins noch immer nicht losgelassen hatte. Lee ... nun, Lee hatte ihn eigentlich die ganze Zeit über gedacht. Er hatte ihn gedacht, als er zurück in den Stall stolziert war, als er sich auf sein Heubett geworfen hatte, als ihn das blöde, silbrige, verflucht helle Mondlicht über zwei Drittel der Nacht wach hielt und schließlich wieder beim Aufstehen. Selbst während des Tentos hallte das Echo dieses kleinen Satzes in seinem Schädel hin und her. `Ich hätte sie nicht küssen sollen!´ Es war ein eideutiger, dummer Fehler gewesen, seinem Zorn freien Lauf zu lassen. Dumm, unüberlegt und schlichtweg bescheuert. Bisher hatten ihn ja wenigstens nur die Frage geplagt, ob es ihm (in einem rein fiktiven Szenario natürlich) gelänge, seinen Boss willenlos zu küssen. Jetzt wusste er es. Es gelang. Spielend! Das Problem war sein eigener Wille, den es bei der ganzen Aktion beinahe zerbröselt hätte. Da war es fast ein Glück, das seine Wut das Regiment geführt hatte, sonst hätte er vielleicht etwas NOCH dümmeres getan. Ironischerweise hatte er Niha gestern Abend genau da gehabt, wo er sie am ersten Tag, als sie ihm ihre Anfeindungen an den Kopf geworfen hatte, hatte haben wollen. „Aus der Hand fressen“ war gar kein Ausdruck für ihren Zustand gewesen. Er hätte alles verlangen können; vermutlich alles bekommen. Dabei hatte er es gar nicht mehr darauf angelegt. Diesen blöden Plan, sie zu umgarnen, um sie für diese Schmähungen büssen zu lassen hatte er schon längst vergessen gehabt. Aber Niha hatte den unausgesprochenen, zerbrechlichen Friedenspakt, der seit kurzem zwischen ihnen geherrscht hatte, gründlich gebrochen. Sie sah in ihm noch immer dasselbe, das alle anderen sahen. Einen gut gelaunten, charmanten Gesellen, ohne besonderen Tiefgang oder nennenswerte Abgründe. Der unbedachte Lauser von nebenan. Er hatte sich daran gewöhnt. Die Leute sahen eine funkelnde Oberfläche und blickten nicht tiefer, da es sie nicht zu interessieren schien, was es noch zu bergen galt. Dass ausgerechnet Niha nicht fähig war, ihn in einem anderen Licht zu sehen, verletzte ihn. Mehr, als er gewohnt war. Mehr, als gut war. Er entdeckte den ungewohnten, inneren Drang, nachtragend zu sein. Niha rückte zum hundertsten mal die Teller zurecht und linste, ebenfalls zum hundertsten mal, zum Küchenfenster. Wo zum Henker blieb Lee? Das Frühstück war doch schon so gut wie fertig. War er etwa noch immer sauer? Die Tür ging auf, um einen Schwall kühler Morgenluft und eine ebenso kühle Schwester hereinzulassen. „Guten Morgen Maja!“ „Morgen.“ „Hast ... Du Lee gesehen?“ „Nein. Warum? Möchtest Du auf etwas herumhacken?“ „Maja!“ „Was?“ „Sei bitte nicht ...“ Weiter kam sie nicht. Die Kinder erstürmten die Küche. „Was gibt´s zum Frühstück?“, krähte Jem, der eindeutig auf Lees gestrige Mitbringsel spekulierte. „Reibekuchen.“, murmelte Niha zertreut, da sie schon wieder zum Stall linste. „Reibekuchen??? Oh Mann!“ Bevor seine älteste Schwester auch nur reagieren konnte, hatte der Junge sich auf seinen Stuhl geworfen und war im Begriff, sich den obersten Kartoffelpuffer zu schnappen. „HALT!“ „Was denn? Ich hab die Hände gewaschen! Ehrlich!“ „Lee ist noch nicht da!“ „Och Mensch!“, maulte es. „Ich hab aber Hunger!“ „Niha fummelte bereits am Knoten ihrer Schürze. „Ich schau mal, wo er bleibt. Und keiner rührt das Essen an!“ Energisch stapfte sie über den Hof und schob die schwere Scheunentür auf. „Lee?“ Sie bekam keine Antwort. Doch das hatte ja nicht unbedingt etwas zu bedeuten. „Lee?“, wiederholte sie lauter. Nichts. Aber er war da. Das konnte sie spüren ... irgendwie. Sie beschloss nachzusehen und erklomm kurzerhand die Leiter. Tatsächlich. Da kniete ihr Hilfsarbeiter vor einem Korb und verstaute etwas, das wie altbackenes Brot aussah. (Lee hatte leider feststellen müssen, dass morgens um vier Uhr die Auswahl an Lebensmitteln leicht begrenzt war. Ganz im Gegensatz zur Vielfalt blumiger Flüche. „Hirni!“ und „Zieh mit den Göttern, aber Leine!“ hatten es ihm in besonderem Maße angetan.) „Lee? Warum kommst Du nicht zum Frühstück?“ „Schon fertig.“ Sein Tonfall war ebenso schroff und eckig wie seine Körperhaltung. „Womit? Mit frühstücken?“ „Ja.“ „Aber ...“ „Wenn Du jetzt die Leiter freimachen würdest. Ich hab zu tun.“ „Aber ich ...“ „Agni!“ Bevor Niha reagieren konnte, sprang Lee aus der Hocke durch die schmale Futterluke nach unten. Als sie den Aufprall hörte, fuhr es ihr durch Mark und Bein. „LEE!“ Ungerührt, nicht einmal ansatzweise humpelnd, spazierte er an der Leiter vorbei und hinaus ins Freie. Niha versuchte hinterher zu kommen. „Bist Du verrückt, mich so zu erschrecken? Der Heuboden ist drei Meter hoch!“ „Zaun oder Wasserleitung?“ „Bitte?“ „Was soll ich reparieren? Zaun oder Wasserlei .. Oh nein! Warte! Das ist eindeutig die Frage eines Faulenzers. Ich mach beides.“ „D ... Du hast doch noch gar nicht anständig gefrühstückt!“ „Anständig? Nein. Aber das ist ja auch etwas, das nicht zu mir passt, nicht wahr?“ „Das hab ich nie ... LEE!“, rief sie ihm hinterher. Vergebens. Er wollte also auf stur schalten, ja? Na, dagegen gab es Mittel und Wege! Fast vier Stunden später spürte Lee seine Hände nicht mehr. Endlich! Die Schmerzen waren nämlich recht unangenehm gewesen. Verbissen packte er die Schaufel noch etwas fester, und trotzte dem tiefen Loch im Boden noch mehr Erde ab. Schliesslich sollten SEINE Pfosten tiefer verankert werden, als der restliche Pfusch hier. SEINE gottverdammten Pfosten würde noch in Jahrhunderten hier stehen und JEMANDEN daran erinnern, dass auch andere Menschen gute Arbeit zu leisten vermochten. Mit dem Handrücken wische er sich den Schweiss von der Stirn, ungeachtet der Tatsache, dass er den Schmutz dort noch großzügiger verteilte. Schnaufend blickte er auf die anderen sieben Löcher, die er schon ausgehoben hatte. Erst sieben. Er musste Löcher buddeln, und das einzige, was er konnte, war nutzloses Feuer zu bändigen. Aus den Augenwinkeln sah er Jem und Zerfa näher kommen. „Lee!“, rief das Mädchen. „Wir haben hier was für Dich.“ Bewegten sich drüben an den Küchenfenstern etwa die Gardinen? „Ach, wirklich?“ „Ja. Hier.“ Sie hielt ihm einen kleinen Korb hin, dessen Inhalt sofort unter die Lupe genommen wurde. Er glaubte zu wissen, was er finden würde. Und er lag richtig. Dieses Frauenzimmer war, wenn schon nichts anderes, so doch wenigstens berechenbar. „Belegte Brote?“, fragte er, die Augenbraue gelüftet. „Ja!“, krähte Jem. „Vier! Mit richtig viel Schinken!“ Sein Tonfall legte nahe, dass ER noch nie ein so üppig belegtes Machwerk bekommen hatte. „Und Eiern!“ „UND Eiern. Soso.“, murmelte Lee. „Na, dann wünsch ich euch beiden einen guten Appetit.“ „Was? Wir?“, fragte Jem begeistert. Doch er hatte die Rechnung ohne seine gewissenhafte, kleine Schwester gemacht. „Nein! Die Brote sind für Lee!“ „Das ist ja sehr nett von Dir, Knöpfchen, aber momentan hab ich gar keinen Hunger.“, log Seine Hoheit. „Aber Niha ...“ „Hat sich die Mühe leider umsonst gemacht, wenn ihr das nicht esst.“ „Wir sollten es aber Dir bringen!“ „Das habt ihr ja auch. Doch ich bin satt.“ Mit diesen Worten griff Lee wieder nach seiner Schaufel. Die Küchengardinen fielen an ihre angestammten Plätze zurück. Verdammter Sturkopf! Er dachte also tatsächlich, standhaft bleiben zu können? DAS würden wir doch erst mal sehen! Zackig krempelte Niha sich die Ärmel hoch und machte Feuer im Herd. Es wurde Zeit, den leckeren Eintopf zuzubereiten, von dem ihr verblödeter Stallknecht so gerne Unmengen ass. Punkt zwölf trat Niha aus der Tür. Leider war ihre Beute außer Sichtweite. Sie sah nur etliche neue, kerzengerade, höchst stabile Pfosten in der Erde. Hatte der Kerl sich etwa Hilfe geholt? Nein. Als sie ums Eck des Schweinestalls bog, erübrigte sich die Frage. Lee arbeitete, schwitzte und fluchte wie ein Besessener. Aus dem Stehgreif entschied Niha sich für einen versöhnlichen Tonfall. „Ich hab Dir Dein Essen gebracht.“ „Ich brauch nichts.“ „Bitte? Unsinn! Wer hart arbeitet, muss auch was essen.“ „Ach ... auf einmal arbeite ich? Hart? Ich dachte, ich würde nur schäkern.“ „Du musst essen!“ Mit zusammen gebissenen Zähnen wand Lee den störrischen Draht um den großen Pflock. „Lee! Ich bestehe darauf!“ „Ah! Wenn das SO ist.“ Er nahm die Schüsseln und stellte sie achtlos beiseite. „Was soll das denn jetzt heissen?“, fragte sie aufgebracht. „Das soll heissen, dass ich zu tun habe. Und jetzt entschuldige mich.“ „Du ... Du ...“ Da sie nicht aus dem Weg gehen wollte, hob Lee sie kurzerhand hoch, und stellte sie beiseite. Angesichts des plötzlichen, unerwarteten Körperkontaktes ein ziemlicher Schock, der sie sprachlos an Ort und Stelle erstarren liess. Was fiel diesem Möchtegern-Märtyrer eigentlich ein? Hatte er vor, diesen trotzigen, lächerlichen Hungerstreik wirklich durchzuziehen? GUT! FEIN! Er wollte Krieg? Er sollte ihn bekommen! In Grund und Boden würde sie diesen Vielfrass kochen. Jawohl! Seine makellose Nase würde ihm abfallen, vor verführerischen Wohlgerüchen. Den ganzen restlichen Tag verbrachte Niha in der Küche, um das festlichste Mahl ihres Lebens zu zaubern. Süßkartoffelauflauf, scharfe Rippchen, saftige Schweinefleischbällchen, glasierte Bohnen und Rübchen ... Ja, nicht einmal ein üppiger, sündhaft leckerer Schokoladenkuchen fehlte. Als es Zeit zum Abendessen wurde, war die kleine Küche erfüllt, vom den herrlichsten Aromen. Sie öffnete alle Fenster, damit ihrem Hilfsarbeiter nicht die kleinste Nuance der kulinarischen Verlockungen entging. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er auftauchen würde. Schliesslich hatte er seit heute morgen nichts mehr in den Magen bekommen ... Zwanzig Minuten später sassen Nihas Geschwister ratlos um den überfüllten Tisch und starrten ihre große Schwester an. Die hockte, aufrecht wie ein Brigademajor, auf ihrem Stuhl und trommelte mit den Fingerspitzen ein ungeduldiges Stakkato auf den Tisch. „Dürfen wir jetzt endlich was essen?“, traute Jem sich zu fragen. Niha schoss hoch. „Ja.“, schnappte sie. „Esst. Ich werd Lee seine Portion bringen.“ Klappernd trug sie Körbe und Schüsseln zusammen und füllte sie bis an den Rand. „Lee?“ Der Stall war still. Die vereinzelten, abendlichen Sonnenstrahlen, die sich durch die Ritzen der Holzwände stahlen, erzeugten nur wage schummriges Licht. „Himmel, Lee! Das ist selbst für Dich zu kindisch!“ Die Antwort bestand in einem Schweinequieken, also stellte sie ihre Last ab und stieg sie die Leiter zum Heuboden hoch. Sollte er sich seinen Trotz doch sonst wo ... WO war er? Verflixt und zugenäht! Unten schlenderte der Gesuchte unbemerkt herein, lehnte sich entspannt gegen das Gatter des Schweinekoben und betrachtete interessiert ein Paar Beine, das seiner bescheidenen Meinung nach das Prädikat „bemerkenswert“ verdiente. „Wird jetzt schon meine Schlafstatt auf moralische Unbedenklichkeit überprüft?“, fragte er mit überaus freundlichem Sarkasmus. Beim Klang seiner Stimme erstarrte Niha. Als sie unter ihrem Arm nach unten lugte und sah, vorauf sein Blick ruhte, quiekte sie lauter als die Ferkel. „Nur die Ruhe! Da gibt es nichts, das ich schon in allen möglichen Formen und Farben gesehen hätte. Außerdem,“, log er nun. „ist die verklemmte Wollstoff-Variante ohnehin nicht besonders prickelnd.“ Hochrot stieg seine Chefin von der Leiter. Dass er dachte, sie quasi beim schnüffeln erwischt zu haben, vertrieb jeglichen Gedanken an Wut. „Ich hab Dein Abendessen da hingestellt.“, sagte sie halb verlegen, halb schroff, sicher, dass er angesichts DIESER kulinarischen Verlockung klein beigeben würde. Lässig beugte er sich über den Korb und inhalierte tief die aufsteigenden Düfte. „Ah! Riecht ja unwiderstehlich.“, seufzte er genüsslich. Sie hatte es ja gewusst! Ihr Festmahl bedeutete das Ende seines kleinen Hungerstreiks. Als er den Korb hochhob, musste Niha sich ein Lächeln verkneifen. Er nahm eine der Schüsseln heraus. „So was ... meine Lieblingsklöße. Und so wie sie duften, sind sie sogar gefüllt.“ „Nun ... ja. Mit Pilzen und in Butter geschwenkten Brotkrumen.“ „Wirklich?“ Seine schimmernden Augen fixierten sie nachdenklich, wurden weicher. „So viel Mühe?“ Na endlich! Jetzt würde er sich ihre Entschuldigung anhören und danach wäre alles wieder im Lot. „So viel Mühe.“, murmelte er wieder sanft. „Die Schweine wird´s freuen.“ Nihas Augen weiteten sich ungläubig. „WAGE es nicht!“ Doch ihr vermaledeiter Hilfsarbeiter starrte sie lediglich an, hob eine Braue, hielt die Schüssel am ausgestreckten Arm in die Höhe und kippte den Inhalt samt und sonders in den Trog. „Na, ist das fein?“, fragte er die große Sau, die sich, bevorstehende Schlafenszeit hin oder her, über den unverhofften Leckerbissen hermachte. „Lee ...!“ „Nimm´s wieder mit!“ „Iß es!“ Die zweite Schüssel, glasierte Bohnen und Rüben, leerte sich platschend. „Da. Noch mehr Fresschen.“ „Lee!“, schrie Niha zornig, „Lass das!“ Sie versuchte, ihm den Korb fortzunehmen, doch er hielt sie mit Hilfe eines lässig ausgestreckten Arms auf Distanz und sie musste mit ansehen, wie die Früchte der Arbeit eines ganzen Nachmittags im Schweinetrog landeten. „Vielleicht lassen sie mir ja was übrig. Und falls nicht, hast Du wenigstens die Gewissheit, dass Dein Essen an etwas nützlicheres verfüttert wurde, als Deinen unwürdigen Knecht.“ Fassungslos, vor Wut kochend, stand Niha da. Lee verneigte sich spöttisch, vollführte dabei eine weit ausholende, theatralische Geste mit dem rechten Arm. „Was hast Du gemacht?“ „Hä?“ „Deine Hände ...“ Bevor er reagieren konnte, schnappte sie sich seine Rechte und hob ihre Laterne. „Agni!“, hauchte sie entsetzt. „Was hast Du mit Deinen Händen gemacht?“ „Nichts!“ Mit einem Ruck entzog er ihr seinen Arm. „Nichts? Die Haut ist ganz zerschnitten!“ „Kommt vom Draht. Nacht!“ Er wendete sich zur Leiter. „Hier geblieben!“ „Was? Soll ich noch die Wasserleitung vollends reparieren?“ „Idiot!“, zischte sie. „Zeig endlich Deine Hände!“ „Wozu? Es sind Hände. Zwei Handflächen, zehn Finger, neuneinhalb Fingernägel. Das ist alles. Gute Nacht!“ „Lee.“ Inzwischen knirschte Niha mit den Zähnen. „Hör jetzt endlich auf damit! Es tut mir leid! Ich ... ich bin eine blöde Kuh. Ich hab das gestern auch nicht so gemeint, wie es rüberkam. Bestimmt nicht! Und jetzt lass mich BITTE Deine Hände sehen!“ „Wozu? Du bist kein Arzt.“ „Aber ich kann Dich zu einem schicken!“ „Ich geh morgen früh hin!“ „Versprich es!“ „Was?“ „Du sollst es mir versprechen!“ „Ja, meinetwegen. Lässt Du mich jetzt in Ruhe?“ Sein Knurren klang immer noch unversöhnlich. „Ja.“, flüsterte sie. Ihr Kampfgeist war aufgebraucht. Lee war sauer. Zurecht. Da gab es nichts dran zu rütteln. Sie konnte ihm nicht einmal einen Vorwurf machen. „Glaubst Du, Du verzeihst mir irgendwann?“ Sie sah auf den Boden, als sie diese Frage stellte. „Vielleicht.“, sagte er schroff. Ihre zusammengekniffenen Lippen liessen ihn jedoch seufzend einlenken: „Frag am besten morgen noch mal.“ „Gut.“ Lee machte sich daran, die Leiter zu erklimmen. Niha, ihrerseits drehte sich ein wenig unentschlossen zur Tür. „Lee?“ „Was denn noch?“ „Kannst Du bitte jetzt gleich noch zu Doktor Kwan gehen?“ „Herrje, Niha. Ich hab schon schlimmeres gehabt, als zerschundene Hände.“ „Kann ja sein, aber ich will trotzdem, dass Du sie verarzten lässt. Schweinemist hat nunmal leider keine antiseptischen Eigenschaften. Und ... wenn es sich entzündet ...“ „Bin ich nutzlos, ich weiss.“ Niha starrte ihn entsetzt an. DAS dachte der Herr also von ihr. Dass sie Menschen und Dinge nur nach ihrem Nutzen beurteilte? Ja. Gut. Sie WAR pragmatisch. Aber pragmatisch war noch lange nicht gefühllos. „Geh einfach hin.“, flüsterte sie seinem abgewandten Rücken zu. „Fein. Ich eile.“ Sie verkniff sich ein: `Und besorg Dir was zu essen!´ und sah zu, wie er die Scheune verliess. Als sie merkte, wie ihre Unterlippe zitterte, hielt sie es für besser, vorerst nicht ins Haus zu gehen. Sie setzte sich stattdessen auf eine große Holztruhe, in der diverses Werkzeug aufbewahrt wurde. Eigentlich konnte es ihr doch egal sein, was Lee von ihr hielt. Eigentlich konnte es ihr egal sein, wenn er dachte, sie würde ihn noch immer für einen Tagedieb halten. Eigentlich sollte sie jetzt hier auch nicht rumheulen. Eigentlich ... Eigentlich war es hübsch, wie die grossen Tropfen auf ihren abgearbeiteten Händen zerplatzen. Und eigentlich hatte sie auch gar nicht bemerkt, dass Lee zurück gekommen war ... Jin stand in ihrem lichtdurchfluteten Arbeitszimmer, starrte hinauf zu Zukos Portrait und seufzte ratlos. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die verteufelte Sehnsucht nach ihrem Privat-Despoten loswerden konnte. Ihre eigenen Arme, die sie fest um sich geschlungen hatte, bildeten jedenfalls einen mehr als lächerlichen Ersatz für die Geborgenheit spendende Hitze ihres Ehemannes. Die Erkenntnis, wie ... wie unfertig sie sich ohne ihn vorkam, war erschreckend. Seit wann war es denn schon so? Dass sie mit sich allein nichts mehr anzufangen wusste? Dass sie sich ohne ihn zu nichts aufraffen konnte? Dass sie tausend Dinge begann, um sie dann vor lauter Unruhe nicht zu Ende brachte? War sie wirklich derart von ihm abhängig? Eine dieser Frauen, die ihre eigene Persönlichkeit beinahe aufgegeben hatten? Blass? Fade? Nichtsagend? Dabei war sie immer der Meinung gewesen, ihrem formidablen, imposanten Gatten durchaus eine eigenständige Persönlichkeit zur Seite stellen zu können. Doch jetzt hatte das Individuum, das sie geglaubt hatte zu sein, ernsthafte Schwierigkeiten, ohne sein Gegenstück auszukommen. Mist! Lief es etwa darauf hinaus, dass sie nur noch dazu taugte die Feuerlady zu sein? Gemahlin Zukos II? Mutter seiner Kinder? Sie WAR doch jemand! Sie war Jin. Lebensfroh, chaotisch, phantasievoll. Eine verflixt gute Weberin. Eine liebevolle Mutter. Eine hingebungsvolle, begeisterte Ehefrau. Ehefrau .. na bitte! Sie war ja nicht mal mehr selbst in der Lage, sich ohne dieses Etikett wahrzunehmen. Zuko war ihr ein und alles. Der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens. Daran würde sie auch niemals etwas ändern, selbst, wenn sie es gekonnt hätte. Doch sie hatte eigentlich immer gehofft, ihre Eigenständigkeit bewahrt zu haben; sie selbst geblieben zu sein. Sie war bis zu ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr bestens alleine zurecht gekommen (Gut ... bestens war vielleicht übertrieben). Die „alte“ Jin war ohne ihren Drachen zwar nicht sonderlich glücklich gewesen, aber wenigstens hatte sie es geschafft, ihr Leben zu meistern. Und jetzt hing er da oben, starrte aus seinem prunkvollen, goldenen Rahmen und seinen prunkvollen, goldenen Augen auf sie herab, scheinbar völlig unbeeindruckt von ihren Selbstzweifeln und Sehnsüchten. Mylady kaute, wie so oft, auf ihrer Unterlippe. Hatte Zuko nicht immer gesagt, auf diesen Konferenzen würden die wichtigen Punkte immer schon in den ersten zwei Tagen geklärt? Nun, in diesem Fall würde sie ihre Abreise noch um einen Tag verschieben, damit er genau diese zwei Tage bekäme. DANN würde er sehen, was er davon hatte, sein pädagogisches Konzept im Alleingang durchzupauken und sie zu allem Überfluss so lange allein zu lassen. Sie würde nämlich abreisen. Als Mutter machte man sich schliesslich Sorgen, nicht wahr? Es war ihr gutes Recht nach ihren Söhnen zu sehen. Und beginnen würde sie mit ihrem Sorgenkind. Jawohl, Übermorgen würde sie nach Agnam Ba fliegen, um sich davon überzeugen, dass es Lee gut ging. Und um zu beweisen, dass sie durchaus in der Lage war, eigene Entscheidungen zu treffen. WEM sie dies allerdings beweisen wollte, blieb unklar. Kapitel 10: Null-Null-Prinz --------------------------- „Niha?“ „WAS?“ Wie von der Tarantel gestochen sprang Niha auf und versuchte, sich so schnell wie möglich abzuwenden. „Heulst Du?“, kam es ungläubig von der Tür. „Nein!“ „Doch, Du heulst!“ „Tu ich nicht. Ich hab nur was im Auge. Und selbst wenn ...“ „Ah. Die `ich hab nur was im Auge´ Ausrede. Originell, aber erschreckend wirkungslos.“ „Geh weg!“ „Nein.“, sagte Lee ruhig. „Das ist MEIN Stall!“ „Und MEIN Schlafzimmer!“ „WARUM ZUM GEIER STREITEST DU IMMER MIT MIR?“ Jetzt drehte sie sich doch um und bekam einen gekränkten, irritierten Gesichtsausdruck zu sehen. „Ich? Streite mit Dir? ICH?“, er schnaubte durch diese ungemein bemerkenswerte Nase. „Ich bin so ziemlich der verträglichste Mensch, den man sich denken kann. Ich streite nicht! Und schon gar nicht mit Frauen!“ Niha starrte ihn an. Dann fing sie wieder mit dem Heulen an. Aber so RICHTIG! Kurze, unkontrollierte Schluchzer. Bestimmt, weil sie darin keine Übung hatte. Er hatte recht. Wenn hier jemand ein Streithammel war, dann sie! Sie war unerträglich. Konnte sich ja nicht mal selbst leiden. Wie sollte jemand wie sie denn seine jüngeren Geschwister zu glücklichen, aufrechten Menschen erziehen? Oder sie einfach nur beschützen? Sie bekam das nicht hin! Sie bekam überhaupt nichts hin! Sie war ein fürchterlicher Mensch! „Niha?“ Plötzlich plärrte sie in warmes, trockenes Leinen, das eine breite Brust bedeckte. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wurde sie in eine schützende Umarmung gezogen, spürte wieder, was Geborgenheit bedeutete. Lee murmelte leise Worte gegen ihre Schläfe, die, obwohl sie keinen rechten Sinn ergaben, unsagbar tröstlich waren. Bestimmt war es diesem Umstand zu verdanken, dass Niha sich in sein Hemd verkrallte und es ordentlich durchnässte. Erst nach einigen Minuten hatte sie sich soweit beruhigt, dass sie seine Worte verstand. „Ist ja gut! Alles gut, Niha. Wein Dich aus.“ „Nein, ich ...“ „Sch ... Wein Dich einfach aus.“ „Nein!“ Sie schniefte erbärmlich. „Herrgott Niha, Du bist ...“ „Ich we ... eiss, was ich bi ..in.“ „Wirklich?“ er hielt sie ein wenig von sich weg und versuchte ihr ins Gesicht zu spähen. „Weisst Du das wirklich?“ „Ja! Ein fürchte ... erliches Weib! Das i ... ist es, was ich bin.“ „Fürchterlich?“ Er strich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Ja, wenn Du eins bist, dann fürchterlich. Fürchterlich stur. Fürchterlich dickschädlig. Fürchterlich hartnäckig und fürchterlich zäh. Wirklich fürchterlich, wie Du Dich um alles und jeden kümmerst, Niha. Ganz schrecklich fürchterlich, wie Du Dich abrackerst, wie Du Dich durchkämpfst ...“ „Aber ich ... Ich ka ... ann mich ja nicht mal ü ... über was freuen. So ri ... ichtig.“ „Dann lern´s wieder, Niha. Lern es!“ Mitten im Dämmerlicht des stinkenden Schweinestalls stand Prinz Lee, hochwohlgeborener Herzog von Goam, und drückte seine leise weinende Chefin an sich. Die Schmerzen in seinen Händen tangierten Seine Gnaden dabei nur peripher, denn die Schmerzen dieser Frau waren momentan bei weitem wichtiger. Irgendwann waren ihre Schluchzer nur noch sporadisch zu hören und sie wurde, ohne dass sie es mitbekam, auf einen Heuballen gesetzt. „Ich ... es tut mir leid, dass ich von Dir immer nur das schl ... lechteste gedacht hab. A ... aber ...“ Noch immer unterbrachen vereinzelte, abgehackte Atemzüge ihren Redefluss. „Aber was?“ „Du wirkst so ... so ... Ich weiss nicht. Als sei Dir immer nur gutes und schönes passiert. Als wüsstest Du ni ...icht, wie es ist, wenn man sich vor lauter schwarzen Wolken nicht mehr an das Blau des Himmels erinnern kann.“ Lee ging vor ihr in die Hocke. „Ich weiss.“, sagte er ruhig. „Ich bin ein Glückskind. Immer gewesen. Ich bin so geliebt und geborgen aufgewachsen, wie man es sich nur vorstellen kann. Ich musste mir nie Gedanken machen, wo ich Kleidung, oder Essen, oder sonst etwas herbekommen sollte. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht wüsste, was Sorgen sind. Oder Schmerzen.“ Eine kurze Erinnerung blitzte auf. An etwas Kaltes, Starres, das sich seiner Seele bemächtigen wollte. Obwohl er erst ein Jahr alt gewesen war, hatte Lee die Erinnerung an den Hass des blauen Drachen nie ganz losgelassen. „Oder Angst.“, fügte er leise hinzu. „Auch mein Himmel war schon mal tintenschwarz. Man darf sich von diesen Gefühlen nur nicht definieren lassen, Niha.“ „Ja. Ich ... ich war wohl zu lange wütend. Aber ich habe mich immer gefragt, warum sie uns allein gelassen haben.“, kam es stockend. „Eure Eltern?“ „Ich war dreizehn, als Mama plötzlich weg war. Papa war so traurig. Und ich durfte es nicht sein, denn jemand musste sich doch um das Baby kümmern. Sie war so klein und ich ... war so furchtbar zornig auf sie.“ Niha starrte hinunter auf ihre ineinander verschlungenen Hände. „Ich war zornig auf dieses winzige Ding, obwohl sie nichts dafür konnte.“ „Zerfa?“ Sie nickte. „Eure Mutter ist also bei ihrer Geburt gestorben.“ „Ja.“ „Und euer Vater?“ „Ich glaube, ihm war danach fast alles egal. Er hat immer gesagt, Mama sei die stärkere von ihnen beiden. Ohne sie konnte er wohl nicht mehr kämpfen. Er war ... er war ein guter Vater, aber ... irgendwann war er nicht mehr für uns da. Er hat nur noch an Mamas Grab gesessen und ... und Sake getrunken, bis er dann ...“ Lee hatte das Gefühl, dass diese Dinge schon seit Ewigkeiten auf ihrem Herzen lasteten, dass niemand ihr diese Last erleichtert hatte. „Ich finde, Du hast einige sehr gute Gründe zum Weinen, Niha. Also wein es Dir von der Seele. Und dann schieb die Wolken weg und nimm Dein Leben wieder in die Hand. So, wie Du es immer tust. Aber koste es aus. Das Leben. Die kleinen Dinge. Jeden Moment davon. Dann schenkt es Dir mehr, als Du Dir vorstellen kannst.“ Niha blickte verwundert auf. DAS steckte also hinter diesem wundervollen Lächeln? Die Kunst, in allem das Positive zu sehen, aus allem das Beste zu machen? Die reine Freude am Leben? „Ich hab eigentlich viel, über das ich mich freuen kann.“, gab sie leise zu. „Ja. Hast Du.“ „Meine Geschwister.“ „In der Tat.“ „Auch ... auch den Pflug.“ Lee lächelte leise. „Und ... eigentlich gibt es kein schöneres Fleckchen Erde, als das hier.“, schniefte sie. „Eigentlich nicht.“ „Und wir haben zu essen.“ „Na ja ...“, murrte Lee schuldbewusst. „Zur Zeit ein bisschen weniger, als üblich.“ „Du bist eben ein Verschwender!“ „Ja.“ „Bist ... Du mir noch böse?“ Ihr Hilfsarbeiter seufzte abgrundtief. „Nun, ich befürchte, mein Restgroll ist in Deiner Tränenflut untergegangen.“ „Echt?“, schniefte Niha hoffnungsvoll. „Also, wieder Frieden? Wenn sie das, was zwischen ihnen herrschte, so nennen wollte ... „Ja. Von mir aus.“ „Danke!“, flüsterte sie und wischte energisch die letzten Spuren ihrer Tränen fort. „Dann kannst Du jetzt ja Deinen Hintern endlich zu Doktor Kwan bewegen!“, „Meinen Hintern? Der ist tadellos. Dem fehlt nicht das geringste.“ „Lee!!“ Schloss Tutuk, am Morgen des gleichen Tages Wie bereits erwähnt, bereiteten auch dem Erbe des Drachenthrons die unplanmässig eingeschobenen Küsse gewisse Sorgen. Lu Ten war es nicht gewohnt, dass sich seine Gedanken derart hartnäckig mit einem weiblichen Wesen beschäftigten. Seine Hoheit hatte zwar die ein oder andere Liebelei am laufen, doch sie beruhten auf beiderseitigem Einverständnis, waren nett und unverbindlich. Er zog es vor, mit besagten Damen entsprechende, durchaus dauerhafte Arrangements zu treffen, da er im Gegensatz zu seinem ausschweifenderen Bruder die `Jagd´ als reine Zeitverschwendung empfand. Kurz gesagt: Er hatte besseres zu tun, als jedem Weiberrock hinterher zu hecheln, der ihm vor die Flinte kam. Ein weiterer, gravierender Vorteil dieses Systems lag darin, dass, sobald er keiner Frau mehr bedurfte, sich das Gemüt Seiner Hoheit ebenso schnell abkühlte, wie seine Bettlaken. Die Begegnungen mit seinen Maitressen gestalteten sich kurz, heftig und unkompliziert. Eben … effektiv. Ganz wie es seinem Wesen entsprach. Der ungebetene, aber unweigerliche Versuch, sich Pineria Tutuk als Gespielin vorzustellen, stellte sich als ebenso verlockend, wie unmöglich heraus. Die Aufschrift „Geliebte“ passte so gar nicht zu dem Waldkäutzchen. Sie war zu naiv, zu unerfahren und bei weitem zu sittsam. Aus wissenschaftlichem Interesse heraus um Küsse zu bitten. Was dachte diese Person sich nur? Schlich sie sich demnächst in irgendwelche Schlafzimmer, um Paare beim Beischlaf zu beobachten? Nein, er hätte sie DEFINITIV nicht küssen sollen! Aber zu sehen, wie sie sich von diesem Milchgesicht hatte abknutschen lassen … Lu Ten ignorierte seine frühmorgendlichen Pflichten, widmete sich statt des Tentos lieber dem Strapazieren des alten Holzbodens und tigerte unruhig auf und ab. Dieses bizarre Puzzle hier ging ihm gewaltig gegen den Strich. Er mochte Dinge, die keinen Sinn ergaben, ganz und gar nicht. Schon viel zu lange plagte ihn das Gefühl, dass er etwas Essentielles übersah. Eine Lösung musste her, und zwar bald! Was tat sein Vater in solchen Fällen? Liste! … Natürlich! Es würde ihm helfen, seine Gedanken zu strukturieren. Er warf sich auf den zu kleinen Stuhl vor dem ebenfalls zu kleinen Schreibtisch und brachte Vor- und Nachteile Pineria Tutuks zu Papier. Eine zweite Liste befasste sich mit seinem jeweiligen, meist unverständlichen, Reaktionen darauf. Die Feder (was für ein praktisches Schreibutensil … für rasche Notizen wesentlich geeigneter, als Pinsel) kratze emsig über die Seiten, während er schrieb, verwarf, unterstrich, bereits verworfenes erneut vermerkte ... Nach einer guten Stunde zog er zwei energische Striche unter die Listen und setzte ein prägnantes Fazit darunter. Er starrte auf die Buchstaben. Unmöglich! Der Stuhl wäre beinahe umgekippt, so abrupt erhob sich Lu Ten. Er absolvierte zwei weitere Bahnen durch das Gästezimmer, harkte mit beiden Händen durch sein Haar und starrte dann erneut anklagend auf das verräterische Wort. Liebe. Das war unmöglich! Undenkbar! Un … abwendbar. Er bestritt ja gar nicht, dass es dieses Gefühl gab. Als Sohn von Zuko und Jin Tatzu wäre dies auch ein Ding der Unmöglichkeit. Niemand, der das Glück hatte, seine Eltern kennen zu lernen, würde die Existenz dieser emotionalen Urmacht bestreiten. Aber ihm? Ihm widerfuhr so etwas doch nicht. Die Liebe war für Träumer, Hitzköpfe, Idealisten und Kämpfer. Nicht für stoische Analytiker, die eher zum Buchhalter, denn zum Prinzen der Feuernation taugten. Er war in dieser Hinsicht unzureichend. Schmerzhaft unterbelichtet. Die Liebe wartete auf Leute wie seine Geschwister, von denen jeder auf seine Art ein überaus leidenschaftlicher Mensch war. Selbst Aya, die ruhige, gelassene Aya, verbarg in ihrem Inneren ein Herz, das niemals von seinen Träumen ablassen würde. Aber er? Er hatte keine Träume. Sein Weg hatte immer klar und deutlich vor ihm gelegen. Eine schnurgerade Strasse voll Arbeit, Pflichten und noch mehr Arbeit. Nein, er hatte keine Träume; hatte sie auch nicht sonderlich vermisst. Bis jetzt. Liebe. Er war doch viel zu nüchtern für eine solche Empfindung! Spontan kam ihm sein Vater in den Sinn. Auch Zuko II war ein sehr nüchterner Mensch. Temperamentsausbrüche und Wutanfälle reichten nicht aus, um an dieser Tatsache etwas zu ändern. Es hätte Lu Ten auch zu denken geben müssen, wie sein Erzeuger jedes Mal in schallendes Gelächter ausgebrochen war, sobald er das Thema „politische Ehe“ angeschnitten hatte. Und Mutter hatte ihn bei diesen Gelegenheiten auch immer so seltsam angesehen ... „Solltest Du es tatsächlich schaffen, eine Vernunftehe einzugehen, hätten wir einen eklatanten Fehler gemacht, Schatz. Und Du weisst, das vermeidet Dein Vater grundsätzlich.“ Und nun sollten sie also Recht behalten. Wieder einmal. Liebe. Dieses dumme, kleine Wort sprang ihn förmlich an. Es bedeutete Komplikationen. Sein geordnetes, wohlorganisiertes Leben nahm eine Kehrtwende, von der er nicht wusste, wohin sie ihn führen würde. Doch für eine Wahl war es zu spät. Jetzt hatte sie ihn am Wickel, die Liebe.  Etwaige Zweifel erübrigten sich, durch die Art und Weise, wie er auf Pineria reagierte. Sein skurriles Radarsystem. Er schien immer zu wissen, wo sie war. Seine heftige Antipathie gegenüber Nemo. Die Art, wie ihn ihre Betroffenheit traf.  Sich bei jedem ihrer Schritte zu fragen, ob sie heute wieder Schmerzen hatte. Die Tatsache, dass er alles dafür gegeben hätte, dies zu verhindern. Ihr Eulenblinzeln, das zweifellos das Potential hatte, sein Herz zu schmelzen. Ihr Geschmack. Der eigens für ihn komponiert zu sein schien. Ihr aufreizende Klugheit, ihre reizende Dummheit, ihre an seiner Seele zerrende Einsamkeit. Er liebte einen besserwisserischen, lebensfremden, neugierigen Blaustrumpf, der zu Tisch emanzipatorische Reden schwang und sich über die Unsinnigkeit der veralteten Institution Ehe ausliess. Das würde alles andere als einfach werden. Aber, da es daran nichts mehr zu rütteln gab, wurde es an der Zeit, das Beste daraus zu machen. Doch wie zum Entengeier sollte er ihr den Hof machen, wenn sie nicht einmal wusste, wen sie vor sich hatte? Seine Werbung stand auf tönernen Füssen, denn es galt Pineria Tutuk für Lu Ten Song zu entflammen, obgleich sie später für Seine königliche Hoheit Lu Ten Tatzu brennen sollte. Er war sich ziemlich sicher, dass seine Argumente besser verdammt gut sein sollten. Blicklos starrte er aus dem Fenster hinaus in den großen Park und grübelte über dieses Problem nach, bis eine verhüllte Gestalt seinen Blick fing. Das war doch .. Nemo? Was zum Teufel suchte diese Quarkspeise bei einem derartigen Wetter und um diese Zeit im Freien? Lu Tens Augen verengten sich, als er den jungen Mann im Wald verschwinden sah. Pippa stand am Herd. Wieder einmal. Seltsamerweise liess sich die Gewohnheit, für einen gewissen Assistenten das Frühstück persönlich zuzubereiten, einfach nicht ablegen. Verträumt das Brot wendend, fragte sie sich, wann Lu Ten heute wohl erscheinen würde. Normalerweise konnte man nach ihm die Uhr stellen. Dieser in der Tat überpünktliche Herr stand bereits im Türrahmen und betrachtete den zerzausten, neuesten Dorn in seinem Fleisch eingehend und leicht ratlos. Er hatte noch keine Zeit gehabt, sich über die weitere Vorgehensweise klar zu werden. Nun, eine Begrüßung schien in jedem Falle angebracht. „Guten Morgen!“ Der Pfannenwender landete scheppernd auf dem Boden. „Oh! Morgen. Guten Morgen!“ Mit einer gewissen Befriedigung registrierte Lu Ten, dass sie noch verwirrter war, als sonst. Geschah ihr nur recht! Einem Tatzu so mir nichts Dir nichts den Kopf zu verdrehen ... „Gut geschlafen?“ „Ja! Sicher!“, log Pippa hektisch und klaubte ihr Küchenutensil vom Boden. „Oder spricht etwas dagegen?“, fragte sie mit vorgeschobenem Kinn. „Nein.“ Lu Ten liess sich auf seinem angestammten Stuhl nieder. „Und selbst? Haben Sie ebenfalls gut geschlafen? Ich meine ... die ganze Hitze und so ...?“ Dumm! Sie war so dumm! Einfach den Mund zu halten war wohl zu viel verlangt, was? Wenn sie hier so planlos herum eierte, wüsste er doch sofort, dass sie seit gestern Abend ein Nervenbündel war. „Mir macht `Hitze und so´ nichts aus.“, erwiderte er ruhig und bediente sich an der Teekanne. „Ja. Sicher. Das ... Sie sind so etwas ja bestimmt gewohnt.“ Er schaffte es, ihren Blick zu fangen, und ihm goldene Ketten anzulegen. „Sprechen wir über das Klima?“ „Ja! Natürlich! Von ... von der ungewöhnlichen Hitze.“ „Und so. Ich weiss.“ Sein warmer Bass liess Pippas Nacken kribbeln und veranlasste sie, ihre Augen loszureißen. „Ich wüsste nicht, wovon ich sonst sprechen sollte!“, stiess sie hervor. „Gewiss.“ Agni sei Dank, klang seine Stimme wieder gewohnt nüchtern. Sie lass in letzter Zeit einfach zu viele dieser Liebes-Schmonzetten und hatte sich die dunkle, verruchte Sinnlichkeit in seinem Tonfall nur eingebildet. „Geht ihr Experiment nun doch weiter?“, wollte er nach einigen Augenblicken wissen. „Bitte?“ „Ihr Experiment, von dem Sie behaupteten, es wäre vorbei.“ Sprach er von den Küssen? Heiliger Himmel! Er sprach von den Küssen! Oder? „Ich ... ich ... Ist es auch!“ „Ach wirklich? Dann ist dieser Brot-Brikett-Hybride nicht für mich?“ „OH!!! Oh, nein!“ Beinahe hätte sie in ihrer konfusen Verlegenheit die glühend heiße Pfanne ohne Topflappen vom Herd genommen, doch Seine Hoheit war schneller. Bevor das Unheil seinen Lauf nahm, riss Lu Ten das gusseiserne Monster blitzartig aus Fräulein Tutuks Wirkungskreis. Fluchend liess er das Ding auf die Marmorne Arbeitsfläche krachen. Fassungslos und bedebbert wurde er angeblinzelt. Dagegen wäre an sich auch nichts einzuwenden gewesen, nur ... seine Hand tat höllisch weh. „Ob ich wohl an den Wassereimer dürfte?“, fragte er stoisch. „Was?“, hauchte Pippa. „Der Eimer.“, presste ihr Retter durch die Zähne. „Ich bin zwar recht unempfindlich gegen Hitze, aber Verbrennungen sind trotz allem einigermaßen schmerzhaft.“ „Gute Güte! Ach Du liebes Bisschen!“ Sie machte einen hastigen Schritt zur Seite. „Ich wollte nicht ...“ „Ich weiss.“, wurde sie beruhigt. „Kein Grund zur Sorge.“ „Aber ...“ „Würden Sie jetzt bitte aufhören mich anzusehen, als liege ich im Sterben?“ „Tut es denn nicht weh?“ „Es wird schon besser.“ „Besser, oder gut?“ „Gut.“, seufzte Lu Ten. „Es ist gut.“ „Aber ... ist das da eine Blase?“ Er warf nur einen kurzen Blick auf die im Eimer schwimmende Hand. „Möglich.“ „Irgendwo muss Salbe sein ...“ „Das ist nicht nötig.“ „Aber ...“ „Wunderschönen guten Morgen.“ „Morgen, Nemo.“, murmelte Pippa, während sie in einer Schublade kramte. „Guten Morgen. So früh schon auf?“, fragte Lu Ten ungewohnt redeselig, jedoch gewohnt sarkastisch. „Nun, wie heisst es doch gleich? Der frühe Vogel fängt den Wurm.", murmelte Nemo verlegen. „Ja. Äußerst unappetitlich.“ Pineria entschloss sich, jeglichem Streit vorzubeugen. „Haben Sie der alten Ada die Zutaten vorbeigebracht?“, wollte sie wissen. „Ja. Sie lässt ihren Dank ausrichten. Miss Tutuk ... Ich ... ich hatte mich gefragt, welchen Aufgabenbereich ich denn nun übernehmen soll. Ich meine ... Sie selbst haben bereits einen Assistenten. Und da Herr Song vor mir da war, werde ich mich besser nicht dazwischendrängen und mich lieber anderweitig nützlich machen. Vielleicht hat ja Ihr Vater etwas für mich zu tun?“ „Hm. Ich weiss nicht. Wir werden ihn fragen.“ „Dafür wäre ich sehr dankbar. Ich bin nicht gerne untätig.“ Mittlerweile war Pippa fündig geworden. „Hier ist ja die Brandsalbe.“ Sie fuchtelte vor „ihrem“ Assistenten mit einem Tiegel herum, wurde aber nur verständnislos angestarrt. „Na los, Finger aus dem Wasser!“ „Das ist wirklich nicht nöt …“ „Herr Song, Sie nehmen jetzt ihre Griffel aus dem Eimer!“ Es gab jedoch nur zwei Menschen, von denen Lu Ten sich herumkommandieren liess. Und von Muttern auch nur, wenn ihm der Sinn danach stand. Er holte tief Luft. „Ich sagte: Es ist nicht nötig!“ Verdammter Dickschädel! „WIE bitte?“, presste er durch die Zähne. „Oh je!“, murmelte Pippa, deren Mundwerk wieder schneller gewesen war, als ihr heute morgen schwer in Mitleidenschaft gezogenes Hirn.  „Ist doch wahr!“, verteidigte sie sich dann. „Sie sind das sturste männliche Exemplar, das mir je untergekommen ist.“ „Exemplar??“, knurrte er. „Nun, ich wage zu bezweifeln, dass Ihnen schon viele `Exemplare´ UNTERgekommen sind. Die meisten ziehen es nämlich vor, die Damenwelt zu ÜBERkommen!“ Sie blinzelte. Wie war DAS denn nun gemeint. Nemo schien es verstanden zu haben, denn er keuchte ungläubig. „Waren Sie eben … unflätig?“, fragte Pineria einigermassen neugierig. „Nein.“ Lu Ten rieb sich den Nacken. „Ja. Tut mir leid.“ „Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie in Zukunft Andeutungen machen, die ich auch verstehe.“ „Das bezweifle ich ernsthaft.“, murmelte er. Nemo, bei beiden Streithähnen völlig in Vergessenheit geraten, blies zum Rückzug. „Ich werde hier wohl nicht mehr gebraucht.“ All zu gerne hätte unser Prinz ihm gesagt, dass „nicht mehr“ nicht ganz den Kern der Sache traf. Doch sein Konto der Taktlosigkeiten war heute schon wieder bedenklich angewachsen. „Ich ebenso wenig.“, räumte er ein, nahm die Hand aus dem Wasser und trocknete sie ab. „Professor Tutuk bat mich, einige seiner weniger wichtigen Arbeiten zu sammeln und zu ordnen, also sollte ich mich wohl an die Arbeit machen.“ „Aber das könnte ich doch tun.“, meinte Nemo sofort. „Ich meine … Sie und Pineria sind ein eingespieltes Team, das sollte man nicht ändern.“ „Wenn Fräulein Tutuk Verwendung für mich hat.“, sagte Lu Ten gedehnt. „Ich stehe für weitere Experimente zur Verfügung.“ Also gut, DAS war eine Anspielung, die selbst Pippa verstand! Knallrot schnappte sie sich die abgekühlte Pfanne und entsorgte den Inhalt. Zwei Stunden später hinkte Fräulein Tutuk zum wiederholten Male durch ihr kleines Arbeitszimmer. Händeringend. Lippenkauend. Ratlos. `Ich stehe für weitere Experimente zur Verfügung.´ Oh Gott! Was meinte er damit? Das was sie dachte? Das was sie ... hoffte? Natürlich meinte er das! Oder etwa nicht? Wenn sie doch nur mehr Ahnung von Männern gehabt hätte! Dann stünde sie jetzt vielleicht nicht kurz davor, sich absolut, vollkommen und zu Gänze lächerlich zu machen. Denn: eine Frage brannte in Miss Pinerias Seele. Eine Frage, die der Antwort bedurfte. Eine Frage, die nur ein einziger Mensch zu beantworten wusste. Gute Güte! Sie KONNTE ihn das nicht fragen. Er würde sie auslachen, oder noch schlimmer, ihr diesen konsternierten, ungläubigen Blick zuwerfen, mit dem er sie schon so oft bedacht hatte ... Nein, sie konnte die Frage nicht stellen! Denn sie würde nie vergessen, eine solche Frage gestellt zu haben, würde nie die Scham über ein klares, knappes `Nein!´ vergessen. Als es klopfte, zuckte Pippa zusammen. „Ja, bitte?“ Ihr scheinbar allgegenwärtiger Quälgeist betrat - wie immer äußerst eindrucksvoll - die Szene. „Die Petrefakte sind katalogisiert und beschriftet.“ „Meine Versteinerungen? Schon? Haben Sie sie auch in den Schaukasten sortiert?“ „Selbstverständlich. Nach geologischen Zeitaltern geordnet“ Heirate mich! Dieser spontane Gedanke erschreckte Pippa. Abgrundtief! Und doch war er klar und deutlich gewesen. Wenigstens war ihr das Glück vergönnt, ihn nicht laut ausgesprochen zu haben. „Ist etwas?“, fragte Herr Song. „Sie sind mit einem Mal so blass.“ „Was? Nein! Nein, ich hab nichts!“, versicherte sie hastig und wechselte zu Kirschrot. „Aha. Na dann. Soll ich die pteralischen Sagen zum Buchbinder bringen?“ „Ja!“, riss Miss Tutuk den rettenden Strohhalm an sich. „Wundervoller Vorschlag! Dazu müssen Sie ja immerhin das Haus verlassen!“ „Bitte?“ „Nichts! Ich meine nur ... im Augenblick regnet es ja nicht, also ist es jetzt der richtige Zeitpunkt, das zu tun, oder?“ „Hm. Scheint so.“ Er warf ihr einen seltsamen Blick zu. „Dann mache ich mich besser auf den Weg.“ „Ja. Wiedersehen.“ „Mit Sicherheit.“, murmelte er, klemmte sich besagten, zerfledderten Buchband unter den Arm und verliess ihr Arbeitszimmer. Pippa liess sich auf einen Stuhl fallen. Das durfte einfach nicht wahr sein. War ihr eben wirklich diese haarsträubende Idee durch den Kopf gegangen? Dass dieser Mensch sie alles, aber auch alles, inclusive Ehe, in einem neuen Licht sehen lies, war schlichtweg inakzeptabel. Sie würde doch hier nicht einfach ihre Weltanschauung über den Haufen werfen, nur weil sie sich eben mal in einen ansehnlichen Kerl vergafft hatte ( Gut, ansehnlich war etwas untertrieben ). Aber einer simplen körperlichen Reaktion auf einen signifikanten, sexuellen Reiz würde sie es auf keinen Fall gestatten, ihren Verstand auszuschalten. Zumindest nicht, solange der Produzent der entsprechenden Lockstoffe nicht anwesend war. Diese Dinge wurden hormonell gesteuert und würden über kurz oder lang vergehen. Sie musste nur lange genug durchhalten, jawohl! Vielleicht wäre es auch ein guter Plan, das ganze aus dem Kreislauf zu bekommen, wie ihre Mutter sich auszudrücken pflegte. Vielleicht reichte es ja aus, ihre dumme, quälende Neugier zu befriedigen. Doch DAS würde sie wieder vor das Problem stellen, ihm die Frage stellen zu müssen. Die Frage aller Fragen. Die peinlichste aller Fragen. Die älteste aller Fragen. Die Frage, die eine ausgeklügelte Wortwahl erfordern würde. `Sähen Sie sich, unter gewissen Umständen eventuell dazu in der Lage, meine körperlichen Unzulänglichkeiten wohlmeinend zu übersehen, um mit mir einen fortpflanzungsfreien, unverbindlichen Liebesakt zu vollziehen?´ In anderen Kreisen auch als simples „Willst Du mit mir schlafen, hey?“ bekannt. Herrje! Sie musste sich dringend ablenken! Wenn sie sich nicht irrte, war in wenigen Minuten „Brunnen-Meeting“. „Mimmi?“ Auf ihren Ruf folgte keine wie auch immer geartete hündische Reaktion. „MIMMI?“ Na wundervoll! Bestimmt scharwenzelte die Hündin schon wieder um ihren neuen Lieblingszweibeiner herum. „Dann eben nicht!“, murmelte Pippa. War ihr doch egal, wenn das untreue Vieh einen Narren an ihm gefressen hatte. Wie erwartet, hatten sich Miu und Bell rechtzeitig am Brunnen eingefunden. Sie schienen heute irgendwie ihren Enthusiasmus eingebüßt zu haben. Weder plauderten sie so angeregt wie sonst, noch kicherten sie albern. Aber es war ja auch kein männliches Wesen in Blickweite. Als Pippa sich näherte, konnte sie hören, dass stattdessen angeregt getuschelt wurde. „... wo er auf einmal abgeblieben ist. An Ken kann´s ja nicht gelegen haben.“ „Nie im Leben!“ „Hallo!“, sagte Pippa vorsichtig, da sie nicht wusste, wie die Mädchen auf ihre Anwesenheit reagieren würden. „Fräulein Tutuk?!“ „Oh, Guten Tag, Mistress!“ „Pineria.“, murmelte Pippa. „Ich ... hätte ein paar Fragen an euch. Habt ihr vielleicht Zeit?“ „Zeit? Klar, Miss Tutuk.“ „Pineria reicht wirklich! Ich ... äh ... möchtet ihr vielleicht kurz in die Küche kommen? Ich glaube, es gibt sogar Kuchen.“ „In die Küche? Ihre?“ „Nun ... die meines Vaters, ja. Es sind wirklich nur fünf oder sechs Fragen, die ich euch stellen will.“ „Oh, Okay!“ Nach einem kurzen Gänsemarsch betrat das Trio die herrschaftliche Küche des Hauses. „Äh ... Tee vielleicht?“ „Hm ... Fein.“ „Ja, Tee is gut.“ „Wo ist nur ... ach, da!“ Tassen und Kanne wurden auf den Tisch gestellt. „So! Kuchen. Wo kann der nur sein?“ „Also ... da hinten, auf der Fensterbank steht einer.“, warf Miu ungewohnt schüchtern ein. „Natürlich! Entschuldigung!“ Sowie Kuchen und Tee an die Frau gebracht worden waren, zückte Pippa ihre Notizen und betrat endlich wieder vertrautes Terrain. „Aaaaalso ...“ „Hm. Der Kuchen ist lecker!“ „Wie? Oh ... ja. Das, äh, freut mich! Ich werd´s ... ausrichten.“ „Vor allem der Schokoguß!“, schwärmte Bell und leckte sich die Finger ab. „Ja. Guten Appetit! Um auf meine Fragen zu kommen: Ihr habt doch beide Herrn Song kennen gelernt?“ „Lu Ten?“ Gute Güte! Das war jetzt aber ein Stimmungsumschwung! Durch die beiden ging ja ein regelrechter Ruck. „Klar haben wir den kennen gelernt!“ „Toller Typ!“, hauchte Miu. „Ja! Echt!“ „Sicher. Gut.“ Im verzweifelten Versuch, ihre Verlegenheit zu überspielen, rückte Pippa ihre Brille zurecht. „Aber ... warum?“ „Wie, warum?“ „Na, warum ist er denn so ... toll?“ „Äh ... das sieht man doch!“ „Ja, sieht man auf den ersten Blick.“ „Schon.“, murmelte Fräulein Tutuk. „Ich möchte aber jeden einzelnen Punkt erfassen. Jeden Aspekt, der ihn so ... na ja, attraktiv macht.“ „Attraktiv? Er ist einfach der Knaller!“ „Ja! Allein diese Arme! Hach!“ „Hach!“, seufzte nun auch Bell. „In denen möchte man einfach landen!“ „Äh ...“ Das war ein durchaus nachvollziehbarer Wunsch. Das wusste man ja nun aus Erfahrung. „Und die Schultern! Und er ist so groß!“ „Mir gefällt besonders die muskeline Ausstrahlung.“ „Maskulin!“, korrigierte die anwesende Wissenschaftlerin automatisch. „Und seine Stimme!“ Jetzt quietschten beide Mädchen in beseeltem Einklang auf. Ja ... Seine Stimme. Plötzlich bewunderte Pippa verträumt die Pfanne. „Aber, warum möchten sie das denn alles wissen?“ „Was?? Äh ... Warum? Für ... für eine Studie.“ Hektisch kramte sie ihr Schreibzeug hervor. Da hätte sie doch fast das wichtigste vergessen. „Ich bin dabei sämtliche Merkmale aufzulisten, die ... also, die für die Anziehungskraft eines Mannes ausschlaggebend sind.“ „Ah! Na, da haben Sie sich die richtigen Mädchen ausgesucht, Miss Tutuk!“ „Pineria.“, murmelte Pippa wieder. „Ja, wenn jemand so was beurteilen kann, dann wir!“ „Mhm! Dafür haben wir einen Blick!“ „Also ... es waren die Arme ... die Schultern ... die, äh, maskuline Ausstrahlung, woraus auch immer diese resultiert, und ... die Stimme.“ Eifrig kritzelte sie alles nieder. „Und schweigsam ist er auch.“, bemerkte Bell, während sie in ein weiteres Stück Kuchen biss. „Uuuuh! Ja!“ „Das ... das ist gut?“ „Aber ja! Meine Großmutter sagt immer, dass schweigsame Männer GANZ genau wissen, was zu tun ist. Also ... äh, im ... also ...“ „Wirklich?“, quiekte Pippa. „Na ja ... ja. Das sagt meine Oma. Damals war man ja noch ... Also, zumindest in der Feuernation ... Sie hat so ihre Erfahrungen gemacht.“ „Wie ... schön für sie.“ Mit verräterisch roten Ohren tastete Fräulein `Ich wollt´s ja ganz genau wissen´ nach ihrer Tasse. Sie konnte zwar den Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht beurteilen, aber wenn Bells Großmutter es sagte ... Es stand also zu erwarten, dass Mr. Perfect seine Aufgaben auch auf diesem Gebiet mehr als nur ... erfüllte. „Ha, wir vergessen ja das wichtigste: Seine Augen!“, riss die Stimme der Rothaarigen sie aus ihren Gedanken. „JAA! Die sind der Wahnsinn!“ „Der HELLE Wahnsinn!“ „Irgendwie voll raubtiermäßig.“ „Ja, da kriegt man das Kribbeln.“ „Das was?“, schob Pippa ein. „Das Kribbeln. Wenn einen diese Schauer überkommen. Außen und Innen! Hatten Sie das noch nie?“ Oh doch! In letzter Zeit schien sie aus dem `Kribbeln´ so gar nicht mehr rauszukommen. „Äh ... so ... ein-, zweimal vielleicht.“ „Na also, dann kennen Sie das ja.“ „Mhm.“ „Jedenfalls kribbelt´s bei diesem Kerl gewaltig. Mehr als bei allen anderen. Sogar mehr als bei Ken!“ „VIEL mehr! Ken ist so ... wischiwaschi ...“ „Voll der eingebildete Schönling!“ „Ja! Voll! Und bei Lu Ten hat man das Gefühl, er verbringt höchstens fünf Sekunden vor dem Spiegel.“ (Genau genommen waren es sechs, denn exakt so lange dauerte es, Ordnung in das fürstliche Haargemenge zu bringen.) „Also, wenn ICH so aussehen würde, wäre ich vom Spiegel nicht mehr wegzubringen!“ Das altbekannte, zweistimmige Kichern erklang. „Und wissen Sie, was noch so sexy an ihm ist?“ „NOCH mehr?“, piepste Pippa, ob des aussagekräftigen Adjektivs. „Wir glauben, er hat ganz schwer was im Kopf.“ „Ja. Er redet genauso kluges Zeug wie Sie. Oder Ihre Eltern.“ Pippa musste zugeben, dass sie die beiden Mädchen zu einseitig beurteilt hatte. Sie hatten zwar immer heftig mit Ken geflirtet, aber anscheinend war ihnen sein Mangel an inneren Werten durchaus bewusst gewesen. Sie waren zwar nicht besonders gebildet, aber dumm ...? Nein, dumm waren sie nicht. „Ich ... ich rede dieses Zeug nur daher, weil ... ich nichts anderes gelernt habe.“, hörte sie sich murmeln. „Aber über wirklich wichtige Dinge weiß ich nicht viel.“ „Was für wichtige Dinge denn, Fräulein Tutuk?“ „Könnt ihr mich denn nicht Pineria nennen?“ „Ähh ...doch.“ „Wenn ... Sie das möchten.“ „Ja. Ja, das möchte ich. Und dann möchte ich, dass ihr mir alles beibringt, was ihr über das Flirten wisst!“ Zehn Minuten später rauchte ihr schon der Kopf. Gute Güte, die beiden waren ja die reinsten Feldwebel. „... und dann musst Du Dein Haar nach hinten schütteln ... Nicht so. Herausfordernder! Ja! Das ist gut!“ „Das macht die Männer ganz kirre!“ „Außer Lu Ten. Bei dem hat´s irgendwie nicht funktioniert.“ „Mhm. Aber langsam hab ich den Verdacht, dass es an uns liegt.“, spekulierte Bell. „An UNS?“ „Vielleicht sind wir einfach nicht sein Typ.“ „Sein Typ?“, fragte Pippa. „Aber ja. Nicht jeder Mann steht auf die gleiche Art Mädchen. "Ja, Geschmäcker sind verschieden, sagt meine Oma immer. Er scheint uns jedenfalls nicht besonders zu mögen.“ Das klang fast traurig. „Aber ... das glaub ich nicht.“, sagte die neue Flirtschülerin tröstend. „Er ist nur ... unzugänglich. JEDER hat das Gefühl, von Lu Ten nicht sonderlich gemocht zu werden.“ „Sie ... äh, Du auch?“ So wie er sie immer anfunkelte? „Ja.“ So wie er sie geküsst hatte? „Nein!“ Bei den Andeutungen, die er heute gemacht hatte? „Ich weiss es nicht.“, gab Pippa letztendlich zu. „Ich glaube eher nicht.“ „Echt? Er hat aber gesagt, Du hättest ne Menge Verstand.“ „Ach? Wirklich???“ „Ja. Er hat Ken ziemlich angemacht, als der gesagt hat, Du ...“ „SCHT!“, unterbrach Bell ihre Freundin. „Was hat Ken gesagt? Ich sei wunderlich? Oder verrückt?“ Die beiden Mädchen sahen zu Boden. „Ich weiss, dass das jeder denkt.“, brachte Pippa mit vorgerecktem Kinn hervor. „Aber ich bin`s nicht. Nicht sehr. Ich hab nur nie ... Alles, was ich weiss, stammt eben aus Büchern.“, schloss sie kläglich. „Hey, Immerhin weisst Du jetzt, wie man sein Haar schütteln muss!“, sagte Miu aufmunternd. „Ja! Genau! Und jetzt lass sehen, wie Du einen Schmollmund machst.“ „Einen was?“ „Schmollmund. Und dabei immer schön die Brust vor!“ „Nein, nicht so. Schultern runter!“ „Schau von unten hoch.“ „Aber, ich ...“ „Du musst mehr blinzeln!“ „Ja. Und lass eine Haarsträhne in Gesicht fallen.“ Eine Stunde später sprengte ein überaus irritierter Nemo eines der seltsamsten Kaffeekränzchen aller Zeiten. Dieser Einsatz wurde immer skurriler ... Weit nach Mitternacht schlich ein verdächtiges Subjekt durch die dunklen Gänge Schloss Tutuks. Vorsichtig, um ja keinen Lärm zu verursachen tastete der Heimlichtuer sich zum Arbeitszimmer des Professors vor. Bevor er eintrat, presste er das Ohr gegen die massive Holztür und lauschte angestrengt. Nichts. Die Luft schien rein zu sein. Schnell und geräuschlos öffnete Lu Ten die Tür, trat ein und entzündete eine einzelne Kerze, die er vorsichtig auf dem Boden vor der Tür platzierte. Sollte sich irgendeine Tür in diesem Bereich des Hauses öffnen, würde auch der kleinste dadurch entstehende Luftzug die Flamme zum Flackern bringen und ihn warnen. Doch das Licht brannte ruhig und gleichmässig.  Zeit, ein bisschen herumzuschnüffeln. Zielstrebig ging Seine Hoheit zu Beos Schreibtisch und entzündete einen mitgebrachten Kandelaber. Kerzen konnten ja so verräterisch sein. Einem aufmerksamen Beobachter könnte es durchaus ins Auge fallen, sollten sie morgens weiter heruntergebrannt sein, als am Vorabend. Also … mal sehen, warum Nemilein so versessen darauf gewesen war, plötzlich dem Professor zu `assistieren´, statt dessen Tochter. Er begann den lächerlich kleinen Stapel durchzusehen, den Ran bereits geordnet hatte. Effektivität schien jedenfalls nicht zu dessen Charaktereigenschaften zu zählen. Nichts. Langweilige Abhandlungen diverser Wachstumsprozesse. Wirtschaftliche Anwendbarkeit chemischer Düngemittel. Und ein trockenes Referat zur letzten Wissenschaftler Tagung. Die Alarm-Kerze brannte in aller Seelenruhe weiter, während Lu Ten sich nun dem überquellenden, chaotischen Schreibtisch näherte. Bevor er irgendetwas berührte, prägte er sich die Lage jedes einzelnen Gegenstandes genau ein, und achtete darauf, ob irgendwo eine unsichtbare Falle lauerte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein unauffälliges Haar mit Absicht irgendwo drapiert worden war, um im Falle des Verschwindens als Indikator für naseweise Schnüffler zu dienen. Er blies die Staubschicht, die sämtliche Dokumente bedeckte, beiseite, um keine sichtbaren Spuren zu hinterlassen. Konzentriert und ruhig machte er sich an die Sisyphusarbeit, suchte die Texte nach Verdächtigem ab. Dabei kam ihm zu Gute, dass er in der Lage war, mittels eines flüchtigen Blickes den Inhalt einer ganzen Seite zu erfassen. Dies war mit Sicherheit den wahren Unmengen an Schreibkram zu verdanken, mit denen er sich tagein, tagaus herumschlug, denn auch sein Erzeuger, Zuko der Arbeitsreiche, war ein perfekter „Querleser“. Aber auch hier fand sich nur haufenweise uninteressantes Zeug, das in keiner Weise bedenklich wirkte. Sollte sich, was auch immer Nemo suchte, bereits im Archiv des Professors befinden, würde es vermutlich Jahre dauern es zu entdecken.  Heute würde Lu Ten jedenfalls nicht mehr fündig, so viel stand fest. Er war zu müde, seine Aufmerksamkeit liess nach und er konnte nicht riskieren etwas zu übersehen. Er kramte ein feines Sieb und einen kleinen Beutel aus seiner Tasche und begann naserümpfend, aber akribisch, wieder eine authentische Staubschicht über den Tisch zu pudern. Nach einem letzten, prüfenden Blick auf die Szene verliess Seine Hoheit den Raum, der Agni sei Dank keinerlei Spuren seines nächtlichen, wunderlichen Treibens davongetragen hatte. An dieser Stelle sei vermerkt, dass es leider noch immer verschwörerische Vereinigungen gab, denen der dauerhafte Frieden ein Dorn im Auge war. Darum war der Kronprinz in solchen Dingen auch kein Neuling mehr, denn er hatte schon so einige Einsätze für den Geheimdienst Zukos II absolviert.  Selbst Lee hatte sich schon als Spitzel betätigt und Kiram, der letzte der Brüder, schmollte regelmässig, da sein Vater ihn für solche Einsätze vehement als `zu jung´ einstufte. Sollte Lady Jin von den Machenschaften ihrer Jungs erfahren, hätte sie Zuko die nächsten drei Reinkarnationen gründlich versaut. (Na ja ... zunächst. Aber in Wirklichkeit hätte selbst eine Wiedergeburt Seiner Durchlaucht als Kakerlake, seinen Kobold nicht von seiner Seite gerissen.) Agnam Ba, am nächsten Tag Nach einem viel zu langen Schultag rannte Zerfa nach Hause. Ohne Jem. Er hatte Freitags eine Stunde länger Unterricht. Darum hatte sie sich, wie immer an diesem Tag, die Hänseleien der anderen Kinder anhören müssen. Die Bücher fest vor die Brust gepresst, mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern hatte Zerfa ihren persönlichen Spiessrutenlauf absolviert. Und wie immer hatte sie dabei nur auf die Strasse gesehen, um ihre Augen zu verbergen. Doch jetzt kam der Hof in Sicht. Endlich! Für den Rest des Tages würde sich niemand vor ihren Blicken fürchten, ihr gemeine Namen geben, oder etwas nach ihr werfen. Wenn Niha nicht zu beschäftigt war, würde sie sie vielleicht sogar eine Weile in den Arm nehmen. Plötzlich stockte das Kind. Auf der Veranda sass eine Frau. Eine fremde Frau. Eine Tatsache, die sie nicht gerade vertrauenserweckend machte. Dass sie allerdings mit Knäulchen spielte, liess sie ein bisschen sympathischer erscheinen. Die Kleidung der fremden Person war offensichtlich bunt zusammengewürfelt und ergab eine recht eigenwillige Mischung aus verwaschenen Rot- und Grüntönen. Zerfa biss sich auf die Lippen, und überlegte, was zu tun war. Sollte sie Niha vom Feld holen? Oder Maja rufen? Vielleicht auch Lee? „Oh ... Hallo!“ Ach Du je! Die Frau hatte sie bemerkt, und sah neugierig herüber. „Bist Du eines der Fräulein Koro?“ Zerfa runzelte die Stirn, nickte aber trotzdem. Das Lächeln der Dame war beruhigend und herzlich. „Ich bin Jin.“, sagte sie mit ihrer warmen, weichen Stimme. „Jin Song. Ich wollte Dich nicht erschrecken, aber man hat mir gesagt, ich könnte meinen Sohn hier finden. Lee ...“ „Sie sind die Mama von Lee?“, fragte Zerfa vorsichtig. „Ja.“ Wieder wurde Zerfa angelächelt. „Bin ich. Ist er da?“ „Glaub´ schon. Soll ich ihn holen?“ „Wenn Du magst. Ich kann Dich aber auch begleiten, wenn Du nichts dagegen hast.“ „Ja ... Gut.“ Lees Mutter stand auf, klopfte sich den Staub aus den Pluderhosen und kam näher. Sie war nicht sehr groß, trug einen dicken, braunen Zopf über der linken Schulter und hatte ganz erstaunlich grüne, strahlende Augen. Eine Tatsache, die Zerfa daran erinnerte, den eigenen Blick schnell zu senken. Sie wollte Frau Song unter keinen Umständen erschrecken. „Was ist denn?“ „Nichts!“, sagte Zerfa rasch. „Verrätst Du mir Deinen Namen?“ „Zerfa.“ „Wie zauberhaft! Ich glaube es gibt eine Sagengestalt, die so heisst. Die Frau von ... hm ... mir fällt´s nicht ein. Schade! Mein Mann wüsste es.“ Sie seufzte geistesabwesend. „Die Gebieterin des Ostwindes?“ „Aber ja! Genau!“ „Lee hat mir das erzählt.“ „Wirklich? Das wird seine Lehrer sehr freuen.“, murmelte Jin. „Er ist sehr klug, nicht?“, fragte das Kind leise. „Ja. Das ist er wohl. Und ich hoffe doch sehr, er hat sich auch gut benommen?!“ Zerfa wagte einen kurzen Blick nach oben und konnte angesichts des verschwörerischen Augenzwinkerns ein kleines Kichern nicht mehr unterdrücken. Es war ja bestimmt auch in Ordnung die Dame zu mögen. Schliesslich war es Lees Mama. „Liebes Bisschen. Was für hübsche Augen Du hast!“ „ICH?“ „Aber ja.“ „Nein ... ich hab ... sie sind nicht hübsch!“ „Doch, sind sie! Sogar ganz besonders hübsch. Und ganz besonders besonders!“ Langsam dämmerte in Zerfa die Erkenntnis, dass Frau Song ähnlich seltsame Ansichten vertrat, wie ihr Sohn. Ihr „böser Doppelblick“ sollte hübsch sein? Komische Familie! Wirklich komische Familie! Da ihr nicht bewusst war, dass diese Gedanken an Hochverrat grenzten, führte sie Jin guten Gewissens am Stall vorbei, zu dem Feld, auf dem Niha vor vier Tagen die jungen Maispflanzen gesetzt hatte. Bestimmt waren Lee und ihre Schwester dabei, die Setzlinge zu bewässern. „Lehee?“ „Ja, Knöpfchen?“ „Bist Du da?“ Angesichts der Unsinnigkeit dieser Frage grinste Lee in sich hinein, wischte seine Hände an der groben Hose ab und richtete sich auf. Als er eine vertraute Silhouette zu erkennen glaubte, blinzelte er erstaunt in die Sonne. „Mutter?“ „Sohn.“ Mit einem überraschten Ruck hob Niha den Kopf und wurde sofort in ihren Erwartungen enttäuscht. Diese Person entsprach so gar nicht ihren Vorstellungen. Sie war weder so groß, noch so beeindruckend, noch so ... ansehnlich, wie ihr Sohn. Eher klein, um die Hüften ein wenig zur Fülligkeit neigend, strahlte sie die einladende Wärme eines gemütlichen Bollerofens im Winter aus. Der lachende, jadegrüne Blick war jedoch ungemein einnehmend. Man bekam unweigerlich den Eindruck, noch nie jemanden gesehen zu haben, der auch nur annähernd so glücklich war, wie diese Frau. Auch Jin kam aus dem Staunen nicht heraus. War das IHR Sohn? Ihr bis zur Exzentrik modischer, etwas eitler Sohn? Das einzige, das ihr an diesem dreckstarrenden Mannsbild bekannt vorkam, waren die funkelnden Augen, um die die winzigen Lachfältchen vor lauter Schmutz eine Art Zebra-Muster bildeten. Komischerweise sah er besser und zufriedener aus, denn je. Was er sagte war allerdings weniger erfreulich, als seine entspannte Erscheinung. „Was tust DU denn hier? ... ALLEIN?“ Jin blinzelte. Da hatte jemand wohl vergessen, wie man seine Mutter begrüsste. „Dich besuchen?“, fragte sie vage. „Weiss er, dass Du hier bist?“ „Nein. Weiss er nicht. Und es ist mir ziemlich egal. Schliesslich hat er mich auch nicht gefragt, als er Dich hergeschickt hat.“ „Äh. Um ehrlich zu sein ... er hatte Recht. Ich war ein bisschen sehr übermütig und verdiente einen Dämpfer.“ „Recht? Ja .. ER hat ja immer Recht. Und wenn nicht, tut er einfach so, als ob.“ „Mama ... Du kannst doch nicht völlig allein herumziehen.“ „Keru und San passen auf mich auf.“ „Ach. Und wo sind die jetzt?“ „Keru ist im Gasthaus. Und San ... in der Gegend. Reicht das? Ich war eigentlich davon ausgegangen, mein Besuch würde Dich freuen.“ „Was? Äh ... tut er doch!“ Die Dame zog die Augenbrauen skeptisch nach oben und legte den Kopf schief. „Ach ...“ Lee liess die Harke fallen, eilte zu seiner Mutter und hob sie in einer bärenhaften Umarmung vom Boden. „Willkommen zurück!“, murmelte er an ihren Scheitel. So fest sie konnte, drückte Jin ihr Kind an sich. Es ging ihm gut! Sie hatte eine Sorge weniger auf der Welt. Dann umfasste sie mit beiden Händen sein Gesicht und forschte gründlich in seinen Augen. „Geht es Dir gut?“, fragte sie leise. „Aber ja!“ „Wirklich?“ „Ja, Mutter.“ Das folgende Flüstern war leise und nur für seine Ohren bestimmt. „Nimmst Du auch Deine Tropfen?“ Wie immer hielt Lee nichts von solcherlei Heimlichkeiten. „Ma! Ich muss die Dinger seit achtzehn Jahren schlucken. Natürlich nehme ich sie!“ „Gut! Ich ... hab ein Fläschchen dabei. Für den Fall der Fälle.“ Er verdrehte die Augen. „Toll! Dann kann ich demnächst einen Handel eröffnen. Papa hat mir vor der Abreise auch eins zugesteckt. Für den Fall der Fälle.“ „Lee! Das ist nicht komisch!“ „Doch. Dass Du denkst, ich würde sieben Jahre ohne Anfälle aufs Spiel setzen, indem ich meine Medizin nicht einnehme, ist sogar zum Brüllen.“ Niha hatte diese ganze Konversation mehr als verwirrt verfolgt. Jetzt konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr zurückhalten. „Anfälle?? Was für Anfälle?“ Lees Mutter sah sie an, als sei sie unschlüssig ob dieses Familiengeheimnis offenbart werden durfte. „Epilepsie.“, sagte Lee ungerührt. „WAS??? Und das sagst Du erst jetzt?“ „Warum hätte ich es sagen sollen?“ „Und wenn ... wenn Du einen Anfall bekommen hättest? Hier?“ „Ich hab keine mehr!“ „Esel!“, fauchte Niha. „Was? Weil ich nicht jedem auf die Nase binde, dass ich ein potentieller Kandidat für die Fallsucht bin?“ „Lee!“, protestierte Jin. „Du weisst, was Dein Vater täte, wenn er diesen Ausdruck hören würde.“ „Mir einen seiner berüchtigten Eiszapfenblicke zuwerfen?“ „Ja.“, murmelte Jin kläglich. Ach ja ... die Eiszapfenblicke. Momentan vermisste sie ihren Feuerspucker wirklich mehr denn je. „Also ich FASS es nicht!“, schnaubte Niha. „Du verdammter, schwachsinniger ...“ Die überaus interessierten Blicke der Frau mit den strahlenden Augen liess sie innehalten und tief durchatmen. „Frau Song ... Entschuldigung. Ich bin Niha. Herzlich willkommen!“ „Danke sehr!“ Ein warmes Lächeln folgte. „Aber Jin genügt völlig.“ „Ob ich ihrem Sohn wohl eben den Kopf abreissen dürfte?“ „Von mir aus ja schon. Er benutzt ihn ohnehin nicht besonders oft. Doch ich fürchte, sein Vater wäre recht ungehalten. Er hängt einfach zu sehr an dem Bengel.“ Das schelmische, jadegrüne Funkeln war unglaublich ansteckend. „Ah ... Du bist wirklich eine instinktlose Mutter.“, klagte Lee mit verschränkten Armen. „Ja, Schatz.“ „Aber ... Sie stimmen mir doch sicher zu, dass es völlig unverantwortlich war, mir das mit den Anfällen nicht zu sagen.“, ereiferte sich Niha. „Nun,“, lenkte Jin ein. „Ich habe die Sache vielleicht überdramatisiert. Solange er seine Tropfen nimmt passiert ja nichts.“ „Ja.“, murrte Lees Boss. „WENN!“ „Oh, na ja ... dafür reicht sein Denkvermögen meistens aus. Es sei denn, er wittert was zu Essen.“ „Mama!“ „Hast Du nichts zu tun, Käferchen?“, fragte Jin unschuldig. Zerfa brach in Kichern aus. „Na bitte, jetzt hast Du´s erreicht. Man lacht mich schon aus! Zu allem Überfluss hab ich durch das Gerede vom Essen jetzt auch noch Hunger.“ „Tut mir leid.“ „Ts! Als ob!“ „Doch. Wirklich. Das Du Hunger bekommst wollte ich nicht.“ Zur gleichen Zeit, in dem Jin auf dem Hof der Koros ihren Sohn erbarmungslos aufzog, betrat ein Fremder das Gasthaus, in dem sie vor eineinhalb Stunden ein Zimmer gemietet hatte. „Guten Tag.“, sagte der Mann freundlich. „Tag. Was darf´s sein?“, fragte der Wirt, voll und ganz damit beschäftigt, eines seiner Gläser auf Hochglanz zu polieren. „Ich hätte eine Frage.“ „Ja?“ „Nun ...“ Umständlich kramte der Herr in seinen Taschen. „Hm ... wo hab ich es denn ... ah ja. Hier.“ Er hielt ein kleines Bild in der Hand. „Könnte es sein, dass diese Dame hier Obdach gesucht hat?“ „Was?“ „Ich meine, ob sie hier ihre Bleibe ... war sie da?“ „Weiss ich leider nicht.“, sagte der Wirt, ohne einen Blick auf das Papier zu werfen.“ „Sie wissen es nicht?“ „Nein, tut mir leid. Ich gebe solche Auskünfte nicht.“ „Oh. Wirklich? Wie lobenswert. Zumindest wäre es das, wenn ich irgendsoein zwielichtiger Bursche wäre. Aber das bin ich nicht.“ „Hm. Kann man glauben, oder auch nicht. Ich hab jedenfalls noch nichts davon gehört, dass sich die Schelme neuerdings zu erkennen geben.“ „Wie wahr. Ich KÖNNTE natürlich ein Schurke sein ...“, murmelte der schon etwas betagtere Herr und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Würden Sie mir denn ein Zimmer vermieten? Auch ohne polizeiliches Führungszeugnis?“ Der Wirt zögerte. So ganz traute er diesem Menschen nicht, obwohl er wirklich nicht besonders finster wirkte. Außerdem war Misstrauen nicht gut fürs Geschäft! „Hm. Zimmer vier ist noch frei.“ „Vier? Wie wundervoll.“ Der Fremde strahlte und folgte dem Herrn des Hauses durch den kleinen Gastraum. Dem grobschlächtigen Kerl, der an einem der Tische ein Glas kalten Ingwertee trank, schenkte er ein zuvorkommendes Lächeln. Dass der das Zeug danach fast über den Tisch spuckte, bekam der Wirt Agni sei Dank nicht mit. Kapitel 11: Lord & Lady Turteltaub ---------------------------------- Es klopfte an der Tür zu Zimmer Nummer vier. „Herein?“, rief sein Bewohner zerstreut. Im Augenblick suchte er nach einem geeigneten Platz für ein flauschiges Paar Hauspantoffeln. Die Tür öffnete sich zackig und ebenso zackig betrat der Teespucker aus der Schankstube den Raum. „Hoheit!“ Er verneigte sich tief. „Was für ein Glück, dass Ihr hier seit“ „Ah! Keru! Genau der Mann den ich brauche. Soll ich den braunen Kimono tragen, oder den roten?“ „Äh ... bitte?“ „Vielleicht doch lieber den braunen.“ „General Iroh...“ „Keru ...“ Unter buschigen, grauen Brauen wurde ihm ein milde tadelnder Blick zugeworfen. „Wir sind hier inkognito.“ „Und ich dachte in Agnam Ba.“ „Sehr witzig! Wie ich sehe, hat der spritzige Humor Eurer Herrin schliesslich auch Euch erweicht.“ „Verzeiht! Aber ...“ „Hm? Was?“ „Ich ... wir haben wirklich ALLES versucht, sie im Palast zu halten. Doch sie hat sich durch nichts abhalten lassen.“ „Das weiss ich doch. Wenigstens habt ihr sie begleitet.“ „Natürlich haben wir das! Wir können Mylady ja wohl schlecht im Stich lassen. Selbst wenn ...“ „Selbst wenn was?“ „Na ja ... sie ... Hab nicht gewusst, dass sie so ein Dickschädel sein kann!“ „Jeder hat das Potential zum Dickschädel, Hauptmann Keru. Es gibt sogar Leibwächter, die sich in den Kopf setzen, plötzlich tadelnd über ihre Schützlinge zu sprechen.“ „Das hab ich nicht!“ „Ah ... dann liegt es wohl an meinen beklagenswert schlechten Ohren.“ „Hoh ... äh, Herr! Ihr wisst, dass ich für My ... die Dame durchs Feuer gehen würde!“ „Aber ja. Habt Ihr, wenn ich richtig informiert bin, sogar schon zweimal getan. Ich werd Euch nicht verpetzen.“ „Das ... ist gut. Danke!“, sagte Hauptmann Keru steif, denn er wurde das Gefühl nicht los, veralbert zu werden. „So. Meine Schuhe verstau ich lieber später. Und jetzt, sagt mir doch bitte, wo Ihre Hoheit sich rumtreibt.“ Agnam Ba, Hof der Koros, eine halbe Stunde später ( eben war das Wort `Hunger´ gefallen und gleich ... gleich würde das Wort TEE fallen. Wir ahnen, was das bedeutet ...) „Also gut,“, räumte Niha ein. „Ich denke, der Mais hat für heute genug Wasser abbekommen. Zerfa, bringst Du Lees Mutter schon mal in die Küche? Wir kommen gleich nach, und dann mach ich uns Tee.“ „Tee? Welche Sorte?“, liess sich eine erfreute Stimme vernehmen. Um die Ecke des Stalls bog ein fülliger, nicht allzu großer Mann. „Iroh?“ „Onkel!“ Jin klang erstaunt (Und ein klitzekleines bisschen nach schlechtem Gewissen), Lee erfreut. „Ihr habt beide recht!“, lächelte der Fremde gut gelaunt. „Aber ... was tut Ihr hier?“ „Jin, Mädel, meinst Du diese Frage ernst?“ „Ja.“, sagte das Mädel mit einem Einschlag zum Trotz. „Nun, ich dachte, bevor mein werter Neffe mir den Kopf abreisst, wenn er zurückkommt, hetz ich Dir lieber hinterher und pass ein bisschen auf Dich auf.“ „Wundervoll!“, seufzte Jin. „Da kommt man sich doch gleich mündiger vor.“ „Du weisst doch, dass ich Dich nicht alleine durch die Weltgeschichte reisen lassen kann.“ „Offensichtlich nicht.“ „Niha ... darf ich Dir meinen Großonkel vorstellen?“, warf Lee in einem günstigen Moment ein. „Ja. Guten Tag, Herr ... äh ...“, sagte Niha, leicht verwirrt. „Song!“, half ihr der alte Mann aus der Patsche. „Iromishi Song. Aber alle nennen mich nur Iroh, also bitte ich Sie, das auch zu tun.“ „Gut.“ Angesichts des freundlichen Strahlens, lächelte sie automatisch zurück. „Also, über welche Sorte sprechen wir?“ „Sorte?“ „Tee, Niha. Onkel Iromishi meint Tee. Eigentlich meint er immer Tee, egal, was er sagt.“ „Warst auch schon mal weniger frech!“, brummte Iroh. „Und weniger schmutzig.“, betonte Jin. „Ja, das auch.“ „Ich geh mich ja schon waschen!“, rief Lee und warf die Hände in die Luft und machte sich auf zum Brunnen „Wenn das so weitergeht werd ich noch ohne Nachtisch ins Bett geschickt.“, hörte man ihn maulen. „Das liegt durchaus im Rahmen des Möglichen.“, rief ihm seine Mutter hinterher. Während Lee sich waschen ging und Niha Harke und Schaufel aufräumte, führte Zerfa die beiden Gäste in das bescheidene Heim der Koros. Zuerst durch die kleine Wohnstube, den winzigen Gang, bis in die Küche. Die Küche; wo an der hinteren Wand ein Portrait hing. Das überaus schlechte Portrait eines überaus schätzenswerten Mannes. Lees Verwandtschaft blieb stehen, wie vom Donner gerührt. „Sieh mal einer an.“, murmelte Iroh. „Aber ... das ist doch ...“ „Feuerlord Zuko II. Agni schütze ihn!“, klärte Zerfa ihre Gäste auf. „Agni ... schütze ihn?“, echote Jin. „Ja! Das sagt Niha immer. Magst Du ihn etwa nicht?“, fragte das Kind. „Doch! Doch sehr! Er ist ... ganz toll!“ „Mhm. Das sagt Niha auch immer. Sie sagt, er ist er ... erhoben. Und ehrenhaft. Und er hat den Krieg aufgehört.“ „Und zudem ist er auch noch mörderisch attraktiv.“, murmelte Mylady leise. Das Mädchen hatte jedoch bessere Ohren, als gedacht. Iroh leider auch. Er amüsierte sich prächtig. „Was ist attakiv?“ „Attraktiv. Also ... das ist ... wenn ... wenn man vielen Leuten gut gefällt.“ „Aha.“, sagte Zerfa nur und holte schon mal die Teetassen aus dem Schrank. Dabei suchte sie selbstverständlich nach denen, die am wenigsten kaputt waren. Als Niha in die Küche kam, war der Tisch fast vollständig eingedeckt. Frau Song verteilte nur noch das Besteck. „Schätzchen, holst Du bitte den Kuchen von gestern?“ „Ja!“ Zerfa rannte zur Vorratskammer, während Niha Teewasser aufsetzte. „Es gibt noch Kuchen? Ich hätte nicht geglaubt, dass Kuchen in einer Umgebung, die von Lee heimgesucht wird, noch Überlebenschancen hat.“, staunte Iroh. „Oh je!“, sagte die Mutter des Vielfrasses erschrocken. „Stimmt ja. Ich hoffe, er hat nicht alle Vorräte vertilgt.“ „Äh, nein. Ehrlich gesagt hat er sie sogar ordentlich aufgestockt.“ „Das ist gut! Wenn er Hunger hat, kann er nämlich mehr Verheerungen anrichten, als ein Heuschreckenschwarm. Aber,“, setzte Jin hinzu. „Ich möchte betonen, dass es sich hierbei um ein Erbteil väterlicherseits handelt.“ „Wie wahr.“ sagte Onkel Iroh milde und schielte auf die glänzende Schokoladenglasur des eintreffenden Ehrengastes. Kaum stand der Kuchen auf dem Tisch, erschienen, wie durch ein Wunder, alle fehlenden Mitglieder das Haushaltes auf einmal. Ein frisch gesäuberter Lee betrat eben die Küche, als auch Maja und Jem nach Hause kamen. Der Junge stürzte sich in seiner üblichen, überschäumenden Liebenswürdigkeit auf die beiden Neuankömmlinge und fragte sie Löcher in den Bauch, während er sein eigenes mit Schokoladenkuchen stopfte. Doch eine Person am Tisch, war sogar NOCH neugieriger als Jem. Ganz besonders auf Jin Song. Maja hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie rutsche unruhig auf ihrem Stuhl umher. Seit zwanzig Minuten rang sie mit sich. Sollte sie, oder sollte sie nicht? Eigentlich gehörte es sich ja nicht, fremde Leute mit delikaten Fragen zu löchern, aber ihre Wissbegierde war ziemlich akut. Der Grund hierfür war ein Gespräch, das Lee heute Morgen mit ihr geführt hatte. Er war zu ihr gekommen und hatte ihr eröffnet, Niha hätte ihn darum gebeten, sie zur Vernunft zu bringen. Zur Vernunft. HA! Sie WAR vernünftig. Ausnahmsweise sogar vernünftiger als Niha. Sie hatte ihm auch eigentlich nicht wirklich zuhören wollen. Er hatte die gleiche Litanei vom Stapel gelassen wie ihre große Schwester. Sie sei viel zu jung, um ihr Leben wegzuwerfen, sie solle auf den Richtigen warten, und all den Kram. Doch Maja hatte ihm schnell klar gemacht, dass sie an die viel besungene, große Liebe nicht glaubte. Da hatte er sie ganz komisch angesehen, und angefangen, von seinen Eltern zu erzählen. Schöne Dinge, die so ungemein erstrebenswert klangen. Unglaubliche Dinge, die die leise Sehnsucht, die jedes Mädchen in ihrem Alter haben sollte, wieder erweckten. Die Sehnsucht nach der einen, der wahren, der großen Liebe. Und hier sass nun die Frau, die ebendiese Liebe angeblich gefunden hatte. Also ... Taktgefühl hin oder her, Maja musste einfach wissen, was dahinter steckte! „Jin, woher kommen Sie eigentlich? Lee hat nicht besonders viel erzählt.“ „Hat er nicht? Aus Tiram Agni.“ „Stimmt es, dass Sie ursprünglich aus der Erdnation stammen?“ „Äh ... ja. Das ist richtig.“ „So kurz nach dem Krieg war eine Mischehe aber doch noch recht ungewöhnlich, oder?“ „Hm. Mag sein. Die meisten Menschen waren der Feuernation gegenüber ein wenig misstrauisch.“ „Aber Sie nicht?“ „Nun,“ Die jadegrünen Augen schimmerten weich. „Ich hatte meinen Mann schon während des Krieges kennen gelernt. Da war er noch Kellner, und ich wusste nicht, dass ich es mit einem Feuerfuzzi zu tun habe.“ Sie seufzte. „Er war so ziemlich der miserabelste, ruppigste Teeschubser, den man sich vorstellen kann.“ „Wirklich? Warum ... warum haben Sie sich denn dann ... Warum hat er ihnen trotzdem gefallen?“ „Maja.“, mahnte Niha leise. „Ich weiss nicht, ob Frau Song ...“ „Oh, es gibt kaum etwas, worüber ich lieber spreche.“, lenkte Jin ein. „Warum ich mich trotzdem verliebt habe?“, übersetzte sie Majas Frage. „Weil manche Dinge eben sind, wie sie sind. Nachdem ich in die Augen dieses Kerls gesehen hatte, war die Sache für mich klar. Leider hielt er es dann aber für nötig, sechs lange Jahre von der Bildfläche zu verschwinden.“ „Was?? Sie haben sechs Jahre gewartet?“ „Gewartet? Ich weiss nicht, ob man das so nennen kann. Ich dachte ja niemals, dass er zurückkommen würde.“ „Und trotzdem ...“ „Blieb ich allein. Ja.“ Jin zuckte mit den Schultern. „Manche Menschen vergisst man eben nicht. Heute sind wir dafür unverschämt glücklich. Wir haben eine liebevolle Familie. Und unser Teehaus ist auch sagenhaft!“ „Ein Teehaus?“ „Ja. Das größte und prächtigste der Stadt!“, grinste Lee, die Geschichte seiner Mutter aufgreifend. „Erschreckend pompös.“ „Ach was.“, wischte Jin diesen Einwand zur Seite. „Der Palast ist ganz wundervoll.“ „Der Palast?“ Maja blinzelte erstaunt. „Nun ja ... Den Namen hat Iromishi ausgesucht. Er ist schliesslich für den Tee verantwortlich. Er ist ein wahrer Künstler der Heissgetränke. Seit neustem bieten wir sogar dieses exotische Zeug der Sand-Nomaden an. Kaffee. Fürchterlich bitter!“ Sie schüttelte sich. „Zuro mag ihn ganz gern.“, sagte Iroh nur gelassen. „Zuro?“ „Mein Mann.“ Bei diesen Worten leuchteten die Augen von Frau Song schon wieder so komisch. Maja spielte nachdenklich mit den Krümeln auf ihrem Teller. Anscheinend lag hier wirklich ein Fall von echter Liebe vor. Doch dann liess Zerfa die Bombe platzen. „Lees Mama sagt, der Feuerlord ist attraktiv!“ Der Sohn von Lees Mama liess fast die Gabel fallen. „Oh nein! Bitte nicht DAS!“, ächzte er. „Was denn?“, wollte Niha wissen. „Mutters Lieblingsthema.“ „Das wäre?“ „Na, unser oberster Feuerteufel höchstpersönlich.“ „Wirklich? Sie sind auch eine treue Royalistin?“ „Machst Du Witze?“, schnaubte Lee. „Bei uns zu Hause hängt an jeder verfügbaren Wand sein Konterfei.“ Iroh konnte ein Lachen nicht unterdrücken, doch Jin überhörte die Beiden großzügig. „Royalistin? Aber ja! Wer wäre das nicht ... bei DEM Regenten?“ Jetzt wollte Fräulein Koro es genau wissen und beugte sich über den Tisch. „Haben Sie ihn schon mal gesehen?“ „Niha, Deine Haare hängen gleich in den Tee.“ „Sei still, Lee! ... Haben Sie?“ „Aber ja.“ Auch Jin rückte weiter vor. „Mehrmals sogar!“ „Mehr ...? Wie IST er?“. hauchte Niha. „Umwerfend! Groß. Imposant.“ „Wirklich?“ „Mehr als nur wirklich! Er ist ... der eindrucksvollste Mensch, der mir je begegnet ist! Sein Charisma könnte man in Flaschen abfüllen. Manche stören sich ja an seiner Narbe ...“ Lee liess sich stöhnend gegen die Stuhllehne fallen. „Aber, ICH finde sie ... na ja ... aufregend.“ „Mama, es sind Kinder anwesend.“ „Ich weiss Spatz. Also hör doch einfach weg!“ „BITTE?“ „Er ist ja sowas von attraktiv!“, schwärmte Jin weiter. „Aber das alles ist gar nichts, gegen ...“ Sie machte eine Kunstpause. „Gegen?“, quietschte Niha. „Sein Lächeln!“ „Agni! Sie haben ihn lächeln sehen? Ich hab schon mal davon gehört. Es soll sehr ...“ „Ja.“ Mylady Feuerteufel starrte verträumt auf den Sonnenuntergang im Hintergrund. „Dieses Lächeln vergisst man nicht. Und ich glaube, er weiss nicht mal, wie viel Charme er besitzt.“ „Mutter! Interessiert es Dich, dass mir dieses ganze Gespräch zutiefst peinlich ist?“ „HA! Das sagt jemand, der schon sein blosses Hinterteil aus dem obersten Fenster des Rathauses von Tiram Agni gehalten hat. Lu bekommt heute noch Albträume deswegen!“, fügte sie hinzu, als die Kinder vor Lachen prusteten. „Wer ist Lu?“, fragte Jem neugierig. „Mein großer Bruder.“, schnappte Lee. „Und das im Rathaus war eine WETTE!“, klärte er die Anwesenden hastig auf. „Und? Hier geht es um den Feuergekrönten. Da darf man enthusiastisch sein!“ „Das sag ich Papa!“ „Was? Dass ich Seine Lordschaft hinreissend finde? Bitte! Nur zu, das weiss er schon.“ „Ja, das steht zu befürchten.“, murmelte Iroh, der von Minute zu Minute vergnügter wirkte. „Ich hoffe nur, der Rest von dem, was man sich erzählt, stimmt auch.“, meinte Niha. „Welcher Rest?“, wollte Jin wissen. „Na ja, er soll ja unglaublich glücklich verheiratet sein, und so.“ „Ja. Vor allem `und so´. Dem `und so´ widmet er sich besonders fleissig, wie man hört.“, murmelte der Sohn des Erhabenen. „Lee! Hör auf so ungebührlich zu sein!“ Jin versuchte vergeblich, streng zu klingen. „ICH?“, fragte er, ganz die Unschuld. „Ich tratsche doch hier nicht über anderer Leute Männer!“ „Wir tratschen nicht, wir schwelgen!“ „Natürlich. Als Mann kann ich nur sagen: Es ist recht unfair von unserem obersten Feuerteufel, die Messlatte so hoch zu legen. Da kommt man ja in Zugzwang!“ „Ja ... Er hat die Standards neu gesetzt.“, seufzte Mylady. „Ich würd´ ihn zu gern mal sehen.“, gestand Niha. „Nur einmal. Zuko, den Erneuerer. Agni schütze ihn!“ „Ja.“ Plötzlich klang Lees Mutter vollkommen ernst. „ Agni schütze ihn! Er würde Sie sehr mögen, Niha Koro.“ „Mich? Warum? Ich bin nur eine Bäuerin.“ „Eben. Er liebt sein Volk. Das ist allgemein bekannt. Und ganz besonders schätzt er die Menschen, die sich um das Land kümmern. Und Sie, meine Liebe, sind ehrlich und aufrichtig. Er würde sie mögen! Da verwette ich meinen Webstuhl.“ „Jin, Mädel, da sind wir mal wieder einer Meinung. Und die anderen hübschen Fräuleins hier, fände er bestimmt auch ganz entzückend.“ Iroh stupste über Zerfas Nase und zwinkerte ihr zu. „Entzückend!“ Lee schnaubte. „Entzückend kommt in seinem Wortschatz nicht vor!“ „Kennst Du ihn etwa auch?“ „Vom Sehen,“, erwiderte Lee süsslich. „Aber dass er nicht herumsäuselt, DAS weiss ich. Er soll sogar ab und an ein rechtes Raubein sein.“ „Ja!“, seufzte seine Frau Mama. „Ich sagte ja: hinreissend!“ Niha nickte nur, als habe sie das alles schon immer gewusst! Maja aber, starrte auf ihren Teller und dachte sich ihren Teil. SOVIEL also zu der angeblich sagenhaften Liebe zwischen Lees Eltern. Seine Mutter himmelte ganz offensichtlich einen anderen Mann an ... Nach Beendigung des Nachmittagstees verteilte man sich. Niha und Maja wuschen ab. Iroh widmete sich mit dem größten Eifer der Hausaufgabenaufsicht und Lee machte sich daran, die diversen Viecher vor dem Abend in den Stall zu komplimentieren. Jin begleitete ihn. Eine Weile beobachtete sie ihn einfach nur zu, verwundert, wie sehr er mit seiner Umgebung im Einklang zu sein schien. „Du erledigst das, als hättest Du nie etwas anderes getan.“, sagte sie schliesslich leise. „Man muss nur Ruhe ausstrahlen, dann machen sie, was man will.“ „Ja. Du fühlst Dich hier sehr wohl, hm?“ „Schon.“ Er zuckte mit den Schultern. „Jetzt ja. Zu Anfang war es gewöhnungsbedürftig.“ Jin nickte nur. Von ihren Kindern war Lee mit Sicherheit das anpassungsfähigste. Bestimmt hatte Zuko genau darauf spekuliert, als er ihn auf einen Bauernhof versetzt hatte. „Er wird ziemlich ausflippen, wenn er mitkriegt, dass Du hier bist.“, unterbrach Lee ihre Gedanken. „Ja.“ „Und ich gehe jede Wette ein, dass er es schon weiss!“ „Ja, vermutlich.“ „Scheint Dir egal zu sein.“ „Lee ... NICHTS, was Dein Vater tut, ist mir egal. Aber mich scheint irgendwie keiner zu verstehen.“ „Ich versteh Dich doch. Aber, ich verstehe auch Papa. Ich weiss jetzt, WAS er mir zeigen wollte. Und ich bin gottfroh, dass ich diese Lektion gelernt habe. Ich hab zu lange in meiner unberührbaren, unbeschwerten Welt gelebt. Dass es Leute gibt, die tagtäglich um ihr Auskommen kämpfen, war mir nicht klar. Nicht so wie jetzt. Ausserdem habe ich erkannt, dass ich zu viel mehr in der Lage bin, als ich dachte. Mit Geduld und Spucke kriege ich selbst einen rostigen, krummen Pflug und einen bockigen Ochs-Esel in den Griff. Das ist ein ziemlich tolles Gefühl, Ma. Und Lu Ten ... dem tut eine Auszeit auch mehr als gut, sonst hätte er sich noch seine Pinselhand kaputt geschrieben.“ „Das weiss ich doch alles!“, gab Jin zu. „Aber es geht ums Prinzip!“ „Prinzip ... Geht´s normalerweise nicht unserem Oberhaupt ums Prinzip?“ „Eben! Dann darf es mir auch mal darum gehen. Ausserdem,“, fügte sie leise hinzu, „Ich vermiss ihn einfach so schrecklich.“ „Das weiss ich ja. Und glaub ja nicht, er hätte Dich nicht ebenso vermisst.“ Seine Mutter zuckte mit den Schultern. „In die Kissen wird er nicht geheult haben.“ „Mama! Zwei Tage nachdem Du weg warst, hatte seine Laune bereits den Erdmittelpunkt erreicht. Und danach ging´s erst mal richtig bergab. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, wie eklig er sein kann.“ „Sprich nicht so über Deinen Vater!“ Lee rollte mit den Augen. „Na bitte. Nicht mal, wenn Du sauer auf ihn bist, darf man über ihn schimpfen.“ „Wär ja auch nochmal schöner!“ „Nein, jetzt mal im Ernst: Er war ziemlich neben der Spur. Und ich glaube, er schlief auch nicht so besonders. Er hat Dich vermisst! Genauso sehr, wie Du ihn. So ... mehr werd ich dazu nicht sagen. Ich kling ja fast schon wie ein Waschweib!“ „Wenn man von den zwei Oktaven absieht.“, versuchte Jin zu spotten. Doch so recht wollte ihr das nicht gelingen. „Vielleicht sollte ich heimfliegen.“, murmelte sie. „Jetzt weiss ich ja, dass es Dir gut geht.“ „So, so. Nach Lu muss man mal wieder nicht sehen, hm?“ „Lee, Du weisst ...“ „Mama. Das war ein Witz! Ich bin nunmal das Sorgenkind. Werd ich wohl immer bleiben. Es macht mir auch nichts aus. Na ja, fast. Und Lu Ten kann nun wirklich selbst auf sich aufpassen. Ich denke auch, Du solltest heimkehren. Schon allein deshalb, weil ich mir sonst eine wirklich clevere Ausrede ausdenken müsste, warum plötzlich der Feuerlord hier auftaucht. Apropos ... vielleicht kannst Du ihn ja bitten, seinen Spitzel zurückzupfeifen?“ „Er hat einen Aufpasser auf Dich angesetzt?“ „Ja. Scharwenzelt hier herum, und denkt, ich seh ihn nicht.“ In diesem Augenblick hätte Jin ihren Gatten bei Anwesenheit abgeknutscht. „Tut mir leid, aber diese Nachricht beruhigt mich viel zu sehr, als dass ich daran etwas ändern würde.“ „Ja, ja. Schon gut!“ „Lee ... Wenn Du selbst einmal Kinder hast, wirst Du das verstehen. Und wenn Du eines dieser Kinder hilflos und krampfend auf dem Boden hast liegen sehen, erst recht.“ „Ich HAB keine Anfälle mehr!“ „Ich weiss. Aber lass Deinem Vater die Gewissheit, im Notfall ein Auge auf Dich zu haben. Es beruhigt ihn. Und mich auch.“ „Fein.“, stöhnte Lee. „Geben wir dem Drachen, was des Drachens ist.“ Für diesen Abend kochte Niha zwar nicht ganz so mondän, wie am Tag zuvor, aber was sie auftischte, verdiente durchaus das Prädikat `Festessen´. Sie beruhigte ihr sparsames Gewissen damit, dass es eine Schande wäre, all die frischen Zutaten verkommen zu lassen. Ausserdem war es viel zu befriedigend, mitanzusehen wie ihre Gäste ordentlich reinhauten. „Das war äusserst köstlich!“, lobte Iroh schliesslich und lehnte sich, satt und zufrieden, zurück. „Ja,“ Jin seufzte. „Warum kann ich nicht so kochen? Es gibt nur ein Essen, dass ich zustande bringe. Alles andere schmeckt wie Eiermatsch mit Sosse.“ „Na ja, jeder fängt mal an.“, meinte Niha und begann, die Teller abzuräumen. „Was können Sie denn kochen?“ „Eiermatsch mit Sosse!“, sagten Mutter und Sohn wie aus einem Munde. „Aber dafür kann ich sagenhaft abspülen!“ Jin begann ihre Ärmel hochzukrempeln. „Wenn man auf den ein oder anderen Teller verzichten kann ...“, brummte Iroh. „Onkel!“ „Na ja, Kindchen. Ich wollte es Dir ja immer schonend beibringen, aber Du bist nunmal schusselig. Hast vermutlich gleich nach der Geburt die Nabelschnur verlegt.“ Jin, nicht im Mindesten beleidigt, seufzte nur auf. „Wie wahr.“ „Nein, nein. Abspülen kommt gar nicht in Frage.“, sagte Niha bestimmt. „Sie sind unsere Gäste. Lee, führst Du Deine Mutter und Deinen Onkel in die Wohnstube?“ „Aber gerne doch. Muss ich schon nicht abtrocknen.“ Zur gleichen Zeit, ein paar Kängurukatzensprünge entfernt Ren, Wirt des schmunzelnden Mönchs, war gerade dabei die Tische abzuwischen, als ein weiterer dubioser Gast eintraf. Somit waren es schon zwei mehr, als üblich. Dabei war noch nicht mal Pilgerzeit. Der Fremde erreichte Agnam Ba zusammen mit den Vorboten eines verteufelt üblen Gewitters. Vielleicht war es ja diesem Umstand zu verdanken, dass er furchteinflössender wirkte, als alle anderen Gäste, die diese bescheidene Herberge je überdacht hatte, zusammengenommen. Ein dunkler Schatten fiel auf die Eichenplatte, die gerade energisch mit Seifenlauge bearbeitet wurde. Ren sah hoch ... höher ... noch ein bisschen höher. Doch erkennen konnte er nichts, denn eine weite, tief ins Gesicht gezogene Kapuze verbarg die Züge des Trägers. „Guten Abend.“ Die tiefe, raue Stimme jagte Schauer der Vorahnung über Rens Rücken. „A ... bend.“ „Ich benötige ein Zimmer.“ „Zimmer? Ich ... muss erst nachsehen, ob noch eins frei ist.“ „Ja. Danke.“ Da der potentielle neue Gast überaus höflich klang, entspannte der Wirt sich ein wenig. Bestimmt machte ihn nur das bevorstehende Gewitter nervös. Er schlurfte zur Theke und kramte das Gästebuch hervor. „So ... mal schauen. Ungewöhnlich viel Betrieb für diese Jahreszeit.“ „Ach.“ „Ja. Gestern sind sage und schreibe vier Gäste angekommen. Dabei ist Saure-Gurken-Zeit. „Vier?“ „Verrückt, was? Sind Sie auch ein Pilger?“ „Sicher.“ In just diesem Moment schlängelte sich der alte Chang an dem großen Unbekannten vorbei, blieb an dessen zerschlissenen Umhang hängen und zog dadurch ein wenig an der Kapuze. Zuko seufzte. Na, danke! Würde er seine Tarnung hektisch wieder an Ort und Stelle zerren, wäre dies verdächtiger, als alle Narben dieser Welt. Vielleicht war das Kerzenlicht ja schummrig genug ... „Sie ... Sie ... haben da ...“, stammelte Ren. Nein. Bedauerlicherweise waren die Kerzen erschreckend pflichtbewusst. „Es ist unhöflich Leute anzustarren.“ „J ... ja. Verzeihung. Aber ... die ... die Narbe.“ „Kriegsverletzung.“ „Aber sie sieht aus wie ...“ „Bekäme ich jedes mal einen Jy wenn ich das höre, wäre ich ein sehr reicher Mann.“ „Ja, aber ... Sie sehen aus wie ... ER.“ „Ich bin es nicht. Obwohl ...“, sinnierte Zuko, um die Zweifel zu zerstreuen. „Bekäme ich als Feuerlord ein Zimmer gratis?“ „Ha!“, machte Ren. „Haha. Na ja, nichts für ungut. Ich wette, die Leute verwechseln sie oft.“ „Ja. Bis sie meine Klamotten sehen.“ „Ach was!“, meinte der Wirt jovial, um seine Scharte wieder auszuwetzen. „Kann ja nicht jeder in Samt und Seide gehen, was?“ „Wohl kaum.“ „Gut, gut. Ah ... Zimmer sieben ist noch frei.“ „Wie passend.“, murmelte Seine Lordschaft. „Name?“ „Song.“ „Song? Wie komisch. Die Dame von Nummer zwei heisst auch Song.“ „Meine Frau. Sie war ... vorausgepilgert.“ „Ah! Verstehe!“ „Ist sie auf ihrem Zimmer?“ „Hm. Ich glaube nicht. Aber ich frag mal.“ Ren lehnte sich nach hinten und brüllte über die Schulter. „TISSA?“ „Ja?“ „Komm mal.“ „Was denn? Mein Braten brennt an. AGNI!!!“ Vor Schreck landete eine tönerne Rührschüssel auf dem Boden. „Nicht in die Scherben treten!“, mahnte der Verursacher des Unfalls rasch. „Euer ... Euer Lordscha ...“ „Beruhig Dich, Weib. Er ist es nicht.“ Doch die Frau liess sich nicht vom Verbeugen abhalten. Zuko schielte in die Schankstube. Hoffentlich fiel das hier keinem auf! „Tissa!“, zischte Ren ungehalten. „er IST es nicht!“ „Natürlich ist er´s!“ Auch Tissa konnte zischen. „Unsinn! Was sollte ER denn bitte schön hier wollen? Das da ist Herr Song. Du weiss schon ... der Mann Deines Lieblingsgastes.“ „Die Dame auf Zimmer zwei?“ „Ja.“ „Ich hab doch gleich gesagt, sie ist was besonderes. Du meine Güte!“ Jetzt legte Tissa die Hände an die Wangen. „Die Frau unseres Lords. Ich glaube, ich brauch jetzt meine Pillen!“ „Himmel, Tissa! Er ist NICHT der Feuerlord!“ Die Wirtin wagte einen direkten Blick auf ihren Gast. Der lüftete seine Braue und schüttelte den Kopf. „Oh, also ... ich weiss nich.“, murmelte sie unsicher. „Herr SONG sucht seine Frau. Weisst Du, wo sie hingegangen ist?“ „Na, zum Hof der Koros.“ „Da! Geht doch! Soll ich Ihnen jetzt Ihr Zimmer zeigen?“, wendete Ren sich an den Fremden. „Nicht nötig. Es ist mit Sicherheit zufriedenstellend. In welcher Richtung liegt der Hof der Koros? Ich werde eben noch mein Gepäck verstauen und mich dann auf den Weg machen.“ „Nordosten. Ungefähr zwei gute Meilen.“ „Danke sehr.“ Zuko zog die Kapuze wieder ins Gesicht, wandte sich um und ging zur Treppe, ins obere Stockwerk. Die Wirtsleute schauten ihm irritiert nach. „Ren?“ „Hm?“ „Er ist´s!“ „Und ich sag Dir, er ist es NICHT!“ „Ach? Und wer von uns liesst die Fachliteratur?“ „Das `Flammende Blatt´ ist alles mögliche, aber keine Fachliteratur!“ „Für so was schon! Ich sag nur: Die Lady aus Zimmer zwei hat grüne Augen.“ „Ja und?“ „Ren?“ „Ja?“ „Du bist ein Idiot!“ Doch kehren wir nun wieder zurück zum Gehöft der Koros. Dort widmeten sich die Herrschaften, von denen keiner wusste, dass sie herrschaftlich waren, mit dem größten Vergnügen den beiden Kindern. Iroh faltete Papierflieger, Blumen und Drachen und lieferte Jin damit den Nährboden für ihre Lieblingsgeschichte. Bald lauschten Jem und Zerfa gebannt der Legende von Tatzu und Hsui. Selbst Maja, die damit beschäftigt war, die reparaturbedürftigen Strümpfe auszusortieren liess sich davon fesseln. Als Niha aus der Küche kam, fiel ihr eine Sache sofort ins Auge: Lees Mutter zog ihre jüngeren Geschwister an, wie Honig ein paar Bienenfalter. Jem belagerte ihre Armlehne, die schüchterne, sonst immer so misstrauische Zerfa war fast auf deren Schoss gekrochen. Und selbst Maja hörte sich mehr als bereitwillig diese alte Kindergeschichte an. Plötzlich sog Jin scharf die Luft ein und horchte auf. „Was war das?“ „Was meinst Du? Ich hab nichts gehört.“, sagte Lee und wechselte einen kurzen Blick mit seinem Großonkel, doch auch der zuckte nur mit den Schultern. „Ich auch nicht.“ „Na dann.“, murmelte Mylady geistesabwesend. „Hab ich mich wohl geirrt. Also ... wo waren wir?“ „Gerade hat Hsui gemerkt, dass Tatzu der Drache war.“, half Zerfa sofort und rückte noch ein par Zentimeter näher . „Ja! Bestimmt kämpfen sie jetzt noch mal!“, spekulierte Jem eifrig. „Aber nein.“, lachte Jin. „Nun weiss sie ja, wer er ist. Jetzt wird nicht mehr gekämpft.“ „Och Mann! Ich hoffe, sie fangen nich an rumzuknutschen.“ „Keine Angst, das kommt erst später.“ Jin wuschelte durch seinen Schopf. „Wirklich?“, wisperte Zerfa. „Wann?“ Den beiden Männern entwich angesichts dieser zutiefst weiblichen Frage ein polterndes Lachen. Jedoch nur, bis es klopfte ... wenn man dieses gebieterische Gesuch um Einlass überhaupt so nennen konnte. Lee lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ach Du heilige Asche!“, murmelte er. „Schon?“ Onkel Iroh hob die Brauen beinahe über die Stirn und Jin ... Jin war aufgesprungen und starrte hypnotisiert auf die Tür. Erneut hämmerte es gegen das Holz. „Ich denke.“, sagte Iroh milde. „Es wäre besser diesen speziellen Besucher herein zu bitten.“ „Na gut.“, meinte Niha schulterzuckend „HEREIN?“ Die alte Tür schwang auf und brachte einen stürmischen, feuchten Schwall kühler Abendluft herein. Das und etwas anderes, dessen Potential, einem eiskalte Schauer über den Rücken zu jagen, sogar noch weitaus größer war. Im Türrahmen hatte sich ein finsterer, breitschultriger Hüne aufgebaut. Die obere Gesichtshälfte war unter einer weiten Kapuze verborgen, sodass nur eine verhärtete, schmallippige Mundpartie und ein arrogantes Kinn zu sehen waren. Seine Haltung war straff, wirkte kompromisslos, fast anmaßend. „Äh.“, machte Niha. Eine leise, bedrohliche Stimme unterbrach diesen komplexen Gedankengang. „Sieh an.“, schnurrte der Eindringling rau. „Mein abtrünniges Weib.“ Eigentlich hatte Jin ja vorgehabt, bei ihrer Wiederbegegnung mit Zuko erst die vorliegende Situation zu klären, aber wie so oft liess sie ihre Pläne zugunsten eines besseren spontan fallen. Sie rannte drauf los. „ZU …“ Der Rest des freudigen Aufschreis ging in Irohs spontanem, ohrenbetäubenden Niesen unter. Traurigerweise war Lee der einzige, der ihm ein munteres „Gesundheit!“ zukommen liess, denn die allgemeine Aufmerksamkeit wurde von den beiden Menschen an der Tür gefesselt. Anders gesagt: Jeder, außer Iroh und Lee, glotzte das Ehepaar `Song´ an. Jem starrte, Zerfa machte riesengroße Augen, Maja zwinkerte, als sei sie eben erst aufgewacht. Damit waren sie aber alle immer noch dezenter, als ihre älteste Schwester. Niha sank einfach nur die Kinnlade nach unten. Lees kleine, herzliche Mutter hatte sich mit solcher Vehemenz auf ihren Gatten gestürzt, dass selbst dieser Baum von Mann sie nur mit Mühe auffing. Für die nächsten Sekunden begrub Jin ihre Nase in den Kleidungsschichten über dessen Brust und presste frenetisch an sich, was sie von ihm zu fassen bekam. Eine große, überaus kräftige Hand stahl sich aus dem Wollumhang, um liebevoll über ihr Haar zu streicheln. Nach einiger Zeit, wohl aus purem Luftmangel, drehte Jin ihr Gesicht so, dass sich nun ihre Wange fest gegen den groben Stoff schmiegte. Spätestens in diesem Moment wurde Niha klar, ein recht außergewöhnliches Paar vor sich zu haben, denn das leuchtende Gesicht der charmanten Lady hatte eine fast unglaubliche Wandlung vollzogen. Ihr zufriedenes Strahlen war verschwunden, um reiner, fast schmerzhafter Glückseligkeit zu weichen. Die Augen extatisch geschlossen, wirkte sie beinah, als wolle sie anfangen zu weinen. „Du bist da!“, wisperte sie. Der Hüne neigte lediglich den Kopf, legte die Wange an ihren Scheitel und zog sie noch enger an sich. Jins Finger krallten sich in seinen Ärmel. „Endlich bist Du da!“ „War das nicht Sinn und Zweck dieser Eskapade?“ „Drache …“ Sie wurde aufs leidenschaftlichste unterbrochen, als sich ein Paar Lippen auf ihre pressten. Ohne Vorwarnung liess Niha das Stadium des Staunens hinter sich. Stattdessen zweifelte sie lieber an ihrer Wahrnehmung. Während sie das eng umschlungene Paar anstarrte, hatte sie das lächerlich unrealistische Gefühl ferne Musik zu hören. Ein Meer an Gum Jos spielte eine bittersüsse Melodie. Zart, sehnsüchtig, mächtiger als die Fundamente der Welt und ebenso ewig. Diese beiden Menschen schienen irgendwie in andere Sphären abzudriften. Ihr Unterkiefer erreichte Tiefststand. Lee seinerseits, sah seine Erwartungen vollauf erfüllt. Seine Eltern verhielten sich wie immer. Als sein Blick auf die Damen Koro fiel, entrang sich ihm ein Seufzen. Auch DIESE Reaktion war durchaus nichts neues. Niha, Maja, ja selbst Zerfa begafften mit verklärten Minen die Szene. „Agni!“, hauchte Niha. „Meine … Güte!“ Das war Maja. „Sind sie nicht allerliebst?“, seufzte Iroh. „Ja ... faszinierend, nicht wahr? Aber das reicht jetzt.“, murmelte Lee den Schaulustigen zu. Er wurde entweder nicht gehört, oder ignoriert. „Alles klar. Wenn ich dann bitten dürfte.“, sagte er etwas lauter. „Was?“, fragte Niha verträumt, ohne sich ablenken zu lassen. Auch Maja fielen noch immer die Augen aus dem Kopf. Aber, na ja ... seine Erzeuger schnäbelten natürlich auch noch immer hingebungsvoll. „Ich denke, wir lassen meine Eltern für einen Augenblick allein, hm?“ Himmel, er hoffte inständig, das `für einen Augenblick´ auch ausreichen würde. Da das Fürstenpaar länger voneinander getrennt gewesen war, als jemals zuvor, würde er allerdings keine Wetten abschliessen. Manchmal waren die zwei recht unberechenbar. „Los jetzt! Ihr habt meine Eltern lange genug begafft! Marsch in die Küche!“ „Ja,“, stimmte sein Großonkel zu. „Bevor das große Donnerwetter kommt.“ Doch offensichtlich fanden die anwesenden Damen es schwer, sich vom Anblick der herzzerreissenden Wiedervereinigung loszureissen. Also schritt Prinz Lee zur Tat, schnappte Niha und Maja am Arm und delegierte sie aus dem Raum. Iroh, der ein leises Kichern nicht ganz unterdrücken konnte, sammelte derweil die Kinder ein. In der Küche sank Maja auf einen Stuhl. „Meine Güte!“, wiederholte sie sich und warf der `Hilfskraft´ einen seltsamen Blick zu. „Deine Eltern ... haben sich wirklich lieb, was?“ „Ich meine, das erwähnt zu haben.“ „Ja, schon ... aber ... SO??“ „Doch. Sie lieben sich. Wahnsinnig. Leidenschaftlich. Abgrundtief.“ Er zuckte mit den Schultern. „Eben ... über alles. War schon immer so.“ „Und ich dachte, Deine Mutter ...“ „Was?“, fragte Lee mit kämpferisch verschränkten Armen. „Ich hatte den Eindruck, sie wäre vielleicht heimlich in den Feuerlord verknallt.“ „Hatt ich auch,“, murmelte Niha, endlich wieder der Sprache mächtig. „Agni schütze ihn!“ „Heimlich ...!“ Irohs Stimme bebte. „Onkel!“, zischte Lee und klang dabei fast wie das väterliche Original. „Ja, ja. Schon gut.“ Jin wäre das ganze Gerede über ihre Person, hätte sie es mitbekommen, derzeit herzlich egal gewesen. Sie schwelgte. Sie schwebte. Sie war endlich wieder so glücklich, wie man nur sein konnte, denn ihr Drache war zurück. Duftete nach Drache, schmeckte nach Drache, fühlte sich an wie Drache. Als Zuko es endlich schaffte, sich aus diesem Kuss zu lösen, stellte sich heraus, dass er auch noch immer drachenmässig grollen konnte. Er brachte einige Zentimeter Abstand zwischen sich und seinen kleinen Plagegeist und atmete tief durch. „Zuko ...“ „Wirklich clevere Taktik, Kobold.“ „Taktik?“ „Mich nach Deiner Pfeife tanzen zu lassen.“ „Aber ... das war gar nicht meine Absicht.“ Ein kurzes, hartes Lachen war zu hören. „Natürlich. Mein Erscheinen kommt für Dich völlig unerwartet.“ „Das nicht ... aber ...“ „Aber was, Jin? Warst Du Dir Deines Manipulationsversuchs etwa nicht bewusst?“ Jin biss sich auf die Lippen und sah zu Boden. „Nein.“, flüsterte sie. „Nicht wirklich.“ „Aha.“ „Du ... Du kannst Dir Dein arrogantes `Aha!´ sparen!“, fauchte sie jetzt. Schliesslich hatte SIE vorgehabt, diejenige zu sein, die schimpfte. „Ich hab mir das gleiche Recht rausgenommen wie Du, und vollendete Tatsachen geschaffen. Das ist alles!“ „Alles, Jin? Alles? Dann ist eine überstürzte Abreise von einer Gipfelkonferenz also nur `alles´?“ Der Feuerlord sprach leise und beherrscht. Womit er sein Weib selbstverständlich noch mehr in Rage brachte. „Ach? Ich hätte die Dinge wohl einfach so hinnehmen sollen?“, rief sie, schon wieder lauter. „Leb Deine einsamen Entscheidungen ruhig aus, Zu ...“ ( Ohrenbetäubendes Niesen von Onkel Iroh ... mishi ) „... aber nicht an MEINEN Kindern!“ „DEINE? Mich dünkt ich war an deren Entstehung auch beteiligt.“ „Ja! Sei überheblich! Nur zu! Ich hab jedenfalls getan, was ich für das Beste hielt!“ „Fein!“, knirschte er. „Dann tue ich jetzt, was ICH für das Beste halte.“ Dann tat Zuko II etwas, wofür jeder andere lebenslänglich eingekerkert würde. Er schnappte Lady Jin und warf sie sich über die Schulter. „Was??? ... LASS MICH RUNTER!!!“ „Nein.“, erwiderte er knapp. „Wir gehen jetzt.“ Doch bevor er dieses Vorhaben in die Tat umsetzten konnte, flog die Tür zur Küche auf und die Herrin des Hauses baute sich vor ihm auf. „Was tun Sie da?“ „WIE bitte?“ Niha versuchte vergeblich, die dunklen Schatten unter der Kapuze zu durchdringen. Doch auch einem gesichtslosen Kerl konnten die Leviten gelesen werden. „Ich fragte, was Sie da tun.“ „Ich kümmere mich um meine Frau.“, knurrte Herr Song senior bedrohlich leise. „Das ist aber MEIN Haus! Und darin wird niemand so behandelt!“ Lee, Iroh und selbst Jin schnappten hörbar nach Luft. Und Niha? Sie konnte förmlich spüren, wie die finstere Gestalt sie mit Blicken durchbohrte. „Also schön.“, sagte die seltsam eindringliche Stimme nach einer Weile. „Ihr Haus, ihre Regeln. Dann müssen wir uns wohl verabschieden.“ Er neigte leicht den Kopf. „Gute Nacht, allerseits.“ „Was? Aber ...“, stammelte Fräulein Koro aufgebracht. „Nacht, Zuro, mein Junge.“, rief Iroh. „Gut´ Nacht, Papa.“, meinte Lee vergnügt. Lord Drache, eben im Begriff, die Szene zu verlassen, wendete sich noch einmal um. „Geht es Dir gut, Lee?“ „Oh, bestens! Fühl mich fuchspudelwohl.“ „Das dachte ich mir.“ „Wenn ... wenn Du mich nicht gleich runterlässt, dann ... dann ...“ Jin bearbeitete einen unbeeindruckten Rücken, was natürlich ebenso albern wie nutzlos war. „Sicher, mein Herz. Sofort.“ Mit langen Schritten verliess der Störenfried das Haus. „Also ... ist Dein Papa immer so?“, ereiferte sich Niha. „Nur weil ihm das prächtigste Teehaus des Landes gehört braucht er nicht zu glauben, alles und jeder stünde unter seiner Fuchtel!“ „Oh, aber das denkt er nur von einem Drittel der Weltbevölkerung, oder so.“, bemerkte Iroh, auf den Zehenballen wippend. Lee musste lachen. Kaum hatte er sich beruhigt, fing Iroh an zu kichern, und das Ganze ging von vorn los ... Jungs eben! Mittlerweile hatte es, Agni sei Dank, aufgehört zu regnen und Jin war abgesetzt worden. Um nicht auch noch herumgezerrt zu werden, stolzierte sie `freiwillig´ neben ihrem Gebieter einher. „Ich entschuldige mich aufrichtig dafür, Dich über die Schulter geworfen zu haben.“ Mylady presste lediglich die Lippen aufeinander. „Wären wir länger geblieben, hättest Du unsere Identität aufgedeckt. Iroh musste zweimal niesen!“ „Dann schenk ich ihm als Wiedergutmachung eben ein Taschentuch.“ „Jin ...“ „Ich will jetzt nicht darüber sprechen!“ „Ah. Bestimmt willst Du es nachher. Wenn ich gerade am einschlafen bin.“ „Aber nein.“, flötete sie honigsüss. „Denn da werd ich nicht dabei sein!“ „Wie Du willst.“, erwiderte er knapp. Jin ballte die Fäuste. SOWEIT waren wir also schon? Er würde sie nicht mal ins Bett bugsieren? Na, vielen Dank auch! Mit seiner himmelschreienden Gelassenheit machte Zuko der Erhabene mehr als deutlich, dass er, im Gegensatz zu ihr, unter keinerlei krankhaftem Sehnsuchtsbefall gelitten hatte. Wegen des stechenden Nachtwindes wurden ihre Augen verdächtig feucht. Die Rezeption des kleinen Gasthauses war noch besetzt, als sie dort ankamen. Sowohl der Wirt, als auch seine Frau, hatten es sich nicht nehmen lassen, auf die vermeintliche Prominenz zu warten. „Oh. Sie haben Ihre Frau gefunden.“, lächelte Ren diensteifrig. „Ja.“ „Wie schön.“ Tissa lächelte die Ankömmlinge strahlend an, während sie hinter der Theke ihrem Mann auf den Fuss trat. Sah er denn nicht, dass die Lady mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf dastand, und ER vor Unmut zu knistern schien? „Äh ... also, äh. Unser einziges Zweibettzimmer ist leider vergeben. Sonst hätten wir Sie gern umquartiert.“ „Das ist völlig in Ordnung.“, murmelte die Dame aus Zimmer zwei. „Alles Bestens!“ Ihr Gatte schwieg nur. Jedoch schienen sich seine Nasenflügel eine Winzigkeit zu blähen. „Dann ... wünschen wir eine gute Nacht! Nicht wahr, Ren?“ „Was? Ja. Klar! Natürlich!“ „Gute Nacht.“, grollte Zuko und forderte seine Angetraute mit einer Geste auf, vorauszugehen. „Himmel!“, hauchte Tissa, nachdem sich beide Türen im Obergeschoss recht nachdrücklich geschlossen hatten. „Da herrscht wohl dicke Luft.“ „Mhm. Das Doppelzimmer werden sie jedenfalls nicht vermissen!“ Ein wahrhaft lachhafter Irrtum. Jin stand seit einer kleinen Ewigkeit in ihrem Zimmer und starrte auf die Tür. Die Hoffnung, dass diese sich demnächst öffnen würde, um einen kompromisslosen, zu allem entschlossenen Ehemann einzulassen, schwand von Minute zu Minute. `Wirklich grandios, Missy. Du hast es tatsächlich geschafft, euer Wiedersehen damit zu krönen, NICHT in seinem Bett zu landen.´ Ach was ... bestimmt würde ihm bald der Geduldsfaden reissen. Schliesslich war Zuko immer noch Zuko. Und wenn es etwas gab, das dieser Mann brauchte, dann war es ... na ja ... Sex eben. Der Punkt war nur, er KAM nicht. Und sie, für ihren Teil, war mittlerweile fast soweit, über den Flur in sein Zimmer zu rennen und ihm, was auch immer er im Augenblick trug, vom Leib zu reissen. Sah fast so aus, als ob sie die `Sache´ nötiger hatte, als ihr werter Gatte. Sie drehte noch zehn weitere Runden durchs Zimmer. Okay. Fein! Offensichtlicher hatte ER gar nichts mehr nötig! Liess sie tatsächlich in diesem kalten Zimmer hocken! Kalt, allein und ... Moooooment. Einer ihrer berühmt berüchtigten Geistesblitze durchzuckte Jin. Kapitulation war zwar ausgeschlossen ... aber Taktik? Taktik ging immer! Sie schnappte sich ein Kopfkissen und stopfte es tief in den Kamin. Ha! Schritt eins in Richtung ehelicher Beischlaf war gemacht. Schnell beseitigte sie die rußigen Spuren ihres Treibens und machte sich auf den Weg. Zuko stand am Fenster und starrte in die Nacht. Als es klopfte, zeigte er nicht das geringste Erstaunen. „Herein!“, rief er. Wie erwartet betrat Jin das Zimmer. „Hm. Wie ich sehe, hast Du es schön warm. DEIN Kamin scheint also in Ordnung zu sein.“ „Sollte er das nicht?“ „Meiner ist es jedenfalls nicht. Er qualmt.“ Langsam drehte Zuko sich um und hob ebenso langsam seine Braue. „Tatsächlich?" „Ja, Zuko. Tatsächlich.“ „Wie unpraktisch. Die Nacht ist recht kalt.“ „Das ist mir auch schon aufgefallen, nachdem ich seit einer halben Stunde mit einer Gänsehaut herumlaufe.“ „Und nun benötigst Du meine Dienste als Heizung?“ „Ich bin eben der beschränkten Meinung, dass dieser kleine Streit es nicht wert ist, deswegen eine Erkältung zu bekommen.“ „Wie vernünftig.“, murmelte Zuko. Er wandte sich zum Bett, streifte seinen Kimono ab und schlüpfte, nur mit einer dünnen, weiten Hose bekleidet, zwischen die Laken. „Nur zu, bedien Dich!“ „Danke! Wie großzügig.“ Trotz ihrer süffisanten Worte hatte sich das wohlige Kribbeln in Jins Magengegend aufs köstlichste verstärkt. Schuld daran war natürlich dieses mustergültig muskulöse Exemplar eines männlichen Torsos, das gerade zur Schau gestellt worden war. Flugs kroch die Feuerlady zu ihrem Gatten ins Bett. Doch die erfolgreiche Durchführung ihres Plans trug leider nicht die erhofften Früchte. Bald sah sie sich mit der Erkenntnis konfrontiert, dass `man´ seine Leidenschaft offenbar fest im Griff hatte. Zuko lag einfach auf dem Rücken und gab, ausser der eingeforderten Wärme, nicht das geringste von sich. Jin konnte ein frustriertes Schnauben nicht unterdrücken. „Ist es nicht warm genug?“ „Doch! Sehr angenehm!“ „Gut.“ Wie gelassen er klang ... am liebsten hätte sie ihn geschüttelt! Sie kniff fest die Augen zu und nahm sich vor, schnellstens einzuschlafen. SIE konnte genauso ungerührt tun, wie dieses stoische Drachenvieh! Nur war das Bett leider herzlich unbequem, wenn man so nah an der Kante lag. „Vergiss morgen früh bitte nicht, die Verstopfung im Kamin wieder zu beseitigen.“ „WAS??“ Jin schnellte hoch. „Woher ... Welche Verstopfung?“ „Ich hatte mich gleich nach meiner Ankunft von der Sicherheit Deines Zimmers überzeugt. Und da ich weiss wie leicht Du frierst, auch von der Funktionstüchtigkeit des Kamins. Vor zwei Stunden war er noch völlig in Ordnung.“ Ertappt und darum umso erboster krabbelte sie aus dem Bett. „Wo willst Du hin?“ „In mein Zimmer, Herr Schlauberger!“ „Dazu ist es zu kalt.“ „Ach ja?“, zischte sie gefährlich leise. „Ich werd´s überleben!“ „Komm her!“ „Ph!“ Stilsicher schlang Mylady ein Laken um sich und schritt zur Tür. „Komm her, Kobold!“ „Weisst Du was? Du kannst Dir Deine Befehle, Deine Gelassenheit und Deinen Groll gegen mich an Deinen verdammten Haarknoten nieten, Hoheit! Du hast kein Recht, mir böse zu sein. Es sind ebenso meine Söhne wie Deine. Und wenn Du Deine pädagogischen Holzhammer-Methoden im Alleingang durchexerzierst, kannst Du nicht erwarten, dass ich das gutheisse. Gute Nacht!!!“ Das laute Knallen der Tür war ungemein befriedigend. In ein kaltes Zimmer zu kommen, eher ernüchternd. Jin zerrte das Kissen aus dem Kamin. Herzloses Ekel! Allem Anschein nach war sie wirklich nicht sonderlich vermisst worden, obwohl sie selbst ganz krank vor Sehnsucht gewesen war. Erst erlaubte er sich eine beinahe einmonatige Abwesenheit, und dann zeigte er ihr auch noch, wie wenig ihn das scherte. Sie wischte ihre Zornestränen weg und tastete nach der Schachtel mit den Zündhölzern. Doch die war - natürlich! - leer. Fein! Würde sie eben erfrieren. Vielleicht würde DAS einen bestimmten jemand ja kümmern. `Dieser Trotz könnte recht ungesund sein, Missy!´ „Klappe!“, wiess Jin ihre innere Stimme zurecht. Sie ging zu ihrem Koffer und zerrte diverse Kleidungsstücke hervor. Fünf Schichten Seide, Leinen und Wolle mochten zwar unvorteilhaft sein, wärmten aber ordentlich. Unbequem war die Sache trotzdem. Aber sie wusste ja, WEM sie die Schuld an dieser Situation zuschieben konnte! Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür, und betreffende Person stand im Raum. Prächtige Muskeln, kantige Kiefer und schwarzglänzende Haarsträhnen übersah Jin geflissentlich. „Denkst Du wirklich, ich lasse zu, dass Du Dir aus fehlgeleitetem Stolz eine Lungenentzündung holst?“, erkundigte sich der Eindringling trügerisch sanft. Seine blitzenden Augen konnten beim besten Willen nicht ignoriert werden und Jin schluckte trocken. „Da ich kuschlig warm eingepackt bin, darfst Du Dich sogleich wieder entfernen, oh Idiotischer!“ „Legst Du mir etwa nahe, zu gehen?“, fragte er leise. „Falsch, Drache. Ich werfe Dich hinaus. Hochkant!“ „In diesem Fall...“ Er beugte sich über sie. „Tritt wohl das Gesetz des Stärkeren in Kraft.“ Sprach´s, hob sie von Bett und trug sie zurück auf Zimmer sieben. „Ich glaube einfach nicht, was für ein arroganter Mistkerl Du manchmal bist!“, zischte Jin. Lauter konnte sie schlecht werden, denn mittlerweile war die Nachtruhe eingeläutet worden. „Und Du, mein Herz, bist wie immer die Freude meines Daseins.“ „Soll das ein Versuch sein, mich einzuwickeln?“ „Ganz im Gegenteil, Kobold. Ich werde Dich jetzt auswickeln.“ „Das ist nicht komisch, Zuko! Lass mich runter!“ „Erst wenn Du da bist, wo Du hingehörst!“ Ha! Was für ein plumper Köder! Doch wider besseren Wissens schluckte Jin ihn. „Und das wäre wo?“ „Mein Bett natürlich. War das nicht das Ziel dieses ganzen Theaters?“ „Jetzt ganz bestimmt NICHT mehr! Lass mich runter!“ „Ich liebe es, wenn Du bettelst.“ Mittlerweile waren sie in seinem Zimmer angekommen und er stellte seine Last auf den Boden. „Ich hab keine Lust mehr!“, fauchte sie. „Du bist eine schlechte Lügnerin.“ Sie zerrte an der Tür. Doch leider hatte er seinen Arm dagegen gestemmt. „Das ist keine Lüge! Ich WILL nicht!“ Zuko wurde es zu bunt. Er drehte sie zu sich. „Und wie Du mich willst! Ich kann es in Deinen Augen sehen.“ Jin starrte hinein. In dieses brennende Gold, das sie so liebte. „Und wenn schon.“, flüsterte sie. „Dann will ich Dich eben. Aber solange Du denkst, Du müsstest mir einen Gefallen tun, oder nur mal wieder Deinen Kopf durchsetzten, kann ich mich beherrschen!“ „Mein Kopf? Du denkst, es geht um meinen Kopf, Jin? Ich kann Dir versichern, der betreffende Teil liegt um einiges tiefer!“ „Vorher wolltest Du auch nicht!“, stiess sein Weib hervor. „Ach nein? Und weshalb sollte ich dann die Zündhölzer entfernt haben?“ „Was?“ „Die Zündhölzer in Deinem Zimmer. Ich hab sie weggenommen.“ Jin blinzelte. „Um Dich herzulotsen.“ „Aber ...“ „Darum wusste ich auch, dass Du den Kamin sabotiert hast. Da Du gar kein Feuer machen konntest, konntest Du auch nicht wissen, ob er qualt oder nicht. Die Vermutung lag also nehe, dass Du etwas hineingestopft hast. Für den Fall, ich würde der Sache auf den Grund gehen. Du konntest ja nicht wissen, dass ich einen ähnlichen Plan verfolgte, indem ich Deine Streichhölzer konfiszierte.“ Er umfasste Jins trotziges Kinn und hob es an. „Denkst Du wirklich, ich hätte diese Nacht überstanden, ohne Dich zu lieben, Kobold!? Seit Stunden frage ich mich, ob ich Dich übers Knie legen oder Dich um den Verstand küssen soll.“ „Übers Knie Legen?“ Hektisch begann Jin, an den Bändern seiner Hose zu zerren. „Das kannst Du auf nachher verschieben.“ Auch ihrer Kleidung wurde nun zu Leibe gerückt. „Agni, Jin. Wie viele Schichten sind das denn?“ „Mir war kalt, weil Du ja nicht ...“ Sie trudelten gegen die Tür, wo Zuko das Plappermäulchen seiner Frau umgehend mit Beschlag belegte. Jin sah die Sache natürlich anders. SIE war es, die Zuko küsste. Ganz klar! Gegen massives Holz gepresst umklammerte sie seinen Kopf und holte sich ihre längst überfällige Portion Leidenschaft. Natürlich hatte sie viele Dinge vermisst. Die meisten waren emotionaler Natur gewesen. Aber DAS ... das hatte ihr mit am meisten gefehlt. Anscheinend hatten die Leute, die sie `Jin die Unersättliche´ nannten (eigentlich wagte das ja nur Zuko) doch recht. Als heisse Lippen zur empfindsamen Stelle hinter ihrem Ohr glitten, entfuhr ihr ein lautes Ächzen. „Jin!“ Sein Raunen verursachte tausende kleiner Schauer. „Ich hab Dich so vermisst!“, stiess sie atemlos hervor. „Gleichfalls!“ Für eine ausführlichere Aussage hatte der Erhabene keine Muße, denn mittlerweile widmete sich sein Mund wieder wichtigeren Dingen. „Zuko!“ Sein Drachengrollen war eine durchaus adäquate Antwort. „Ich ... hatte jetzt wirklich genug Vorspiel!“, keuchte Jin und versuchte, ihren massiven Ehemann zum Bett zu zerren. „Ungeduldig wie immer.“ „Klappe!“ „Wo hättest Du sie denn gern?“ „Zuko!“ Eine Stunde später war Zuko trotz des unausgefochtenen Disputs so zufrieden, dass es im Bereich des Möglichen zu liegen schien, zur Abwechslung mal wieder durchzuschlafen. Jin war genau da, wo sie sein sollte. Eng an ihren Mann gekuschelt strich sie schläfrig durch sein Haar. Als Gegenleistung wurden ihr zärtliche Küsse auf Schläfe und Haaransatz gedrückt. Die Atemzüge Seiner Lordschaft wurden tiefer und langsamer, ein sicheres Zeichen dafür, dass er im Begriff war, in den Schlaf hinüberzudämmern. „Zuko?“ „Hm.“ „Schläfst Du schon?“ „Mhm.“ „So richtig?“ „Hm.“ „Wirst Du morgen sehr schimpfen?“ „Jin ...“, murmelte ihr übermüdeter Gatte undeutlich. „Lass gut sein für heute.“ „Mhm.“ Sie vergrub ihre Nase an seiner Halsbeuge und er döste zurück ins Niemandsland. „Das heisst, Du wirst mir morgen die Hölle heiss machen, oder? Ich weiss ehrlich gesagt nicht so genau, warum.“ Zuko stöhnte auf und warf sich frustriert auf den Rücken. „Lieber Himmel, Jin! Willst Du wirklich JETZT mit dem Streit anfangen?“ „Eigentlich ... würd ich am liebsten gar nicht damit anfangen.“ „Ich fürchte, diese Option fällt flach.“ „Aber warum denn? Ich hab doch nur ...“ „Dich gegen meine Anweisungen gestellt, Jin. Das ist es, was Du getan hast. Durch Deine Handlungen hast Du eindeutig Stellung gegen mich bezogen. Und nun würde ich gerne schlafen!“ „Ich ... ich fand Deine Maßnahmen einfach übertrieben!“ „Gut! Offensichtlich willst Du gleich streiten. Schön.“ Er machte sich los, verliess das Bett und wickelte sich in seinen Kimono. „Dein Verhalten war unangemessen und illoyal.“, sagte er sachlich. „Illoyal?“, flüsterte Jin. Er musste wirklich sehr aufgebracht und verletzt sein, wenn er ihr DAS vorwarf. „Du hältst mich für illoyal?“ „Wenn Du meine Autorität auf diese Art und Weise untergräbst? Ja, dann ist das die passende Vokabel.“ „Ich ... das bin ich NICHT! Aber hier geht es um unsere Kinder, Zuko. UNSERE. Wie soll ich es denn nennen, wenn Du sie ins Exil schickst, ohne mich zu fragen? Partnerschaftlich?“ „Jin. Es geht hier nicht nur darum, ob ich unseren Söhnen eine übertriebene Strafe aufgebrummt habe, oder ob Du Dich aus Trotz in eine haarsträubende Situation begibst. Ich habe die beiden nicht als Vater bestraft, sondern als ihr Herrscher. Ihr Verhalten war mehr als fragwürdig. Soll ich es ihnen durchgehen lassen, nur weil sie meinen Lenden entsprungen sind? Tut mir leid, aber von Doppelmoral habe ich noch nie viel gehalten. Leider bin ich nun mal der Feuerlord und muss ab und an ein Beispiel geben. Alles was ich tue wird genauestens beobachtet. Alles was DU tust, wird genauestens beobachtet. Und nun hat die Welt erfahren, dass Du meine Befehle ignorierst, und meine Entscheidungen ins Lächerliche ziehst.“ „Oh! Du kannst es also abschalten, ein Vater zu sein? Na , DAS ist ja mal hochinteressant.“ „Du verdrehst mir die Worte im Mund!“ „Und DU ... Du verdrehst mein Verhalten! Ich BIN loyal! Immer! Und das weisst Du auch verdammt gut!“ Zornig wischte sie ein paar Tränen fort. „ICH habe nämlich zufällig als Mutter gehandelt, und nicht als Feuerlady.“ Sie wickelte sich erneut in ein Laken, rauschte zum Kamin um die Zündholzschachtel an sich zu nehmen und ging zur Tür. „Wo willst Du hin?“ „Auf mein Zimmer. Solange Du mir Illoyalität vorwirfst, kannst Du auf meine Anwesenheit ja bestimmt verzichten!“ „Es ist zu kalt!“ „Wärmer als hier!“ „Wenn ich dich daran erinnern dürfte, dass es Deine Idee war, diesen Streit jetzt auszutragen.“ „Ja. Auch dafür trage selbstverständlich ich die Schuld. Ich werde Dich jetzt allein lassen, dann kannst Du Dir auch weiterhin einbilden, ich hätte mich gegen Dich gestellt. Gute Nacht!“ „Nacht!“, knurrte er. Natürlich konnte Jin nicht schlafen. Illoyal!? Dieser Vorwurf traf sie vor allem deshalb so tief, weil es für Zuko kaum etwas schlimmeres gab als das. Ihr Ehemann hatte in seiner Kindheit und Jugend zu viel Verrat und Intrigen erlebt. Es war essentiell für ihn, sich mit Menschen zu umgeben, denen er voll und ganz vertrauen konnte. Und nun dachte er, sie hätte dieses Vertrauen missbraucht? Das verletzte sie. Doch nicht so sehr, wie der Gedanke an den offensichtlich arg gekränkten, einsamen Drachen, zwei Türen weiter. Wenn er nur nicht so ein verdammter Dickschädel wäre! Aber so war Lady Jin eben. Sie konnte wundervoll streiten. Am besten mit Zuko. Selbst dann, wenn sie seinen Standpunkt mindestens ebenso gut nachvollziehen konnte, wie ihren eigenen. Das Ende vom Lied war, dass sie zum Schluss sehr oft auf ZWEI Leute böse war. Ihren geliebten Widersacher und ... sich selbst. Der nächste Morgen war um keinen Deut besser. Und er sollte noch schlimmer werden. Als Zuko um Punkt sieben auf der Bildfläche erschien, sah Jin ihm nicht in die Augen. Er würde ohnehin wissen, dass sie geweint hatte, da musste sie es ihn nicht auch noch sehen lassen. „Guten Morgen! Hast Du gepackt?“, fragte er. „Ja.“ „Gut. Dann werden wir unverzüglich abreisen.“ „Ich würde mich aber noch gerne verabschieden.“ „Verabschieden?“ „Die Koros haben Iroh und mich ganz reizend bewirtet. Das ist das mindeste was ich tun kann.“ „Du willst diesen Leichtsinn hier noch weiter treiben?“ Seine Augen verschmälerten sich bedenklich. „Das ist kein Leichtsinn. Ich hab schliesslich meine Aufpasser dabei.“ „Nein. Ich wünsche, dass Du mit mir zurückkehrst!“ „Du verstehst überhaupt nicht worum es mir geht, oder, Zuko? Ich will mich nicht gegen Dich stellen ... Ganz bestimmt nicht! Aber was ist mit meinen Wünschen? Sind die unwichtig? Vielleicht brauche ich ja das Gefühl, EINMAL wieder eine eigene Entscheidung zu treffen. Was ist mit der alten Jin We? Existiert sie überhaupt noch? Oder hab ich nur noch das Recht, Feuerlady zu sein? Vielleicht habe ich das ja satt.“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, erkannte Jin ihren Fehler. Zuko starrte sie an. Konsterniert. Vor den Kopf gestossen. Einen Wimpernschlag später war sein Gesicht wieder emotionslos. „Verstehe.“ Seine Stimme klang noch rauer als üblich. „Ich wusste nicht, dass Du es leid bist, meine Frau zu sein.“ „Was?“, hauchte Jin entsetzt. „Nein! Das stimmt doch nicht! So hab ich das nicht...“ „HAUPTMANN KERU?“ "Zuko! Bitte!" Die Tür öffnete sich. „Mylord?“ „Lady Jin hat den Wunsch, hier zu bleiben. Sie wird Eurer Obhut überstellt.“ Der Ausdruck in Zukos Augen gefiel Jin ganz und gar nicht. „Ich bürge für ihre Sicherheit, Herr.“ „Dessen bin ich mir sicher.“, antwortete der Herrscher der roten Lande. Sein Blick suchte den seiner Frau. „Jin.“ Mit einem respektvollen Neigen seines Kopfes wandte er sich zum Gehen. „Zuko ...!“ Das Letzte was sie sah, war sein abweisender Rücken. Unten in der Schankstube starrte Tissa ihrem vermeintlichen Lord hinterher, wie er das Gasthaus verliess. „Vielleicht war er´s ja doch nicht.“, murmelte sie. „Ich mein ... die beiden sind angeblich unzertrennlich. Und die Dame ist doch noch oben.“ „Ja.“, bestätigte Ren sarkastisch. „Darum hat er auch nach nem Hauptmann gebrüllt. Weil er´s nicht ist. Also ehrlich, Tissa ...“ „Ah ... dann glaubst Du´s auf einmal doch?“ „Ich brauch jetzt nen Doppelten!“ Tissas Restzweifel verflogen spätestens dann, als sie beim Servieren des Frühstücks das traurige Gesicht ihres Lieblingsgastes sah. Die immer so freundlichen Augen der Lady lachten überhaupt nicht mehr. Sie sass da, sagte artig „Bitte“ und „Danke“, mit dem Kopf war sie jedoch weit, weit weg. Oder, besser gesagt, mit dem Herzen. Es war wirklich nicht mitanzusehen. Tissa beschloss, sich einzumischen. Wenigstens ein bisschen. „Meine ... äh ... Ladyschaft?“, tastete sie sich vor. Jin blickte auf, kein Stück verwundert ihre Identität gelüftet zu sehen. Zukos Erscheinung war eben zu eindrucksvoll, um unerkannt zu bleiben. „Ja?“ „Möchtet Ihr vielleicht ein paar Pfannkuchen mit Sirup? Mir helfen sie immer, wenn ich Kummer hab.“ „Wirklich? Dann sollte ich wohl einen ganzen Berg davon verdrücken.“, flüsterte Jin. „Ich hol gleich welche!“ „Tissa?“ „Ja?“ „Ich weiss, es ist viel verlangt, aber ... wäre es möglich, momentan noch nicht zu verbreiten, WEN Sie hier beherbergt haben? Ich ... wie Sie ja wissen, habe ich einen meiner Söhne hier besucht, und ich will nicht, dass seine Anwesenheit bekannt wird.“ „Natürlich nicht! Wir sagen bestimmt nichts! Ihr könnt Euch darauf verlassen!“ „Das dachte ich mir schon.“ Endlich huschte ein kleines Lächeln das Gesicht der Dame aus Zimmer zwei. „Wenn dieser ganze Spuk vorbei ist, werde ich Ihnen ein persönliches Dankschreiben zukommen lassen, indem ich ausdrücklich betonen werde, wie wohl ich mich hier gefühlt habe. Natürlich mit dem offiziellen, fürstlichen Sigel versehen.“ „Ich ... Sie ... Ihr habt Euch bei uns wirklich wohl gefühlt?“ „Sehr, Tissa!“ Die Wirtin schwebte hinaus, um die fluffigsten Pfannkuchen ihres Lebens zu machen. Sie sollten sich bald enorm großer Beliebtheit erfreuen und das kleine Gasthaus in eine bescheidene Goldgrube verwandeln. Die ausstehenden Abschiede brachte Jin recht schnell hinter sich. Iroh hatte beschlossen, noch einen Tag länger zu bleiben, um einen alten Freund in Agnam Ba zu besuchen, Lee war auch ziemlich beschäftigt und ... und überhaupt! Sie kam sich unnütz und verloren vor. Sie wollte nach Hause! Eigentlich hatte sie das doch ohnehin schon gewollt. Doch dann hatte Zukos Autokratie ihren Trotz erneut aufs Tablett gerufen. Jin hasste das; hasste sich selbst dafür. Am meisten hasste sie jedoch den Schmerz, der in seinem Blick gelegen hatte, als er sich verabschiedet hatte. Sie hatte ihm unabsichtlich einen Dorn ins Fleisch getrieben. Es wurde höchste Zeit, ihn wieder rauszuziehen. Schön! Dann brauchte sie ihn eben! Dass dem so war, hatte sie doch ohnehin schon immer gewusst, oder? Ihre Sehnsucht hatte das Gefühl der Abhängigkeit einfach nur zu schmerzhaft werden lassen. Damit musste sie wohl leben. Solange er da war, konnte sie das auch mit Freuden tun. Denn im Prinzip lief es wirklich nur auf diese simple Tatsache hinaus: Sie brauchte ihn. Brauchte seine Klugheit, seine unerschütterliche Ruhe, seine partiell auftretende Hitzköpfigkeit, seinen trockenen Humor. Brauchte es, dass er sie brauchte und ... noch tausende Dinge mehr. Er war ihr Gegenpol und sie der seine. Normalerweise wusste er das auch. Er musste nur schnellstens daran erinnert werden. Kapitel 12: Drache und Kobold ----------------------------- Dieser Flugdrache war eine lahme Mähre! Offensichtlich nicht gerade der Champ im Stall Seiner Durchlaucht. Jin hätte ihn ja mit einer Nadel gepiekt, wäre es nicht ihr Lieblingstier gewesen. Nur heute ... Himmel noch eins! Flog das Vieh etwa Umwege? Oder hatten sie Gegenwind? Zuko war bestimmt schon seit ... seit ... Ewigkeiten daheim. Und genauso bestimmt rannte er schon Trampelpfade in den Marmorboden und wurde von quälenden Selbstzweifeln zerfressen. Sie kannte ihn zu gut, um etwas anderes zu denken. Sie würde es nie verstehen! Wegen dummer Kleinigkeiten konnte er ihr einheizen, dass die Hölle dagegen wie das Kinderparadies eines zu groß geratenen Nudelrestaurants wirkte. Doch wenn es ans Eingemachte ging, um die wirklich wichtigen Dinge, suchte er den Fehler immer nur bei sich. Dieser Mann, der die absolute, selbstsichere Autorität ausstrahlte, war einer der größten Selbstzweifler, die sie kannte. Dabei hatte das niemand weniger nötig als er! Auf der anderen Seite machte es ihn jedoch zu demjenigen, der er war. Immer bereit, an sich zu arbeiten, immer voller Bestreben, das Beste zu tun. Doch in diesem Fall gab es nichts, um daran zu arbeiten. Nichts, was er tat, könnte ihn in ihren Augen verbessern. Perfekt war nun mal perfekt. Und für sie war er genau das. Seine Kanten passten haargenau in ihre Macken. Und umgekehrt! Dass sie ihm das aber auch immer wieder in seinem Schädel hämmern musste ... Also rannte Mylady nach der Landung im Feuerpalast mit gerafften Röcken an ihrem Begrüßung-Komitee vorbei und rief den Versammelten nur ein atemloses „Hallo!“ zu. Aya blinzelte. Ihr Vater war auch schon so seltsam gewesen. „Was ist denn heute in unsere Erzeuger gefahren?“, murmelte Kiram neben ihr. „Hm. Vielleicht die Jahreszeit?“, spekulierte Zirah, die Jüngste. „Ach ... und was ist am Spätsommer bedenklich?“ „Weiss ich doch nicht, Zuckerschnute.“ „Hör auf, mich so zu nennen!“ „Aber wieso denn? Es ist der Titel, den die völlig betörten Zimmermädchen Dir gegeben haben. Du solltest ihn mit Stolz tragen!“, grinste sie. „So? Na, dann könnte ich Dir ja den Spitznamen geben, den Du Dir letzte Woche beim Training verdient hast.“ „Der wäre?“ „Knubbelkinn!“ „Was? Das war nur eine ganz leichte Beule! Nach einem Tag war sie weg!“ Aya schloss die Augen und zählte langsam bis sieben. „Wenn ihr nicht augenblicklich aufhört, werd ich euch ins Kinderzimmer stecken lassen.“, sagte sie ruhig. „Ts! Und WER soll diesen Befehl ausführen?“, wollte Zirah wissen. „Hauptmann Nezu, natürlich.“ „Oh Mist! Manchmal vergesse ich, dass Du Deine Killer-Queen ja rund um die Uhr herumkommandieren darfst.“ „WEN?“ „Äh...“ Zirah überkam das unwiederrufliche, schweisstreibende Gefühl, ein Mienenfeld betreten zu haben. „Hauptmann Nezu“, antwortete sie schwach. „Ich... ich will auch einen Dauer-Gardisten. MEIN Kage lässt sich meistens nur blicken, wenn ich den Palast verlasse“, versuchte sie zu scherzen, um die Scharte wieder auszuwetzen. Aya sog scharf die Luft ein, als ihr wundester Punkt von einer Breitseite getroffen wurde. „So?“, flüsterte sie. „Ich kann Dir sagen, wie Du zu der Ehre kommst, permanent einen Leibwächter abgestellt zu bekommen.“ Es war selten, dass Ayas goldene Augen so blitzen, wie die ihrer männlichen Verwandtschaft. „Du musst Dich beim Feuerbändigen und Kämpfen einfach zu dämlich anstellen. So wie ich. Dann lässt Vater sich bestimmt erweichen!“ „Aya ...“ „Ich muss zur Konversationsstunde! Schönen Tag noch!“ Bedeppert sah Zirah ihrer älteren Schwester nach. „Also ... So hab ich das doch nicht gemeint.“ „Agni, Zirah! Du weisst doch, dass sie in dieser Beziehung empfindlich ist. Wie würdest Du Dir denn vorkommen, als Tochter des Feuerlords nicht bändigen zu können?“ „Es tut mir ja auch leid ...“ „Sag das nicht mir, sondern Aya.“ „Ja ... Kannst Du mitkommen? Ich bin im Entschuldigen nicht gut.“ „Na, dann solltest wohl DU die Konversationsstunden nehmen, hm?“ „Bitte, Kiram!“ „Himmel! Würdest Du Dich bitte daran erinnern, dass Du genauso alt bist, wie ich.“ „Stimmt nicht! Du hattest Dich vorgedrängelt und warst eine ganze halbe Stunde eher da.“ „Tja ... bestimmt hatte Dein Knubbelkinn Dich aufgehalten.“, grinste der Prinz. Es tat wirklich gut, nicht das ALLERletzte Kind zu sein. Allerdings musste er feststellen, dass ALLERletzte Kinder sehr gute Schmoll-Taktiken entwickeln konnten. Die grünen, flehenden Tümpel, zu denen Zirah ihre Augen nun werden liess, waren zu viel für ihn! „Oh verdammt! Schon gut! Komm ich eben mit. Aber irgendwann, Floh, gerätst Du in eine Situation, aus der Dich niemand rauspaucken kann!“ „Ach was. Du kannst doch alles, Zuckerschnute!“ Jovial tätschelte sie ihm die Wange. Kiram sendete nur einen resignierten Blick gen Himmel. Im Inneren des Palastes streifte Jin achtlos ihren Reisemantel ab. „Weisst Du wo Zuko ist, Tante Ria?“ „Da er zu Deiner Begrüssung nicht da war, vermute ich doch sehr, dass er in einer Besprechung ist.“ „Hm. Vielleicht.“ „Vielleicht? Missy, Dein Tonfall gefällt mir nicht.“ „Nein.“, seufzte Jin. „Mir auch nicht. Wir haben uns gestritten.“ „Gestritten? Ist denn schon wieder Schaltjahr?“ „Tante Ria!“ „Herrje. Ist es SO schlimm?“ „Ich ... hab ziemlich dämliche Sachen gesagt und Zuko ...“ „Was?“ „Ich glaube, so verletzt war er selten.“, gab Jin kleinlaut zu. „Kindchen!“ Ria schnalzte mit der Zunge. Nichtsdestotrotz zog sie ihre Nichte an sich. „Dann geh mal besser zu ihm.“ „Ja. Wenn er mich sehen will ...“ „Also, man kann dem Mann ja viel vorwerfen ... oder ... nein, stimmt ja gar nicht. Jedenfalls ist er nicht konfliktscheu.“ „Ja, schon. Aber ich bin es.“ „Dann bring´s hinter Dich, Knubbelchen.“ „Ich versuch´s.“ Bang machte Jin sich in Richtung der Arbeitszimmer auf. Sie beschloss allerdings, zuerst Tian Fu zu behelligen. Die Tür öffnete sich und er verbeugte sich respektvoll. „Lady Jin! Wie schön, Euch wieder zu sehen.“ „Danke, Tian. Ich freue mich auch, wieder hier zu sein. Ist ... ist er da?“ Die rechte Hand des Feuerlords warf ihr einen forschenden Blick zu. „Nun ... ja.“ „Das klingt nach einem großen `Aber´.“ „Leider ist er mitten in einer Besprechung.“ „Oh.“, machte Jin. „Sonst hätte er Euch mit Sicherheit angemessen begrüsst.“ „Ja. Bestimmt.“, murmelte sie. Dabei war sie überhaupt nicht sicher, was Zuko momentan als angemessen empfand. „Dann ... geh ich mal wieder.“ „Ich werde ihn so bald als möglich über Eure Ankunft informieren.“ „Ja. Danke, Tian.“ `So bald als möglich´ war jedoch alles andere, als rechtzeitig. Die Besprechung, falls es eine solche gab, zog sich bis in die Abendstunden hin und Jins Mut sank von Minute zu Minute mehr. Sie setzte sich auf das überdimensionierte Ehebett, umklammerte Zukos Kissen, begab sich irgendwann in die Horizontale und war kurze Zeit später eingeschlafen. Mitten in der Nacht erwachte sie. Ordentlich zugedeckt, den Rücken gegen die warme Brust ihres Mannes geschmiegt, sein Arm um ihre Taille gelegt. Vor Erleichterung, dass er trotz ihres Streits an seinen Schlafgewohnheiten festhielt, musste sie ein bisschen schniefen. Bestimmt würden sie beide morgen Früh alles wieder ins Lot bringen. Als helles Sonnenlicht auf ihr Gesicht fiel, wurde Jin jäh aus einem durchaus angenehmen Traum gerissen. Benommen setzte sie sich auf und blickte nach links. Doch Zukos Laken waren selbstverständlich schon kalt. Sie hatte verschlafen! „Oh ... MIST!“ Verärgert über sich selbst sprang Jin aus dem Bett. „Dumme Pute!“, fluchte sie vor sich hin. „Warum verschläfst du nicht gleich die ganze nächste Woche? Dann kann er sich von allein abreagieren!“ In ihrer Hast beschloss sie, sich selbst anzukleiden. Auf das Entsetzten, dass sie bei ihrer Zofe hervorrufen würde, konnte sie beim besten Willen keine Rücksicht nehmen. Sie eilte, wieder einmal, zu den Arbeits- und Konferenzräumen und liess Tian kaum die Zeit für eine Verbeugung. „Tian, ich muss dringend meinen Gatten sprechen!“ „Ich bedaure zutiefst, doch im Moment gewährt er dem Außenminister des Erdkönigreichs eine Audienz.“ „Verstehe.“ Ratlos kaute sie auf ihrer Unterlippe. „Wenn sie vorbei ist wird Seine Lordschaft Zeit für Euch finden.“ „Hm ... hoffentlich.“ „Aber selbstverständlich! Er bat mich bereits, alle weiteren Termine zu streichen.“ „Oh! Gut! Dann ... warte ich.“ Doch nur zu warten, hielten die Neven ihrer Ladyschaft nicht aus. Um nicht kirre zu werden, floh sie in die Weberei, wo sie sich einbilden konnte, nützliche Aufgaben zu erledigen. Wie zum Beispiel Löcher ins Nichts zu starren ... „Mylady?“ Jin schrak auf. „Ja, Una?“ „Falls Ihr Zeit habt, wünscht Seine Lordschaft Euch zu sprechen.“ „Natürlich!“ Mit einem Tempo, das man durchaus als Rennen einstufen könnte, hastete die Feuerlady aus dem Raum. „Er ist in den Privatgemächern!“ rief Una ihrer Herrin hinterher. Nach einem recht zaghaften Klopfen betrat Jin die Höhle des Löwen (in unserem Fall ihre und Zukos Privatbibliothek). „Du wolltest mich sprechen?“ „Ja.“ Zuko stand am Fenster und blickte in die Gärten hinaus. „Es gibt einige Punkte, die ich gerne klären würde.“ „Gute Idee.“, murmelte Jin, der ihre unausgesprochene Entschuldigung auf der Seele brannte. „Seit wann bist Du nicht mehr glücklich, Jin?“ „Was?“ Perplex starrte sie auf seinen breiten Rücken. „Ich möchte es wissen. Seit wann ist das so?“ Endlich drehte er sich um, aber sein Blick wirkte stumpf. „Das ist überhaupt nicht so!“, stiess Jin betroffen hervor. "Ich bin nicht ..." „Ich kann leider nicht ändern, was ich bin. Und auch nicht den goldenen Käfig, in dem wir leben. Ich kann die Verantwortung ebenso wenig ablegen, wie meine Augenfarbe.“ „Zuko ...“ Ihr Einwand blieb unbeachtet. Allem Anschein nach hatte er wohl überlegt, was, und vor allem wie er es sagen wollte. Mit unerschütterlicher Ruhe. „Allerdings gibt es etwas, das ich ändern kann. Und das bin ich selbst. Ich werde Dir in Zukunft mehr Freiraum lassen.“ „Ich habe genug Freiraum!“ „Ich werde mich bemühen, weniger despotisch zu sein. Ob mir das auf Anhieb gelingt, weiss ich nicht, doch ich werde alles daran setzten, Dich wieder glücklich zu machen.“ „Gut! Fein! Bestens! Dann hör sofort mit diesem Unsinn auf!“ „Unsinn? Das ist kein Unsinn. Du meintest, Du seist kein eigenständiger Mensch mehr, Jin. Jeder hat das Recht auf Selbstbestimmung, doch ich scheine Dir das Gefühl gegeben zu haben, nurmehr mein Eigentum zu sein. Das tut mir sehr leid.“ „Zuko! Denkst Du denn wirklich, ich wäre unzufrieden?“ Sie forschte in seinen Augen und fand dort die kummervolle Antwort. „Ich war einfach nur wütend. Und allein. Und das mit dem gehören ...“ Jetzt starrte sie auf ihre ineinander verknoteten Finger. „Ich gehör Dir doch, Drache.“, flüsterte sie. „Genauso, wie Du mir. Das ist nunmal so. Doch zum Glück weiss ich, dass es keine Verantwortung gibt, mit der Du vorsichtiger umgehst. Darum pass ich auf Dich auf, und Du auf mich. Punkt. Ende der Diskussion!“ „Jin ...“ „Nein! Ich will nichts mehr davon hören! Dich ändern?“ Sie warf die Hände in die Luft. „Meinetwegen lass Dir die Haare schneiden, oder lern Teppiche zu knüpfen. Wenn Dir das Spass macht, stehe ich wie ein Fels hinter Dir. Aber WAGE es nicht, Dich zu ändern, nur weil Du plötzlich denkst, ich würde das wollen!“ „Jin ...“ „Ich liebe Dich, Zuko! Und zwar genauso wie Du bist! Und diese Worte sind nur eine äußerst dürftige Annäherung an das, was ich empfinde. Ich werde auch den Menschen lieben, der Du morgen bist, oder in vielen, vielen Jahren. Nur ... Dich ändern zu wollen ... wegen MIR? Kommt nicht in die Tüte! Nichts was Du tust könnte mich zufriedener machen, als ich es schon bin. Na ja ... mit dem Küssen ist das natürlich etwas anderes. Dann bin ich NOCH euphorischer, aber das ist ja nicht das Thema.“ Doch der Gebieter der Flammen schien sich nicht ablenken zu lassen, wirkte immer noch skeptisch. „Verdammt, ich BIN doch selbstbestimmt!“, rief sein Weib. „Ich WILL hier leben! Und mehr als alles andere WILL ich Deine Frau sein! Und ab und an will ich eben auch mit Dir streiten, mich mit aller Macht gegen Dich stemmen. Vielleicht, um Deine Stärke zu spüren, oder ... oder weil ich so auf die Versöhnungen steh. Ich weiss es nicht. WAS ich weiss, ist, dass es mich irgendwie noch näher zu Dir bringt. Und genau da ist es, wo ich sein möchte, Zuko. Bei Dir. Und es ist egal, ob das in einer Hütte, einem Teehaus, oder einem zu groß geratenen Palast ist.“ „Aber ...“ „Herrgott, Zuko! Ich will nicht, dass Du Dich änderst! Ich weiss, ich sollte das nicht sagen, doch ich mag es sogar, wenn Du stur bist. Oder herrisch. Wirklich rumkommandieren tust Du mich doch nur, wenn ich Dummheiten mache oder plane.“ Zuko hob die Hand. Es sah ganz so aus, als hätte er sich an dieser Sache wirklich festgebissen. „Jin.“, sagte er leise. „In Agnam Ba sagtest Du etwas in der Art, dass von der alten Jin We nicht mehr viel übrig sei. Das bedeutet, Du hast das Gefühl, Dich selbst verloren zu haben. Das sind nicht die Worte eines glücklichen Menschen.“ Seine Stimme klang verdächtig rau. „Die Vorstellung, Du könntest unglücklich sein ...“ „Unglücklich? Hörst Du mir überhaupt zu? Unglücklich ... Das ist das Lächerlichste, dass ich Dich je habe sagen hören! Ich war einfach nur so ... unausgeglichen. Völlig durch den Wind. Und was den Freiraum betrifft, kann ich nur noch einmal betonen: Ich habe genug Freiräume. Du lässt mir bei weitem mehr davon, als die meisten anderen Ehemänner ihren Frauen zugestehen. Die Weberei zum Beispiel... ich darf schalten und walten, wie ich es für richtig halte. Du lässt mich doch eigentlich fast immer tun, was ich möchte. Für die Zwänge, denen ich als Feuerlady unterliege kannst Du herzlich wenig, denn Du selbst bist den gleichen unterworfen. Ich war einfach zu allein, um das zu sehen. Mehr als alles andere, wollte ich, dass Du zurückkommst. Das ist letztendlich der einzige Grund, aus dem ich nach Agnam Ba gegangen bin. Ich wollte mich damit nicht gegen Dich stellen. Nie im Leben! Und wenn es jetzt tatsächlich Leute gibt, die meine Loyalität Dir gegenüber in Zweifel ziehen, tut mir das schrecklich leid. Das hatte ich nicht bedacht, denn für mich stand das niemals zur Debatte. Ich stehe zu Dir. Immer. Das musst Du doch wissen!“ Sie sah seinem versteinerten Profil an, dass seine Selbstzweifel noch immer nicht verflogen waren. "Das weiß ich ja, Jin. Aber ich musste etwas wegen den Beiden unternehmen." "Ja. Aber Du ... hättest es mir wenigstens schreiben können." "Was eine überstürzte Abreise Deinerseits zur Folge gehabt hätte und die ganze Damen-Konferenz wäre für die Katz gewesen." "Ich ... woher willst Du das wissen?" "Weil ich Dich kenne, Jin. Ich wusste auch, dass Du über meine Maßnahmen wütend sein würdest, doch ich dachte ich wäre hier, um Dir das ganze persönlich zu beichten. Und als Du Dich dann vor aller Augen über meine Entscheidung hinweggesetzt hast ... Ich wurde ziemlich ... zornig, als die Nachricht kam." "Ich weiß." "Nicht zuletzt, weil Du damit ein Risiko eingegangen bist.", fuhr er fort. "Ich HASSE es, wenn Du ohne meinen Schutz durch die Gegend spazierst!" "Ich weiß ja. Ich ... hab nur nicht daran gedacht, als ich abreiste. Na ja ... wenigstens nicht bewusst." Ihr Murmeln klang ein klitzekleines Bisschen kleinlaut. "Ja.", seufzte er. "Darum war mein Vorwurf auch unangebracht. Du warst aufgebracht. Nicht illoyal. Es tut mir sehr leid, mein He ..." Noch bevor Zuko der Reumütige seinen Satz vollenden konnte, schnürte Jin die Loyale ihm beinahe die Luft ab, so energisch warf sie die Arme um ihn. „Zuko ... Ich bin nicht vollständig, wenn Du nicht da bist. Das wusste ich schon vorher. Aber wie unvollständig ich ohne Dich tatsächlich bin ... das hat mich erschreckt. Doch damit kann ich leben. Solange Du da bist!“ „Glaubst Du, ich bräuchte Dich weniger, Kobold?“, raunte er schließlich. „Ich brauche Dich. Deine Liebe. Aber am allermeisten brauche ich die Gewissheit Deines Glückes.“ „Aber ich BIN doch glücklich! Lachhaft glücklich!" Sie legte sanft die Hände um sein Gesicht. "Ja, es stimmt. Ich wollte wissen, was von der alten Jin We noch übrig ist. Und weisst Du was? Sie ist noch da. Jedes konfuse, planlose Molekül von ihr! Und jedes einzelne davon liebt Dich! Ich will Dich nicht pflegeleichter, oder zahmer. Ich will meinen Drachen! Inclusive aller Macken und Kanten!“ „Na ja ...“ Endlich fiel diese selbstquälerische Starre von ihm ab. „Davon kann ich eine Menge bieten.“ Kläglich sah er ihr in die Augen. „Du bist ein Dummkopf!“ „Hab ich nie bestritten.“ „Genau deshalb bist Du ja einer!“ „Das ist Majestätsbeleidigung!“ „Dann widme ich mich jetzt eben der Majestätsbefriedigung.“ Mit diesen Worten beendete Jin die Debatte und presste ihn so fest sie konnte an sich. Nach einiger Zeit legte er die Stirn an ihre und stupste ihre Nase mit seiner. „Also ... Wie war das? Ein Kuss könnte Dich glücklicher machen?“, wollte er wissen. „Mhm. Wenn er gut ist ...“ „Waren sie das jemals nicht?“ Arroganter Kerl! Doch wo er Recht hatte ... „Nein.“, gab sie seufzend zu. „Erstaunlicherweise war in über sechsundzwanzig Jahren Ehe noch kein einziger Blindgänger dabei. Sie gingen alle ab, wie eine Festtags-Raket ...“ Da Zuko ja von der Pflicht, seiner Herrschsucht Zurückhaltung aufzuerlegen, befreit worden war, wurde Jin ungefragt unterbrochen. Von herrschaftlich herrischen Herrenlippen, die nach Beendigung eines herrlichen Kusses einen her(r)vorragenden Vorschlag unterbreiteten. „Schliess die Tür ab, Kobold!“ „Hab ich schon!“ „Mein weitblickendes Weib!“ „Mein dummer Tyrann! ... Kommode?“, keuchte sie. „Warum nicht?“, schnaufte die Flamme des Volkes, mit der Rechten bereits die seidenen Röcke Ihrer Ladyschaft raffend. Als sie eine Stunde später ihre Gemächer verliessen, war eines klar: das Herrscherpaar hatten zu seinem normalen, verrückt-entrückten Selbst zurückgefunden. Jin bemerkte die verstohlenen Blicke, die sie streiften, als Erste und spähte nach unten. „Lieber Himmel!“, zischte sie. „Du hast ja meine Röcke vollkommen zerknittert!“ „Und? Du bist die Feuerlady. Wenn Deine Röcke zerknittert sind, gehört dies eben zum guten Ton!“ „Zuko! Zerknitterte Röcke gelten nicht als schick, sondern als Indiz. Bei der Frau, die mir DIR verheiratet ist, sowieso.“ „Habe ich Dir schon gesagt, wie anbetungswürdig Du bist, wenn Du Dich entrüstest?“ „Nein.“ Sie schielte nach oben. „Wirklich?“ Seine Lippen zuckten nur. „Eigentlich ...“, sinnierte sie. „Da Du für heute keine Termine mehr hast, könntest Du ja eine Liste mit all meinen Vorzügen erstellen.“ „Eine Liste?“ „Ja. Schliesslich liebst Du es, Listen zu erstellen.“ „Wer sagt das?“ „Also bitte! Das weiss doch jeder!“ „So, so ... Jeder?“ „Mhm. Ebenso, wie alle Welt weiss, dass ich Dich irrsinnig glücklich mache. Schliesslich habe ich die Bestätigung dafür erst vorgestern bekommen.“ „Von wem?“ „Von Lees Chefin.“ „Diese Wald und Wiesen Amazone, die es gewagt hat, mich hinauszuwerfen?“ „Ja. Sehr nettes Mädchen! Und die Kinder ... am liebsten hätte ich sie mitgenommen!“ Eine Weile spazierten sie schweigend nebeneinander her. „Warum haben wir eigentlich nicht mehr?“ „Was? Kinder?“ „Ja.“ „Wegen der wundersamen Wirkung des Ombru-Saftes, mein Herz.“ „Das weiss ich doch! Aber ... warum dachtest Du, es sei nötig, ihn zu trinken?“ „Vielleicht weil er ein Verhütungsmittel ohne jegliche Nebenwirkungen darstellt?“ „Also ICH hätte gerne noch ein paar Windelpupser großgezogen. Warum wolltest Du keine mehr?“ „Das haben wir doch nun wirklich oft genug durchgekaut.“ „Nein, das hast DU durchgekaut.“ „Jin ... Man möchte annehmen, die Strapazen einer Zwillingsgeburt und die anschliessende sechswöchige Bettruhe hätten Dir als Antwort auf diese Frage genügt.“ „Es waren ja auch zwei auf einmal. Bestimmt hätte das nächste wieder den Anstand besessen, alleine aufzutauchen.“ „Ich hatte eben keine Lust, das Risiko erneut einzugehen. Nenn mich ruhig einen Spiesser, aber ich mag meine Frau gesund und unversehrt.“ „Vielleicht sollten wir Lee die Erlaubnis geben, sich ungeniert fortzupflanzen. Dann könnten wir uns um die kleinen Unfälle kümmern.“ „Jin! Willst Du mich wirklich in einen Nervenzusammenbruch treiben?“ „Du hattest heute ja noch keinen.“ „Erstaunlicherweise nicht.“ „Siehst Du. Wenn ich mich nicht um alles selbst kümmere ...“ „Ja. das hab ich wirklich vermisst, Kobold.“ „Ich weiss!“ „Und weisst Du, was ich noch vermisst habe?“ „Was?“ „Ständig über Deine, zugegebenermaßen reizenden, Pantoffeln zu stolpern!“, meinte er lakonisch und hob das perlenbesetzte Corpus Delicti vom Boden. „Oh! Den hab ich schon gesucht!“, strahlte sie. „Zweifellos.“ Lu Ten suchte ebenfalls. Nur hatte er leider nicht das Glück, über das Corpus Delicti zu stolpern. Es war die zweite Nacht, die er sich im staubigen Arbeitszimmer Beo Tutuks um die Ohren schlug. In diesem Raum liess er seine bisherigen Vorsichtsmassnahmen walten. Kerze auf dem Fussboden, Staubentfernung, Staub-Wiederanbringung, etc., etc., etc. ... Außerhalb des Zimmers hatte er das Herumschleichen gegen eine genial simple Scharade ersetzt. Mit einem sorgfältig präparierten Buch, in dessen Hohlkörper er alle notwendigen Utensilien unterbrachte, streifte er ganz selbstverständlich durch die Gänge. Falls ihm jemand begegnen sollte, wäre er einfach nur ein wissensdurstiger Assistent mit Schlafstörungen, auf der Suche nach nächtlicher Lektüre. Eine gute Tarnung war eben durch nichts zu ersetzten! Während er für das Wohl der Feuernation also einen Großteil seines benötigten Schlafes opferte, beschäftigte er sich sein Kopf bereits mit Problem Nummer zwei: der Tochter des Hauses. Seit der tiefgreifenden, folgenschweren Erkenntnis seines emotionalen Zustandes, vollführte er einen Eiertanz sondergleichen. Sein heutiges Verhalten Fräulein Tutuk gegenüber als inkonsequent zu bezeichnen, war noch die mildeste Umschreibung. Mal hatte er mehr als deutliche Signale gesetzt, mal war er an Zurückhaltung nicht zu überbieten gewesen. Als Mann, der zumeist den goldenen Mittelweg bevorzugte, ging ihm dieses auf und ab gewaltig gegen den Strich. Aber Tatsache war, dass Pineria mit den Spielregeln des Geschlechterkampfes herzlich überfordert schien. Flirten, ohnehin nicht eben Lu Tens Stärke, stiftete bei ihr nur Verwirrung. Anspielungen wurden gar nicht erst als solche erkannt. Am besten kam sie mit ihm klar, wenn er seine nüchtern sachliche Art beibehielt. Nur würde er auf diese Weise nicht einmal einen Blumentopf gewinnen. Doch allein die Vorstellung, rührselige Floskeln von sich zu geben, liessen dem Thronerben des Landes die Haare zu Berge stehen. Vielleicht sollte er einen Hofpoeten um einige passende Worte bitten? Ach was. Blödsinn! Selbst war der Mann. Und ein Tatzu sowieso. Er musste den Reitstrauss eben von der anderen Seite aufzäumen. Pineria Tutuk wäre für romantischen Gewäsch bestimmt ohnehin nicht zugänglich (Man könnte auch glauben, dass eher die Scheu, romantisches Gewäsch von sich geben zu müssen, Vater dieses Gedanken war. (Anm. der Autorin)). An diese Frau kam man am besten anders heran. Nur wie? Was war der angreifbarste Punkt des Käuzchens? Neugier? Wissensdurst. Ihre hochheilige Wissenschaft! Hatte sie nicht gesagt, sie erforsche das menschliche Fortpflanzungsgebaren? Vielleicht war es Zeit, dem Fräulein mehr Anschauungsmaterial zu liefern. Oder anders gesagt: Er würde ihre Instinkte für sich arbeiten lassen. Unter dem Deckmantel empirischer Forschungen würde er ihre Leidenschaft, die sie ja schon einwandfrei unter Beweis gestellt hatte, weiter für sich arbeiten lassen. Der entscheidende Vorteil dieser Vorgehensweise war, dass er auch in anderer Hinsicht Nägel mit Köpfen machte. Vom Bett zum Traufeuer war es nur noch ein kleiner Schritt. Und den würde er sie, wenn nötig, auch hinter sich her zerren. Vielleicht. Na ja ... Himmel, seit wann war er denn so dramatisch veranlagt? Hoffentlich nur eine kurzzeitige Charakterschwäche, verursacht durch seinen neuerdings instabilen Gemütszustand. Wie gesagt, beschäftigte sich Seine Hoheit mit diesen Dingen, während er seine systematische Suche nach dem rätselhaften Geheimnis Beo Tutuks fortsetzte. Alles andere als einfach, so ohne den blassesten Schimmer, WONACH man eigentlich sucht. Gegen halb drei beendete er seine fruchtlose Arbeit. Ein Gewitter war aufgezogen und erfahrungsgemäss erhöhte dies die Wahrscheinlichkeit, dass unruhige Geister durchs Haus streifen würden. Wie recht Lu Ten damit hatte, zeigte sich zwei Flure weiter. Flackerndes Licht näherte sich der Ecke, um die er gerade biegen wollte. Mit einem erschreckten Aufschrei hätte Pippa beinahe ihre Öllampe fallen lassen. Das ferne Grollen des nahenden Unwetters hatte sie aus ihrem unruhigen Schlaf gerissen. Und wie immer, wenn ein Gewitter drohte, hatte sie beschlossen, die nächste Stunde lieber im kuschlig dunklen Keller zu verbringen. Da gab es keine Fenster und Donnerschläge waren dort auch nicht zu hören. Sie wusste, diese Reaktion war unlogisch, da der Herrensitz durch zahlreiche Blitzableiter gesichert wurde. Trotzdem ... ihrem wildpochenden Herzen half das wenig. Vor ihrem inneren Auge sah sie die schauderhaften Verheerungen, die die Elektrizität anrichten konnte, erinnerte sich daran, wie es war, einem solchen Wetter ungeschützt ausgesetzt zu sein. Das schrille Schreien des Reitstraußes, bevor sie die Kontrolle verloren hatte und das Tier durchgegangen war. Wie sie im schlammigen Straßengraben gelegen hatte, vor Kälte, Angst und Schmerzen zitternd. Es mochte zwar kindisch sein, sich vor einem Gewitter zu fürchten, aber Pineria Tutuk hatte allen Grund der Welt dazu. Und sie hatte auch allen Grund zu erschrecken, als ihr dabei zum ersten Mal eine massive Gestalt in die Quere kam. „ARGH!“ „Fräulein Tutuk.“ „Gute Güte!“ „Ganz ruhig. Ich bin es nur.“ Selbst in dieser Situation klang der korrekte Herr Song überaus höflich und besonnen. „Was? Ja ... Ja, gut.“ Obwohl der Ausschnitt ihres Morgenmantels durchaus sittsam war, zupfte Pippa nervös daran herum. „K ... konnten Sie auch nicht schlafen?“ „Nein. Ein Problem hat mich wachgehalten.“ Pineria klammerte sich an diese Konversation, wie an einen Rettungsanker. Reden lenkte sie ab. „Ein Problem? Mit Ihrer Unterbringung?“ „Nein. Mit dem Zimmer ist alles in Ordnung.“ „Was für ein Problem denn dann?“ Lu Ten lenkte seinen Blick auf die Wand hinter seiner Arbeitgeberin. Ein weitaus unverfänglicherer Fleck, als die lockenden Sommersprossen oberhalb ihres Schlüsselbeins. „Ein ... wissenschaftliches. Ich konnte mich nicht mehr an den exaktem Schmelzpunkt von Beryllium erinnern.“ „Und?“ „Was und?“ „Was ist der Schmelzpunkt von Beryllium?“ „1278 °C.“ „Wie interessant.“ Ihre Augen huschten zum Fenster, durch das ein greller Blitz zu sehen gewesen war. „U ... und der Siedepunkt?“ Schnell kramte Lu Ten in den tiefen Regionen seines Langzeitgedächtnisses. „2476,85 °C. Ist etwas?“ „N ... nein! Alles bestens.“ Sie schenkte ihm ein verkrampftes Lächeln. Paradoxerweise fielen ihr in eben diesem Augenblick wieder die Lektionen von Bel und Miu ein. Doch das mit dem Wimperflattern liess sie trotzdem lieber bleiben, denn als sie es an diesem Nachmittag zum wiederholten Mal versucht hatte, hatte Lu Ten sie gefragt, ob sie etwas im Auge hätte. So viel also dazu. Entweder war der Herr immun gegen die gängigen Taktiken, oder sie war einfach zu ungeschickt. Wahrscheinlich letzteres ... „Fräulein Tutuk?" Sein Tonfall machte Pineria bewusst, dass er sie bereits zum wiederholten Mal angesprochen hatte. „W... was?" „Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?“ „Ja!“ Doch kaum hatte sie es ausgesprochen, zuckte sie zusammen. Die Spanne zwischen dem letzen Blitz und dem folgenden Donner war sehr kurz gewesen. Das Gewitter schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, seine Wut direkt über dem Herrenhaus abzubauen. „Pineria?“, fragte Lu Ten besorgt. „Sie ... Sie müssen sich keine Sorgen machen. Das Haus hat sieben Blitzableiter.“, versicherte sie hastig. „Das ist sehr beruhigend.“ „Ja. AAH!“ Ein ohrenbetäubendes Krachen liess den Boden leicht beben. „Sie zittern ja.“ „Was?“ „Sie zittern.“ Er musterte sie genau. „Wie Espenlaub.“ „Ach? B ... bestimmt die Kälte.“ „Das glaube ich nicht. Keine Gänsehaut zu sehen.“ Ach tatsächlich? Diese vermaledeite Beobachtungsgabe! „Ich ... dazu neige ich nicht.“ „Sie fürchten sich.“ Sie schluckte. „Nein!“ „Fräulein Tutuk, das mag jetzt überraschend kommen, aber Sie sind eine unsagbar unbegabte Lügnerin.“ „Ich ... Oh Gott!“, keuchte sie und hielt sich die Ohren zu. „Hat der eingeschlagen? Er hat eingeschlagen!“ Lu Tens Augen verengten sich. „Sie haben Angst vor dem Gewitter.“, stellte er leise fest. „Panische.“ Sie antwortete nicht. Brauchte sie auch nicht. Ihre aufgerissenen Augen verrieten ihm, was er wissen musste. „Sie brauchen keine Angst zu haben!“ „Ich weiss.“ „Sieben Blitzableiter sind mehr als ausreichend.“ „Ich weiss!“ „Sie sind hier so sicher, wie in einem Faradayschen Käfig.“ „ICH WEISS!“, schrie sie. Entsetzt über die eigene Lautstärke begann sie zu stammeln. „Tut mir leid. Ich ... ich wollte Sie nicht anschreien.“ „Das ist mir durchaus klar. Ihr Zustand scheint mir eher ...“ „Ich HABE keinen Zustand!“ Ein weiterer greller Blitz machte den schmalen Gang fast taghell „Ich ... muss in den Keller!“ „Den Keller?“ Verwunderte Blicke hin oder her, das Gewitter war jetzt direkt über dem Haus, also hastete Pippa kopflos an ihrem Assistenten vorbei. „Fräulein Tutuk?“ Nur noch drei blöde Treppen. Blöde, endlos lange Treppen ... „Fräulein Tutuk?“ Was? Er war immer noch da? „Sich zu verkriechen ist keine Lösung!“ „Sie ... Sie ... Das ist mir vollkommen wurscht! Als der nächste Donnerschlag das Gebäude erschütterte, riss Pippa die Hände vom Treppengeländer und hielt sich die Ohren zu. Eine fatale Reaktion, denn sie verlor das Gleichgewicht. Bevor sie fiel, wurde sie gepackt ... und Lu Ten war Agni sei Dank stärker, als die Schwerkraft. „Schluss mit dem Unsinn!“, stellte er klar und hob sie kurzerhand hoch. „Ich muss ... in den Keller!“, keuchte sie, krallte sich aber gleichzeitig in seinem Kimono fest. „Nein. Sie müssen sich jetzt erst mal beruhigen.“, sagte er und trug sie wieder nach oben. „Im Keller kann ich mich beruhigen!“ Eine weitere Entladung veranlasste Pippa wimmernd ihr Gesicht zu vergraben. Der nächstmögliche, sich bietende Ort war die breite, feste Brust Herrn Songs. Er öffnete die erstbeste Tür. Sie führte in eine Bibliothek. Natürlich! Diese hier war klein, ein wenig muffig, beherbergte aber ein gemütliches Sofa. Lu Ten setzte sich mitsamt seiner Last. „Ganz ruhig. Alles bestens.“ Das Waldkäuzchen zitterte munter weiter. „Ihnen geschieht nichts.“ Sie versuchte sich heldenhaft an einem Nicken und bewegte damit den Stoff seiner Jacke. Der Duft, der ihm daraufhin entströmte war wundervoll und tröstlich. Schenkte ihr auf unwirkliche Art und Weise Geborgenheit und Mut. „Habe ich schon erzählt, dass ich auch Elektrizität erzeugen und bändigen kann?“ Seine tiefe Stimme verstärkte das wohlige Gefühl. „N ... nein.“ „Sollte ein Blitz es wagen, sich meiner Arbeitgeberin zu nähern, werde ich ihn einfach in seine Schranken weisen.“ Pippa starrte auf die Stelle, an der die Säume seines burgunderroten Kimonos auseinander klafften. Schliesslich hatte sie sie direkt vor Augen. Da konnte ja kein Mensch von ihr verlangen, sich den Nacken zu verrenken, um wegzusehen. Seine Haut hatte einen leichten Bronzeton. Sie wirkte so warm. So lebendig. So... verlockend. Aber ... sie sollte jetzt etwas sagen, oder? „Wirklich?“, brachte sie heraus. „Aber sicher. Wo ist eigentlich Ihre Brille? Haben Sie sie verloren?“ Es würde bestimmt auffallen, wenn sich ihre Fingerspitzen zufällig unter das Leinen verirren würden. Oder? „Nein. Vergessen. Ich ... war wohl zu panisch.“ „Verstehe.“ Seine Hand begann wie von selbst, sacht über ihren Lockenkopf zu streichen. Pippa schloss die Augen. Getröstet zu werden war schön. Doch warum hatte sie dann diesen Drang, zu weinen? Warum verstärkte es diese unheilvolle Sehnsucht? „Woher kommt diese Angst?“ „Was?“ „Die Angst vor Gewittern. Woher kommt sie?“ „Ich ... von ... meinem Unfall.“ „Der Reitunfall?“ „Ja.“ Ein besonders lauter Donner zog nun, sexiest man alive (diesen Ausdruck, hatten Miu und Bell verwendet. Pippa hatte ihn für ungemein passend befunden) hin oder her, doch wieder Fräulein Tutuks Aufmerksamkeit auf sich und sie fuhr zusammen. „Schhh. Alles in Ordnung. Versuchen Sie einfach nicht daran zu denken.“ „Ich KANN nicht!“ „Sie müssen sich ablenken.“ Von einem Gewitter, das inzwischen die Lautstärke eines Kanonenbombardements erreicht hatte? Machte er Witze? „Ablenken? Wie soll ich mich denn bitte schön ...“ Seine Hand lag plötzlich warm und prickelnd in ihrem Nacken. „ab ...“ Pippa starrte auf seinen Mund, der eindeutig näher kam. „lenken?“, hauchte sie. „Vielleicht so?“, raunte er, ebenfalls auf sein Ziel fixiert. Befriedigt registrierte Lu Ten ihren hetzenden Atem, den jagenden Puls. Natürlich könnten dies auch nach wie vor Symptome der Angst sein. Doch dann schritt Pineria Tutuk zur Tat und bewies, dass ihr augenblicklicher Zustand wenig mit dem Unwettern draussen zu tun hatte, sondern eher mit einem inneren Orkan. Sie umfasste mit beiden Händen seinen Kopf, zog ihn nach unten. Überrumpelt von dieser Kooperationsbereitschaft, prallten ihre Münder aufeinander. Statt sich langsam aufzubauen entlud sich die Spannung ebenso heftig und unvermittelt, wie die Elektrizität der Atmosphäre. Pippa hätte die vorangegangenen Lektionen gar nicht gebraucht, um zu erkennen, dass dies ein Kuss der leidenschaftlichen Sorte war. Der überaus leidenschaftlichen! Ablenkungsmanöver oder wissenschaftliche Studie? Es war ihr verflixt egal, aus welchem Grund sie ihn bekam. Tatsache war, dass Lu Ten nicht so wirkte, als müsse er sich zu irgendetwas überwinden. Es war eher so, als fordere ein naturgegebenes Recht ein. Heiße Lippen pressten sich drängend auf ihre, schmolzen Bedenken und Scheu hinweg, erstürmten innerhalb von Sekunden die äusseren Barrieren und schafften somit die Basis der eigentlichen Invasion. Als seine Zunge begann, ihre zu umwerben, entwich Pippa ein leises Stöhnen. So rau. So fest. Und er schmeckte so unbeschreiblich wundervoll. Sie vergrub die Hände tiefer in seinem Haar und beantwortete genüsslich das sinnliche Reiben. In ihren Büchern stand nichts von diesem Amoklauf der Sinne. Nichts davon, dass man am liebsten ganz in den anderen hineingekrochen wäre, ihn wenn möglich verschlingen oder inhalieren wollte. Nichts von dieser Gier, die jeden zusammenhängenden Gedanken unmöglich machte. Nichts ... nur läppisches Gewäsch, verglichen mit der harten, goldäugigen Realität. Er forderte. Sie gab. Miss Tutuk begehrte, Seine Hoheit gewährte. Berauscht von ihrem Geschmack hatte Lu Ten seine Zurückhaltung endgültig in die Ecke gepfeffert. Und trotz dieses Ungestüms war er auf keinerlei Widerstand gestossen. Sein Käuzchen sass in der Falle. Jetzt nur nichts überstürzen ..! Er hörte ihr lustvolles Wimmern, ballte um Selbstbeherrschung ringend die Fäuste. Und verlor. Ein Grollen stieg in seine Kehle. Seine Hände entwickelten ein unplanmäßiges, schamloses Eigenleben und fuhren liebkosend ihre Seiten entlang. Die Linke fuhr zur Hüfte, um sie noch fester an sich zu pressen, die Rechte glitt langsam nach oben, verharrte neben ihrer kleinen festen Brust. Nur die Innenkante seines Daumens gestattete sich, sie in einer zarten Liebkosung zu berühren, ihr Gewicht zu stützen. Einer Atemnot nah, warf Pippa keuchend den Kopf gegen die Rückenlehne. Worauf Lu Ten eine weitere Schlacht verlor. Die zarten Sommersprossen an ihrem Schlüsselbein waren einfach zu verlockend. Aromatisch wie Zimt, bittersüss wie brauner Zucker, schmolzen sie auf seiner Zungenspitze. „Lu Ten!“ Der Name, der seit Tagen Echos in ihrem Inneren warf. „Ich bin hier, Fratz.“ Er raunte es gegen ihre Kehle. „Lu Ten.“, flüsterte sie, als müsse sie sich von seiner Echtheit überzeugen. Dann war sein Mund wieder da, um ihren in Besitz zu nehmen. Doch diesmal genügte ihr das nicht. Ihre Hände lösten sich aus seinem Schopf und suchten unbeholfen aber zielstrebig den Ausschnitt seines Kimonos, um an diese warme, lockende Haut zu kommen. „Pineria?“ Mit einem Quietschen fuhr Pippa zurück. Im Türrahmen stand in Morgenmantel und Nachthaube Nele Tutuk. Lu Ten hob unangenehm berührt die Brauen, räusperte sich und brachte sich in angemessenen Abstand zur Tochter des Hauses, zeigte ansonsten jedoch keinerlei Anzeichen der Verlegenheit. Ganz im Gegensatz zu seiner ... Komplizin. „M ... Mutter?“ Leise Verwunderung lag im Blick von Frau Doktor, als sie zwischen ihrer Tochter und deren Assistenten hin und her sah. „Ich wollte nach nur Dir sehen. Du ... hast doch immer solche Angst bei Gewittern.“ „Äh ... das ist ... äh.“ „Wir waren gerade dabei, etwas dagegen zu unternehmen.“ Unser Kronprinz war wieder ganz Herr der Lage. „Ich hielt es für angebracht, ihre Tochter etwas abzulenken.“ „Ach ... so nennt man das jetzt?“ Pippa spürte wie ungefähr fünfzig Prozent ihres gesamten Blutes sich in ihren Wangen versammelte. „Nein.“, sagte Lu Ten. „Der korrekte Terminus ist wohl küssen.“ „Ein bisschen unorthodox, oder?“, fragte Pinerias Mutter milde. „Ein ... bisschen.“ „Hat es denn geklappt, Schätzchen?“ „Was?“, stiess Pippa aus. „Äh ...“ Überdeutlich war sie sich des interessierten Blicks Herrn Songs bewusst. „Z ... ziemlich.“ „Wirklich? Wie wundervoll. Wir haben schon alles mögliche versucht, aber sie besteht immer darauf, sich im Keller zu verkriechen.“ „Mama!“ „Was denn? Stimmt es etwa nicht?“ „Ich ... ich werde jetzt schlafen gehen.“ Als sie aufstand, erhob Lu Ten sich ebenfalls. „Aber ... das Gewitter?“, fragte Nele verwundert. „Scheint sich zu verziehen.“ vermerkte Lu Ten ruhig. „Ja.“ Pippas Stimme stockte. „Gute Nacht!“ So schnell sie konnte, floh sie aus ihrem persönlichen Schlamassel. Ihre Mutter sah ihr hinterher und wendete sich dann Lu Ten zu. „Nun.“, meinte sie munter. „Geklappt hat es jedenfalls. Das mit dem ablenken.“ „Also, ich ...“ „Oh, es gibt keinerlei Veranlassung, die Situation zu rechtfertigen. Wir haben Pineria dazu erzogen, sich den Fesseln bürgerlicher Lebensart zu entziehen, Konventionen zu hinterfragen und sie nicht einfach so zu akzeptieren. Sie ist ein Freigeist.“ „Wissen Sie, Nele, ich glaube ihre Tochter ist weit weniger freigeistig, als Sie und ihr Mann denken. Sie scheint mir eher ... verträumt. Und verletzlich.“ „Ja. Das ist sie zweifellos. Aber muss das denn ein Widerspruch sein?“ „In mancher Beziehung schon.“ „Sie meinen in Beziehung Beziehung?“ „Äh ... ja.“ „Vermutlich haben Sie Recht.“, räumte Nele ein. „Aber wenn das Kind sich weiterhin nur vergräbt, ist damit auch nichts gewonnen. Und ausserdem ... Sie haben ganz richtig Verletzlichkeit bei meiner Tochter diagnostiziert. Das würde jemand, dem sie egal ist, niemals bemerken. Sie sehen also; ich vertraue Ihnen. Das dürfte dann auch der Grund sein, weshalb ich gegen Ihr ... Ablenkungsmanöver nichts einzuwenden habe. So, nun muss ich aber schleunigst wieder ins Bett. Gute Nacht!“ „Gute Nacht!“, sagte der Verführer ihrer Tochter artig. Also ... in spe. Verführer in spe. Zumindest wenn ihm nichts dazwischen käme. Kapitel 13: Stolz und Vorurteil ------------------------------- Jin schlief ganz wundervoll. Eben so tief und gut, wie sie es nur neben ihrem Gatten tat. Als Zuko sich unruhig bewegte, kuschelte sie sich noch etwas enger an ihn und seufzte zufrieden. Doch dann schnellte er keuchend hoch und sie schreckte auf. „Zuko?“ Sie tastete nach den Zündhölzern und entzündete eine Kerze. Seine Lordschaft saß auf dem Bettrand und fuhr sich mit beiden Händen durch die dunkle Mähne. „Zuko?“ Besorgt rutschte sie zu ihm und strich sanft über seinen Rücken. Er war schweissnass! „Schatz ... was ist denn?“ „Nichts, Jin.“, murmelte er. „Ich hab nur schlecht geträumt.“ „Geträumt? Was geträumt?“ „Nur ... das Übliche.“ „Das Übliche?“ Jetzt krabbelte sie um ihn herum. „Was soll das heissen `das Übliche´? War es etwa ein Traum von Deinem Vater?“ „Ja.“ „Aber ... ich dachte, diese Träume hättest Du nicht mehr.“, hauchte sie entsetzt. „Hab ich auch nicht mehr.“ Er blickte sie an. „Keine Sorge, mein Herz. In ein, zwei Tagen werde ich wieder schlummern wie ein Baby.“ „In ein, zwei ...? Was meinst Du damit? Hast Du diese Träume etwa wieder öfter?“ „Nein. Nur wenn Du nicht da bist.“ Sie starrte ihn an. „Aber ... ich BIN doch da!“, flüsterte sie und strich sacht einige Haarsträhnen aus seinem Gesicht. „Ja. Darum wird es ja auch wieder aufhören.“ „Du ... willst Du damit sagen, wenn ich fort bin, kommen Deine Albträume wieder?“ Hatte Lee DAS damit gemeint, als er erwähnte, sein Vater habe „nicht so besonders“ geschlafen? Seine Durchlaucht presste die Lippen aufeinander. „Zuko!?“ „Nur bei längerer Abwesenheit.“ „Aber ... warum hast Du denn nie was gesagt?“ „Warum? Weil ich Dich nicht noch mehr einschränken wollte, Kobold.“ „Einschränken?“ „Du hättest Dich keine hundert Schritte mehr von mir entfernt, wenn Du es gewusst hättest.“ „Da hast Du verdammt Recht! Außerdem wußte ich nicht, dass es Dein Wunsch ist, mich auf dieser Distanz zu halten.“ „Jin ...“ „Ja. Schon gut. Aber Du hättest es sagen müssen! Ich hab ohnehin keine Lust, ohne Dich irgendwo hinzugehen. Dieses blöde Damenkränzchen war schliesslich auch Deine Idee gewesen ...“ „Dieses blöde Damenkränzchen, wie Du es nennst, hat mir die Unterstützung von General Senori eingetragen. Seine Frau fand Dich überaus erfrischend.“ „Ts. Dann hätten ein paar Zitronen die gleiche Wirkung gehabt. Aber ... wo wir grade darüber sprechen ...“ Sie begann, mit der Fingerspitze planlose, imaginäre Muster auf seinen Oberarm zu malen. “Hat ... hat meine spontane Reise nach Agnam Ba Dir Probleme bereitet?“ „Probleme?“, fragte er beiläufig. „Nein.“ Sie wusste sofort, dass er log. „Oh! Dann bin ich wohl falsch informiert worden. MIR wurde nämlich gesagt, dass einige Deiner Kabinettsmitglieder mein Verhalten als „Unangemessen und dem inneren Frieden nicht zuträglich“ bezeichnet haben. Angeblich hätte ich es der Feuernation gegenüber an Loyalität mangeln lassen. Und man könne wohl kaum von den Untertanen Gehorsam verlangen, wenn selbst ICH mich Deinen Wünschen widersetze.“ „Und? Das sind nur die üblichen Schwätzer!“ „Die üblichen ... Zuko!“ „Jin. Bedauerlicherweise gibt es eben auch Kabinettsmitglieder, die nicht hinter mir stehen. Einige verstaubte Köpfe streben wieder die alte Vormachtstellung der Feuernation an. Meine Friedenspolitik ist ihnen ein Dorn im Auge und daher ergreifen sie einfach jede Gelegenheit, mich zu attackieren.“ „Ja. Aber, dass ICH ihnen einen Grund dazu geliefert hab ...“ „Kobold! Die Menschen wissen, dass Deine Loyalität mir und der Feuernation gilt. Keiner, der bei klarem Verstand ist, würde das anzweifeln.“ „Du selbst hast aber gesagt ...“ „Willst Du mir jetzt alle dummen Dinge, die ich jemals von mir gegeben habe, unter die Nase reiben?“ „Warum nicht?“, fragte sie etwas kläglich. „Würde ja nicht lange dauern.“ „Mittlerweile solltest Du es doch besser wissen, mein Herz.“ Sie bekam einen liebevollen Kuss. „Aber Du bist wohl der einzige Mensch, der selbst in meinen Fehlern noch verstecktes Potential wittert.“ „Ja. Sie sind durchaus ... ausbaufähig. Aber jetzt,“ Sie küsste seine Wange. „wirst Du wieder schlafen.“ Damit drückte sie ihn auf die Matratze, löschte die Kerze, schmiegte sich an ihn und flüsterte all diesen zärtlichen Kobold-Unsinn in sein Ohr, ohne den er nicht mehr sein konnte. Für den Rest der Nacht wachte Jin eifersüchtig über den Schlaf ihres Drachen. Eine Stunde vor Einsetzen der Dämmerung kletterte sie vorsichtig aus dem Bett und sabotierte den komplizierten Mechanismus des goldenen Glockenspiels, welches Seine Lordschaft sanft aus dem Schlaf zu klingeln pflegte (sofern er nicht bereits auf den Beinen war) und zog leise die Bettvorhänge zu. Auf diese Weise lahmgelegt, versagte Zukos innere Uhr komplett und gönnte ihm satte sieben Stunden Schlaf. Die Standpauke, die er seinem Weibe am Morgen zukommen liess, fiel entsprechend milde aus. „Ich hab Tian Bescheid gegeben.“, verteidigte Jin sich dann auch äußerst gelassen. „Du darfst Dich also beruhigen. Keiner musste Deinetwegen warten, rumsitzen oder sonst wie seine Zeit verplempern.“ „Aber so bleibt mir keine Zeit, vor der Sitzung die Statistiken über die Ernteerträge noch einmal durchzulesen.“, murrte Zuko halbherzig. „Die kannst Du doch sowieso auswendig.“ „Nicht ... wirklich.“ „Selbst wenn! Dich ausnahmsweise wieder ohne Augenringe zu sehen war es mir wert.“ „Augenringe? Ich hab doch keine Augenringe!“ „Doch, oh Unermüdlicher. Hattest Du. Aber keine Angst, Du warst trotzdem der schnuckeligste Herrscher weit und breit.“ „JIN ...!“ Etwa zwei Tage zuvor, in einer der vielen ländlichen Gegenden, über die Zuko II (Agni möge ihn schützen!) herrscht. Nachdem Jin abgereist war, kehrte die Routine in den Haushalt der Koros zurück. Sie hatte wohl oder übel Nihas Kampfgeist im Schlepptau, der sofort aktiv wurde, als sie Lee allein erwischte. Er war dabei, auf dem Dachboden der Scheune das feuchte Heu zu wenden. Seit wann war der Kerl eigentlich nur noch am arbeiten? Oder anders formuliert: seit wann war seine Arbeit so effektiv? Denn geackert hatte er bei genauerer Betrachtung eigentlich die ganze Zeit. Sein Umgang mit der Heugabel war jedenfalls erstaunlich virtuos. Nihas schlechtes Gewissen bekam Zuwachs. Umso wichtiger wurde es, endlich mit ihm zu sprechen. „Lee?“ „Hm?“ „Hast Du kurz Zeit?“ Er unterbrach seine Tätigkeit und drehte sich um. Ungläubigkeit lag auf seinem Gesicht. „Zeit? Hast DU denn welche?“ „Ich ... äh ... hab sie mir genommen.“ „So, so. Du nimmst Dir also Zeit? Dann muss es ja ziemlich wichtig sein.“ „Ist es auch.“ „Oh weh! Dann bekomm ich jetzt bestimmt Schelte, was?“ Die Heugabel wurde in die Ecke gestellt. „Nein. Ich will nur wissen, warum Du so viele Dinge verheimlicht hast.“ Lee fühlte sich mit einem Mal wie eine langschwänzige Katze in einem Raum voller Schaukelstühle. „Was für ... Dinge denn?“ „Na ja. Zum einen die Sache mit Deinen Anfällen.“ „Sind längst passé.“ „Aber nur die Symptome. Die Krankheit hast Du immer noch!“ „Herrgott, Niha! Die Symptome SIND die Krankheit.“ „Ach ja? Und was wäre gewesen, wenn Du durch einen blöden Zufall Deine Medizin nicht hättest nehmen können?“ „Ein blöder Zufall?“ „Ja! Du ... Du hättest ins Koma fallen können, und dann ... hätte niemand gewusst, dass Du Tropfen nehmen musst.“ „Ich glaube im Koma wäre die Epilepsie mein kleinstes Problem.“ „Ach!“, fauchte sie. „Du weisst genau was ich meine. Es gibt hunderte von Situationen, in denen Du vielleicht nicht in der Lage gewesen wärest, sie einzunehmen. Die verdammten Fläschchen hätten auch kaputt gehen können.“ „Ja. Es könnte mir auch ein Ziegelstein auf den Kopf fallen. Wäre auch nicht gerade gesundheitsfördernd. Ich hab Epilepsie. Und? Keine große Sache. Soll ich mich den Leuten immer so vorstellen: `Hi, ich bin Lee, fallsüchtig. Sollte ich mich vor Lachen schütteln, liegt es nicht unbedingt daran, dass ich ihre Witze gut finde.´? „LEE!“ „Was?“ „Du ... Du nimmst das Ganze nicht ernst.“ „Nein. Tu ich nicht. Wenn ich es ernst nehmen würde, hätte ich mich zwischen Büchern vergraben, deswegen einen krummen Rücken und ein Dutzend Quacksalber ein gutes Stück reicher gemacht.“ Sie sah ihn an. Da stand er, in seiner üblichen `was kostet die Welt?´ Haltung. Aufrecht, breitbeinig, mit verschränkten Armen wirkte er gesünder als eine Schüssel Haferkleie mit Lebertran. „Vielleicht hast Du Recht.“, murmelte sie. „Ich hätt´s trotzdem gerne gewusst!“ „Jetzt weisst Du´s ja.“, sagte er aufgeräumt und wollte sich wieder an die Arbeit machen. Doch, wenn Niha sich Zeit nahm, hatte sie meist mehr als nur EINEN Grund ... „Gut. Das war der eine Punkt. Ich bin noch nicht fertig!“ Lee stöhnte und verdrehte die Augen. „Na toll! Soll ich gleich nen ganzen Fragebogen ausfüllen?“ „Warum hast Du nicht gesagt, dass Dein Vater Dich hierher geschickt hat?“ „Warum hätte ich das tun sollen?“ Niha warf die Hände in die Luft. „Na ... vielleicht, weil ich Dich dann nicht für einen Lumpen gehalten hätte?“, rief sie. „Hättest Du so oder so.“ „Was?“ „Niha. Selbst wenn ich in Deinen Augen kein zur Strafarbeit verurteilter Kleinkrimineller gewesen wäre ... Du hättest mir die wildesten Dinge angedichtet. Schliesslich schicken Väter ihre Kinder nicht grundlos fort, um sich mal eben Blasen an die Hände zu schuften. Zumindest nicht meiner!“, setzte er hinzu. „Ja. Aber ich hätte Dich nicht für einen Verbrecher gehalten!“ „Was dachtest Du eigentlich, wessen ich mich schuldig gemacht hab?“, fragte Lee, plötzlich neugierig. „Äh ...“ „Komm schon. Ich bin auch nicht beleidigt!“ „Ich ... ich hätte darauf getippt, dass Du Frauen übers Ohr gehauen hast. Kleine Betrügereien. Heiratsschwindel und so.“ Lee starrte sie an. Dann brüllte er vor Lachen. So sehr, dass er sich an der Wand abstützen musste. „Heiratsschwindel?“, japste er. „Na ja ...“ „Heirat ...“ Er wischte sich die Augenwinkel, während seine Schultern schon wieder bebten. „Das ist ein Wort, dass ich in Gegenwart einer Frau nur unter Zwang in den Mund nehme.“ „Ist ja schon gut.“, knirschte Niha. Sie wusste gar nicht, weshalb dieses Thema sie so aufbrachte. „Übers Ohr hauen ... also echt. Ich hab mit Weibern schon alles mögliche angestellt, aber übers Oh ...“ „JA! GUT! Ich hab´s verstanden! Erspare mir die Details!“, schrie sein Boss. „Ich wollte doch gar nicht ...“ „Kannst ja für jede Eroberung eine Kerbe in den Balken da schnitzen. Sollte es mich eines Tages interessieren, werde ich sie zählen, falls ich die Zeit dazu finde. Und wenn DER Balken nicht reicht, dann ritz doch die ganze verfluchte Scheune ein, bis sie zusammen fällt!“ Mit geballten Fäusten marschierte sie zur Leiter, stieg nach unten und rannte aus der Scheune. Erst in der Küche dämmerte ihr langsam die Erkenntnis, dass sie ziemlich dumm war. „Niha ...?“ Perplex gaffte Lee noch immer das Scheunentor an. Dann dämmerte ihm langsam die Erkenntnis, dass er ziemlich dumm war. Die ganze Zeit über hatte er nichts gemerkt! Hier also? Mitten in der Pampa? Er hatte sich allen ernstes HIER sein Mädel rausgepickt? Wo auch immer Prinz Lee die Liebe erwartet hätte, HIER ganz bestimmt nicht. Zwischen monströsen Strohballen. Verschwitzt, dreckig, mit zerrissener Hose. Hier hatte es ihn erwischt? Er musste sich erst mal setzten. Das war´s also. Kein Herumschäkern mehr. Keine kleinen Schäferinnen auf lauschigen Heuböden und keine wutentbrannten Väter mehr. Kein schlechtes Gewissen. Er hatte sie gefunden. Die Eine, von der er immer gewusst hatte, dass sie eines Tages auftauchen würde. Die Eine, die der Unstetigkeit in seinem Leben ein Ende bereiten würde. Die Eine, die einen sesshaften, zutiefst zufriedenen Mann aus ihm machen würde. Die Eine, die ihm das Fell über die Ohren ziehen konnte und nebenbei noch einen ganzen Bauernhof schmiss. Babys ... Sie würden Babys haben. Wundervolle, kleine Schreihälse, denen er die Welt zeigen konnte. So sass Lee Iroh wasweißichnichtnochalles Tatzu in Agnam Ba auf einem Ballen Heu und grinste das verklärteste Grinsen seines Lebens. Oh Mann ... würde er Babys haben! Die nichts ahnende werdende Mutter sass derweil in ihrer Küche. Weiche Knie hatten sie auf den Stuhl gezwungen. Sie war so blöd! So unglaublich bescheuert! Derart unfassbar Hirnrissig! Verknallt. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie hatte sich verknallt. Ausgerechnet sie. Ausgerechnet in ihn! Es hatte ja damals nicht mal mit Riu geklappt. Und der war weitaus passender gewesen. Genauso unscheinbar, durchschnittlich und langweilig wie sie selbst. Ruhiger, netter Riu. Wie war noch gleich seine Augenfarbe gewesen? Jedenfalls nicht grün mit goldenem Rand und tanzenden Fünkchen. „Blöde Kuh!“, stöhnte sie und vergrub den Kopf in den auf dem Tisch verschränkten Armen. „Hör sofort auf damit!“ Ha! Genau! Sie würde sich einfach wieder entknallen! War bestimmt kein Problem. Wenn sie den Rest ihres Lebens dieses verfluchte Grübchen nicht mehr sah, dieses ansteckende Lachen nicht mehr hören musste und ihm so überhaupt ganz generell nicht mehr über den Weg lief und sich mehrere Meilen von seiner Aura fern hielt, wäre sie in mindestens fünfzig Jahren entknallt. Außerdem ... eine Liaison stand überhaupt nicht zur Debatte. Lee würde sich vermutlich kringeln vor lachen, bei dem Gedanken, mit ihr etwas anzufangen. Sie durfte es ihn also auf keinen Fall wissen lassen. Niemals! Vielleicht würde es ja ein bisschen helfen, wenn sie versuchte, die Erinnerung an Riu aufzubessern. Sie ging zum großen Küchenschrank, reckte sich und holte eine rostige Blechdose herunter. Eine Blechdose voller Staub und Erinnerungen. Da war eine verschrumpelte Kastanie, ein zerknülltest Taschentuch, der gesprungene Tonkrug eines Weinfestes, das sie besucht hatten ... und eine Erkenntnis. Eine fatale Erkenntnis. Diese Dinge bedeuteten ihr nichts mehr! Jetzt, hier, mit ihrem Hilfsarbeiter, hatte es sie tausendmal schlimmer erwischt, als damals. Deshalb würde es auch tausendmal mehr wehtun. Zehn Minuten später brachte Maja einen kleinen, aber gewichtigen Stein ins Rollen, als sie in den Stall stürmte. „Agni! Ich FASS es nicht!" „Waf?" Lee, eben noch damit beschäftigt eine lose gewordene Latte an den Schweinekoben zu nageln, ließ den Hammer sinken. „Oh. Lee. Ich hab Dich gar nicht bemerkt. Es ist ... wegen Niha. Sie hockt in der Küche und flennt mal wieder wegen Riu.“ Aufgebracht blies sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Riu? Wer ift Riu?“, murmelte Lee an diversen Nägeln vorbei. „Ist? Du meinst, wer WAR Riu ... Er war Nihas Verlobter.“ Die Nägel prasselten auf den Boden während der Hammer beinahe das schmerzhafte Trauma mehrerer herzoglicher Zehen verursacht hätte. „Verlobt? Niha war verlobt?“ „Ja. Und dann hat dieser Idiot sie wegen einer anderen sitzen lassen. Aber mittlerweile ist dieses Thema ja Gott sei Dank gestorben. Nur ... dass sie nach alldem immer noch um ihn trauert ... Agni! Ich werd jetzt erst mal Wäsche waschen.“ Als sie ins Freie stapfte, sank Lee zum wiederholten Mal auf einen Heuballen. Verlobter? Niha hatte einen toten Ex-Verlobten? Da hatte ihm gerade noch gefehlt. Er hatte einen Konkurrenten. Einen toten Konkurrenten. Verdammt! Verdammt, verdammt, verdammt! Wie sollte er denn gegen die Erinnerung an einen Toten ankommen? Einen Toten, den sie auf ein Podest gestellt und verklärt hatte. Einen Toten, der, ganz im Gegensatz zu ihm selbst, keine Fehler mehr begehen konnte? „Scheisse!“, entfuhr es ihm. „Riu, also. Ja? Ganz toll!“ Doch ins Boxhorn würde ihn das nicht jagen. Schliesslich hatte er ausreichend Vorzüge. Niha musste nur noch davon überzeugt werden. Bevor irgendjemand von irgendetwas überzeugt werden konnte, kam - oh Wunder - etwas dazwischen. In diesem Fall ein kleines Mädchen. Gerade als er dabei war, seine Taktik zurechtzurücken, drang leises Weinen an Lees Ohr. Zerfa?! Der Erwachsenenkram musste erstmal warten. Er fand sie hinter der Scheune. Sie hatte sich hinter einen alten Handkarren verkrochen, die Knie angezogen, und heulte in ihre Schürze. „Zerfa?“ Erschrocken schniefte sie auf, Drückte sich jedoch noch fester gegen die Holzwand. „Was ist denn?“, fragte Lee leise. Statt eine Antwort zu geben, presste das Kind sein Gesicht gegen die Knie und schluchzte zum Steinerweichen. „Hey ... ist ja schon gut. Komm her!“ Auffordernd streckte er ihr eine Hand entgegen. „Na komm schon.“ Sie schüttelte den Kopf. „Knöpfchen ...!“ Zögernd kroch sie näher, blickte ihm aber nicht in die Augen. Sobald sie in Reichweite seiner Fürsorge war, wurde sie fest in den Arm genommen. Natürlich weinte sie dort noch lauter. Lee wiegte sie nur sachte hin und her und wartete geduldig, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. „Sag mir, was los ist.“, forderte er sanft. Zerfa presste ihr Gesicht an seine Schulter. „Das ... das Kälbchen.“, stammelte sie heiser. „Welches Kälbchen?“ „Von Bauer Leng.“ „Aha.“ Da sie sich angehört hatte, als wolle sie wieder anfangen zu weinen, streichelte Lee beruhigend über ihr Haar. „Was ist mit dem Kälbchen?“ „Ich ...“ „Schh... Alles Okay. Sag´s mir einfach.“ „Ich hab´s angesehen.“ Jetzt wurde sie wieder von Schluchzern geschüttelt. „Ja?“, fragte Lee. „Und jetzt ... stirbt es. Wegen mir!“ Also doch! Er hatte es ja gewusst. „Das ist Unsinn, Zerfa!“ „Nein! Es stimmt!“ „Tut es nicht! Nichts und Niemand stirbt, nur weil er angesehen wird.“ „Doch! Frau Leng hat es mir hinterher gerufen!“ Lee spürte, wie sein Kiefer sich verhärtete. „Warte hier.“ Er stapfte um die Ecke des Stalls, zum Waschzuber. „Maja?“ „Ja?“ „Falls Niha nach Zerfa sucht: Sie ist bei mir. Wir machen einen kleinen Ausflug.“ „Ausflug?“ „Ja. Kälber ansehen. Die von Bauer Leng.“ „Ist gut.“ „Wo wohnen die denn?“ „Äh ... Da lang.“ Sie deutete nach Südosten. „Vielleicht ne Dreiviertel Meile.“ „Gut. Danke!“ Zerfa hockte dort, wo er sie zurückgelassen hatte und bot einen der traurigsten Anblicke, die Lee sich denken konnte. Er hob sie hoch und marschierte los. „Wohin geh wir?“, schniefte das Kind. „Zu den Lengs.“ „Was?“ Jetzt klang sie ängstlich. „Warum denn? Ich werd mich ganz bestimmt nicht mehr da hinschleichen. Ich versprech´s!“ „Schleichen werden wir auch nicht. Wir gehen die Kälbchen ansehen.“ „Nein!!“ „Oh doch!“ „Nein! Ich will nicht!“ „Klar willst Du!“ „Nein!“, schrie sie fast hysterisch. „Ich will nicht! Bitte Lee!“ „Zerfa!“ Er zwang sie, ihn anzusehen. „Seh´ ich aus, als ginge es mir schlecht? Oder Niha? Oder Maja und Jem? Du siehst uns dauernd an. Und keinem passiert was!“ Sie hatte wieder zu weinen begonnen. „So etwas wie den bösen Blick gibt es nicht! Niemand stirbt, nur weil ihn ein anderer ansieht.“ Beruhigend drückte er sie an sich. „Doch.“, flüsterte sie zwischen schmerzhaft abgehackten Atemzügen. „Meine Mama.“ Abrupt blieb Lee stehen. Da lag also der Hase im Pfeffer! Er hockte sich auf einen Baumstamm am Wegrand. „Knöpfchen. Das ist doch nicht wahr!“, sagte er leise und drückte ihren Kopf an seine Schulter. „Deine Mama war krank. Und zwar lange, bevor sie Dich bekommen hat. Hat Dir das denn niemand gesagt?“ „Doch. Niha. Aber das sagt sie nur, damit ich nicht so traurig bin.“ „Nein. Sie sagt es, weil es stimmt. Dass Deine Mutter gestorben ist, ist sehr, sehr schlimm. Aber niemand - wirklich niemand - kann etwas dafür. Manchmal sterben Menschen eben.“ Er wiegte die Kleine sacht. „Du bist wahrscheinlich das liebste, bravste Mädchen der ganzen Welt. Wenn jemand behauptet, Du seist an etwas schlimmem Schuld, ist er entweder unglaublich dumm oder er lügt ganz fürchterlich. Frau Leng ist vermutlich nur abergläubisch. Und wir zwei werden jetzt zu ihr gehen, um ihr das zu zeigen. „Aber ich will die Kälbchen nicht sehen!“, wimmerte Zerfa. Offensichtlich halfen hier nur noch Taten ... „Schau mal ... Der da drüben ist genauso eine freche Rübe wie Jem.“ Zerfa schielte - nur ganz kurz - in Richtung des herumtollenden, kleinen Stiers. Er war gerade dabei, sich mit der strahlend weißen Wäsche der Bäuerin anzulegen. Als ein Laken im Dreck landete, entwich dem Kind ein Kichern. „Tsts. Der wird noch die ganze Wäscheleine niederreißen.“, grübelte Lee. „Ja. Freche Rübe!“, flüsterte Zerfa und brachte damit ihren Begleiter zum lächeln. Genau das war der Anblick, der Frau Leng erwartete, als sie ihre Wäsche retten wollte. Großer, umwerfender Kerl, der an ihrem Zaun lehnte und lächelte. „Äh ... Guten Tag.“, begann sie unsicher. „Hallo!“ Seine Hoheit bemühte sich um einen freundlichen Tonfall. Vielleicht konnte die Frau ja nichts für ihre Ignoranz. „Wir bewundern gerade Ihre ganz entzückenden Kälber.“ Als er sein Grübchen aufblitzen liess, bewunderte Frau Leng ebenfalls etwas ganz „Entzückendes“. „Wir?“, fragte sie irritiert. „Ja.“ Er bückte sich, und hob ein kleines Mädchen auf die Arme. „Zerfa und ich.“ Abgelenkt von einem Meter achtundneunzig laufender Augenweide, hatte Kia Leng das Kind gar nicht bemerkt. Jetzt tat sie es! „Ist ... ist das die kleine Koro?“. fragte sie ängstlich. „Ja.“ Zeitgleich mit strahlend weißen Zähnen blitzte eine leise Warnung durch den Charme des jungen Mannes. DAS war also Niha Koros neuer Hilfsarbeiter. Kein Wunder redeten alle über ihn. „Zerfa, Sag Hallo zu Frau Leng.“ „Hallo.“ , flüsterte Zerfa, die Augen fest auf den Boden geheftet. „Äh ... H ... hallo!“, stammelte Kia und betete innerlich, dass der böse Blick des Mädchens sie nicht treffen möge. Das goldgrüne Funkeln eines anderen Augenpaars wurde plötzlich irgendwie ... gefährlich. „Dieser freche Racker da drüben macht bestimmt viel Ärger.“, bemerkte Lee mit Blick auf den kleinen Stier. Seine Stimme war deutlich abgekühlt. „Ärger? Ach nein ... nur ein bissl wild ist er.“ „Ach? So kann man sich täuschen. Ich habe gehört, die mit braunen UND schwarzen Flecken wären bösartig und tollwütig.“ „Tollwütig? Aber wie kommen Sie denn darauf?“ „Hm. Sie haben Recht. War wohl etwas dumm von mir. Man sollte aufgrund solcher Äußerlichkeiten keine voreiligen Schlüsse ziehen, nicht wahr?“ Er gab Zerfa, die sich noch immer fest an ihn klammerte, einen beruhigenden Kuss auf die Schläfe und starrte sein Gegenüber herausfordernd an. Frau Leng begriff. Betroffen biss sie sich auf die Lippen. „Ja ... das ist wohl etwas ... dumm.“, gab sie leise zu. Sie mochte leichtgläubig und beeinflussbar sein, aber böswillig ... das war sie nicht! Und sie war klug genug, zu sehen, dass dieser Charmeur ihr eben einen Spiegel vorgehalten hatte. Was sie darin gesehen hatte, machte ihr ein schlechtes Gewissen. „Ich ... möchtest Du vielleicht ein Stück Honigkuchen?“, fragte sie Zerfa und wagte einen Blick in das halb versteckte Gesichtchen. Eigentlich war das Mädchen geradezu herzerweichend niedlich. „Oha! Honigkuchen klingt ja lecker! Was meinst Du, Knöpfchen?“ Schüchternes Nicken. „Und ein Glas frischer, kalter Milch?“ „Ja ... vielleicht.“, hauchte es kaum hörbar. Es schnitt Kia ins Herz, als sie im Blick dieser verschiedenfarbigen, wunderschönen Augen statt Bosheit nur Angst und Traurigkeit fand. „Ich hätte Dich vorher nicht so wegscheuchen sollen.“, hörte sie sich entschuldigend sagen. Sollte Leng heute Abend ruhig schimpfen. Ihr doch egal! Dafür bekam sie jetzt ein sensationell strahlendes Grübchenlächeln von diesem unglaublichen Prachtburschen! Und Zerfa? Bekam Honigkuchen und Milch. Natürlich verdrückte sie aber nur die Hälfte dessen, was ihr Begleiter verschlang. Niha hätte ja genug damit zu tun gehabt, ihr Gefühlswirrwarr genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch der heutige Tag lies ihr dazu einfach keine Zeit. Maja war von vorne bis hinten einfach nur bockig, Jem schien aus seinen Fünf-Minuten-Zuständen gar nicht mehr herauszukommen und jetzt ... jetzt zweifelte sie an ihrem Verstand. Eben marschierte eine Delegation an ihrem Küchenfenster vorbei, die es SO nicht geben konnte. Da waren Lee, Zerfa und ... ein Kalb. Ein Kalb? Was zum Teufel hatte dieser Mensch denn nun wieder angerichtet? Noch während sie sich die Hände an einem der fadenscheinigen Geschirrtücher trocknete, hastete Niha über den Hof. Im Stall waren Lee und Zerfa damit beschäftigt, die Box neben Else, der Milchkuh des Hofs, mit Stroh auszukleiden. „Was tut ihr da?“ „Niha! Schau mal! Wir haben ein Kalb mitgebracht.“ Zerfa hüpfte strahlend und aufgeregt auf ihre ältere Schwester zu. „Ist es nicht toll? Ich hab´s Rübe genannt, weil es so frech ist.“ „Ein Kalb? Woher ist es denn? Wir ...“ „Von Bauer Leng.“ Lee schien zu dieser ganzen Sache nichts beitragen zu wollen. Er führte lediglich den kleinen Stier in seine neue, kuschlige Box und lächelte still in sich hinein. „Zerfa.“, setzte Niha an. Natürlich blieb es wieder mal an ihr hängen, dem Kind zu sagen, dass das hier nicht ging. „Wir können uns kein Kalb leisten.“ „Aber ... Lee hat es ganz günstig bekommen. Nicht wahr Lee?“ „Ja. Ein richtiges Schnäppchen!“ „Lee hat aber nicht zu entscheiden wie viel Vieh wir halten!“ „Niha.“ Da Rübe endlich zu seiner Zufriedenheit verstaut war, schloss Lee das niedrige Gatter. „Das Kalb ist ein Geschenk. Ich werd auch für das Futter sorgen, also kein Grund ...“ „Zerfa?“ „Ja?“ „Geh bitte in die Küche und hilf Maja. Ich muss mich mit Lee unterhalten.“ „Ich darf es nicht behalten, oder?“, flüsterte die Kleine. „Darüber sprechen wir später, ja?“ Zerfa nickte mit gesenktem Kopf und ging. „So. Was passt Dir jetzt schon wieder nicht?“ Lees Braue hatte sich herausfordernd gelüftet. „Das fragst Du auch noch?“ „Wenn ich mich selbst richtig verstanden habe ... ja!“ „Du KANNST Zerfa nicht so etwas teures schenken. Bonbons, Schokolade ... alles schön und gut. Aber ein Kalb?“ „Es war nicht teuer.“ „Ja.“, schnaubte Niha. „Vielleicht nicht, wenn man in Deinen Dimensionen rechnet. Für uns schon!“ „Ich hatte einen guten Grund, es zu tun!“ „Ach? Und der wäre?“ „Weißt Du, dass Zerfa dieses Geschwätz mit dem bösen Blick glaubt?“, fragte er leise. Niha starrte ihn an. Was sollte sie darauf sagen? Es war ihr wundester Punkt. Ihr größtes Versagen. „Ja.“, gab sie schliesslich zu. „Ich ... hundertmal hab ich ihr schon gesagt, es sei nur Aberglaube. Aber sie glaubt es. Sie ... sie hält sich selbst für ...“ Ihre Stimme brach. Wie oft schon hatte sie Zerfa im Arm gehalten, während diese sich in den Schlaf weinte? „Und das ist genau der Punkt. Du kannst es ihr sagen. Immer und immer wieder. Doch wenn zehnmal so viele Leute ihr ständig das Gegenteil einreden, wird ein Teil von ihr es glauben. Darum das Kalb. Vor drei Stunden sass sie hinter dem Stall und hat sich die Augen ausgeweint, weil sie dieses Kälbchen angesehen hat. Sie hatte Angst, es würde deswegen sterben, Niha, und alles Reden hat nichts genützt. Ich hab das Kalb gekauft, damit sie sich darum kümmern kann. Wenn es wächst und gedeiht, dann sieht sie was für ein Haufen Unsinn die Leute erzählen. Nur so wird sie es begreifen!“ „Es ... Wir können das nicht annehmen!“ „Wirklich? Dann lässt Du lieber zu, dass Deine Schwester zu einem Menschen heranwächst, der es nicht wagt, anderen in die Augen zu blicken?“ „Nein!“, rief Niha. „Natürlich nicht! Aber ...“ „Was, aber?“ „Du ... gehörst nicht zur Familie. Und sie hat sich schon viel zu sehr an Dich gewöhnt!“ „Was?“ Niha schluckte. Vielleicht sollte sie die Sache jetzt und hier beenden. Es wäre für alle beteiligten das Beste! Sonst würde nicht nur ihr das Herz brechen, wenn er ging. „Schön. Sie darf das Kalb behalten.“ Sie holte zitternd Luft. „Aber dann ...“ Lee sah sie sehr seltsam an. Seine Augen wurden schmal vor Misstrauen, sein Mund hart vor lauter Vorahnung. „Ich halte es für das Beste, wenn Du gehst.“, flüsterte Niha. Ihre Hände krampften sich um ihr Geschirrtuch. Es tat einfach zu weh, dies auszusprechen. „Das Beste?“, knirschte Lee. „Für wen? Für Dich?“ „Für meine Familie! Ich ... ich will, dass Du morgen Deine Sachen packst und gehst.“ Gehen? Sie verlangte allen Ernstes von ihm, dass er ging? Warum, zum Teufel? Eifersucht trat auf den Plan. Ebenso heftig, wie unverhofft. „Verrat mir eins Niha,“, knurrte Lee erbost. „Ist es Deinem sauberen Ex-Verlobten zu verdanken, dass Du vom männlichen Teil der Bevölkerung immer nur das schlechteste annimmst?“ Vor den Kopf gestoßen starrte sie ihn an. „Lass Riu aus dem Spiel!“, stiess sie aus. In diesem Augenblick registrierte Lee ihre außergewöhnliche Blässe. Verdammt. Liebte sie den Kerl etwa noch immer? „Warum hast Du mir nichts von der Verlobung gesagt?“ Seine Stimme klang rau. Niha verschränkte schützend die Arme vor der Brust. Sie WOLLTE über dieses Thema nicht sprechen. Und schon gar nicht mit ihm! Es erinnerte sie zu sehr daran, was Männer von Niha Koro hielten. Niha, die Patente. Niha, die immer zur Stelle war. Niha, der Kamerad. Niha, die man wegen eines hübschen Blondchens sitzen liess. „Warum? Weil es Dich nichts angeht!“ „Ach ...“ Das goldene Funkeln übernahm wieder einmal die Vorherrschaft in seinen Augen. „Ich darf mir also die ganzen Schmähungen und die Verachtung reinziehen, die Du für mein Geschlecht parat hast, aber der Grund ... DER geht mich ja nichts an, wie?“ „Bei Dir, mein Lieber, BRAUCH ich keinen extra Grund!“, schrie sie. „Stolzierst hier herum als gehöre alles Dir und heute Morgen prahlst Du sogar damit, wie viele Weiber Du schon flachgelegt hast. Ja! Ein ganz toller Hengst bist Du! Alles, was bei drei nicht auf den Bäumen hockt, wird eben mal abgegriffen!“ Für den Bruchteil eines Sekunde versuchte Lee ernsthaft, sein Temperament im Zaum zu halten. Vergeblich. „Drei!“, zischte er mit geblähten Nasenflügeln. Nihas Augen weiteten sich ungläubig, doch bevor sie sich auch nur rühren konnte wurde sie gepackt. Kapitel 14: Das Studium der schönen Künste ------------------------------------------ Oder: Wissenschaft verlangt Opfer! Irgendwie schien es, als käme Lu Ten so ziemlich alles dazwischen, was einem dazwischen kommen konnte. Das mit dem Verführen schien doch komplizierter zu werden. Am Morgen nach dem Gewitter war seine konfuse Dienstherrin noch konfuser als sonst. Und bei weitem unzugänglicher. Sie wagte es nicht, in seine Richtung zu sehen. Sie wagte es nicht, mehrsilbige Sätze zu bilden. Sie wagte es nicht, auch nur die winzigste, zufällige Berührung zuzulassen; stiess sogar im Bemühen, seinen Handknöcheln auszuweichen den Salznapf um. Wenn dass so weiterginge, würde das Waldkäuzchen Hals über Schnabel die Flucht ergreifen. Nicht zum ersten Mal wünschte Lu Ten sich, ein ebenso geübter Jäger zu sein, wie sein jüngerer Bruder. Lee hätte selbstverständlich gewusst, wie er mit einer so spröden Beute umzugehen hätte. Er war einfach viel ... kreativer. Kein phantasieloser Rechenschieber, wie er selbst. Seiner Hoheit entfuhr ein leiser Seufzer, der sich zu einem unterdrückten Stöhnen auswuchs, als zu allem Übel auch noch Nemo Ran die Küche betrat. Pippa hingegen stürzte sich dankbar auf diese neue Präsenz. „Oh! Guten Morgen Nemo! Setzen Sie sich doch!“ Aha. Jetzt bekam man also doch ganze Sätze zustande? „Guten Morgen Miss Pineria. Und ... Herr Song.“ „Ran.“, knurrte Lu Ten in seine Tasse. „Möchten Sie auch ein paar Eier?“, fragte Pippa übereifrig. „Ähm ... ja. Gern.“ Nemo war verwirrt. Warum kümmerte sich diese Jungfer auf einmal wieder um ihn? Die letzten Tage schien sie ihn kaum bemerkt zu haben, was ihm durchaus Recht gewesen war. Aber jetzt schwirrte sie um ihn herum, dass einem glatt schwindelig werden konnte. Er schielte kurz zu dem stoischen Riesenkerl hinüber, der ihn jedoch wie üblich nur mit Missachtung strafte. Da war doch was im Busch! Eindeutig. Die beiden würde gleich Funken schlagen, vor lauter unterdrückter Spannung. Vielleicht wurde der grantige Besserwisser endlich unvorsichtig, und es ergab sich eine Gelegenheit, ihn auszuschalten. Und dann: Bye bye, Lulatsch! Mit frischem Elan, und unerwartetem Appetit machte Nemo sich über die Eier her, sicher, dass sein Zwei-Meter-Problem demnächst Geschichte wäre! Am besten gab er diese erfreuliche Neuigkeit sofort weiter. Mit lautem Stuhl-Scharren erhob er sich. „So ungern ich dieses gemütliche Beisammensein beende, aber ich muss leider an die Arbeit. Wünsche noch einen schönen Tag allerseits.“ „Sicher.“, murmelte Lu Ten lakonisch. „Oh. Sie müssen schon weiter? Wie ... schade.“ Nervös strich Pippa sich eine lose Strähne aus dem Gesicht. Verflixt! Dann war sie ja schon wieder allein. Mit ihrem Untergang. Sie räusperte sich, hantierte mit Kochgeschirr, klapperte mit Töpfen und tat überhaupt ihr Möglichstes, um muntere Geschäftigkeit vorzutäuschen. JEMAND sollte schliesslich nicht denken, dass sie die ganze Zeit über ... dachte. Aber sie konnte es beim besten Willen nicht unterlassen, das Denken. Das an IHN Denken. Da konnte sie klappern, so laut sie wollte, ihre innere Stimme war nicht zu übertönen. Wenn das so weiterging, konnte sie ihre Arbeit gleich für die nächsten paar Jahre an den Nagel hängen, weil sie nicht mehr imstande war, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie musste etwas tun, denn von selbst würde sich dieses Schlamassel nicht auflösen. Abrupt drehte sie sich um und starrte ihrem Ruin todesmutig in die hellen Augen. „Ich ... müsste Sie dringend sprechen.“ „Mich?“ „Ja.“ „Auf einmal?“ Seine durchbrochene Braue entschwebte in die luftigen Höhen hochmütiger Ungläubigkeit. „Ja.“ „Na so was. Gut. Wo?“ „I ... in meinem Arbeitszimmer. In ... in einer Stunde.“ „Hm. Warum nicht jetzt gleich?“ „Weil ... ich muss noch ein paar Dinge überdenken.“ Überdenken? Das klang nicht gut. Wollte sie ihn feuern? Hatte er sie zu sehr geschockt? Falls ja, würde er die „Schocktherapie“ eben einfach fortsetzten. Schliesslich sprach seine Zukünftige auf die Behandlung immens gut an. Wenn sie Worte wie „Kündigung“ oder „Umstrukturierung“ in den Mund zu nehmen drohte, musste er diesen eben mit Beschlag belegen. Guter Plan. So einfach! Also spazierte der Thronfolger eine Stunde später guter Dinge zum Arbeitszimmer des Fräuleins und klopfte. Er hatte ja keine Ahnung, WAS ihn erwartete! Pippa hatte ebenfalls noch keine Ahnung. Keine Ahnung, WIE sie es sagen sollte. Sie wusste nur, dass es sein musste! Sonst würde man sie binnen einer Woche in den Sümpfen wieder finden. Wirres Zeug faselnd, wie der alte Hong. Jeder bange, heftige Herzschlag hallte in ihren Ohren wider. Frag ihn! Lass es! Frag ihn! Lass es! Frag ihn. Du MUSST! „Miss Tutuk?“ „WAS?“ „Ich hatte geklopft!“ „Oh. Äh. Ja. Ich ... war in Gedanken.“ Er nickte. Und wartete. Nichts. „Nun?“ „Nun was?“ „Nun: Was wollten Sie mir mitteilen?“ So viel! Oh Gott, so viel! „Also ... äh ... Ich ... Sie ... Sie scheinen mir wie ein Mensch, der seine Arbeit sehr ernst nimmt.“ „Ja, das sagt man mir nach.“ „Gut. Das ist gut!“ „Mhm.“ „E... eine sehr lobenswerte Einstellung. Das trifft man nicht so oft. Da kann ich mich wohl glücklich schätzen, Sie als Assistenten bekommen zu haben.“ Sie knetete ihr Finger und tigerte trotz ihrer unregelmäßigen Schritte auf und ab. „Wird das hier ein Personalgespräch?“ „Wie bitte?“ Sie klang, als hätte er sie aus dem Konzept gebracht. „Nichts. Schon gut.“ „Ja. Also ... also ...“ „Jaaa?“ Die folgenden Worte stolperten und purzelten übereinander, so eilig hatte Pippa es, sie loszuwerden. „Sie ... Ganz offensichtlich sind Sie ein Mann von Welt! Und ... und ich habe mich gefragt, ob Sie sich eventuell dazu in der Lage sähen, mich ... in die Kunst der körperlichen Liebe einzuführen?“ Da. Jetzt war es draussen. Dümmer hätte man es wahrhaftig nicht mehr anstellen können. So würde das nie was werden! Seine Mine war erstarrt. Sein Blick war erstarrt. Seine ganze Haltung war erstarrt. Ja, In der Tat. Lu Ten blinzelte nicht einmal. Wie auch? Vor ihm stand die zukünftige Feuerlady und trat mit einem höflichen Beischlafgesuch an ihn heran!? Er suchte verzweifelt nach der adäquaten Reaktion auf diese Ungeheuerlichkeit. Schock? Freude? Oder etwa doch die hirnlose, instinktgesteuerte Lust, die ihn durchzuckte? Er entschied sich für irgendetwas dazwischen, gemischt mit einem guten Schuss Ungläubigkeit. Pippa starrte erstarrt auf den sie anstarrenden Starrer. Sie hätte es auch wirklich besser wissen müssen, oder? Wie hatte sich nur der vermessene Gedanke, Lu Ten Song - Mr. Perfect höchstpersönlich - könnte sie vielleicht attraktiv genug finden, um tatsächlich mit ihr schlafen zu wollen, in ihrem Hirn verankern können? Wie nur? Wegen ein paar kleiner, unbedeutender Küsse? Das erste Mal hatte er ihr nur eine Lektion erteilen wollen und das zweite Mal? Da hatte er sie nur abgelenkt. Aus Mitleid. Oder Langeweile, oder was auch immer. Die Scham war überwältigen und brannte sich in ihre Wangen. Sie wollte nur noch weg! Weg und einen brillanten Physiker finden, der gerade dabei war, eine Zeitmaschine zu entwickeln, um sich vor diesem Moment ihres Lebens zu bewahren. Am besten reiste sie dann zu dem Tag zurück, an dem ER hier angekommen war. Sie würde zum Bahnhof fahren, und ihm aus dem Mobilium zurufen, dass man auf Schloss Tutuk nun doch keine Verwendung für seine Unfehlbarkeit hätte, nichts für ungut, schönen Dank auch und gute Heimreise! Ja ... sie hätte alles für eine solche Zeitmaschine gegeben! Dann bräuchte sie nur noch ihr Gedächtnis löschen zu lassen, damit ihr Herz aufhören würde, sich in seine schmerzenden Bestandteile zu zerlegen. Da all diese Pläne eher unerreichbar waren, war Pippa schon froh, dass es die Tür nicht war. Sie tastete nach der sehr verschwommenen Klinke und öffnete hastig das Tor zur Freiheit. Eine Hand schoss rechts an ihrem Kopf vorbei und knallte das verdammte Ding wieder zu. Sie schluckte. Jetzt würde er sie zu allem Übel auch noch abkanzeln. Geschah ihr Recht! Mit all ihrer Willenskraft würde sie vielleicht einen kleinen Rest an Würde behalten. Die Alternative wäre ein spontaner Weinkrampf. Und da der Auslöser des ganzes Stresses noch anwesend war, kam das nicht in Frage. „Nur um Missverständnissen vorzubeugen:“ Die tiefe Stimme klang schroffer denn je. „Haben Sie mich eben gebeten, mit Ihnen zu schlafen?“ Es aus seinem Mund zu hören, liess Pippa erst erkennen, wie unzumutbar ihr Anliegen ihm erscheinen musste. „Nein!“, stiess sie aus. „So ... irgendwie ... Nur für die Wissenschaft!“ Vielleicht würde er ihr ja glauben?! Lu Ten glaubte allerdings nur eines, nämlich, sich verhört zu haben! Wissenschaft? Für die Wissenschaft? Wollte sie wieder mit Maßbändern an ihm herumfummeln? Die Libido jedes anderen Kerls hätte sich für die nächsten drei Wochen in ein kaltes Eck verkrümelt. Nicht so seine, oh nein! NaTÜRlich musste ihn dieses lachhafte Geseiere auch noch anmachen. Klar! Ein Perverser zu sein, hatte bisher eigentlich nicht auf seiner charakterlichen Mängelliste gestanden. Na ja ... wenn man von der EINEN Sache absah. (Da weder der Feuerlord, noch seine Schergen Zugriff auf meine Wenigkeit haben, sei es mir erlaubt mit einem pikanten Detail über den Thronfolger aufzuwarten. Seine Hoheit Lu Ten Aang Tatzu mochte es, wenn eine Frau im Bett ... äh ... geschwätzig war. Aber schliesslich freut sich jeder, wenn seine gute Arbeit Anerkennung findet, nicht wahr?) Die ungebetene Vorstellung, Fräulein Tutuk könnte ihm Unanständigkeiten ins Ohr hauchen, brachte das fürstliche Fass zum Überlaufen! Also schnappte Lu Ten Pineria am Arm , drehte sie herum und bohrte seinen Blick in ihren. „Fein!“, zischte er vor Erregung durch zusammengebissene Zähne. „Dann sag mir doch, wie Du DAS hier auswerten willst!“ Sie wurde gepackt - so langsam gewöhnte sie sich daran - und ohne weitere Vorwarnung geküsst. DARAN würde sie sich, gemessen an ihrem spontanen Bluthochdruck, aber wohl nie gewöhnen. Gerade als sie wieder das Stadium des lustvollen Stöhnens und Keuchens erreicht hatte, wurde sie losgelassen. „Heute Abend. Zehn Uhr. Dein Zimmer!“ Das sachte Klicken der sich schliessenden Tür klang unglaublich laut in ihren Ohren. Ziemlich genau vierzehn Stunden später. Pippa war ein Nervenbündel! Es war eine Minute nach Ablauf ihrer Galgenfrist, und sie stand kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. `Augen zu und durch.´ wäre ihr als Motto tausendmal lieber gewesen, als `Heute Abend. Zehn Uhr. Dein Zimmer!´ Toller Anfang, wenn er sie erst reanimieren müsste, sobald er das Zimmer betrat. Oh Agni! Wie sollte sie die Sache nur anfangen? Über was plauderte man nur, um einen Herren in Stimmung zu bringen? Seine Hoheit, der es ganz und gar nicht nötig hatte in Stimmung gebracht zu werden, sass derweil auf der Fensterbank und betrachtete das Käuzchen. Drei Minuten zuvor war er im Begriff gewesen, an ihre Zimmertür zu klopfen, als er im letzten Moment die Hand zurückgezogen hatte. Nein! So nicht! Sein Verstand sagte ihm, dass an dem, was er nun vorhatte, nichts Falsches war. Erstens: Er hatte quasi die offizielle Erlaubnis ihrer Mutter, „es“ zu tun. Zweitens: Pineria würde ohnehin seine Frau werden. Mehr als offiziell! Und drittens und letztens: Sie hatte ihn um dies hier gebeten. Es war also weder falsch noch verwerflich. Aber sein Instinkt sagte ihm, es sei an der Zeit, dem Verstand eine kleine Pause zu gönnen. Also war sein Knöchel in der Bewegung erstarrt, nur einen Fingerbreit vom Holz der Tür entfernt. Vielleicht wurde es Zeit, die wohldefinierten Erwartungen des Fräuleins ein wenig zu enttäuschen. Vielleicht war es an der Zeit, ein kleines Überraschungsmoment einzuflechten. Vielleicht sollte Lu Ten „Song“ ein wenig unberechenbarer werden. „Guten Abend!“ Schön. Zugegebenermaßen hatte er recht wenig Erfahrung in Sachen spontaner Verrücktheiten. Die Überraschung schien zu groß geraten zu sein, denn sein Opfer schrie auf, wirbelte herum, und stierte ihn an, als sei er ein Gespenst. „Gute Güte!“, keuchte Pippa anklagend. „Was ... was TUN Sie da?“ Sie? Dieses Mädchen hatte ihn hierher zitiert, um intim zu werden, und SIEZTE ihn? „Die Aussicht geniessen?“ „Aber ... Sie ... Sie sehen MICH an.“ „In der Tat.“ Lu Ten erhob sich. „Und das geniesse ich eben.“ „W ... wirklich?“ „Ja.“ Beiläufig warf der Feuerprinz einen Blick auf ein kleines Tischchen. „Ist das Tee?“, fragte er. „Ja!“ Pippa blinzelte. War dieser Mensch WIRKLICH so groß? Und, äh ... kräftig? Ihr Plan warf plötzlich unkalkulierbare Risiken auf. „Ich dachte ... Sie möchten vielleicht einen Schluck.“ „Eventuell später.“ „S ... später?“ „Ja. Momentan steht mir nicht der Sinn danach.“ „Oh, schade. Er ist noch ganz heiss.“ „Wie passend.“ „Also ... also ... Wenn Sie nicht möchten ... Sie müssen das nicht tun!“ „Danke. Es wäre auch sinnlos, Tee zu trinken, obwohl man ...“ „Nein! Das andere. Ich ... meine das andere.“ „Das andere? Sprichst Du über Sex?“ Pippa blickte zu Boden und schluckte hart. Ja, das war auch ein Wort dafür. Ein recht unverblümtes. Es kam ihm so einfach über die Lippen, als rede er übers Wetter. Das war ... aufschlussreich. Aber sie hatte ja schon geahnt, dass er sich mit dieser Sache bestens auskannte. Und wie so oft, verliess Pineria kurz vor dem Ziel der Mut. Der Mut, zu nehmen, was das Leben zu bieten hatte. Der Mut, mit vollen Händen hineinzugreifen. Der Mut, alle strahlenden Facetten zu durchleben. Der Mut, auch die Tiefen zu akzeptieren. Sie war ein Feigling. Ein erbärmlicher Feigling. „Ja.“, piepste sie. „Ich hätte das nicht verlangen sollen.“ „Mit dem Verlangen,“, drang seine leise, dunkle Stimme an ihr Ohr. „ist das so eine Sache. Es lässt sich nicht einfach an und ausknipsen, wie Deine komische Blitzmaschine. Es ist da. Entweder Du stellst Dich dem, oder Du läufst weg.“ Weglaufen hörte sich gut an. „Und ich fürchte, in unserem Fall fällt die zweite Option flach.“ „W ... wirklich? Warum?“ „Weil das hier sowieso passiert wäre.“ „Wäre es das?“, hauchte sie. Die Antwort darauf fand sie in seinem Blick. Zum ersten Mal erkannte sie die Glut darin als das, was sie war. Begierde. Begierde, die unerklärlicherweise ihr galt. „Ja. Ja, das wäre es.“ Er trat noch einen Schritt näher, was ZIEMLICH nahe war. Pippas Atem beschleunigte sich enorm. Dabei wurde sie noch nicht einmal geküsst. „Wie nett von Ihnen, das zu sagen!“, brachte sie hervor. „Wenn ich noch ein „Sie“ zu hören bekomme, ...“ Doch plötzlich wurde Seine Hoheit abgelenkt. „Ist das Papier und Schreibzeug auf dem Nachttisch?“, fragte er in mildem Tonfall. „Für Notizen.“ Sie verknotete schon wieder ihre Finger. „Notizen?“ „Ja. Ist ... das ein Problem?“ „Ich habe keine Ahnung.“, gab er entspannt zu. „Aber ich werde Dich das in einer Stunde fragen.“ Vorsichtig griff er nach dem Drahtgestell ihrer Brille, nahm sie ab und legte sie auf einen Bücherstapel. „Eine Stunde?“ Pippa schluckte trocken „Was ist in einer Stunde?“ „Das wirst Du mir sagen.“ „Ähm ... äh.“ Sachte legte er einen Finger unter ihr Kinn, hob es an und bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. „Das hier ist keine Pflichtübung, Fratz. Noch kannst Du Dir die Sache anders überlegen.“ Mit einem Schlag war Fräulein Tutuk sich ihrer Sache sicher. Todsicher! „Ich will nicht!“ Lu Ten hätte sich am liebsten geohrfeigt! Er trat zwei Schritte zurück und wunderte sich doch ein wenig über die Tiefe seiner Enttäuschung. `Noch kannst Du Dir die Sache anders überlegen.´, höhnte es in seinem Kopf. Verdammter Blödmann! Verdammtes Fairplay! Verdammte, gute Erziehung! „Oh! Oh Nein!“, rief Pippa hastig. „Ich ... ich meinte, ich will mir die Sache nicht anders überlegen!“ Für eine Sekunde wurde sie angefunkelt, wie noch niemals zuvor. „Weib ... Du machst mich noch debil!“, fauchte er dann barsch, fuhr mit der Hand in ihren Nacken und zog sie an sich. So abrupt mit so viel hartem Männerkörper konfrontiert zu werden, liess sämtliche Luft aus Pippas Lungen entweichen. Ihr Keuchen wurde im Keim erstickt. Durch einen Kuss. Anscheinend hatte ihr Lehrer gar nicht erst vor, sich langsam an die Sache heranzutasten. Und Pippa? Sie hatte das hier viel zu lange gewollt, um jetzt die Zimperliche zu spielen. Sie schlang die Arme um ihn und erwiderte das heftige Werben seines Mundes. Wieder einmal setzte die direkte Nähe dieses Mannes sie mit einem Schlag schachmatt. Er machte sie schwindelig, kopflos und liess alle zurechtgelegten Pläne verpuffen. Einfach so. Sie bemerkte noch vage, wie ihr Körper ganz von selbst schwach und anschmiegsam wurde. Und wie immer konnten ihre Hände nicht widerstehen, in die Wärme seines dunklen Schopfes zu tauchen. Allerdings war sein verflixter, straffer Pferdeschwanz hinderlich. Also weg mit dem Haarband! Endlich befreit, brandete die schwarze Flut um ihrer beider Gesichter. Pippa wusste gar nicht, in welchem ihrer unglaublichen Sinneswahrnehmungen sie mehr schwelgen sollte. Seinem Duft? Seinem Geschmack? Seiner Hitze? Der schmeichelnden Glätte seiner Haarsträhnen an der empfindlichen Haut zwischen ihren Fingern? Oder doch die Schauer, die sie von Kopf bis Fuss durchrieselten? Sie stöhnte, presste sich an ihn. Zum ersten Mal, seit ihrem Unfall war Pineria Tutuk bereit, mit vollen Händen zu schöpfen, was das Leben zu bieten hatte. Dass es so viel war, hätte sie niemals geahnt. Plötzlich wurden ihre pochenden, heissen Lippen freigegeben, denn sein Mund glitt langsam, aber begierig zu ihrem Hals. Aus ihrem hastigen Atemzug wurde ein heiseres Keuchen, als die abrupt hochgehoben wurde. „Lu Ten?“ Statt einer Antwort bekam sie einen weiteren Kuss. Noch besitzergreifender als der erste. Ob das alles hier klug war? Oder angebracht? Lu Ten wusste es nicht, und es war ihm egal! Einmal in seinem Leben würde er eben nicht korrekt handeln, keinen vorgegebenen Wegen folgen. Dieses eine Mal würde er seinen Trieben gestatten, die Oberhand zu gewinnen. Er trug seine unschätzbare Beute zum Bett, wo er sie mit einer Behutsamkeit niederlegte, die in völligem Widerspruch zu seinem Verlangen stand. Sacht legte er eine Hand an ihre Wange und blickte in die verschleierten, veilchenfarbenen Augen. „Bist Du Dir sicher, dass Du das hier willst? Denn wenn ich weitermache, bedarf es einer Drachenherde, mich zum aufhören zu bewegen.“ Sie blinzelte leicht verwirrt und nickte dann. „Ja!“, wisperte sie. „B... bist Du Dir auch sicher? Wenn ...wenn das mit ... meinem Bein ein Problem ist, ... versteh ich das.“ Der letzte Satz war so leise, dass er ihn kaum verstand. „Das einzige Problem, Fratz,“, raunte er „ist, dass Du den Mund nicht halten kannst!“ Erneut pressten sich seine Lippen kurz auf ihre. Dann nahmen sie einen anderen Kurs und sein halbgeöffneter, heisser Mund wanderte zu ihrer Kehle und von dort noch weiter. Sie dehnte den Kopf zurück, um ihrem gewissenhaften Assistenten besseren Zugang zu verschaffen. Lu Tens Hände wurden aktiv. Eine umfasste ihre Hüfte, die andere schloss sich in köstlichem Druck um eine Brust. Blitze durchzuckten Pippa. Sie keuchte. „Gute ... Güte! Das ist ...“ Sie biss auf die Unterlippe. Im Augenblick wäre Geplapper bestimmt nicht angebracht. Aber die Dinge, die er sie fühlen liess ... „Ja?“ Wundervoll. Es war einfach nur wundervoll! Genau ... richtig. Eben wie alles, was er tat. „Ich ... nichts!“, hechelte sie. „Und wie ist es damit?“ Sein heiseres Flüstern jagte erneut tausende winziger Schauer über ihre Haut, während sie durch die dünne Seide ihres Kimonos etwas spürte. Seinen Mund. Er schloss sich um die Spitze einer ihrer Brüste. „Agni!“ Das Gewebe wurde feucht. Heiss und feucht. „Oh ...!“ Ihre Fingernägel gruben sich leicht in seine Kopfhaut. Lu Ten kämpfte wieder einmal um seine Beherrschung. Schuld daran war der offenkundige Eifer seines Bücherwürmchens. Sie bäumte sich auf, presste seinen Kopf an sich und stöhnte verzückt. Sie flüsterte seinen Namen, als sei damit alles gesagt, was ihr auf der Seele brannte. Er musste sie einfach küssen! Blindlings griff er in ihre Locken und holte sich, was er begehrte. Sein Mund forderte völlige Kapitulation, presste sich fast rücksichtslos auf ihre nachgiebigen Lippen, während seine Zunge sie quälte, neckte und dann doch wieder verschlang, um auch die letzte Nuance ihres Geschmacks auszukosten, Ihre Aromen waren ein ausgeklügeltes Rauschmittel, das ihn nach mehr gieren liess. Ihre Haut. Als sich seine Finger am Gürtel ihres Morgenrocks zu schaffen machten, schaltete sich widerwillig Pinerias lahm gelegtes Alarmsystem ein. Irgendwie war ihr ja bewusst gewesen, dass das Fehlen von Kleidung eine gewisse Rolle spielen würde. Der Gedanke war angesichts der allgegenwärtigen Erinnerung an ihr „Brunnenexperiment“ auch mehr als reizvoll. Aber: Er würde SIE ebenfalls sehen. Das hatte sie so nicht bedacht. Das war ... eine Katastrophe. „Was ... tun Sie ... Du?“, brachte sie atemlos hervor. Er reagierte nicht; Nagte stattdessen an ihrem Hals und lockerte die Schärpe weiter. Die kleinen Bisse hätten Pippa fast vom Thema abgebracht. Aber da seinen Händen inzwischen Erfolg beschieden war, eben nur fast. „Bitte ...“ Ihre Finger krampften sich um die Säume des Kimonos. Ihr Unbehagen kämpfte sich durch Lu Tens Begierde. Er hob den Kopf und starrte sie an. „Was?“, keuchte er. Nie hatten diese Augen heller gelodert. Fräulein Tutuk verlor komplett den Faden. Sie konnte ihn nur ansehen. Er sah so anders aus mit dieser vor Selbstbeherrschung angespannten Mine, seiner frei flutenden Mähne. Bilder archaischer, stolzer Kriegerfürsten schoben sich vor ihr inneres Auge. „Pipps?“ Sie blinzelte. Und erinnerte sich daran, dass ihm der bei weitem weniger angenehme Anblick bevorstand. „Ich ... dachte, es wäre dunkel, wenn ... Können wir nicht ... das Licht ...“, schloss sie matt. „Was ist damit?“, fragte ihr Kavalier schwer atmend. „Löschen. Können wir es ... nicht löschen?“ Etwas in ihrem Wispern veranlasste Lu Ten, hellhörig zu werden. Er setzte sich auf. Um nicht noch verletzlicher zu wirken, tat sie es ihm gleich. „Du willst das Licht löschen?“ Pippa wäre am liebsten in Grund und Boden versunken. Sie hatte es verdorben. Alles! „Ich ... ich wollte nicht ... tut mir leid.“ Sie wich seinem Blick aus, wodurch ihr eigener auf ihre Finger fiel, die noch immer verkrampft den Morgenrock geschlossen hielten. Schnell knotete sie ihn wieder zu. „Warum stört Dich das Licht?“ Eins musste sie ihm lassen: Er klang gar nicht so, als sei er böse, oder enttäuscht. Eigentlich klang er sogar unendlich geduldig. Aber er war eben Mr. Perfect. In allen Situationen Herr der Lage. „Tut es ja gar nicht!“, log sie. „Mach ... einfach weiter.“ „Nein.“ Na bitte. Sie hatte es ja geahnt. Chance verpasst, Liebhaber verprellt, Leidenschaft ade. „Erst wenn Du mir sagst, warum Dich das Licht stört. Es sind nur ein paar Kerzen.“ „Ja.“, piepste Pippa. „Aber ...“ „Was?“ „Man ... kann sie trotzdem sehen.“ „Sie?“ „Die Narben!“, stiess sie aus. „Die Narben?“ Dem Prinzen dämmerte so langsam, um was es hier ging. Agni! Er war ja so ein Ochse! So wie ihre Stimme zitterte, stand sie kurz davor in Tränen auszubrechen. „Du willst nicht, dass ich die Narben an Deinem Bein sehe?“, fragte er leise. „Und ... und überhaupt.“, würgte sie. „Ich bin ... ich bin nicht ...“ Pippa schloss die Augen. Hatte sie wirklich geglaubt, ihre Komplexe würden sich aus dieser Sache hier raushalten? „Was, Fratz? Schön?“ Sie nickte kaum merklich. Eine warme, schwielige Hand schmiegte sich sacht an ihre Wange. „Doch.“, hörte sie seine tiefe Stimme. „Doch, das bist Du. Fast ebenso sehr, wie Du dumm bist! Dass mir das mit Deinem Bein nichts ausmacht, hatten wir doch schon geklärt.“ „Ja. Aber ... Du hast es ja auch noch nicht gesehen.“ „Pineria. Ein paar Narben machen keinen Unterschied.“ „Doch, das tun sie.“ „Wirklich? Nun, in meiner Familie nicht! Mein Vater, zum Beispiel, trägt auch eine große Narbe. Mitten im Gesicht. Und keinen von uns stört das.“ Sie hielt den Kopf noch immer gesenkt. „Schön. Du denkst also, Deine Narben sind hässlich, ja?“ „Ja.“, hauchte sie. „Sieh mich an!“, knirschte er, umfasste ihr Kinn und zwang ihren Blick nach oben, zu seinem Gesicht. „Hier.“ Er deutete auf seine linke Augenbraue. „Sieh sie Dir an und gewöhn Dich daran.“ „Was?“ „Meine Narbe. Findest Du sie scheusslich?“ War er verrückt? Diese dekorative, kleine Macke? Selbst Miu und Bell fanden das Ding ... sexy. „Nein!“ „Ach. Nicht?“ „Nein. Und ich weiss ehrlich gesagt nicht, was das ganze s ...“ „Dann kannst Du sie ja auch berühren.“ „Was?“ Sie wurde immer verwirrter. „Ich möchte, dass Du sie berührst.“ „Aber ...“ „Tu es einfach!“ Also hob Pippa zögernd die Hand und fuhr mit dem Daumen sachte über den hellen Streifen, der seine Braue teilte und nach oben zog. „Du siehst gar nicht so aus, als seist Du angewidert.“, bemerkte Lu Ten leise. „Nein.“, gab sie zu. „Weil es keinen Grund dazu gibt. Aber meine Narben ...“ Sie holte tief Luft. „Sie sind viel größer! Das ganze Knie und ... und seitlich am Bein.“ „Größer also, hm?“ „Ja.“, flüsterte sie. Ohne Umschweife entknotete er seinen eigenen Gürtel und zog den burgunderroten Stoff von der rechten Schulter. „So wie die?“, wollte er wissen. Pineria starrte auf das sternförmige Mal. In hellen Perlmuttfarben schimmernd, hob es sich deutlich von der warmen, glatten Haut ab. Agni! Wie sehr sie ihn berühren wollte! Wie von selbst hoben sich ihre Finger zu der alten Verletzung, um sacht darüber zu streicheln. Lu Tens Nasenflügel blähten sich. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Hier ging es darum, ihre Ängste zu zerstreuen. Jetzt sofort wieder über sie herzufallen, wäre dem bestimmt nicht zuträglich. Doch sein Waldkäuzchen bekam von seiner Misere zum Glück nichts mit. „So besonders groß ist sie nicht.“, hörte er sie flüstern. „Woher hast Du sie?“ „Ein ... äh ... eine herunterfallende Eisenstange.“, improvisierte er. `Speer eines Attentäters´ wäre eine viel zu verdächtige Antwort. Er konnte ihr ja schlecht offerieren, dass kriegerische Aktivitäten, seien sie nun ernst gemeint oder nicht, zum Alltag eines männlichen Mitgliedes des Königshauses gehörte. „Wie alt warst Du?“ „Fünfzehn.“ Sie schnalzte mitleidig mit der Zunge und umkreiste den versehrten Flecken Haut mit der Fingerspitze. „Hier ... ist noch eine.“, raunte Seine Hoheit und entblösste die linke Seite. Eine unregelmässig gezackte Narbe begann am dritten Rippenboden, suchte sich ihren Weg über die Taille und verschwand im Bund seiner locker gebundenen Hose. „Und auf dem Rücken auch.“ „Die sind mir alle gar nicht aufgefallen.“ Dabei hatte sie ihn beschämend gründlich studiert, damals, als er mit entblösstem Oberkörper vor ihr gestanden hatte. Fasziniert folgte sie der ungeraden Spur auf seiner Flanke mit Zeige- und Mittelfinger. „Weil sie unwichtig sind!“, keuchte Lu Ten. „Genau wie Deine!“ Pippa konnte nicht anders. Sie drückte die Lippen auf die sternförmige Narbe unterhalb seiner Schulter. Mehr Aufforderung brauchte Lu Ten nicht. Innerhalb einer einzigen Sekunde war er den lästigen Kimono vollends losgeworden. Als er sie erneut küssen wollte, wurde er aufgehalten. Von einer überaus neugierigen Jungfer, die ihm die Arme entgegenstemmte. Er konnte ihre Augen fast wie eine Liebkosung spüren. „Was für ein grandioses Mannsbild!“, hauchte sie. „Bitte?“, ächzte Lu Ten. „Was?? Oh ... nichts! Nur ... ein Selbstgespräch.“ „So? Dann wird das Licht also doch angelassen?“, neckte er mit einiger Anstrengung. Eine Jungfrau zu verführen hatte einen ganz gehörigen Haken: Es erforderte Geduld. Und momentan war es leider das am wenigsten verfügbare Gefühl, auf seiner Skala. Und dann strapazierte Pineria diese Geduld noch munter weiter, indem sie ihre Hände auf Wanderschaft schickte. Langsam und andächtig ertasteten sie seinen Torso. Als er keine weiteren Zärtlichkeiten mehr ertrug, küsste er sie wieder gierig, bis sie sich fast verzweifelt an ihn klammerte. Pippa war dermassen schwindelig, dass sie Oben nicht mehr von Unten unterscheiden konnte. Vage bekam sie mit, wie sie wieder auf die Matratze sank. Er lag halb auf ihr, umgarnte sie wieder mit diesen besitzergreifenden Händen. Nach einiger Zeit zupfte er so beiläufig an ihrer seidenen Schärpe, dass sie davon gar nichts mitbekam. Wie denn auch? Ihre Sinne waren mit tausend anderen Dingen beschäftigt. Alles an diesem Mann erregte sie! Sein Gewicht auf ihr, die Beschaffenheit seiner Haut, die festen Konturen, wie seine Muskulatur sich bauschte, wenn er sich bewegte. Und seine Küsse! Herr im Himmel ... wie viele Arten, sie mit seinem Mund um den Verstand zu bringen, kannte dieser Mensch? Als eine warme, schwielige Hände ihre nackte Haut berührten, zuckte sie zusammen. Doch diesmal nicht aus Scheu. „Lu Ten!“ Widerwillig kratze Seine Hoheit die Reste seines Willens zusammen. „Pipps ...“, knirschte er. „Willst Du ... mich in die Klapse bringen?“ „Nein!“, keuchte sie. „Nur Deinen Namen sagen. Er ... ist schön! Ich ... ich fürchte ich plappere immerzu.“ Ach was? „Dann bin ich wohl im Himmel!“, murmelte er gegen ihr Schlüsselbein. Sein Mund glitt zur Mitte ihres Brustbeins und von dort tiefer. Gute Güte! Der Kontrast zwischen der prickelnden Sanftheit seiner Lippen, und der rauen Feuchtigkeit seiner Zunge auf ihrer Haut ... Pippa wand sich und rang nach Atem. Ihre sich rasch hebenden und senkenden Brüste rieben sich an ihm, lockten ihn. Er erlag der Verlockung und schmiegte seine linke Hand um einen der sanften Hügel. „Oh ...! Das ... Mach weiter!“ Er liess es sich nicht zweimal sagen. Mit dem Daumen neckte er die erhärtete Brustwarze und entlockte seiner Gespielin einen jammernden Laut. Als sein Mund endlich die fast schmerzhaft zusammengezogene Spitze erreichte, bäumte Pippa sich auf. „Großer Gott!“, wimmerte sie. Dann begann er zu saugen und ihr Inneres spielte komplett verrückt. Es versetzte sie in einen spektakulären Rauschzustand. Die Welt verschmolz zu einem einzigen Wirbel, dessen heisser, massiver Mittelpunkt der Mann war, der sich über sie beugte. „Lu Ten ... Bitte!“ „Möchtest Du ... Dir immer noch Notizen machen?“, keuchte er rasselnd. Sie ignorierte ihn. Eine so dumme Frage bedurfte keiner Antwort! Sie griff nach allem, was sie von ihm zu fassen bekam, und zog ihn an sich. „Kannst Du nicht ... irgendetwas machen?“, flehte sie fieberhaft. „Sch ... Nicht so eilig. Erst muss ich dafür sorgen, dass Du bereit bist.“ Pippa war eigentlich der festen Überzeugung das sie das schon war. „Und ... Woran merkst Du da ... Ah!“ Als seine andere Hand ihr Ziel erreichte bäumte sie sich erneut keuchend gegen ihn. „Lu TEN!“ „Genau daran, Fratz!“, raunte er, sacht die verborgene Feuchtigkeit ertastend. „Genau daran!“ „Oh mein Gott!“ Es klang fast wie ein Schluchzen. „Oh mein ...“ Ja, sein lerneifriges Bücherwürmchen war bereit. Langsam schob Lu Ten sich über sie. Er musste das hier unbedingt hinbekommen! Schliesslich sollte diese Frau für die nächsten Achtzig Jahre oder so glücklich mit ihm sein. „Ich fürchte ... es wird ... etwas weh tun.“, raunte er und stemmte sich auf die Arme. Pippa war so überwältigt, dass der Gedanke an ein bisschen Schmerz sie für die ungefähre Dauer einer halben Sekunde beschäftigte. „Mir ... egal! Tu es!“ Also tat er es. Ihre Atem entwich zischend und kleine, scharfe Fingernägel bohrten sich in die Haut seiner Oberarme. „Pipps?“ „Ja.“, hechelte sie. „Ja. Mir geht´s gut.“ Lu Ten hatte ihr noch Zeit geben wollen, doch der Drang, sich zu bewegen, war stärker. Mit zusammen gebissenen Zähnen glitt er tiefer. Ein schockiertes „Oh!“ liess ihn innehalten. „Es ... ist so viel!“ Ihr Wispern klang überrascht. „Viel?“, ächzte ihr gemarterter Liebhaber. „Dann wird Dir der Rest ... nicht gefallen.“ „Rest?“, quietschte sie ungläubig. „Ich ... fürchte ja.“ „Oh ... Ok.“ Sollte es tatsächlich eine Sache geben, in der ihr Mr. Perfect Defizite hatte? Ausgerechnet auf diesem Gebiet? Pippa schielte nach oben. Nun, seinem Gesichtsausdruck nach zu schliessen, war dies wirklich ein wunder Punkt. Also würde sie tapfer sein! Zärtlich legte sie eine Hand an seine Wange. „Das ... ist in Ordnung.“, flüsterte sie, zuversichtlicher als sie sich fühlte. „Es wird schon gehen.“ Es wird schon gehen? Lu Ten starrte sie an. Versuchte sie etwa ihn zu beruhigen? SIE? ... IHN? Sie war auf diesem Planeten wahrscheinlich die einzige Frau, die seine verborgene Unsicherheit spürte. Eine Unsicherheit, der er sich selbst nur höchst ungern stellte. Den Grund dafür kannten außer ihm vermutlich nur seine Eltern. Doch tief in seinem Inneren sass die Angst. Die Angst, eines Tages zu versagen. Die Angst, all den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Die Angst, für die Menschen niemals das sein zu können, was sein Vater war. Außenstehende sahen nur die Fassade. Nicht so Pineria Tutuk. Hatte sie nicht schon früher in ihm herumgestochert, versucht, ihn auszuloten? Agni, er liebte diesen Fratz wirklich! Langsam senkte er sich auf sie und küsste sie. Als sie sich wieder entspannt hatte, gestattete er sich endlich, ganz einzudringen und diesmal schien sie kein Unbehagen zu verspüren. Vorsichtig glitt er ein Stück hinaus. Pippa riss ihren Mund los. „Nicht gehn!“, japste sie. „Nein.“ Er schob sich zurück. „Ich ... gehe nicht.“, ächzte er. Pippa war verwirrt, entzückt und ein wenig ängstlich. Prickelnde Euphorie pumpte mit jedem ihrer rasenden Herzschläge durch ihre Adern. Es fühlte sich an wie winzige elektrische Entladungen. Überall. In ihrem gesamten Körper summte es. Sie verspürte einen seltsamen Drang nach Bewegung, wölbte sich gegen den harten Körper, der über ihr aufragte, streichelte fieberhaft den angespannten Rücken. Doch der Drang, diese Sehnsucht, hörte nicht auf. „Lu Ten? Kannst Du nicht ...?“ „Doch, Fratz.“, knurrte er. „Doch!“ Als er sich erneut bewegte, war es anders. Bestimmter. Er zog sich zurück und stiess in sie, immer wieder. Pippa keuchte und grub ihre Finger in seine Rückenmuskulatur. Genau DAS war es, was sie brauchte. Und er wusste es, denn er hörte nicht auf, beschleunigte das Tempo, bewegte sich kraftvoller, unermüdlich, bis ihre Welt nichts mehr mit der Realität gemein hatte. Sie geriet vollkommen außer sich, verkrallte sich in ihn, lamentierte sinnlose Worte. „Immer noch ... zu viel?“, schnaufte Lu Ten. „Nein!“, jammerte sie. „Nein. Es ... ist genau ... ohmeingott!“ „Was, Pipps?“ „Richtig! Genau... richtig! Hör nicht auf! Hör bitte ... nicht auf! Oooh!“ Krampfend bäumte sie sich gegen ihn. Heißkaltes Feuer wütete in ihrem Unterleib und in ihrem Kopf explodierten Heerscharen funkelnder Lichter. Ihre kleinen Schreie gaben ihm den Rest. Er packte ihre Hüften und liess seiner Inbrunst freien Lauf. Dann hörte er aus ihrem atemlosen Gestammel diese kleinen Worte heraus. Worte, die seine Welt veränderten. Worte, die er von diesem Moment an sein wertvollster Schatz waren. Worte, die er in seinem Inneren fest verschloss. Selbst als ihn die erschütterndste Extase seines Lebens übermannte, verblasste sie beinahe gegen diese kleinen Worte. Er wusste ja noch nicht, dass es eine Zeit geben würde, in der sie das einzige wären, das ihm geblieben war. Pippa lag da und bestaunte das Wunder, das ihr Körper ihr beschert hatte, während ihr Lehrer sich schwer atmend auf sie sinken liess. Fest schlang sie die Arme um ihn, strich verträumt mit den Händen durch sein Haar und genoss die Wärme und den Duft, den er verströmte. Nach ein paar Minuten ging sie davon aus, wieder im Besitz einer funktionstüchtigen Stimme zu sein. „Das ... sind die interessantesten Studien, die ich je betrieben habe.", flüsterte sie verzückt. "Mit Abstand!“ An diesem Abend brachte der Abendkurier Punkt Neun die zweite Ladung Briefe in den Palast. Wie immer wurden diese umgehend zu Meister Püng Jao gebracht, der sie vorsortierte, den wichtiger erscheinenden Stapel an den Assistenten des Sekretärs des Konsuls Tian Fu weiterreichte, wo sie erneut durchforstet wurden. Mit dieser Auswahl eilte der Assistent des Sekretärs zu seinem Vorgesetzten, der glücklicherweise die offizielle Erlaubnis besass, die fürstliche Korrespondenz bis auf einige Ausnahmen zu öffnen, was ihm eine genauere Selektion ermöglichte, als seinen unbedeutenderen Kollegen. Aufgrund dieser Wichtigkeit wurde ihm dann auch die Ehre zuteil, diese wirklich elitäre Auslese meist handgeschöpften, blütenreinen Papiers, dem ehrenwerten Tian Fu zu übergeben. Der warf einen kurzen Blick auf die Briefe, suchte zwei, manchmal drei, heraus und gab sie zurück. „Gut. Diese drei hier können zu Seiner Lordschaft. Der Rest erst morgen.“, murmelte Tian geistesabwesend. „Aber ... Herr!“ „Hm?“ „Die Einladung zur Verlobung des Generals ...“ „Kann warten, Tero. Oder denkst Du, die Dame wird ihm weglaufen?“ „Äh ... nein. Sehr wohl. Nur diese drei!“ Tero verneigte sich respektvoll, verschwand und suchte seinen Assistenten, um diese hochheilige Aufgabe weiterzureichen. Dieser junge Mann, der auf den Namen Cheng hörte, eilte nervös von dannen. Er hatte diesen Posten erst seit einigen Tagen und befürchtete hinter jeder Ecke eine drohende Katastrophe, die seiner Laufbahn ein Ende bereiten konnte. Auf sein leises Klopfen öffnete sich nach einer gebührenden Pause die Tür. Normalerweise. Also ... letzte Woche hatte es jedenfalls noch ganz hervorragend funktioniert. Er pochte erneut schüchtern gegen das Holz. Nichts! Warfen die Wachen ihm nicht schon seltsame Blicke zu? Cheng nahm seinen ganzen Mut zusammen und klopfte laut und vernehmlich an die Tür zu den privaten Gemächern Zukos II. Nach einigen Sekunden schwang sie auf. „Ja?“ „Äh ... äh ... Ich ... Verzeihung!“, stiess der völlig überrumpelte junge Mann aus. „Sicher!“ Er wurde angestrahlt. „Hier sind einige Briefe ...“ „Jin?“ „Anwesend, Mylord!“, rief die vor Cheng stehende Dame über die Schulter. „Warum öffnet Fon nicht die Tür?“ „Weil er mir eine Schüssel Reisbällchen besorgt.“ „Ist das nicht eigentlich Quans Aufgabe?“ „Ja, aber DEN hab ich gebeten für Dich noch etwas Essbares aufzutreiben. Irgendwas Scharfes, Du weisst schon ...“ Jetzt drehte sich Mylady wieder zur Tür. „Entschuldigung.“, flüsterte sie Cheng zu. „Gleich bin ich ganz Ohr. Aber er wird so ungeduldig, wenn ich ihm diese Dinge nicht erkläre.“ „JIN!“ „Ja, oh Hellhöriger?“ „Würdest Du den Mann bitte endlich hereinlassen?“ „Aber sicher.“ Eine energische Hand schnappte sich Chengs Ärmel, und zog ihn hinein. In der Höhle des Löwen sah sich der Assistent des Sekretärs des Konsuls dem Löwen höchstpersönlich gegenüber. Zum ersten Mal in seinem Leben! Bevor er auf die Idee kam zu starren, zwang er sich zu der vorgeschriebenen, tiefen Verbeugung. „Mein Fürst!“, würgte er hervor. „Ah. Du musst ... Chang sein.“ „Ch ... Cheng, Mylord.“ „Wirklich? Dann hatte da jemand eine rechte Sauklaue.“ Der Schweiss brach Cheng aus, während er verzweifelt bemüht war, die Augen gesenkt zu halten. „Äh ...“ „Nun,“ erlöste sein Herrscher ihn. „was führt Dich her?“ „Der Abendkurier, Herr!“ „Sehr gut. Danke! Du darfst übrigens aufsehen.“ „Wie meinen?“ „Es ist nicht nötig, das Muster des Bodens zu studieren.“ „Aber ...“ „Hat Tian Dir nicht gesagt, dass das Foltern von Angestellten abgeschafft wurde?“, murmelte Zuko, als er nach den Briefen griff. „Was?“ „Schon seit einigen Jahren. Es war so schrecklich ineffektiv.“ Cheng schluckte und wagte es tatsächlich, den Blick zu heben. Er begegnete einem amüsierten, goldenen Funkeln. „Zuko, sei lieb!“, mahnte Jin sanft. „Bin ich das nicht, mein Herz?“ „Du foppst den armen Jungen!“ „Nur ein bisschen.“, murmelte der Gescholtene, während er die Schriftstücke überflog. Eines der Siegel war noch unversehrt. „Ah, da ist ja Lu Tens Brief.“ Seine Lordschaft sah auf. „Danke Cheng, auf diese Nachricht hatte ich gewartet. Du kannst für heute Schluss machen.“ „Sehr wohl, Hoheit. Danke!“ Katzbuckelnd ging der junge Mann rückwärts. Draußen musste er sich erst mal setzten. Er hatte Zuko den Erneuerer gesehen! In Lebensgröße! Das musste er sofort seiner Mutter schreiben! „Hast Du diesen Brief denn erwartet? Ist es etwas schlimmes?“ Die Frau, die das Privileg hatte, Zuko den Erneuerer jeden Tag sehen zu dürfen, versuchte über dessen Schulter zu linsen. „Nicht doch.“, beruhigte er sie. „Aber normalerweise kommt sein täglicher Bericht mit der Morgenpost.“ „Tsts. Sollte DEIN Sohn tatsächlich geschludert haben?“ „Wohl eher der Kurier.“ „Also?“ „Also was?“ „Was schreibt er?“ „Das Übliche. Es geht ihm gut, alles ist in bester Ordnung.“ „Hm. Wenn das mal stimmt!“ „Selbstverständlich! Da er MEIN Sohn ist, ist er zu verantwortungsbewusst, um zu Verschweigen, wenn irgendwelche Schwierigkeiten auftauchen. Von diesem Spitzel hat er uns ja auch benachrichtigt.“ „Na ja, aber da er DEIN Sohn ist, muss man ihm aus der Nase ziehen, wie es ihm WIRKLICH geht. Tee?“ fügte sie unschuldig hinzu, als ihr Gatte den Mund öffnete. „Weisst Du was?“, schnurrte er und legte die Briefe auf eine kleine Kommode. „Äh ... nein!?“ Jin tapste vorsichtshalber einige Schritte zurück. „Ich denke, es wird Zeit, mir die MUTTER meines Sohnes vorzuknöpfen.“ Sie hatte es ja gewusst! Trotz des kleinen Vorsprungs schaffte sie es nicht mal fünf Meter weit. Das war ja sowas von peinlich! Aber auch sehr praktisch, wenn man es eilig hatte, gewisse Bedürfnisse zu befriedigen. Kapitel 15: Madel im Heuhaufen ------------------------------ Drei? Drei??? Dieser Mensch hielt wohl nicht viel von wohlmeinenden Warnungen, was? Aber ... egal! Klare Gedanken konnte Niha ohnehin nur noch formulieren, weil ihr Gehirn der Situation mindestens um eine Minute hinterherhinkte. Jeden Moment würde es zu Brei werden. Jede Wette! Mittlerweile wurde sie zwischen Holzwand und Muskelmasse gepresst und geküsst. Geküsst? Umhauen traf es eher! Endlich! Endlich war er wieder wütend genug, das zu tun! Endlich war Niha Koros Chance gekommen! Wenn dies hier ihre einzige Gelegenheit war, die Leidenschaft zu erleben, dann würde sie das verdammt noch mal auch tun, und zwar bevor der dazugehörige Mann es sich anders überlegte! Und endlich ... endlich legte sie auch die Starre ab. Sie griff in das Geschehen ein, beziehungsweise in den dunklen Haarwust ihres Stallarbeiters und erwiderte den Kuss ebenso leidenschaftlich, wie er gegeben wurde. Bei allen Göttern ... schmeckte dieser Kerl himmlisch! Er roch himmlisch, fühlte sich himmlisch an. Er ... war einfach nur himmlisch. Dann kam der Brei-Hirn-Moment. Die Hände, die er bisher in ihre Haare gewühlt hatte, schmiegten sich besitzergreifend um ihre Brüste. Der letzte verständliche Gedanke, den Niha fasste war `ÄhwasohmeinGottalsoalso...Ääääh... OHMEIN ...!´ Und Lee? Lee war sauer. Aber so richtig! Nur wusste er nicht mehr ganz so genau, warum. Und er liebte diese Frau. Aber so richtig! Nur wusste er auch hier nicht mehr ganz so genau, warum. Er tat es eben. Und das mit dem Rummachen? Das tat er eben auch! Diese kleine Furie würde ihn sowieso heiraten, also konnte sie auch gleich dafür herhalten, einen Teil seiner Wut zu absorbieren. Vage konnte er sich erinnern, dass sie ohnehin der Auslöser dieses mittleren Wutanfalls war. Dass ausgerechnet seine zukünftige Ehefrau ihn für einen unverbesserlichen Windhund hielt, war zu viel! Warum konnte sie ihn nicht sehen, wie er war? Er sah sie doch auch! Hatte das, was ihre harte Schale schützte, längst erkannt. Warum also konnte sie IHN nicht sehen? Leiser Schmerz mischte sich in seinen Zorn. Er würde ihr zeigen müssen, wer Lee Tatzu war, und wenn es ein ganzes, gemeinsames Leben dauern würde. UND er würde sie diesen Trottel vergessen lassen, der sie hatte sitzen lassen. Nun, was das betraf, schien er auf dem genau richtigen Weg zu sein. Er konnte es an ihrer Reaktion merken. Ihrem genüsslichen Stöhnen, ihren emsigen, wissbegierigen Händen. Die Frau war Wachs in seinen Händen! Das einzige, was ihn jetzt noch aufhalten konnte, war eine Herde Rhinos ... Oder ihre Geschwister. Kurzerhand hob er sie auf die Arme und trug sie in eine der Boxen, die er gestern mit frischem Stroh ausgekleidet hatte. Niha bekam gar nicht mir, wie sie auf duftendes, sauberes Heu gebettet wurde. WAS sie mitbekam, waren diese hinreissenden Lippen, die jetzt auf ihrer Haut schmolzen und auf ihrem Weg heisses Prickeln zurück liessen. „Lee!“, seufzte sie. „Halt den Mund!“, flüsterte er an ihren Halsansatz. „Halt einfach den Mund!“ Seine Hände glitten mit betörend Druck zu ihren Hüften. „Ich will Dich küssen!“, keuchte sie. „Das wirst Du.“, beteuerte er und liess seine Lippen tiefer gleiten. „Jetzt!“ Sie bäumte sich gegen ihn und wollte seinen Kopf zu sich ziehen. Ihre Arme wurden eingefangen und über ihren Kopf gezogen. Beschämend mühelos hielt er sie dort mit nur einer Hand fest, während er über ihr aufragte. „Ah, meine Süsse.“, raunte ihr Stallarbeiter. „Weisst Du denn nicht? Im Heu hab ich das Sagen!“ „Lee!“ „Und wenn Du Küsse willst ... musst Du brav sein!“ „Lee ... bitte!“ „Betteln tut´s auch.“, stiess er aus, bevor er seinen Mund wieder auf ihren presste. Da ihre Hände aus dem Spiel waren, musste sie ihm ihre Begeisterung eben auf andre Art demonstrieren. Sie erwiderte diesen Kuss mit allem was sie hatte. Und da sie den Kerl nicht anfassen konnte, presste sie sich an jeden Zentimeter von ihm. Kurz durchzuckte Lee der Gedanke, dass Niha verdammt viel aufzuholen hatte. Ihr letztes Mal musste wirklich lange her sein, so wie sie sich an ihm rieb ... „Langsam ...“, mahnte er. „Wir haben Zeit.“ Ungeduld und die knabbernden, heissen Küsse an ihrem Hals liessen Niha ächzten. Geschickte Finger hatten inzwischen die Bänder ihrer groben Leinenbluse geöffnet und stahlen sich unter das Gewebe. Das federleichte, warme Streicheln an Taille und Bauch machte sie fast wahnsinnig. „Ich brauch keine Zeit!“, stiess sie atemlos aus. „Ich weiss wie alles ... funktioniert!“ Funktioniert? Dieser Riu musste ja wirklich ein lausiger Liebhaber gewesen sein. „Aber, aber. Hier spielen wir nach meinen Regeln.“ Diese Regeln schienen ihren nervlichen Zusammenbruch zu beinhalten, denn er liess sich alle Zeit der Welt, als er sanfte, fast ehrerbietige Küsse entlang ihres immer tiefer werdenden Ausschnitts verteilte. Inzwischen war sie viel zu atemlos, um mit ihm zu zanken. Sie konnte nur zusehen, wie sich dieser glänzende Schopf über sie beugte, konnte nur fühlen, wie erfahrene Hände begannen, ihre Beine zu liebkosen und dabei Rock und mögliche Bedenken verschoben. Als die wissenden Finger ihre empfindliche Kniekehle streiften, keuchte Niha hingebungsvoll. Sie winkelte das Bein an, um ihm besseren Zugang zu verschaffen. Lee sah auf. Die Augen ein einziges, wirbelndes Funkeln aus Grün und Gold. „Ah!“, raunte er. „Gute Stelle.“ Schwielige, warme Fingerkuppen intensivierten die schmeichelnde Zuwendung. „Lee!“ Er küsste sie wieder. Die Hand, die bisher ihre Arme festgehalten hatten, umfasste nun ihren Nacken, während die andere aufreizend zwischen Knie und Rückseite des Oberschenkels hin und her strich. Da er für beide Hände eine sinnvolle Beschäftigung gefunden hatten, packte er den Saum ihres erweiterten Dekolletés mit den Zähnen und zog. Sein heisser Mund widmete sich sofort der freigelegten Haut. Träge, aber zielstrebig wanderte er über die üppige Rundung. „Lee ...“ Beinahe schmerzhaft grub Niha die Finger in seine Schultern. „Ja, meine Süsse.“ „Oh mein ...“ Sie wand sich unruhig. Die raue Zunge an ihrer Brustspitze entlockte ihr ein tiefes Stöhnen. Doch es war erst der Anfang der Verführung. Die schmerzhaft feste Perle wurde erbarmungslos geneckt. Mal badete er sie in Hitze, mal setzte er sie der kühlen Luft aus. Zupfte mit den Zähnen. Doch der Gipfel der Wonne war dieses Saugen. Sacht, fest, heftig und wieder sacht. Agni! ... Agni! Niha öffnete die Augen, sah aber trotzdem nur verschwommene Sterne. Sie merkte, dass sie ihren Kopf zurückgebogen hatte, ihr gesamter Körper fast schmerzhaft angespannt war und dass ihre Hände beinah an seinem Haar rissen, so fest hatten sie sich hineingekrallt. Vielleicht wusste sie doch nicht, wie alles funktionierte? Immerhin waren ihr einziges Anschauungsmaterial die Schweine. Er musste etwas tun! Und zwar bald, sonst würde irgendwas in ihr zerspringen. „Lee! Tu ... was!“ „Was ist ... mit langsam ... und genüsslich?“, keuchte er. „Nicht jetzt!“ Ihr Tonfall klang trotz der Ungeduld fast flehend. „Dann eben ... schnell.“, knirschte er, denn eigentlich wusste er selbst nicht, wo er noch mehr Beherrschung hernehmen sollte. Ihm blieb ja auch noch ein ganzes gemeinsames Leben, ihr die Vorzüge von `langsam und genüsslich´ aufzuzeigen. „Dann ... mach!“, wimmerte Niha. Himmel! Das Weib wollte ihm nicht mal die Zeit lassen, sie vollends aus ihren Kleidern zu schälen? „Bitte, Lee!“ Also gut. Er schob ihren Rock noch höher hinauf, entfernte geschickt alle störenden Textilien und streichelte sie zarte Innenseite ihrer Schenkel. Ihre Fingernägel gruben sich in seinen Nacken und sie drängte ihm entgegen. „Schau mich an, Süsse!“, flüsterte er atemlos und stemmte sich auf die Arme. Sie tat es. Das weiche taubengrau ihrer Augen war rauchig, tief und sehnsüchtig. Ob Riu auch diese Blicke ... Lee biss die Zähne zusammen und versuchte, den verfluchten Kerl aus seinen Gedanken zu vertreiben. Aus IHREN würde er das auf jeden Fall! Diese unwillkommenen Gedanken veranlassten ihn zur Tat zu schreiten. Etwas energischer als gewollt. „LEE!“ Er hielt inne. Agni, er war zu heftig gewesen. Sie lag vollkommen erstarrt und verkrampft da. Esel! Für sie war es eine Ewigkeit her, und was tat er? „Niha ... es ...“ Zitternd holte sie Luft. „Schon gut.“, wisperte sie. „Jetzt ist es ja weg.“ Weg? Was war weg? Himmel, sie war so verdammt eng ... Was meinte sie mit ... ? „Was?“, stiess er aus. Niha küsste nur hingebungsvoll seinen kräftigen Hals, die muskulöse Brust, streichelte seinen angespannten Rücken. Dass es sich so wundervoll anfühlen konnte, einen andern zu berühren ... „Niha! Bist ... warst Du ...“ Volle Hüften, die sich fordernd an ihn pressten, lenkten Seine Hoheit ab. Mit einem Knurren packte er sie um die Taille und kam der stummen Aufforderung nach. Aber sie war noch immer ... zu eng. „Verdammt.“, ächzte Lee. „Wie lange ist es denn her?“ Niha, der der Sinn nicht nach Konversation stand, blinzelte verwirrt. Warum wollte er denn reden? „Niha?“ „Was?“, keuchte sie, inzwischen außer sich vor Ungeduld. „Was ist ... weg?“ „Solltest Du ... Dich nicht ... bewegen?“ „Was meintest Du mit ... weg?“ Verständnislos, mit überhitzen Wangen, starrte sie ihn an. Er starrte ebenfalls. Dann begann die Erkenntnis zu dämmern. `Es´ war weg und er war in der verdammt noch mal engsten Frau seines Lebens vergraben ... „Du ... bist Du noch JUNGFRAU?“, rief er entsetzt. Niha schloss die Augen. Klar. Sie war so blöd. So blöd! War doch klar, dass er jetzt die Panik kriegte. „Niha?“ „Ich WAR eine. Aber keine Angst ...“ „Angst? Fühlt es sich an, als hätte ich Angst?“ Was meinte er mit anfühlen? „Ich ...“ „Verdammt! Ich ... hab Dir weh getan.“ „Nur kurz.“, flüsterte sie. JETZT fühlte sie alles andere als Schmerz. „Niha ...“ „Nur ganz kurz.“ Um der Diskussion ein Ende zu setzten zog sie seinen Kopf nach unten und küsste ihn. Leidenschaftlich, verlangend. Und Lee? Schwelgte darin. Das kleine jungfräuliche Landei mit dem Ex-Verlobten wusste offensichtlich ganz genau was es wollte. Dass ER das war, war pures, persönliches Glück! Er erwiderte den Kuss, machte ihn zu seinem. Vorsichtig liess er sein Gewicht auf sie sinken. Mit der Hand strich er hinunter zu ihren Hüften, um ihr sanft zu zeigen, was sie tun sollte. Sie reagierte. Eifrig, lernwillig. „Ist es gut so?“, knirschte er vor Anstrengung. Gut? GUT??? Er brachte sie um die letzten, kläglichen Reste ihres Verstandes, so gut war es. Sie keuchte und nickte. Keuchte und drückte ihn enger an sich. Keuchte und bewegte sich probehalber. „Lee!“ Er selbst war noch zögernd. „LEE!“ In ihrer fordernden Stimme lag nur noch Lust, kein Schmerz. Also gestattete er sich endlich, sich kraftvoller zu bewegen. Die Kontrolle würde er ohnehin nicht mehr lange behalten, denn Niha klammerte sich an ihm fest und sie bog sich jedem seiner Stösse entgegen. Die kleinen, quengelnden Geräusche, die sie von sich gab, waren zu viel. Er konnte nicht mehr anders. Er liebte sie. Küsste sie, verschlang sie und liebte sie! Noch nie hatte er so viel von einer Frau haben wollen, noch nie so viel geben wollen. Es war Gier, Leidenschaft, Fieber und Liebe. Niha versuchte einfach diesem Augenblick festzuhalten. IHN festzuhalten. Sie versuchte es so verzweifelt, dass sie mittlerweile mit den Fingernägeln seinen Rücken zerschrammte und zusammenhangslose Laute von sich gab. So war es also. In diesem Sinnesrausch gab die Vernunft klein bei, bis nur noch ein triebgesteuertes, sehnsuchtsgebeuteltes Etwas übrig blieb. Da war diese schwindelnde Schwerelosigkeit, ein wirbelnder Sog, der sie unwiederbringlich erfasste. So intensiv, dass sie befürchtete, er würde sie nie wieder loslassen. So intensiv, dass er nicht aufzuhalten war. Er packte einen und Vorsicht oder Vernunft spielten keine Rolle mehr. Das einzige, das noch eine Rolle spielte, war Lee. Ihr Lee. Der immer enger gewordene Knoten in ihrem Inneren platzte endlich und überschwemmte sie mit heissen, kribbelnden Wellen, bis ihre Welt darin ertrank. Ein seltsamer Schrei löste sich aus ihrer Kehle, als sie sich wie irr gegen ihn bäumte. Lee ächzte in ihr Haar. Dann erfasste ihn offensichtlich der gleiche Rausch, denn er wurde ebenso durchgeschüttelt, wie sie selbst. Nein, Niha Koro hatte mitnichten gewusst wie alles funktionierte. Jetzt schon. Und vergessen würde sie es so schnell nicht. Lee lag auf dem Rücken und liess die Erfahrung auf sich einwirken, was für ein himmelweiter Unterschied bestand, zwischen `einfach nur Sex´ und die Frau zu lieben, die man, äh ... eben liebte. Wenn man verliebt war ... gewissermassen. Selten war sein Vokabular beschränkter gewesen. Aber so war das wohl, wenn es einem das Hirn wegblies, dachte er grinsend. Er gestattete sich ganze fünf Minuten dieser Hirn-Abstinenz. Dann, irgendwann, kam der ungemein befriedigende Gedanke, betreffend der Exklusivität des eben erlebten. Dieser Riu hatte offensichtlich doch nur die kalte Schulter bekommen. Vielleicht wäre es angebracht, ein paar Dinge zu klären ... Niha hätte ewig hier liegen bleiben und verträumt die Maserung des Holzes bestaunen können. Doch die plötzliche unangebrachte Aktivität ihres Liebhabers, störte den Frieden. „So!“ Seit wann waren seine Kleider wieder dort wo sie - je nach Sichtweise - hingehörten? Er verschränkte die Arme vor der Brust und hatte diese kompromisslos bockige Haltung, die er so gern an den Tag legte. Niha versuchte, wieder Anschluss an Zeit, Raum und Realität zu finden. „Dürfte ich jetzt vielleicht endlich erfahren, warum Gnädigste noch Jungfrau war?“ „Warum? Das spielt doch keine Rolle!“ Hastig suchte sie ihre Sachen zusammen. „Keine Rolle? KEINE Rolle? Spinnst Du? Du warst verlobt!“ „Ja. Verlobt. Aber nicht verheiratet!“ Inzwischen stand auch Niha. Aber die blöden Bänder dieser Bluse ... „Ah! Na dann. Sag das doch gleich!“ Es war unmöglich, den Sarkasmus in seiner Stimme zu ignorieren. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er ihr nun fast seine Nase ins Gesicht stübte. „Wir beiden, meine Süsse, sind NICHTS von beidem und haben uns trotzdem im Heu gewälzt!“ „Und? Riu ... war eben anders. Er hat mich nie zu etwas gedrängt. Er war ...“ „Ein Hohlkopf?“ „Nein! Er war der wundervollste Mensch, den man sich vorstellen kann. Sanftmütig, hilfsbereit.“ Verzweifelt hielt sie an ihrer Legende fest. „Ach? Und was bin ich? Das Arschloch, dass Dir keine Wahl gelassen hat? Du WOLLTEST das hier, Niha!“ „Ja.“, gab sie zu. „Ganz genau! Ich wollte es! Ich wollte mit meinem Stallknecht schlafen. Nicht mehr und nicht weniger. Kein Grund, es zu dramatisieren.“ „Dramatisieren?“, knirschte Lee. „Ich dramatisiere gar nichts! Im Gegenteil. Ich werde die Sache ENTdramatisieren. Gibt´s im Dorf einen Amtsrichter?“ „Was?“ „Ob es einen Richter gibt.“, artikulierte Lee überdeutlich. „Wozu?“ „Bestimmt nicht, um einen falsch geparkten Drachen anzuzeigen.“, schnaubte Seine Gnaden mit funkelnden Augen. „Wir heiraten!“ „Wir WAS???“ Himmel! Diese Frau! Sie machte ihn schon wieder wütend. Angesichts der Tatsache, WIE er in letzter Zeit seinen Zorn abreagierte, eigentlich nicht die schlechtesten Aussichten. „Hei ... ra ... ten. Ob Du´s glaubst oder nicht, das ist genau das, was ich mit Frauen zu tun pflege, wenn ich sie entjungfert habe.“ Heiraten? Wie zur Hölle sollte sie ihre Besessenheit denn je wieder loswerden, wenn sie das tat? Ihr Herz würde noch tausendmal brechen! „Bist Du verrückt?“, brachte sie heraus. „Ich ... wir waren nur wütend aufeinander! Das hier hatte nichts zu bedeuten!“ Diese Lüge auszusprechen schmerzte mehr, als sie es für möglich gehalten hätte. „Nur wütend?“, fauchte er. „WÜTEND? Dann lass Dich mal hübsch desillusionieren, Fräulein Koro.“ Er packte sie und presste sie mit seinem Körper gegen die Stallwand. „Scharf warst Du auf mich. Und das nicht erst seit heute!“ „Lass mich los! Das stimmt nicht!“ „Ach nein? Ich könnte Dich jederzeit wieder haben, Niha.“ Eine Hand, dieselbe, die sie noch vor einer halben Stunde um den Verstand gebracht hatte, legte sich besitzergreifend um ihre Brust. Und sie? Sie reagierte auch noch darauf ... „Ich WERDE Dich jederzeit wieder haben.“, stellte er klar. „Und zwar wo, wann und wie ich will!“ „Du kannst mich vielleicht dazu bringen, wieder mit Dir zu schlafen. Aber heiraten ... werd ich Dich nicht!“, keuchte Niha. „Das werden wir doch mal sehen!“ Niha zwang sich zur Ruhe. Sie musste ihm das ausreden! Unbedingt! Sie war einfach zu verletzlich, wenn es um diesen Kerl ging. Mit jedem Tag würde sie ihn immer noch mehr lieben und ihr wachsendes Unglück würde auf ihn abfärben. Denn egal wie sehr sie stritten, eines wusste Niha ganz genau: Das Letzte was Lee wollte, war, sie zu verletzen. Schliesslich hatte sich schon eher herausgestellt, dass er alles andere als verantwortungslos war. Und nun sollte sein Ehrgefühl ihn an sie ketten?! Nur weil sie die Klappe gehalten hatte, über ihren ... Intim-Stand? Nein! Sie würde nicht zulassen, dass er wegen ihres Fehlers unglücklich würde, denn sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie alles abliefe. Zuerst wäre er ja vielleicht noch ganz zufrieden. Er wäre ein guter Ehemann, daran zweifelte Niha keinen Moment. Ihren Geschwistern könnte gar nichts besseres passieren, als so einen Schwager zu bekommen. Sie hatte ja schon gesehen, wie selbstverständlich er sich um alle kümmerte. Der Knackpunkt war sie! Sie ganz allein. Sie würde es nicht schaffen, ihn glücklich zu machen. Nicht auf Dauer! Sie war ... nicht genug. Nicht einmal für Riu war sie genug gewesen. Wie sollte sie es für DIESEN Mann sein? Er brauchte nur zu lächeln, und schon taten sich hunderte von Möglichkeiten auf. Doch durch eine Heirat wäre er an sie gebunden. Sie! Ein schreckliches, zänkisches Weibsbild mit drei Anhängseln. Und sein Sinn für Anstand und Fairness würde dafür sorgen, dass dies auch so bliebe. Mit der Zeit würde er unzufrieden, und sich wünschen, dass das hier niemals geschehen wäre. Sie musste die Sache beenden. „Und warum? Warum sollte ich ausgerechnet Dich heiraten?“, lachte sie bitter. „Verstehe.“, knurrte er. „Als Ehemann bin ich mal wieder nicht gut genug?“ Nicht gut genug? Fast wäre Niha ein ungläubiges Schnauben entwichen. Nicht gut genug? Wenn hier jemand nicht gut genug war, dann bestimmt nicht er! Doch er lieferte ihr die Notlüge quasi frei Haus. Es wäre dumm, diese Gelegenheit nicht zu nutzen. Schliesslich ging es um SEINE Freiheit! Mach´s kurz, Niha! Und lass es richtig schön wehtun. Das kannst du schliesslich am besten! „Erfasst Schlaumeier!“, würgte sie durch die zugeschnürte Kehle. „Ich hab kein Interesse an Dir! Das Einzige, wozu Du mich gekriegt hast, waren ein paar Küsse und ... diese ... diese ... Stroh-Tändelei.“ Doch ein paar Lügen waren Miss Koro nicht genug. Verbissen quälte sie sich und ihn weiter. „Du hältst Dich für unglaublich toll, aber lass Dir eines gesagt sein: Den Besten hab ich schon lange vor Dir kennen gelernt. Und Du wirst ihm nie das Wasser reichen. Niemals!“ Eine Ohrfeige hätte Lee nicht schneller auf Distanz gebracht. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Verzweifelt versuchte er, ihre Tirade nicht an sich heranzulassen. Sie war durcheinander und verletzlich. Und in solchen Fällen schlug seine Niha eben um sich. „So ist das.“, flüsterte er rau. „Du reibst mir tatsächlich Deinen heiligen, makellosen Riu unter die Nase?“ „Verdammt richtig! IHN hab ich wenigstens geliebt. Und trotzdem hab ich ihn nicht zurückgenommen, als er wieder hier angekrochen kam. Weil ich nämlich niemanden brauche. Und schon gar keinen Mann!“ „Er ... lebt?“, brachte Lee heraus. „Ich dachte ... Maja sagte, er sei Geschichte.“ „Ist er auch. Er ist damals mit einer anderen davongelaufen. Sie hat ihn drei Monate später in die Wüste geschickt. Ende der Geschichte. Das war´s! Und jetzt,“, sagte sie mit letzter Kraft. „Will ich, dass Du packst!“ Damit drehte Niha sich um und lief aus dem Stall. Sollte er sie ruhig für rüde, herzlos und was weiss ich noch alles halten. Umso schneller würde er einsehen, dass sie nicht gut für ihn war. „Lass ihn aufgeben!“, betete sie still, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. „Lass ihn BITTE aufgeben. Sonst schafft er es noch mich zu irgendetwas zu überreden.“ Sie rannte hinter die Scheune, um wenigstens fünf Minuten ungestört zu sein und einen kleinen Teil ihrer Fassung wieder zu erlangen. Lee stand reglos inmitten des Heus. Sein letztes Bisschen Hoffnung war eben in sich zusammen gestürzt. Er hatte akzeptieren und verstehen können, dass sie die Erinnerung an einen Toten verklärte. Aber wenn die diesen Mann schon auf ein solches Podest stellte, obwohl er noch lebte ... Sie liebte ihn. Riu, der sie verlassen hatte. Riu, der sie verraten hatte. Den Mann, der sie bitter enttäuscht hatte ... Sie liebte Riu noch immer. So einfach war das. Wer war ER denn, sich einzubilden, ihr Herz sei wandelbar? Sie hatte ihm ihren Körper geschenkt, mehr nicht. Ihr Vertrauen, ihre Seele und ihr Herz ... all diese Dinge, die er so verzweifelt begehrte, würden ihm nie gehören. Wie sehr er sich wünschte, dies früher gewusst zu haben. Statt dessen hatte er gegen Windmühlen und Riesen gekämpft. Er hatte seine Kraft verbraucht, und jetzt war er diesem Schmerz schutzlos ausgeliefert. Sie würde ihn nie lieben können... Diese Frau, mit einem Herzen so groß wie der Ozean, in dem für jeden Platz war. Ausser für ihn. Für Geschwister, Nachbarn, dreibeinige Hunde, streunende Katzen, Schweine und einen verräterischen Bastard. Nur nicht für ihn. Niemals für ihn. Vielleicht, wenn er sein Leben nur ein wenig anders verbracht hätte? Vielleicht hätte sie ihn lieben können, wenn er ein besserer Mensch gewesen wäre? Wenn er mehr an andere gedacht hätte. So wie ... Lu Ten. Der jeden gottverdammten Tag hart daran arbeitete, seinem Volk eines Tages der bestmögliche Nachfolger Zukos II zu werden. Der jede Entscheidung hundertfach überdachte, weil er genau wusste, dass tausende von Menschen davon abhingen. Doch Lee? Er hatte mehr oder weniger in den Tag hinein gelebt, hatte die Sonne Sonne sein lassen. Natürlich hatte es Arbeit und Pflichten gegeben, doch er hatte sie nie so ernst genommen, wie er hätte sollen. Ja, vielleicht hätte Niha ihn lieben können, wenn er ein besserer Mensch gewesen wäre. Doch er war es nicht. Nicht gut genug. In seinem Hochmut hatte er sich tatsächlich eingebildet, ER wäre derjenige, der ihr zu ihrem Glück noch fehle. Ihr Glück ... das ihm wichtiger geworden war, als das eigene. Plötzlich wusste Lee, was er noch zu erledigen hatte. Er ging nach oben und begann zu packen. Als Niha schliesslich doch ins Haus ging, stellte sich eine neue Hürde. Ihr moralisches Feingefühl meldete sich mit voller Wucht. In Gegenwart ihrer Geschwister wurde ihr erst bewusst, was sie in der letzten Stunde so alles getrieben hatte. Mit hochrotem, gesenktem Kopf und fast ebenso hochroten Augen hastete sie zum Herd. „Wo warst Du denn so lange?“, fragte Maja prompt, immer noch mit diesem trotzigen Unterton in der Stimme. „Ich ... hatte was mit Lee zu klären.“, stiess ihre ältere Schwester aus. „Zu klären? Wahrscheinlich hast Du ihm wieder Vorhaltungen gemacht. Zerfa hat von dem Kalb erzählt. Möchte mal wissen, was so schlimm daran ist, wenn er ihr eins schenkt.“ „Lee,“, antwortete Niha heftiger als nötig. „Gehört NICHT zur Familie. Ich finde ist es Zeit, dass ihr euch daran erinnert. Darum wird er morgen auch gehen!“ „WAS???“ Drei entsetzte Gesichter starrten Niha an. Schlimmer konnte dieser Tag wirklich nicht werden. Bis auf diese eine, viel zu kurze Stunde ... „Was hast Du gemacht?“, hauchte Maja. „Was, in Agnis Namen hast Du gemacht? Wenn er geht, ist es DEINE Schuld!“ „Lee würde nie abhauen!“ Jem klang verdächtig heisser. „Nie im Leben!“ „Himmel noch mal! Hört doch auf!“, schrie Niha. „Er ist unser Hilfsarbeiter. Nichts weiter!“ „Und WESSEN Schuld ist das?“, brüllte Maja, ziemlich untypisch, zurück und sprang auf. „Ich geh jetzt und sag ihm, dass er bleiben soll!“ „Das wirst du NICHT!“, krächzte ihre ältere Schwester. „Ach nein?“ „Maja!“ „Du hast Lee doch nie eine Chance gegeben!“ Majas Stimme bebte vor Wut, und vielleicht auch Tränen. „Du bist schon so verbittert, dass Du nicht mal den anständigsten Kerl Deines Lebens erkennst, wenn man ihn Dir auf die Nase bindet! Er schuftet sich hier krumm und bucklig, ohne zu murren. Den Kindern hat er endlich mal ein bisschen Selbstvertrauen gegeben. Und falls Du´s nicht bemerkt hast: Er hat mir kein einziges schlüpfriges Angebot gemacht, seit er hier ist. EIGENTLICH hat er fortwährend nur Dich angesehen, aber Dir ... Dir ist das egal! Weil Niha Koro nämlich niemanden braucht, oder? ODER???“ In ihrem ganzen Leben hatte Maja noch nie so geschrieen. Niha konnte nur sprachlos zusehen, wie sie aus der Küche stürmte. In diesem Durcheinander von Vorwürfen und Verleugnung hatte niemand auf Zerfa geachtet. Ihre ungläubig geweiteten Augen waren unendlich traurig geworden, als sie begriffen hatte, was Niha erzählte. So traurig, dass nur Resignation übrig blieb. „Geht Lee weg?“, fragte sie leise in die erdrückende Stille. „Ja, Spatz.“, flüsterte Niha heisser. „Tut mir leid.“ Zerfa blickte auf den Boden, zuckte mit den Schultern, drehte sich um und ging die Treppe hinauf. So blieb es an Jem hängen, seine große Schwester vorwurfsvoll anzustarren. „Mädchen sind ja sowas von blöd!“, stiess er aus. Danach klang es, als schniefe er. Er wischte mit seinem Ärmel über die Augen. „DU bist blöd!“, stellte er klar. Nur für den Fall, dass Niha ihn nicht verstanden hatte. Maja stürmte in den Stall. Dort stand bereits ein gepackter Seesack am Fuss der Leiter. „Lee?“, rief sie ins Halbdunkel. „Ja?“, fragte es hinter ihr. „Agni! Hast Du mich erschreckt!“ „Tut mir leid.“, sagte er seltsam tonlos. „Ich ... ich hab von Niha gehört, dass sie Dich weggeschickt hat.“ Er nickte schroff. „Fein! Dann sag ICH, dass Du bleibst.“ „Maja ...“ „Nichts Maja. Ich hab hier schliesslich auch was zu sagen. Und ich will, dass Du bleibst. Wir alle wollen das! Denn was besseres als Du ist dieser Familie noch nie passiert.“ „Maja ...“, murmelte Lee. „Es hat keinen Zweck. Sie will es nicht!“ „So schnell gibst Du auf? Das glaub ich jetzt nicht!“ „Glaub was Du willst.“ „Aber ... Du liebst sie doch!“ warf sie ihm an den Kopf. Lee holte tief Luft. „Das ändert nichts.“ „Es ändert nichts? DU hast mir doch noch erzählt, dass die Liebe alles ändert! DU hast mir doch von Deinen Eltern erzählt...“ „Maja, sie liebt mich nicht!“, presste Lee durch die Zähne. „Sie liebt diesen Riu. Und den werd ich ihr holen.“ „Riu? Quatsch!“ „Du hast selbst gesagt, dass sie noch um ihn trauert.“ „Ja. Nein ... aber nicht SO! Sie schickt ihn jedes mal weg, wenn er hier auftaucht!“ „Sie liebt ihn trotzdem.“ „Lee ...“ „GENUG!“, stiess er aus. „Manche Dinge kann man nicht ändern. Wo lebt Riu jetzt?“ „Ich sag Dir doch: sie will ihn nicht!“ „Doch! Tut sie! Sagst du´s mir jetzt, oder muss ich im Rathaus Akten klauen?“ „Lee, bitte!“ Er schnappte sein Gepäck und schulterte es. „Wiedersehen, Maja.“ Damit drehte er sich um und strebte zur Tür. „Er lebt in Wakodu. Als Stadtschreiber.“, flüsterte sie. Lee nickte ohne sich umzudrehen und ging. Maja stand im Stall und blickte an die Decke, um die Tränen zurückzuhalten. „Er kommt wieder!“, teilte sie den Schweinen mit. „Er kommt wieder, und dann sehen wir weiter ...“ Wakodu, zwei Tage später Die goldgrünen Augen fixierten Riu Lan mit leerem Blick. Der junge Stadtschreiber kümmerte sich gerade um die Probleme einer lautstarken Bürgerin. Sein gehetzter, hektischer Ausdruck ließ auf eine leichte Überforderung schliessen. „Ich KANN nichts dagegen tun.“, wiederholte er entnervt. „Wenn Ihr Waldi die ganze Nacht durch bellt, muss er weg! Schliesslich wohnen Sie direkt neben dem Hospital.“ „Aber ...“ „Nächster bitte!“ „Hören Sie mal ...!“ „NÄCHSTER bitte!“ Die Dame wurde von einem Ordnungshüter höflich zur Tür geleitet. Riu rieb sich müde die Augen. Die Kopfschmerzen waren wieder da. Als ein Schatten auf seinen Schreibtisch fiel, stellte er die übliche Frage. „Was kann ich für Sie ...“ „Bist Du Riu?“ „Äh ... ja.“ „Ich möchte, dass Du mit ... kommst.“ „Mitkommen? Sind Sie betrunken?“ Was für ein lächerlicher, verklemmter Möchtegern-Romeo! Lee wankte ein wenig. „Nein.“, sagte er. „Sturzbesoffen. Das ist es ... was ich bin.“ „Äh ... Nächst ...“ „Klappe halten!“, knurrte Seine Hoheit. „Wenn ich Dir nicht ...“ Er musste aufstossen. „Tschuldigung ... die Theke voll kotzen soll.“ „Hören Sie, ein solches Benehmen ...“ „Ich kann mich verdammt noch mal benehmen, wie ich...“ Nein. Schlechte Idee, hier den abgestürzten Prinzen zu spielen. Paps würde das nicht gerne sehen. Und Mama ... schon gleich gar nicht! „Hör mal,“, Lee bückte sich zu diesem Milchbrötchen hinunter. Riu verzog angewidert das Gesicht. „Willst Du ... Niha wieder haben?“ „Was?“, hauchte Herr `Höhere Beamtenlaufbahn´ mit einem Mal viel zugänglicher. „Sie kennen Niha?“ „Ja.“ presste Lee durch die Zähne. „Leider.“ „MEINE Niha?“ Lee ballte die Fäuste. Das war´s. Gleich würde ihm die Galle übergehen! Das Verlangen, diesem Trottel eine zu verpassen, wurde fast übermächtig. „Sülz mich ja nich voll! Ich ... wohne im ... im ... Irgendwas mit Schwein. Komm morgen da hin, wenn ich wieder,“, er hielt sich an der Tischkante, „denken kann.“ „Was ist mit Niha?“ Riu war aufgesprungen. „Äh, Verzeihung. Dauert das hier noch lange? Ich brauch nur einen Stempel.“ „ICH WERD DIR GLEICH EINE STEMPELN!!!“ „Na, also das...! Oh, mein GOTT... ! Sind Sie ... Sie ... sind ...“ „Seh ich so aus?“, fauchte unser heute so gar nicht charmanter Fürstensohn. „Ja!“, stammelte der glatzköpfige Mann. „Aber es stimmt nicht!“ sagte Lee. „Ich bin nicht ... Lee. Ich bin niemand.“ „Aber ...“ „Ha!“ Von einem Geistesblitz durchzuckt wirbelte Prinz Billigfusel herum. „Grinsend. Das war´s! Zum grinsenden ... Ferkel.“ Riu schluckte und nickte. Er wusste nicht, was er von dieser Sache halte sollte. „Ich ... werd morgen einen Höllenschädel haben. Also sei ja vorsichtig!“ Mit dieser letzten Warnung schlenderte Lee, so gut es in Verbindung mit der Wankerei eben ging, hinaus. Als er am nächsten Tag aufwachte, konnte er sich nur an eines erinnert: Niha Koro wollte ihn nicht. Er lag im Bett, starrte mit blutunterlaufenen Augen an die Decke, und fragte sich, ob er es irgendwann begreifen würde. Jemand hämmerte an die Tür. Der Schmerz, der daraufhin seinen Schädel zu spalten drohte, zeigte ihm wenigstens, dass er noch fühlen konnte. „Verdammt, was soll das?“, ächzte er. Es rummste weiter. „RUHE! ... Argh!“ Er hielt sich den Kopf. „Verschwinde!“ Doch der Störenfried nahm seine Berufung sehr ernst. „Hallo?“, rief es durch das Holz. „Sind Sie da?“ Lee quälte sich von der Matratze, stand auf. „HA...“ Und riss die Tür auf. „... llo?“ „Was ist?“, schnauzte Seine Gnaden. „Ich ... sollte herkommen.“ Lee verengte die Augen, was in deren verquollenem Zustand gar nicht so einfach war. „Ach, echt?“ „J ...ja. Sie sagten etwas wegen ... wegen Niha.“ Niha. Ihren Namen zu hören schnürte ihm die Kehle zu. „Ah. Riu, nicht wahr?“ „Äh ... Ja. Sie sagten doch ...“ „Ich sag viel, wenn die Sanduhr rieselt.“ „Also, wegen Niha ...“ „SAG ... diesen Namen nicht! Halt einfach Deine Klappe!“ „Ja, gut. Aber Sie sagten, dass ich Ni ... sie wiederhaben kann.“ „Ja.“ „Liebt sie mich denn noch?“ Bei allen Göttern. Er konnte das nicht! Er konnte nicht! Aber Niha ... Dieser Bursche war das, was sie wollte. Und es würde der Familie helfen. Maja, Jem und Zerfa. Es schnürte ihm schon wieder die Kehle zu. „Ja.“, quetschte er heraus. „Tut sie.“ „Oh, Agni! Ich WUSSTE es!“ Es wurde langsam Zeit, sich wieder der menschlichen Rasse anzunähern. Lee versuchte es mit einem Eimer kalten Wassers, den er sich über den Kopf leerte. „Ich kann meinen Posten hier nicht so einfach aufgeben.“ Riu lief enthusiastisch im Kreis. „Aber ... ich werde mich heute noch in Agnam Ba bewerben und in einem Monat ...“ „Du kommst gleich mit!“ „Was?“ „Du kommst mit, und wenn ich Dich hinter mir her schleifen muss.“ „Aber meine Arbeit!“ „Ich beschaff Dir welche.“ „Hä?“ „Du wirst Arbeit bekommen. Klar?“ „K ... lar. Aber wie?“ „Durch meinen Charme.“, knurrte Lee. Charme? Sicher! Wem wollte er hier was weiss machen? Er roch wie ein Schnapsladen, hatte eine Gesichtsfarbe wie Grießpudding und sah aus als hätte ihn jemand als Wischmob missbraucht. Nicht gerade einer seiner besten Tage. Aber die würden jetzt wohl ohnehin selten werden. „Also gut.“ Riu spreizte die Hände. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“ „Wenn Du das sagst.“ Lee grabschte sich das zerknitterte Hemd vom Stuhl. Eigentlich hätte es eine Wäsche nötig. Aber eigentlich scherte ihn das einen Dreck. „Und ... Sie sind sicher? Mit Ni ... ihr? Sie hat gesagt, ich soll sie ihn Ruhe lassen, und mein eigenes Leben leben.“ Agni! Wollte sie WIRKLICH diese Weichbirne haben? „Hör mal Kumpel, Weiber sagen am Tag tausend Sachen, die sie nicht so meinen. Also halt die Klappe und lass mich in Frieden, bis wir in diesem Mist-Kaff sind.“ `Sonst wird Dein Gebiss in Mitleidenschaft gezogen!´ „Äh ... ja. Schon gut. Ich ... ich bin nur so wahnsinnig glücklich!“ Tja, das belegte eindeutig, dass Schwachsinn und Glück keine Gegensätze waren. Eine Frau wie Niha sitzen zu lassen ... wie bescheuert konnte man denn sein? Der Kerl verdiente sie nicht! Aber da waren sie ja schon zu zweit, nicht wahr? Und Riu ... Riu hatte das Glück, von ihnen beiden der Schwachsinnige zu sein, den sie wollte. Also ergriff Lee die einzige Möglichkeit, die Dame seines Herzens glücklich zu machen; ihr das zu geben, was sie begehrte. Dass es ihn selbst fast umbrachte? Seine eigene Schuld. Vielleicht hätte sie ihm irgendwann vertraut, wenn er es weniger bunt getrieben hätte. Vielleicht, nur vielleicht, würde er sich dann nicht so leer fühlen. Die bitteren Gedanken und die düstere Stimmung, in die sie ihn stürzten, bewirkten immerhin, dass Riu ihm während des Rests der Reise nur alle zwei Stunden auf die Nerven ging (aber dann für jeweils hundertzwanzig Minuten). Seit vier Tagen war Lee nun fort. Seit vier Tagen war nichts mehr wie früher. Zum Alltag zurückkehren? Fehlanzeige! Der Weggang ihres Hilfsarbeiters schien die gesamte Familie zu lähmen. Maja sprach kein Wort mehr mit Niha, war überfürsorglich zu den beiden Kleinen, und versuchte selbst die schwersten Arbeiten allein zu erledigen. Gestern hatte sie sich beim Heben der zu tief in die Erde gegrabenen Pflugschar den Rücken gezerrt, weil sie sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als Niha um Hilfe zu bitten. Jem war ein ganz anderes Problem. Er kam nicht mehr zur Ruhe. Von morgens bis abends rannte er durch die Gegend und schnatterte wie ein zu stark aufgezogenes Uhrwerk. Er war fahrig, nervös, hatte dunkle Ränder unter den Augen und heute ... war er mal wieder mit einem blauen Auge aus der Schule gekommen. Er redete wie ein Wasserfall, damit keiner auf die Idee kam, ihn danach zu fragen. Doch die größten Sorgen machte Niha sich um Zerfa. Seit Lee weg war hatte sie nicht mehr von sich gegeben, als eine Handvoll Worte. Sie jammerte nicht, sie weinte nicht, sie war auch nicht bockig, oder gereizt. Sie ging zur Schule, machte Hausaufgaben, half die Hühner zu versorgen und das Geschirr abzuwaschen. Doch den Rest des Tages sass sie einfach nur auf ihrem Bett, kämmte ihrer Puppe die Haare und sagte nichts. Nicht einmal das Kälbchen kümmerte sie. Und das Schlimmste war, dass sie sich mit jedem Tag NOCH mehr zurückzog. Und dann war da noch der eigene Schmerz, mit dem Niha zu kämpfen hatte. Sie versuchte sich einzureden, sie hätte keine Zeit dafür. Diese Taktik hatte ihr schon einmal über Liebeskummer hinweggeholfen. Liebeskummer ... Diese kaum zu ertragende Sehnsucht nur Kummer zu nennen ... Doch diesmal war es egal, ob sie Zeit dafür hatte, oder nicht. Der Schmerz war da. Tief, bohrend, beständig. Ob sie nun wollte, oder nicht. Und er hinterliess leere Stellen, überall in ihrem Herzen. Im Augenblick sass sie da, liess Jems nicht enden wollendes Schnattern an sich vorbei rauschen, und zwang sich zu einem weiteren Bissen. „Zerfa. Du hast Deinen Maisbrei gar nicht angerührt.“, flüsterte Maja und strich der Kleinen die Haare aus der Stirn.“ Das Kind zuckte mit den Schultern. „Komm schon. Du musst was essen.“ Zerfa tat ihrer Schwester den Gefallen und ass zwei Löffel. „Darf ich jetzt aufstehen?“, fragte sie danach leise, rutschte vom Stuhl und huschte, ohne die Antwort abzuwarten, aus der Hintertür. Maja warf Niha einen gehässigen Blick zu, als sei das alles ihre Schuld. Das war zu viel! Mit lautem Stuhl-Scharren stand Niha auf. „Ich bin im Stall!“, sagte sie schroff und nahm ihre Schüssel, um sie in die Spüle zu stellen. Doch das tönerne Utensil sollte dort nie ankommen, denn sie hatte es fallen lassen und starrte, blass geworden, auf die Tür. Wenn Lee je noch eines Beweises ihrer Gefühle bedurft hätte, hier war er! Ihre Reaktion auf Rius Erscheinen sprach Bände. Niha starrte Lee an, wie vom Blitz getroffen. Er stand da. Einfach da. Mit einem seltsam tragischen Ausdruck in diesen wunderschönen Augen. Und sie blöde Kuh brachte keinen Ton heraus, bis ... „Niha?“ Begriffsstutzig wanderten ihre Blicke über ein vertrautes Gesicht. „Riu?“ „Niha! Ich ...“ In Ermangelung sinnvoller Worte ergriff ihr einstiger Verlobter die Initiative und küsste sie. Niha hätte nur gerne gewusst, WARUM?!? Lee war kurz davor, irgendetwas niederzubrennen. `Sie ist jetzt glücklich, also geh!´ Doch seine masochistische Seite, von der er bis dato noch gar nichts gewusst hatte, schien sich in dem Schmerz suhlen zu wollen. „Niha! Liebste!“ Genug! Bevor er in die Ecke kotzte, ging er lieber. „Lee!“ Das war Maja. Aber auf wohlmeinenden Trost konnte er momentan wirklich verzichten! Mit langen Schritten strebte Seine Hoheit über den Hof. Nur weg hier! „Lee?“ Diese weitaus zaghaftere Stimme liess ihn abrupt innehalten. Agni hatte wohl einen schlechten Tag. Oder er wollte Prinz Lee einfach nur für alle in seinem Leben begangenen Fehler büssen lassen. „Lee?“ Er drehte sich um. „Knöpfchen.“, sagte er heiser. Zerfa stand erst nur da. Dann stürzte auf ihn zu, presste ihr Gesicht an seine Beine und klammerte sich verzweifelt fest. „N ... nicht weggehn!“, schluchzte sie. „Du darfst nicht gehn!“ Inzwischen hatte Lee sich niedergekniet und hielt sie im Arm. „Es tut mir so leid, Zerfa.“ „Bitte! Ich ... wir legen auch keine Käfer mehr in Dein Bett! Bitte!“ „Schätzchen! Ich weiss, dass Du es jetzt nicht verstehst, aber ich muss gehen.“ „Nein! Ich werd auch brav sein!“ „Ach Knöpfchen!“, flüsterte er rau in ihre Locken. „Es ist doch nicht Deine Schuld. Ganz bestimmt nicht! Niemand hat Schuld. Manche Dinge können wir eben nicht ändern.“ „Doch!“, weinte sie. „Doch! Du kannst es wieder gut machen!“ Lee wusste, dass keine Seele je wieder ein derartiges Vertrauen in ihn setzten würde, wie dieses Kind. Und er musste es enttäuschen! Die Bruchstücke seines Herzens pulverisierten. „Zerfa ...“ Er versuchte, in ihr Gesicht zu spähen, doch sie drückte es gegen seinen Hals. „Zerfa, sie mich an.“ Sie tat es. Aber durch die Tränen würde sie nicht viel erkennen. „Ich hab Dich lieb, Knöpfchen.“, brachte er hervor. „Sehr, sehr lieb! Euch alle. Aber ... ich muss jetzt gehen.“ Er machte sich los, wendete sich ab und ging. Dann stellte er fest, dass die Kleinste der Koros das vermochte, was die Älteste nicht geschafft hatte. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Lee sass auf dem harten Boden des einzigen Bahnsteigs von Agnam Ba. Irgendwann würde ein Zug kommen. Wenn nicht heute, dann morgen. Nach und nach gesellten sich immer mehr Leute zu ihm. Ein gutes Zeichen. Vielleicht hätte er dieses beschissene Kaff ja bald hinter sich. Und tatsächlich. In der Ferne schrillte schon die Pfeife des eisernen Monstrums. Lu Ten hätte zum Thema „Dampfmaschinen“ bestimmt einen zweistündigen, begeisterten Monolog vom Stapel gelassen. Seine Familie ... Lee Innerstes zog sich zusammen. Er konnte nur hoffen, dass die vertraute Umgebung, und die geliebten Menschen die dumpfe Leere in ihm ein wenig abklingen lassen würden. Als der Boden zu vibrieren begann, erhob sich der Herzog von Goam von seinem staubigen Platz und starrte dem Zug entgegen. „Lee ...“ Das Ding machte beim bremsen einen ohrenbetäubenden Lärm. „LEE!“ Das schrille Kreischen schien eine Verhöhnung seines Namens zu sein. „Lee!“ Etwas packte seinen Ärmel. „Maja?“ Das Mädchen war derart außer Atem, dass es keinen Ton herausbrachte. „Ist was passiert?“, fragte Lee sofort. Sie nickte. „Mit Niha?“ Sie schüttelte den Kopf. „Die Kinder?“ Sie schüttelte den Kopf. „Was denn dann?“ Sie keuchte hingebungsvoll. „Verdammt, Maja! Was denn? Der Zug fährt gleich ab!“ Sein Ärmel wurde fester gepackt. Nur so als Vorsichtsmassnahme. Dabei rang sie immer noch so verzweifelt nach Luft, dass sie ihr Anliegen nicht vorbringen konnte. Erstaunlicherweise erfuhr Majas schlechte körperliche Verfassung eine wundersame Wende, als der Zug gemütliche fünfhundert Meter zwischen sich und Prinz Lee gebracht hatte. Plötzlich konnte sie sich aufrichten. „Es geht um Riu.“, sagte sie, mit den sauerstoff-gesättigsten Lungen der Welt. „WAS? Um Riu? DARUM hab ich den verdammten Zug versäumt? Wegen dieses Jammerlappens?“ „Das ist es ja.“, sie wirkte fast heiter. „Er hockt in unsrer Küche, jammert rum, bettelt Niha an und sagt die ganze Zeit, es sei alles Deine Idee gewesen.“ „Hä?“ „Dass er zurückkommen sollte. Und Niha ist total genervt. Sie schiebt ihn weg und mault, er soll sie in Ruhe lassen!“ „Das ist SEIN Problem, nicht meins!“ „Du kapierst es immer noch nicht, oder?“ „Was denn?“ „Sie liebt ihn nicht mehr! Ich hab´s Dir doch schon gesagt, aber Du warst ja zu stur. Sie will ihn nicht!“ „Niha weiss nicht, was sie will!“ Maja hatte da andere Ansichten, aber die behielt sie für sich als sie hinter Lee her rannte. Das Krachen der Tür gegen die Wand spielte Nihas strapaziertem Nervenkostüm übel mit. Gleich würde sie losbrüllen ... Doch jemand andres kam ihr zuvor. „WARUM ZUM TEUFEL GLAUBST DU, HAB ICH DIESEN LABERSACK HIERHER GESCHLEPPT? HAST DU EINE AHNUNG, WAS ICH MIR ALLES ANHÖREN MUSSTE???“ „Labersack?“, keuchte Riu. „Also ...“ „Lee?“, hauchte Niha. Sie begriff überhaupt nichts mehr. „Du wolltest ihn zurück haben ... also los! Oder muss ich ihm noch ein Schleifchen umbinden? DA!“ Lee packte seine Exchefin und zog sie zu dem Häufchen Elend am Küchentisch. „Nein!“ Sie riss sich los. „Wie zum Geier kommst Du darauf, dass ich ihn zurück will?“, „Weil Du den Trottel LIEBST!“ „Tu ich NICHT!“ „Oh Doch!“ „NEIN!“ „DOCH! Was Du im Stall gesagt hast ... Du weisst es nur nicht, Niha!“ „Das weiss ich zufällig sogar ganz genau!“ „ACH! UND WOHER AUF EINMAL?“ „WEIL ICH EINEN GANZ ANDEREN TROTTEL LIEBE!“ Es war gesagt. Eine geschlagene Minute starrten sie sich an. Dann packte Lee ihren Arm und zerrte sie zur Tür. „Was tust Du?“, keuchte Niha. „Maja? Eure Schwester wird jetzt heiraten. Wartet nicht mit dem Essen auf uns!“ „Ist gut.“, meinte Maja gut gelaunt. „Sollen wir euch was aufheben?“ „Sicher!“, stimmte Lee zu, während er Nihas Hände vom Türrahmen schälte. „Ich WILL nicht!“, schrie die Braut. „Klar willst Du. Du hast eben zugegeben, mich zu lieben. Einen anderen Trottel wirst Du wohl nicht meinen.“ „Nein! ... Doch ... Ich ...“ „Dein Einsatz ist erst gefragt, wenn´s ans Ja-Sagen geht!“ Um schneller voran zu kommen, warf Lee sich seine Zukünftige über die Schulter. „Ich ... hab doch noch meine Arbeitsschürze an!“, keuchte Niha. „Und? Mir egal! Dem Richter auch!“ „Lee!“ „Dein Fest bekommst Du später. Und ich versprech Dir, es wird größer, als Dir lieb sein wird!“ „Lee!“ „WAS?“ „Dürfen wenigstens ... die Kinder?“ Er überlegte. Ernsthaft. „Nein! Keine Zeit! Sonst überlegst Du´s Dir noch anders.“ „Aber Lee ...“ Der ehrenwerte Richter Weng war wenig erfreut darüber gewesen, beim Abendbrot gestört worden zu sein. Nun stülpte er sich mürrisch seinen Richterhut auf den Scheitel und streifte die Robe über, während er in die Amtsstube schlurfte. „Also wirklich, Niha Koro.“, murrte er, Reste von einem Hühnerbein nagend. „Das sieht Dir so gar nicht ähnlich.“ „Ist auch NICHT meine Idee!“, kam es spitz zurück. „Was? Was soll das Ganze dann?“ die buschigen Brauen zogen sich zusammen. „Ganz einfach, Euer Ehren. Das Weib liebt mich. Ist verrückt nach mir! Nur zugeben will sie es nicht.“ „Schon“, brummte Weng. „Einwilligen muss sie trotzdem.“ „So wie im Heu?“, fragte Seine Gnaden unschuldig. „Lee!“, zischte Niha, plötzlich puterrot. Das Poltern des Richters war um einiges lauter. „NIHA KORO!!! Stimmt das?“ „Ich ... äh ... also ...“ „Hast Du mit diesem Mann ..? Also ... hast Du?“ „Na und?“ „Na UND? Mein liebes Fräulein, denkst Du vielleicht auch an Deine Familie? Da haben Deine Geschwister ja ein schönes Vorbild! Du heiratest den Jungen und damit basta!“ Lee grinste über beide Ohren. „Personalien?“, unterbrach ihn der Richter barsch in seiner Selbstgefälligkeit. „Oh ... äh, ja!“ Ohne einen Blick darauf zu werfen nahm der ältere Mann die Papiere entgegen. Dann räusperte er sich. „Können wir die Kurzversion kriegen?“, warf Lee hastig ein. „Bitte?“ „Also diese Jugend von heute ... Willst Du, Niha Koro - dem anwesenden Amtsinhaber persönlich bekannt - den Mann zu Deiner Rechten heiraten?“ Weng deutete auf Lee, was den Vorschriften entsprach, um Missverständnissen vorzubeugen. Niha schluckte, starrte auf ihre abgearbeiteten Hände und tat dann etwas sehr ungewöhnliches. „Ja“, flüsterte sie. „Schön! Willst Du, äh...“ Der Richter hielt sich Lees Unterlagen vor die Nase. „Lee Iroh Tian Tatzu - Personalien wurden überprüft - die Frau zu Deiner ...“ „Äh... Moment!“, rief Niha. „Was denn nun schon wieder?“ „Sie haben seinen Nachnamen vergessen.“ Der ehrwürdige Weng angelte nach seiner Brille und beäugte das Dokument noch einmal. Dann, als er endlich begriff, starrte er konsterniert den Bräutigam an. „Nein“, würgte er hervor. „Hab ich nicht. Soll... Soll ich fortfahren?“, stotterte er zögernd und stierte Lee an. „Bitte!“ „Aber er heisst Song! Lee was-weiss-ich-nich-alles Song.“ „I... ich lese nur, was auf dem Papier steht!“, erwiderte der Richter hastig. „Also noch mal: Willst D... du... äh... Ihr, Lee Iroh ...“ „JA!", rief Lee schnell. „Ich nehm sie! Die zu meiner Linken. Ganz klar!“ „Kinder, ich KANN so nicht arbeiten!“ „Doch! Können Sie“, behauptete der junge Mann, dessen Papiere ihn eindeutig als königlichen Prinzen der Feuernation auswiesen. „Sagen Sie einfach `Mann und Frau´ und schon sind Sie uns los.“ „Aber... Tatzu“, stammelte die Braut verwirrt. „So heisst doch ...“ 
„SAGEN SIE´S ENDLICH! Das Mädel will mich, und ich sie.“ „TATZU?“, quietschte Niha. „LOS!“ „MANN UND FRAU!“, schrie Richter Weng entnervt. „Ihr seid Mann und Frau! Herrgottnochmalichbinzualtfürsowas!“ „Nein!“ Niha stemmt die Hände in die Hüften und sah von einem zum andern. „Ich will erst ...“ „Zu spät!“ Nun - endlich unter der Haube - entspannte Lee auf wundersame Weise. „Das gilt nicht!“, ereiferte sich sein Eheweib. „Doch. Die Zeremonie ist bindend. Genauer gesagt, gilt es sogar, wenn man vor Zeugen bekundet, dass man einander heiratet.“ „Quatsch!“ „Nein. Gesetz von 927, als Priester und Beamten knapp waren.“ „S ... stimmt das?“ Flehend starrte sie den Richter an. „Ja. Und es wäre mir lieber gewesen, ihr hättet es so gemacht, statt mich da mit reinzuziehen.“, brummte der und tupfte sich mit einem Taschentuch Schweissperlen von der Stirn, nicht sicher, ob der oberste aller Feuerteufel ihn nur vierteilen, oder auch noch in Öl sieden lassen würde ... „Fein.“ Niha biss sich auf die Unterlippe. „Also schön. Bin ich eben Deine Frau.“ Agni! Seine Frau. Sie war tatsächlich die Frau von Lee. Ihrem wundervollen, erstaunlichen, anbetungswürdigen Lee. „Aber jetzt will ich wissen, warum Du wie der Feuerlord heisst.“ „Äh ...“ „Bist Du etwa mit ihm verwandt?“ Noch spottete sie, obwohl sie es doch EIGENTLICH besser wusste. „Hm ... ja.“ „Ha!“ Ihr Knie wurden weich. „Haha!... WAS? Du... Du meinst das ERNST?“ Ihr werter Gatte machte ein zerknirschtes Gesicht und nickte. „Ja. Dein großartiger, vielgeliebter Herrscher ist ... also ... Er ist mein ... Vater.“ Niha fiel in Ohnmacht. Einfach so. War zwar ihr erstes Mal, aber in den vergangenen fünf Tagen hatte sie ja schon ganz andere erste Male hinter sich gebracht, nicht wahr? Kapitel 16: Denn erstens kommt es anders und zweitens als man denkt ------------------------------------------------------------------- „Niha!?!“ Lee hetzte verzweifelt seiner Frau hinterher, die recht planlos durch die inzwischen dunklen Gassen Agnam Bas rannte. Im Moment kamen sie zum zweiten Mal am Dorfbrunnen vorbei. „Sprich nicht mit mir!“ „Niha!“ „Geh weg!“ „Sei doch nicht albern!“ „Ich werd ins Gefängnis kommen, oder?“ „Quatsch!“ „Er wird mich ins Gefängnis werfen lassen.“, jammerte sie, ohne auf seinen Einwurf zu achten. „Und zurecht! Muss irgendwas in meinem Essen gewesen sein, dass Dich den Verstand hat verlieren lassen!“ „Ich war nie klarer im Kopf!“ „Du SOLLST doch nicht mit mir sprechen!“ „Niha, verdammt!“ „Fluchen sollst Du auch nicht! Ich ... ich darf gar nicht „Du“ sagen, oder? Oh Gott! Oh mein Gott!!! Geh einfach weg!“ „Den Teufel werd ich tun! Jetzt bleib endlich stehen!“ „Vielleicht lässt er mich in siedendem Öl baden. Nur so als Warnung für alle anderen.“ „Er tut so etwas nicht! Er hat solche Sachen sogar eigenhändig abgeschafft. Das ist einer der Gründe, warum Du ihn so verehrst. Schon vergessen?“ „Man kann durchaus Ausnahmen machen!“ „Mein Vater macht aber keine Ausnahmen.“ „Oh Gott!“ Jetzt rannte sie im Kreis, statt der Strasse zu folgen. „Ich hab das Leben seines Sohnes ruiniert!“ Sie blieb stehen. „Es tut mir leid!“, schrie sie die Wolken an. „Was? Es tut Dir leid? Mich geheiratet zu haben tut dir leid?“ „Ja. Richtest Du ihm das bitte aus?“ „Niha? Es reicht! Du hörst jetzt sofort auf durchzudrehen!“ „Oh Gott!“ „SOFORT!“ Himmel ... konnte der Mann brüllen! „Setzt Dich auf den Stein da!“ Plumps. „Kopf zu den Knien!“ Sie tat es. Beschämend, aber wahr ... sie tat es. Er schnappte sich eine Papiertüte mit Küchenabfällen von einem nahen Fensterbrett und entleerte sie. „Atme hier rein!“ „Was?“, hechelte Niha. „Los! Atme in die Tüte. Du hyperventilierst.“ „Das stinkt!“ „TU`S EINFACH!“ „Sagt mal, ihr da unten ... Sonst habt ihr keine Probleme?“, schrie ein rechtschaffen aufgebrachter Bürger aus dem Fenster. „Meine Frau hyperventiliert hier gerade, also beruhig Dich.“ „Ach ne ... Und brüllst Du immer durch die Gegend, wenn sie ausflippt?“ „Weiss ich doch nicht!“, schrie Lee. „Bin erst seit ner halben Stunde verheiratet.“ „Oh. Ach so ... Na dann. Nichts für ungut. Brauchst Du Hilfe?“ „Nein!“, rief Lee entnervt. „Nein, ich brauche keine Hilfe.“ „Das.“, keuchte Niha in die Tüte. „Sagst Du jetzt.“ „Komm schon Süsse. Das ganze ist wirklich kein Grund die Nerven zu verlieren.“ „DU wirst ja auch nicht beseitigt werden.“ „Du auch nicht!“ „Ich ... ich hab meinen Schwiegervater an der Wand hängen!“ „Ja. Aber falls es Dich beruhigt; es ist ein ziemlich schlechtes Bild.“ „Ich hab ... ihn aus meinem Haus geworfen. Zuko ... II.“ Sie schluckte. „Äh ... so irgendwie.“ „Oh nein!“ „Niha. Er ist auch nur ein Mensch. Na ja ... so irgendwie.“ „Ohneinohnein.“ Lee brauchte länger als ihm lieb war, sein Weib nach Hause zu bugsieren. Er hatte mittlerweile nämlich einen Wahnsinns-Hunger. Ausserdem trug er noch immer die versifftesten Klamotten seines Lebens. Eine Tatsache, die ihn nun, da kein Kummer mehr seinen exquisiten Geschmack für Mode überdeckte, ziemlich störte. Er brauchte was zu Essen, ein Bad und ... was zu Essen! Auf das Dauer-Gejammer zu seiner Rechten liess er im passenden Augenblick die jeweiligen Kommentare, von `Ja, ja.´ bis `Wird nur halb so wild werden.´ fallen. Allerdings hätte er genauso gut mit einer Hauswand kommunizieren können. Niha hatte Katastrophenstimmung und war durch nichts davon abzubringen. Als der Hof in Sichtweite kam, beschleunigte Lee seine Schritte. Sollte sie nur weiter rumtrödeln, ER witterte was zu futtern! „LEE!!! Lee ist wieder da!“ Niha seufzte. Na toll! Dann hätte sie ja genauso gut im Dorf bleiben können. Hauptsache Lee war wieder da! Aber Jem dabei zu beobachten, wie er sich auf ihren Gatten warf, war zu herzzerreissend und sie beschloss ihren Groll beiseite zu packen. Vorerst. „Na sag mal ... Seit wann wiegst Du eine Tonne?“ „Seit schon immer!“ „Tatsache?“ „Klar! Bleibst Du jetzt bei uns?“ „Ja. Oder ... sagen wir mal so ...“ „DU GEHST WIEDER WEG?“ „Nein! Nein, tu ich nicht. Und wenn doch, dann kommt ihr mit.“ „Versteh ich nicht.“, schniefte der Kleine, der schon dunkle Wolken am Horizont seines jungen Glückes erahnte. „Ab heute gehört ihr zu mir, und ich zu euch. Klar?“ „Klar.“ „Und zwar egal, wo wir wohnen. Klar?“ „Klar.“ „Lee ... wir wissen doch noch gar nicht, ob ... ob ... Was tun wir, wenn ER was dagegen hat?“ „Zum hundertsten Mal, Niha. Er HAT nichts dagegen! Und selbst wenn. Gesetz ist Gesetz. Basta. Und Gesetze sind ihm heilig!“ „Von wem redet ihr da?“, fragte Jem. Doch er wurde unterbrochen, denn Maja und Zerfa kamen über den Hof gerannt. „LEE!“ Das Mädchen stürzte sich ohne Umschweife in einen bereitgehaltenen Arm. Den anderen hatte ja leider ihr Bruder mit Beschlag belegt. Maja war etwas zurückhaltender. Sie stand da und beobachtete lächelnd ihre jüngeren Geschwister. „Na, habt ihr das mit dem Heiraten denn auch hinbekommen?“, fragte sie schliesslich. „Selbstverständlich!“, antwortete Lee und erhob sich, auf jedem Arm ein Kind. Niha schnaubte nur vielsagend. Dann trafen ihre Blicke die von Maja. In den letzten Tagen war ihrer beider Verhältnis mehr als gespannt gewesen. „Maja ...“ „Ich hab Riu in den Gasthof geschickt. Er ging mir auf die Nerven.“ „Ja. Gut.“, murmelte Niha. „Danke.“ „Hm ...“ ganz kurz bekam Lee ein schlechtes Gewissen. „Ich muss noch dafür sorgen, dass er seine alte Arbeitsstelle wieder bekommt. Erinnert mich morgen daran.“ „Du willst dafür sorgen?“, fragte Maja. „Wie denn?“ „Äh ...“ „Lee stinkt!“, klärte in diesem Moment Jem seine Schwestern auf. „Jem! So was sagt man nicht!“, meinte Zerfa erschrocken. Schliesslich sollte nichts und niemand Lee auf den Gedanken bringen, wieder fortzugehen! „Wenn´s aber stimmt?“ „Ja. Tut es.“, seufzte Seine Gnaden. „Sieht so aus, als hätte ich eine Runde im Bach nötiger, als was zu Essen.“ „Es gibt Klösse! Und Schweinebällchen und und braune Sosse!“, zählte Jem eifrig auf. „Und Bohnen!“, ergänzte Zerfa, die wusste, dass Lee, im Gegensatz zu ihrem Bruder, auch Gemüse mochte. „Wenn ihr nicht aufhört, muss ich doch erst Essen und mich dann entstinken!“ Zu guter Letzt wurde die Reihenfolge jedoch beibehalten. Lee trollte sich Richtung Bach, genoss trotz der Kälte ein ausgiebiges Bad, schlüpfte in frische Klamotten (bei deren Anblick sein Vater wieder einmal die Augen verdreht hätte) und betrat mit laut knurrendem Magen die Küche. Sofort wurde eine riesige Portion für ihn bereitet. Dabei wurde sorgfältig darauf geachtet, dass seine Fleischstücke die knusprigsten, seine Klöße die rundesten und seine Bohnen die glänzendsten waren. Als er begann, das Sortiment in sich hineinzuschaufeln, hatte er drei begeisterte Zuschauer. Nur Niha würdigte ihn keines Blickes und stocherte nervös in ihrem Essen herum. Da eine drohende Unterzuckerung ihres Schwagers nun endlich abgewendet schien, ergriff Maja die Gelegenheit ihre Neugier zu befriedigen. „Und? Wie war die Hochzeit?“ „Gut!“, mampfte Lee. Ein Schnauben kam von der Stirnseite des Tischs. „So richtig schön feierlich?“ „Äh ... klar.“ „Musste jemand weinen?“ „Weinen? Also ... eher nicht, würd ich sagen.“ „Richter Kwan hat Blut und Wasser geschwitzt, falls Du DAS meinst.“ Es war Nihas erste, wenn auch recht ätzende Beteiligung an der Konversation. „Geschwitzt? Warum denn?“ „Ja, Lee. Warum nur? Sagst Du´s ihnen, oder soll ich?“ Herausfordernd starrte Niha in dieses viel zu sorglose Kristallgrün. „Das ... äh ... mach wohl lieber ich.“, meinte Lee betont lässig, legte widerwillig seine Stäbchen beiseite und nahm einen Schluck Wasser. „Fein.“, flötete Niha süsslich. „Wir WARTEN!“ „Also. Kinder. Und Maja. Ich ... äh ... Ihr wisst ja, dass ich kein Zwangsarbeiter bin sondern ... äh, von meinem Vater hergeschickt wurde. Er war ein bisschen sauer.“ Lee rieb sich den Nacken. „Ein bisschen sehr. Nicht, dass er das oft ist!“, sagte er dann hastig. Der eigentliche Plan war schliesslich, den Anwesenden die Angst vor Mr. Feuerlord himself zu nehmen. „Er ist ein toller Dad! Spitzenmässig, sozusagen. Ich hatte eben über die Strenge geschlagen, also musste er was tun. Klar. Aber er liebt uns. Ganz wahnsinnig. Alle. Also ... vier Geschwister hab ich. Meine Mutter kennt ihr ja schon. Die liebt er übrigens auch ganz wahns ...“ „Lee!!“ „Was?“ „Kommst du nun auf den Punkt, oder was?“ „Ja doch. Gleich. Ich wollte nur, dass sie etwas über meine Familie erfahren.“ „Ja, ich will alles über Lees Familie wissen!“ Zerfa nickte begeistert. „Siehst Du!“ Mit triumphierendem Blick nahm Lee seine Verzögerungstaktik wieder auf. „Also zwei Brüder und zwei Schwestern hab ich.“ „Bist Du der Älteste?“, krähte Jem, der es sich ganz toll vorstellte, der Älteste zu sein. „Nein. Lu ist der Älteste. Ten. Also Lu Ten, um genau zu sein. Dann komm ich. Dann Aya. Sie ist ...“ „Lu Ten, Lee und Aya?“, prustete Maja. „Heisst ihr etwa alle so wie die Kinder des Feuerlords? Deine Mama hat wirklich einen Narren an ihm gefressen, was?“ „Ja.“ Lee räusperte sich. „Hat sie. Um ehrlich zu sein ... sie ist verrückt nach ihm. Darum wohnt sie auch im ... Palast. Mit ihm.“ Mit heldenhaften Mut blickte Lee seinen drei neuen, begriffsstutzig dreinblickenden Familienmitgliedern in die Augen und versuchte sich an einem strahlenden Lächeln. „Meine Mutter ist die Frau des Feuerlords.“, sagte er schnell. „Hä?“ „Wirklich. Ganz toll erklärt!“ Niha sass mit verschränkten Armen auf ihrem Stuhl. „Versuch Du das doch!“ „Wie jetzt? Deine Mutter ist die Frau des Feuerlords? Ich dachte, er hat nur eine.“ Maja versuchte die Puzzelteile übereinander zu bringen. „Ja.“ „Aber ... dann ...“ „Ja.“ „Du???“ „Äh ... ja.“ „Was denn?“, verlangte Jem zu wissen. „Lee ... ist glaub ich ein Prinz.“, stammelte Maja. „Was, echt?“ Die drei Erwachsenen nickten. Zerfa starrte Lee nur mit großen, glänzenden Augen an und wunderte sich kein Stück. Eigentlich hatte sie es ja immer gewusst. Prinzen waren so! Und irgendwo mussten sie ja auftauchen, um ihre Prinzessinnen zu suchen, nicht wahr? „Cooool!“, hauchte Jem. „Cool?“, seufzte Niha resigniert. „Ich glaub nicht. Nie im Leben geht das gut! Zuko wird bestimmt nicht zulassen, dass sein Sohn eine Bäuerin heiratet. Äh ... aber Agni schütze ihn! Trotzdem!“ „Unsinn! Meine Mutter war auch nur Weberin.“ „Tatsache ist: Ich hab keine Ahnung, was daraus werden soll.“, fuhr sie fort, ohne auf ihren Ehemann einzugehen. „Am besten annullieren wir die Ehe schleunigst wieder.“ „Annullieren?“, zischte Lee. So langsam wurde ihm das hier zu bunt. Er sah durchaus ein, dass Niha momentan nicht so gut auf ihn zu sprechen war, aber DAS ging wirklich zu weit. „Hier wird gar nichts annulliert!“ „Was ist annelliert?“ (Da niemand Jems Frage beantwortete, dachte er noch Jahre später „annelieren“ wäre ein anderes Wort für eine private Erwachsenen-Party.) „Aber vielleicht lässt sich Dein Vater dadurch besänftigen.“ „HIMMEL NOCH EINS! Wie oft muss ich Dir denn noch sagen, dass mein Vater nicht besänftigt werden muss?“ „Du kennst ihn ja auch nur als Vater. Dir wird er das schon durchgehen lassen, aber MIR?“ „Okay. Das reicht jetzt!“ Der Stuhl schrammte laut über den Boden, als Seine Hoheit aufstand, über den Tisch griff und sich Nihas Hand schnappte. Ohne weitere Umschweife zog er sie hoch und in Richtung Tür. „Was ...?“ „Wo geht ihr denn jetzt schon wieder hin?“, fragte Maja verwirrt. „Eine Ehe vollziehen. Um sicher zu gehen.“ Er brauchte ja niemandem auf die Nase zu binden, dass schon vollzogen worden war. Und außerdem: doppelt hält besser. „Ah … gut!“ „Gut? GUT???“, rief Niha. „Er zerrt mich schon wieder durch die Gegend und Du sagst, es sei gut???“ „Äh .. ja. Gutes Gelingen.“, wünschte ihre jüngere Schwester. „Und … viel Spass. Glaub ich.“ „Danke. Werden wir haben. Gute Nacht!“ „Verheiratet sein ist komisch.“, murmelte Jem, während er sich eine zweite Portion Klöße mit extra viel Soße auftat. Als sie die Scheune betraten, schimpfte Niha noch immer lauthals vor sich hin. „… unter Vorspiegelung falscher Tatsachen! Ich kannte ja nicht mal Deinen richtigen Namen!“ Um der endlosen Diskussion ein Ende zu bereiten, hob Lee sie auf die Arme und stieg, zusätzliches Gewicht hin oder her, leichtfüssig die Leiter zu seinen „Gemächern“ empor. „Der Richter hat Dich gefragt, ob Du willst, und dabei auf mich gezeigt. Irrtum ausgeschlossen.“ Er setzte sie ab, und begann in aller Seelenruhe, sich auszuziehen. „Ich MUSS diese Ehe nicht anerkennen.“, stiess Niha hervor. „Klar musst Du.“ „Aber … aber … ich WILL nicht!“ Krampfhaft ignorierte sie den sich immer weiter entblätternden Männerkörper. „Klar willst Du!“ „Nein!“, sagte sie schwach. „Niha,“, seufzte er. „Wir können das hier im Guten versuchen und uns wie Erwachsene benehmen - wie verheiratete Erwachsene, wohlgemerkt - ODER wir können uns munter in Rage streiten. Doch eins steht fest, so oder so: Bis in ein paar Minuten werd ich´s mit Dir treiben. Und zwar gründlich!“, fügte er überaus freundlich hinzu. Entsetzt starrte Niha ihren inzwischen halbnackten Gatten an. „Aber … Du … Du … Ein Prinz sollte sowas nicht sagen!“, hauchte sie. „Du hast Recht.“, nickte er. „Er sollte es nicht sagen; er sollte es TUN!“ Das teuflische Grinsen gab ihr den Rest. Hätte sie jemals `Frau im Feuer´, `Das flammende Blatt´, oder einen ähnlichen Krempel gelesen, hätte sie ihre Niederlage besser weggesteckt, denn dann hätte sie gewusst, dass gegen Prinz Lee, hochwohlgeborener Herzog von Goam, kein Kraut gewachsen war. Zumindest keines, das nicht auf einem unzugänglichen, sturmumtosten Berggipfel höchstens alle vier Jahre zur Blüte kam. „Und jetzt komm zu mir!“, raunte er lockend. „Ich kann nicht! Du bist der ... Dein, Dein ... Vater ...“, versuchte sie es zum letzten Mal. „Ich erzähl Dir mal was über meinen Papa. Er ist dann glücklich, wenn seine Familie glücklich ist. Also wird es höchste Zeit, mich in diesen Zustand zu versetzen. Herzoginnen können das!“ Die Erkenntnis jetzt, zumindest pro forma, Herzogin zu sein; in Verbindung mit diesem unwiderstehlichen (und momentan leider auch unnachgiebigen) Kerl verursachte bei Ihro Gnaden weiche Knie. Sie machte den ersten Schritt, dann den zweiten; tapste unsicher auf ihre Versuchung zu. Ihre Hoffnung und ihr Glück. Sie starrte auf eine muskelbepackte Brust, bis ihr Kinn angehoben wurde und sie in schimmernde Augen blickte. Die seltsamsten, hinreißendsten und gütigsten Augen, in die sie je geblickt hatte. „Ich liebe Dich, Niha Tatzu.“ Sie hatte diesen Mann nicht verdient. Ganz sicher nicht! Aber genießen ... genießen würde sie ihn trotzdem. Bald würde seine Familie würde Wind von der Sache bekommen. Der FEUERLORD würde Wind von der Sache bekommen. Doch bis es soweit war, würde sie so glücklich sein, wie niemals zuvor! Denn es würde für den Rest ihrer Tage reichen müssen. „Na los; ab ins Heu mit Dir, Du Faulpelz!“, wisperte sie, ihre feucht gewordenen Augen ignorierend. Ihr Ehemann lachte sein leises Lachen und zog sie langsam an sich. „Wo waren wir doch gleich stehen geblieben, bevor Deine Schwachsinns-Idee mich fortzuschicken uns dazwischen funkte?“ „Auf Wolke neun?“, versuchte sie trotz ihres wilden Pulsschlags zu scherzen. „Verdammt richtig, meine Süße!“, flüsterte er gegen ihre Lippen. „Verdammt richtig!“ Schloss Tutuk, einige Tage bzw Nächte zuvor. Selbst eine Viertelstunde nach dem denkwürdigsten Ereignis ihres Lebens hatte Pippa erstaunlicherweise noch immer keine Lust, sich Notizen zu machen. Warum auch? Ihr Vokabular wäre ohnehin viel zu dürftig. Es war soviel behaglicher, einfach dazuliegen und sich wärmen zu lassen. Soviel schöner, die Zufriedenheit zu geniessen, die durch jede ihrer Zellen floss. Soviel wichtiger, ihn zu halten. Eine kräftige Hand hob ihr Kinn an und ihr sonst so strenger Assistent drückte einen sanften Kuss auf ihre Lippen. Sie seufzte zufrieden und genoss diese neue Zärtlichkeit. Streng UND verschmust? Sie stellte fest, dass diese Kombination ziemlich unwiderstehlich war. Allerdings war das etwas, das nicht ins Konzept passte. Überhaupt nicht. Das hier sollte rein körperlicher Natur sein. Sie durfte ihrer Verliebtheit keine weitere Nahrung geben. Aber sie war zu müde und es war so leicht einfach hier zu liegen und einzudösen ... Sie würde das regeln müssen. Morgen. Lu Ten analysierte das breite Lächeln, welches sein Gesicht beim Erwachen zierte, als normales aber doch recht ungewohntes Symptom des Verliebtseins. Dann verlangte die Realität Einlass in das fürstliche Gedankengefüge. Er zog vorsichtig seine Hand aus einem Wuscht wilder Locken und erhob sich lautlos, um Pineria nicht zu wecken. Die Tatsache, hier Tatsachen geschaffen zu haben war tatsächlich kein Grund, auch Aussenstehende sofort mit diesen Tatsachen zu konfrontieren. Allerdings würde Lu Ten selbst niemals soweit gehen, dies als Geheimniskrämerei zu bewerten. DAS tat immer nur seine Umwelt. Jedenfalls war ihm nach einem taktischen Rückzug zumute. Und zwar bevor das ganze Haus wach wurde. Schliesslich mussten die weiteren Details, Verlobung, Eheschliessung und das ganze Brimborium, erst noch besprochen werden. Gemeinsam. Er hatte keinesfalls die Absicht, in den Augen seiner Zukünftigen als Tyrann dazustehen. Und fair war fair. Also verliess man ungesehen das Schlafzimmer der Tochter des Hauses und begab sich verdächtig leise in sein eigenes Quartier. Mit halben Ohr lauschte Pippa den Ausführungen ihrer Mutter, während sie sich zum tausendsten Mal die Frage stellte, warum sie heute morgen allein aufgewacht war. Eingeschlafen war sie jedenfalls NICHT allein, so viel wusste sie noch. Und als sie mitten in der Nacht durch die kleinen Küsse aufgeweckt wurde, die ihr Rückgrad entlang nach unten gewandert waren, war sie auch in Gesellschaft gewesen! Es sei denn, sie hätte ihren zweiten Exkurs ins Reich der Sinne nur geträumt. „Haben wir nicht noch ein Exemplar davon irgendwo herumstehen?“ „Was? Ein Exempel von was?“ „Exemplar. Pippa, ich finde Dein Benehmen heute äußerst merkwürdig.“ „Mein Benehmen?“ Pippa wurde heiss. „Ich ... hab gar kein Benehmen!“ Ihr Mutter blinzelte verwirrt. Doch dann regte sich eine Ahnung. Sie wurde bestätigt, als ihre Tochter sich plötzlich straffte und eine Frage stellte. „Sind Männer eigentlich immer so ... unberechenbar?“ „Unberechenbar?“ „Ja. Ich meine ... Ist es üblich, nicht zu wissen, woran man mit ihnen ist?“ „In Bezug auf was, mein Schatz?“, wollte ihre Mutter wissen. „Auf ... äh ... Alles! Ich werd einfach nicht schlau aus ihnen.“ Nele musste nicht erst fragen, aus WEM ihr Kind derzeit nicht schlau wurde. „Nun, ich denke das Ziel ist nicht, aus ihnen schlau zu werden. Der Trick ist es, eine gewisse Grundhaltung und tendenzielle Charaktereigenschaften zu erkennen und daraus Rückschlüsse zu ziehen.“, antwortete sie. „Tendenzielle Charaktereigenschaften?“ „Ja. Nehmen wir den vorliegenden Fall als Beispiel. Da hätten wir Eigenschaften wie klug, gebildet, gewissenhaft, zuvorkommend, wohlerzogen, die BESTEN Manieren ...“ „Ich ... ich sprach eigentlich von Lu Ten; nicht von Nemo.“, murmelte Pippa, als sie sich an das ursprüngliche Verkupplungs-Komplott zwischen ihrer Mutter und deren Freundin erinnerte. Nele hielt inne. „Aber ich doch auch!“, sagte sie verwundert. Pippa runzelte die Stirn. Zuvorkommend? Wohlerzogen? Die BESTEN Manieren? Ihr entweder-knurre-ich-oder-sage-gar-nichts Assistent? „Findest Du nicht, dass das zutrifft?“, hakte ihre Mutter erstaunt nach. „Ich weiss nicht. Irgendwie ... schon.“, gab Pippa zu. „Manchmal. Wenn er will. Und genau DAS ist es ja!“, rief sie schliesslich. „Er steht auf, sobald eine Frau Zimmer betritt, er rückt einem die verdammten Stühle zurecht, er hat während der ganzen Zeit noch nicht EINMAL die Tischdecke bekleckert, er bedankt sich sogar jeden Tag bei Eri für das Essen!“ „Und was ist bitte schön falsch daran?“ „NICHTS! Nichts ist falsch daran! Er ist so gottverdammt perfekt! Und dann ... dann passt ihm irgendwas nicht in den Kram und er ... er faucht mich an, wie ein unausgeschlafener Grizzly. Und Nemo gegenüber ist er derart schroff ...“ „Wirklich? Ich finde, die beiden jungen Männer gehen ausgesprochen höflich miteinander um.“ „Höflich?“ „Aber ja! Heute morgen erst! `Könnten Sie mir bitte dies oder das reichen?´, `Aber selbstverständlich, Herr Ran!´, `Sonst noch etwas, Herr Ran?´ So ging das die ganze Zeit.“ Ihre Mutter schien definitiv kein gutes Ohr für Tonfälle zu haben. „Und Du hattest nicht das Gefühl, dass sie sich am liebsten an die Gurgel wollten?“ „An die Gurgel? Also Pippa. Ich muss mich doch sehr wundern, wie melodramatisch Du in letzter Zeit bist.“ „Hm.“ „Ach Schatz. Ich weiss ja, wie Männer sein können. Dein Vater kann mich heute noch innerhalb von Sekunden auf die Palme bringen.“ Papa? Ihr weisshaariger, sanftmütiger Papa mit dem Phlegma einer Wärmflasche? „Und Dein junger Mann hat mit Sicherheit mehr ... Feuer.“ Pippa wurde auch Feuer ... feuerrot! „Er ist nicht mein junger Mann.“, stiess sie aus. „Tatsächlich nicht?“ „Nein!“ „Nun, ich dachte nur. Wegen des Kusses und so.“ „Welches `und so´? Was meinst Du mit `UND SO´?“ Die Worte klangen viel zu schrill. „Nichts. Nur die Art wie ihr ... miteinander umgeht.“ „Er geht überhaupt nicht mit mir um!“ „Doch das tut er.“, widersprach Nele heiter. „Sehr gekonnt sogar, soweit ich das beurteilen kann.“ „WIE BITTE?“ „Du bist viel aufgeschlossener, seit er hier ist. Vergräbst Dich nicht mehr ausschliesslich hinter Deinen Büchern. Siehst nicht mehr aus wie ein Gespenst. Du hast viel mehr Farbe bekommen.“ „Ich hab ausgesehen wie ein GESPENST?“ „Nun ja, etwas blass warst Du schon immer...“ „Entschuldige, dass ich nicht mit den anderen Kindern um die Wette gerannt bin!“ „Himmel. Jetzt hab ich Dich böse gemacht. Tut mir leid, Schatz. So war´s doch nicht gemeint.“ „Ich weiss wohl, wie´s gemeint war!“, stiess Pippa aus. „Du denkst, ich sei unzufrieden gewesen. Aber das stimmt nicht! Ich bin zufrieden. Und das WAR ich auch.“ „Zufrieden ja.“, sagte Nele leise. „Aber glücklich?“ „Das ist das Gleiche!“ „Oh nein, ist es nicht.“ „Ich habe keine Lust mehr, darüber zu sprechen. Ich mag mein Leben wie es ist!“ „Natürlich, Kind. Sonst würden wir uns auch die größten Vorwürfe machen. Aber ein Leben kann immer bereichert werden. Durch Freunde. Oder sogar noch Wichtigeres ...“ „Ich muss gar nichts bereichern!“, damit stand Pippa auf und beendete diese fruchtlose Diskussion. „Ich glaube, das hast Du schon, Schatz.“, sinnierte Nele als ihre Tochter ins Haus stapfte. Dann biss sie umständlich den Seidenfaden ihrer Stickarbeit ab. Sie war handwerklich zwar herzlich unbegabt, liebte diese Abwechslung aber trotz allem. Und noch mehr liebte sie die Tatsache, dass ihre Tochter es gewagt hatte, Theorie in Praxis umzusetzen. In der Küche zog Pippa unruhige Kreise. Sie war doch nicht unglücklich! Ihr fehlte nichts. Nicht das geringste! Bereichern? Lächerlich! Sie bereicherte ihr Leben ja bereits. Durch Wissen. Durch Erkenntnis. Sie brauchte keinen Mann. Sie brauchte kein intimes Kuscheln, keine aufreizend zärtlichen Küsse. Sie brauchte ... Resigniert liess sie sich auf einen Stuhl fallen. Sie steckte in der Klemme! Warum hatte sie nicht erkannt, was für eine einschneidende Bedeutung dieser spezielle Assistent für ihr Leben haben würde? Und jetzt wollte sie das, was sie gefunden hatte, nicht wieder hergeben. „Herrje ... Herrje, was mach ich bloß ...?“ „Machen? Womit?“ Sie fuhr herum, erstarrte und wurde puterrot. Na, wundervoll. Als ob ihre Reaktionen auf ihn VOR letzter Nacht nicht schon peinlich genug gewesen wären ... Und musste er unbedingt diese selbstsichere Ruhe ausstrahlen? „H ... Herr Song!“ „Herr Song?“ Seine verflixte linke Braue hob sich ungnädig. „Ich dachte wir wären einen Schritt weiter.“ „Weiter? Äh ... inwiefern?“ „Weiter im Sinne von ... miteinander geschlafen haben?“ Er schaffte es, die Frage milde erstaunt, statt einfach nur verdammt ironisch klingen zu lassen. Obwohl ihr bewusst geworden war, weitaus mehr zu wollen, als nur ein kurzes Intermezzo, aktivierte Pippa ihre Abwehrmechanismen. Oder vielleicht gerade deshalb? Die simple Tatsache, dass ihre Welt begann, sich um fast nur noch um diesen Mann zu drehen, liess Panik aufkommen. Sie war viel zu unsicher. Viel zu ungeschützt. Also verschanzte sie sich hinter ihrer üblichen Mauer und versuchte in die wohl bekannte Rolle des unbeteiligten Beobachters zu schlüpfen. „Oh ... diese Sache!“ Sie bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. „Ja. Diese Sache!“ „Das war ... nur ...“ „Nur?“ Jetzt hörte er sich dann doch etwas ungeduldig an. „An dem was wir getan haben war nichts `nur´!“ „D ... doch! Es war nur ein Experiment. Für die Wiss ...“ Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Hatte sie wirklich geglaubt, ihn schon zornig erlebt zu haben? Aus diesen Augen loderten ja die reinsten Stichflammen. „Wenn ich noch EINMAL die Worte Studie, Experiment, oder Wissenschaft höre, garantiere ich nicht mehr für die Unversehrtheit des Mobiliars!“, zischte er mit geblähten Nasenflügeln. „Aber ich wollte doch nur ... wissen wie es ist.“, sagte Miss Tutuk kleinlaut. Dass sie noch hundert weitere Beweggründe gehabt hatte, sich auf letzte Nacht einzulassen, verschwieg sie lieber. „Und Willst Du etwa behaupten, dieses Wissen hätte nichts verändert?“, fragte Lu Ten aufgebracht. Das war doch einfach nicht zu FASSEN! Sein Käuzchen versuchte tatsächlich, ihre Beziehung zu sabotieren, indem sie die `Sache´, wie sie es nannte, herunterspielte. „Ein Bisschen.“, antwortete sie zögernd. „Ein Bisschen???“ „Na ja; es war sehr ... angenehm. Ich sehe die menschliche Sexualität nun in einem ganz anderen Licht. Ich verstehe nun, warum die Leute so fasziniert davon sind.“ Sie versuchte verzweifelt zu retten, was noch zu retten war. „So.“, murmelte der Herr mit den glimmenden Augen gefährlich leise. „In einem anderen Licht?“ „J ... ja.“ „Interessant!“, knirschte er. „Und wie nett, dass Du es `angenehm´ fandest, da Dir noch einige Wiederholungen ins Haus stehen.“ „Ach ...“ Pippas Herz entflatterte in luftige Höhen. Wiederholungen? Das war mehr als sie zu hoffen gewagt hatte! „Ja, ACH! Und Du kannst Deinem Vater ausrichten, dass ich ihn zu sprechen wünsche.“ „Meinem Vater?“ WEIT mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte! „Warum? Gibt es ein Problem?“ „Nein. Ich werde ihn lediglich über seinen zukünftigen Status unterrichten.“ „Ich verstehe nicht ...“ „Er sollte darüber Bescheid wissen, demnächst mein Schwiegervater zu werden, oder etwa nicht?“ „Was?“, hauchte Pippa. „Aber ...“ „Aber was?“ „Ich ... Heirat ist keine Option!“ „WIE bitte?“ „Ich werde nicht heiraten.“ „Falsch. Du wirst.“ „Warum sollte ich? Mir gefällt es, wie es ist!“ Obwohl Lu Ten ahnte, dass die Situation begann, aus dem Ruder zu laufen, sah er sich außerstande, rational zu bleiben. Es wäre definitiv klüger nichts zu überstürzen und abzuwarten bis sein innerer Aufruhr sich legte. Pineria zu bedrängen wäre der denkbar ungünstigste Weg. Doch tief in ihm regte sich der Vulkan, der die Familie der Tatzus seit Generationen heimsuchte. Es machte „klick“. Jetzt hatte er den Salat. Da achtete man EINMAL nicht darauf, alles mit einem gewissen Abstand zu betrachten ... „Dir gefällt es, wie es ist?“, knurrte er wider besseren Wissens. „WAS denn? In einem steinernen Kasten zu leben? Nicht mehr als eine Hand voll Leute zu kennen? Gefällt es Dir, dass eure größte Aufregung darin besteht, wenn Freitags der Gemüsemann vorbei kommt?“ Eine kleine, schüchterne Stimme meldete sich und fragte, über wen er hier eigentlich sprach. Über sie ... oder sich selbst? Aber ER hatte wenigstens erkannt, dass ihm etwas essentielles fehlte. Dass SIE fehlte. „Oder gefällt es Dir, wie Du Deine kleine Feldstudie endlich in die Tat umgesetzt hast?“, fragte er nun leiser. „Was bin ich für Dich? Ein Liebhaber-Stück, dass man in die Ecke stellt, wenn man besseres zu tun hat? Ein Teil Deiner Kuriositäten-Sammlung? Wenn Du DAS glaubst, dann sollte ich Dir vielleicht in Erinnerung rufen, was Du gestern Nacht gesagt hast!“ Pippa wurde blass. Gesagt? Sie hatte nichts gesagt! Sie hatte nur gedacht. Gedacht, wie sehr sie ihn ... Nein! Oh Nein! Sie hatte das doch nicht ausgesprochen, oder? „Stimmt es?“ „Ich ... äh ... Das war nur ... Weil es in meinen ... meinen Romanen steht ... Bestimmt war es nur die Reaktion auf den recht ungewohnten Reiz!“ „Ich will wissen, ob es stimmt!“, unterbrach Prinz Pulverfass sie mit erzwungener Ruhe. „Entweder Du liebst mich, oder Du hast gelogen.“ „So einfach ist das nicht!“ „Doch.“, beharrte er. „Doch, so einfach ist das. Entweder, es war nur die Reaktion auf einen "ungewohnten Reiz" und wir beenden die Sache, oder es entspricht den Tatsachen und wir machen Nägel mit Köpfen. Deine Entscheidung!“ Pippa starrte auf ihre ineinander verknoteten Finger. War es wirklich ihre Entscheidung? Wenn ja, warum hatte sie dann langsam aber sicher das Gefühl, in dieser Sache gar keine Wahlmöglichkeit zu haben? Es war eine Sache, mit der Wahrheit hinterm Berg zu halten, aber diese direkte Frage verlangte eine direkte Antwort. Und irgendwie schien eine Lüge nicht in Frage zu kommen. „Ich ... es stimmt.“, flüsterte sie. Erleichterung rann mit einer solchen Geschwindigkeit durch Lu Tens Körper, dass ihm beinahe die Knie weich geworden wären. „Dann ist das wirklich ... eine glückliche Übereinstimmung.“, brachte er hervor. Sie starrte ihn an. Bestimmt meinte er nicht das, was er sagte. Er war schliesslich Mr. Perfect. Und sie? Sie befand sich quasi am entgegengesetzten Ende der Perfektion. „Übereinstimmung?“, krächzte sie. „Ja. Zufällig empfinde ich das Gleiche.“ Pippa blinzelte. Einmal. Zweimal. „Was?“, hauchte sie. „Ja.“ er räusperte sich. „Ich bin Dir ... also ...äh ... zugetan.“ „Du ... WIRKLICH?“ „Ja.“ `Ach wirklich, mein Sohn?´ „Sehr.“, fügte er rasch hinzu. „Ach Du meine Güte!“, jammerte Miss Tutuk. „Wie bitte?“ „Das passt überhaupt nicht in mein Konzept.“ „Dass ich Dich liebe, passt nicht in Dein Konzept??“ „Nein.“ In die Klapse würde sie ihn bringen, ganz klar! „Na dann entschuldige bitte! Es lag nicht in meiner Absicht, Dir damit Unannehmlichkeiten zu bereiten.“ Sein Tonfall war eindeutig ätzend und verlangte nach einer Reaktion. „Oh! So war das nicht gemeint. Ich meine: Du kannst ja nichts dafür.“ „Das ist ja sehr tröstlich.“ „Du konntest ja nicht wissen, dass ich gegen die Ehe bin.“ „Dann schlage ich vor, Du überdenkst Deine Meinung.“ „Aber können wir nicht einfach ...“ „Was? Zusammenleben?“ „Ja!“ Also in ihren Ohren klang das absolut wunderbar! Ehrlich gesagt konnte sie sich überhaupt nichts schöneres vorstellen, als das. Erwartungsvoll strahlte sie ihn an. „Nein.“ „Wie, nein?“ „Nein heisst nein.“ „Aber ...“ „Wenn Du ehrlich bist, entspricht es gar nicht Deinen Wünschen.“ „Aber natürlich tut es das! Sonst würde ich es wohl kaum sagen.“ „Wirklich? Denkst Du tatsächlich, dazu seist Du abgebrüht genug? Die Geliebte auf Zeit zu spielen? Das sieht Dir nicht ähnlich!“ „So? Und woher willst Du das wissen?“ „Weil ich es eben weiss. Genauso, wie ich seit langem weiss, wie einsam Du im Grunde bist! ... Zufrieden?“, setzte er leise hinzu, als ein ertappter Blick ihn traf. „Na und? Das bist Du auch!“, stiess sie aus. „Ja.“, gab er zu. „Und aus diesem Grund bin ich nicht gewillt, das alles hier nur als kleines Zwischenspiel zu betrachten.“ „Das muss es ja auch nicht sein!“ Ihr Blick wurde flehend. „Aber ... ich will nicht heiraten. Schon lange nicht mehr. Ich widme mich lieber ...“ „Guten Morgen, Kinder!“ „Papa!!“ „Guten Morgen, Professor.“ „Wundervoller Tag, waswas? All die Sonne und so. Dachte ich hätte Lust auf ein Frühstück, aber bin wohl etwas zu spät dran.“ „Soll ich Dir Eier machen?“, fragte Pippa, hastig nach dem Rettungsanker der väterlichen Verwirrung greifend. „Das würdest Du?“ „Natürlich!“ „Eier sind hervorragend. Köstlich! Ganz köstlich. Und sehr nahrhaft.“ „Ja, Papa. Rührei, Spiegelei, oder gekocht?“ „Und faszinierend vielfältig.“, murmelte Beo und setzte sich an den Tisch, ohne auf die Frage einzugehen. Seine Tochter entschied sich für Rührei, da es ihr erlaubte, einen Teil ihrer Nervosität in spontane Aktivität umzusetzen. Sie hiefte und hebelte an der schweren Pfanne herum, verquirlte mit leidenschaftlicher Virtuosität Eiweiss mit Eigelb und tat überhaupt alles, den vielsagenden Blicken Herrn Songs auszuweichen. „Dann werd ich mich mal wieder an die Arbeit machen.“, sagte jener lakonisch. „Wir sprechen uns später, Fräulein Tutuk.“ Natürlich landeten aufgrund dieser nicht besonders subtilen Kampfansage zwei Eier auf dem Boden, was Beo dazu veranlasste, über die klebrigen Eigenschaften von Eiweiss nachzusinnen ... Pippa erwies sich als äußerst geschickt im Ausweichen. Bis zum Abendessen blieb sie unauffindbar. Und Mimmi schien sich durch nichts auf der Welt als Spürhund missbrauchen lassen zu wollen. Allerdings lag der Verdacht nahe, dass sie das Prinzip von `Such das Frauchen!´ einfach nicht verstand. Sie sass da, klopfte freudig hechelnd mit dem Schwanz auf den Boden und liess den Haare raufenden Zweibeiner vor sich einen lieben Mann sein. Lu Ten verfluchte alle Hundebesitzer, die es versäumt hatten, ihren Schützlingen eine fundierte Erziehung angedeihen zu lassen im Allgemeinen, und die Familie Tutuk im Besonderen. Da er für diesen Tag keine Arbeitsanweisungen erhalten hatte, beschloss er, sich als Hundetrainer zu engagieren. Bis zum Abend beherrschte Pippas Fellmonster das Totstellen, das Lautgeben und das Rollen. `Such das Frauchen!´ leider immer noch nicht. Die Ohren wurden ihr freundlicherweise trotzdem gekrault und so legte sie in dankbarer Lethargie den Schädel auf Lu Tens Knie. „DU hättest sicher nichts dagegen, den Rest Deines Lebens in meiner Nähe verbringen zu müssen, hm?“, murmelte Seine Hoheit in einem Anflug von Selbstironie. „Wuff!“ „Nein. Dacht ich mir. Aber Du kannst ja auch nicht wissen, was für ein Langweiler ich bin. Vielleicht ist es ja das, was sie stört.“ Schwanzwedeln. „Fakt ist: Jemandem, der keine soziale Karriere anstrebt, habe ich erschreckend wenig zu bieten.“ Hecheln. „Also wirklich! Ein bisschen Widerspruch wäre an dieser Stelle durchaus angebracht.“ Mimmi legte den Kopf schief. „Ich seh schon. Du gehörst in die Kategorie der Ja-Sager.“ „Wuff!“ „Ja.“, seufzte Lu Ten. „Ich KÖNNTE auch eine sehr seltene Krankheit vortäuschen. Wenn ich lebenslang genug Material für ihre Studien zu bieten hätte, würde sie ihre Meinung bestimmt ändern.“ Gähnen. „Meine Güte. Was hast Du denn gefressen? Ich will Dir ja keine Angst machen, aber es scheint seit mindestens letzter Woche tot gewesen zu sein. Nimm also bitte davon Abstand, mir Deinen Atem ins Gesicht zu blasen!“ Der strenge Tonfall erzielte die gewünschte Wirkung. Das riesige Maul wurde postwendend geschlossen. „Es gäbe noch einen Weg. Ich ... werd sie einfach vor vollendete Tatsachen stellen. Immerhin könnte mein Vater ihr befehlen, mich zu heiraten. Nach ein, zwei Jahren wird sie sich schon wieder beruhigen.“ Winseln. „Ja, verdammt. Ich weiss auch, dass das keine Lösung ist.“ „Wuff!“ „Außerdem.“, murmelte Lu Ten. „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Also bekommt das Fräulein genau das, was es will. Sie wird schon merken, was sie davon hat.“ Da er endlich einen brauchbaren Schlachtplan entworfen hatte, beendete Lu Ten das Gespräch und ging Stöckchen-Werfen. So hatte wenigstens einer von ihnen seinen Spass. Pippa stand hinter einer vergilbten Gardine und schaute in den Garten. Sie wusste gar nicht, auf wen sie ihre ungebetene Eifersucht richten sollte. Ihren Hund oder ihren Assistenten? Jedenfalls hing sie hingebungsvoll sehnsüchtig am Fenster eines der kleineren Turmzimmer und wünschte sich inbrünstig, ebenfalls in der lauen Abendsonne zu toben. Bestimmt lachte er wieder! Und sie? Verpasste dieses denkwürdige Ereignis. Nur, weil sie nicht wusste, was sie ihm sagen sollte. Warum war der Mann auch so ein Spießer? Was war falsch am Zusammen-Leben? Doch er hatte sie angesehen, als hätte sie ihm vorgeschlagen, von nun an als Ganoven-Pärchen das Land unsicher zu machen. Eine wilde Ehe war schliesslich auch was, oder? Wild zwar, aber immerhin ... Abe so stur wie Mr. Perfect bislang gewesen war, schätze sie ihre Chancen auf einen Kompromiss sehr gering ein. Für einen Assistenten war er recht herrisch veranlagt. Vielleicht sollte sie das in seinem Arbeitszeugnis erwähnen. Als ein tiefes Lachen bis zu ihr drang, seufzte sie laut, und ihr Hirn formulierte die Lobpreisungen eines ganz anderen Zeugnisses. Bis auf diesen leichten Hang zur Autokratie war er einfach nur ... „Mimmi? Kommst Du wohl ... MIMMI!?!“ Neugierig lehnte Pippa sich weiter aus dem Fenster. Sieh an. Mr. Perfect hatte wohl Bekanntschaft mit Mimmis Jagdtrieb gemacht. Gegen einen Hasen zog selbst er den Kürzeren. „HIERHER!!! VERDAMMTES MISTVIEH!“ Also rennen konnte er! Ohne jeden Zweifel. Feuerpalast, in den Privatgemächern Zukos II Jin, die vorwitzige Nase in die Korrespondenz ihres Gatten gesteckt (es handelte sich immerhin einen Brief Lu Tens), blickte überrascht auf. „Unser Ältester nennt Dich `Hochverehrter Erzeuger´?“ „Mhm.“ „Also ... so eine Frechheit wag ja nicht mal ich!“ „Tja, manchmal kann einen der Junge wirklich in Erstaunen versetzen.“ „Ja.“, seufzt Jin. „So wie damals, als er diesen Stinkekäfer in Fons frisch gewaschener Wäsche versteckte.“ Ein wehmütiges Lächeln erschien auf Zukos Gesicht. „Das war ein toller Streich!“ „Dabei hatte nicht mal Lee seine Finger mit im Spiel.“ „Ich vermisse die beiden.“ „Ich weiss. Und ich werde auch nicht erwähnen, dass es Deine Schuld ist, dass sie fort sind.“ „Das ist sehr edelmütig von Dir.“ „So bin ich eben.“ „Dürfte ich Dich eigentlich - rein theoretisch natürlich - übers Knie legen?“ Nachdenklich biss Jin sich auf die Lippen. „Na ja. Darauf stünde - ebenfalls rein theoretisch natürlich - eine ziemlich lange Kerkerstrafe.“ „Hm. Würdest Du meine Zelle mit mir teilen!“ „Na, aber das weisst Du doch, Mylord.“, säuselte sie und schmiegte sich an ihn. „Nie im Leben! Aber einmal im Monat würde ich Dich besuchen kommen.“ „Nur einmal?“ „Ja. Für jeweils dreissig oder einundreissig Tage.“ „Auch im Februar?“ „Besonders im Februar! Der ist so erbärmlich kalt, ohne Drachenvieh!“ „Wie bin ich nur auf die Idee gekommen, mir ein so verrücktes Weibsbild anzulachen?“ „Als ob Du gelacht hättest, Du Miesepeter.“ „Bitte? Ich hatte Dich laut und deutlich gefragt, ob Du Kekse möchtest.“, sagte der Erhabene beleidigt. „Ah ... Ja.“ Jin legte die Arme um seinen Hals und schwelgte in Erinnerungen. „Aber das zählt nicht, Da waren wir schon so gut wie verlobt!“ Zuko umfasste mit beiden Händen ihr Gesicht und drückte einen langen, liebevollen Kuss auf ihre Lippen. „HUCH! ... Also wirklich ... Seid ihr euch ein paar Wochen nicht gesehen habt nimmt das aber wirklich überhand.“ Seine Lordschaft beendete die Zuwendung, die er seinem Weibe hatte angedeihen lassen, und blickte ohne den Kopf zu drehen nach rechts. „Hast Du was gesagt, Floh?“, fragte er gedehnt. Seine Jüngste verdrehte die Augen. „Stimmt doch.“, verteidigte sie sich. „Sooft man das Zimmer betritt, hängt ihr aneinander rum.“ „Möcht bloss wissen, wo der Unterschied zu sonst liegt.“, murmelte Kiram hinter ihr. „Also ...! Zuko! Tu doch was!“ „Was denn, Kobold?“ „Na ... schimpfen! Oder ... oder runzle die Stirn. So wie Du das immer machst, wenn Du mir Vorträge hältst.“ „Wozu? Sie sind doch schon völlig verzogen.“ „Ach. Und das ist bestimmt meine Schuld, wie?“ „Anzunehmen.“ „Na toll. Dann macht es Dir ja auch nichts aus, den bösen Papa zu spielen.“, meinte Mylady mit verschränkten Armen. „Fein.“, seufzte Zuko resigniert. „Heute kein Nachtisch.“ „Na, DAS war ja wirklich unglaublich streng.“ Jin konnte das Lachen nicht mehr verkneifen. „Ja, nicht wahr? Vor allem, weil ich Dich gemeint habe.“ „Oh, also ...“ „Agni! Ihr fangt ja schon WIEDER an!“, rief Zirah. „Stimmt.“, gab ihr Vater unumwunden zu. „Privileg des Hausherren.“ „Mann ..“, sinnierte Kiram. „Ich kann nur hoffen, dass dieses Erbgut seine Arbeit macht!“ Das war allerdings eine Bemerkung, die eine Mutter, für die er immer noch der kleine, unschuldige Junge war, nicht hören wollte. Jin hielt sich die Ohren zu. „Hat unser Baby was gesagt?“, fragte sie Zuko. „Aber nein, Kobold. Er ist auch kein Mann, oder so etwas in der Art. Stell ihn Dir einfach als asexuelles Wesen vor. Das wird Dein prüdes Hirn bestimmt beruhigen.“ „Ja. Gut.“ „Erzähl ihr nur nichts von dieser ... Selma, oder wie sie hieß.“, murmelte er in Richtung seines Sohnes. Kiram bekam rote Ohren und einen Ellbogen in die Rippen. „WAS?“, rief seine Schwester entrüstet. „Diese Rothaarige?“ „Äh ...“ „Buah! Die riecht wie ein Fliederbusch in der Paarungszeit! Jungs sind echt das Letzte!“ Nun, da er seine Brut erfolgreich gegeneinander ausgespielt hatte, umspielte ein leises Lächeln Zukos Mundwinkel und er wandte sich wieder Wichtigerem zu. Kapitel 17: Warte, bis es dunkel ist ------------------------------------ Ein Fünftel der Drachenbrut kämpfte am nächsten Tag gegen den Drang, Pineria Tutuk einfach mal übers Knie zu legen. Oder sie in den Wald zu verschleppen, wo man sie dann für ein, zwei Stunden hemmungslos hätte anbrüllen können. Wer hätte gedacht, dass diese Jungfer so gewieft darin war, einem Konflikt aus dem Weg zu gehen? Das verwirrte, leicht verträumte Käuzchen hatte sich in einen glitschigen, agilen Aal verwandelt, der beim besten Willen nicht zu fassen war. Aber sie würde schon sehen, was ihre Ninja-Taktik ihr einbringen würde. Wie sagte Onkel immer? Im Krieg und in der Liebe ... Und Lu Ten hatte nicht umsonst alle Taktiken und Winkelzüge der erfolgreichsten Kriegsherren der Historie rauf und runter studiert. Heute Abend würde sie ihm nicht mehr aus dem Weg gehen können, soviel stand fest. Schliesslich hatte er sein Talent als Fassadenkletterer schon des öfteren unter Beweis gestellt. Da niemand da war, um ihm vernünftige Anweisungen zu geben, gestattete er sich, den Tag hemmungslos zu verplempern. Verplempern hiess im Fall dieses speziellen jungen Mannes, nach irgendwelchen verdächtigen Aktivitäten Nemo Rans Ausschau zu halten, Platzhirsch Ken ein wenig zu ärgern (dabei stellte sich heraus, dass er der Sohn des Dorfschmieds war, was seinen Hang zur muskulösen Selbstdarstellung erklärte), indem man einen kleinen Spaziergang durchs Dorf machte (selbstverständlich zur `Hauptverkehrszeit´) und in einem kleinen, verstaubten Bücherladen nach verborgenen Schätzen zu kramen. Die Buchhändlerin strahlte bis über beide Ohren. Dieses Bild von einem Assistenten, das Fräulein Tutuk momentan beschäftigte, trug die Bücher nicht nur stapelweise vor ihre klingelnde Kasse, sondern lockte auch Heerscharen neuer Kundinnen in den Laden, die sich veranlasst sahen, aus Alibi-Gründen das ein oder andere Werk zu erstehen. Als Lu Ten sich, die Arme voller Bücher, der Tür zuwendete, musste er feststellen, dass sein Weg nach draußen plötzlich einem Hindernis-Parkur glich. „Verzeihung!“ „Hoppla! Nichts für ungut, der Herr.“ Ach. Echt? „Dürfte ich bitte...?“ „Oh, steh ich im Weg?“ Aber nein! Nur MITTEN im Türrahmen. Für einen klitzekleinen Augenblick sehnte sich Seine Hoheit zurück in den Feuerpalast, wo ihm der Weg respektvoll freigemacht wurde, wenn er von A nach B wollte. Hier musste er scheinbar das ganze Alphabet von hinten aufrollen, bevor B auch nur in greifbare Nähe rückte. Doch er schaffte es, sich durch die Ansammlung zu schlängeln ohne dabei Hüften, Oberweiten, oder andere kompromittierende Körperteile zu touchieren. Wieder zurück im Herrenhaus, schleppte er die Bücher in eines der Archive, um sie einzusortieren. Somit hatte er einen ausgezeichneten Vorwand, nach ... was auch immer zu suchen. Wenn er wenigstens einen Anhaltspunkt hätte! Alles, was hier zu finden war, war Wissen, das der Menschheit schon längst zur Verfügung stand, und sich mit etwas Fleiß in jedem besseren Schulbuch finden liess. Lu Tens einziger Trost war die Tatsache, dass sein Gegenspieler offensichtlich ebenso erfolglos war. Heute morgen hatte er Nemo dabei erwischt, wie er die Post der Tutuks durchsucht hatte. Vollkommen umsonst, wie er ihm gleich hätte sagen können. Das Abendessen war die übliche Prozedur. Pineria schenkte ihre Aufmerksamkeit jedem, der etwas sagte. Außer natürlich, der Sprecher hatte durchdringende Augen der Farbe `Antik Gold´. Fast wäre es ein Grund für Lu Ten gewesen, wieder die alte Wortkargheit an den Tag zu legen, doch dann hätte er sich das Gesäusel von Nemo als Endlos-Monolog anhören müssen und sie ganze schöne Vorspeise wäre ihm erneut durch den Kopf gegangen. So machte er gute Mine zum dubiosen Spiel. Pippa plagten hingegen ganz eigene Sorgen. Sie war kaum in der Lage, sachgemäss mit dem Besteck umzugehen, so zitterten ihre Hände. ER hatte sich ja den Platz direkt gegenüber unter den Nagel reissen müssen. Beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Schön. Fein. Liebte sie ihn eben. Hatte sie eben die halbe Nacht wachgelegen, und sich an ... an diese andere Nacht erinnert. Dass ein Bett zu groß sein konnte, war ihr bislang fremd gewesen. Es stand ihm ja auch frei, es mit ihr zu teilen! Bitte sehr! Aber nein. Für den Herren hiess es alles oder nichts. Als sie doch den Fehler beging aufzublicken, traf ihr verunsichert Blick einen kühl fragenden. Alles was Recht war, aber dieser Mensch machte eigentlich keinen verliebten Eindruck. So gar nicht. Vielleicht hatte er es sich auch nur eingebildet. Vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit, sozusagen. Das wäre ziemlich ... schade. „Kind, Du isst ja gar nichts.“ „Was?“ „Ich dachte Du magst Wasserkastanien.“, sagte Nele „Ja. Tu ich auch.“ „Wirst Du krank?“ „Nein! I ... ich glaube nicht.“ „Hm.“ Nele legte den Handrücken zuerst an Pippas Stirn, dann an die Wangen. „Ein bisschen überhitzt scheinst Du mir schon.“, murmelte sie. „Eri soll Dir nachher einen Salbei-Tee machen.“ „Mir geht es gut, Mama.“, flüsterte Pippa, peinlich berührt. Betüttelt zu werden passte schliesslich nicht zu einer Frau, die sich dazu entschlossen hatte, eine Affaire zu haben. Ihr Liebhaber musste zwar erst noch vom Kleingedruckten überzeugt werden, aber na ja ... Zur Verteidigung Miss Tutuks sei folgendes gesagt. Sie kannte Lu Ten noch nicht lange genug und hatte auch keinen blassen Schimmer über seinen familiären Hintergrund. Einen männlichen Tatzu von IRGENDETWAS zu überzeugen, war per se ein Ding der Unmöglichkeit. Es funktionierte nur zu Vollmond, mit einer verschnupften, schwarzen Katze, fünf dreibeinigen Kröten, und einer Tonne Schokolade inmitten eines konzentrischen Hexenkreises. Zumindest behauptete das Lady Jin. Pippas Unterfangen war also schlichtweg aussichtslos. Vor allem, da Lu Ten einen Plan gefasst hatte. Er würde ihr einen Gefallen tun. Und zwar noch heute Abend ... Gute drei Stunden später, im Schlafzimmer der Tochter des Hauses Frustriert pfefferte Pippa den zerfledderten Schmöker auf ihr Nachttischchen. Warum versuchte sie es überhaupt noch? Das mit dem Ablenken klappte sowieso nicht. Sie schälte sich, trotz der Kühle im Zimmer, aus ihrer Decke, stand auf und begann unruhig hin und her zu gehen. So war es schon gestern gewesen. Ihre dummen Füße weigerten sich stillzustehen. WOHIN sie wollten, war klar, aber dagegen hatte ihre Besitzerin eindeutig etwas einzuwenden. Also hinkte sie händeringend durch ihre Kammer, strich von Zeit zu Zeit mit den Fingern unbewusst über die Fensterbank, einen Stuhl und über die Kommode, an der er gelehnt hatte und seufzte. Ein besonders tiefer Seufzer wurde zu einem erschreckten Quietschen, als sich ein langes, kräftiges Bein durchs offene Fenster schwang. „Guten Abend.“ Sie starrte ihn nur an. „Oder auch nicht.“, murmelte Lu Ten. „G ... Was?“ „Es war nur eine Höflichkeit. Nichts weiter. Wir können auch gleich anfangen, falls Dir das lieber ist.“ „Anfangen?“ Womit? Wollte er wieder eine Diskussion vom Zaun brechen? Wenn ja ... warum zog er sich dann aus? „Ja. Oder hast Du es Dir anders überlegt?“ „Anders?“, stammelte Pippa, ihren Ein-Wort-Modus beibehaltend. Lu Ten verschränkte die Arme vor der Brust - im halbbekleideten Zustand recht eindrucksvoll. „Schön. Dann eben Klartext. Willst Du nun meine Maitresse sein, ja oder nein?“ „Du ... Du wärst damit einverstanden?“ „Einverstanden? Nein. Kooperationsbereit? Ja.“ Pineria schluckte. Ihr Mund war staubtrocken. „F ... fein.“ „Bestens. Dann kannst Du es Dir gemütlich machen.“ Gemütlich machen? Mit einem Hünen im Zimmer, der sich splitterfasernackt auszog und dabei klang, als bestelle er Schweinefleisch süss-sauer? „Irgendwelche Sonderwünsche?“, fragte besagter Hüne freundlich. „Was?“ „Hm. Ist wohl noch zu früh, für Sonderwünsche. Ich könnte Dir einschlägige Literatur empfehlen, dann kannst Du Dich inspirieren lassen.“ Sein Anblick war inspirierend genug, aber fragen kostete ja nichts. „Li ... teratur?“ „Zum Beispiel das Sutra-Kama. Ich hab es, denke ich, in der gelben Bibliothek gesehen. Ich kann es Dir morgen gerne herauslegen.“ „Ja.“, piepste Pippa ratlos und ein klitzekleines Bisschen überfordert. „Gut.“ „Wie schön, dass wir uns einig sind.“ Ja. Das war ... schön. Wahnsinnig toll. Sie hätte nur gerne gewusst, was hinter seinem Sinneswandel steckte. Doch als er sie an sich zog, interessierte sich Pineria Tutuk erst mal für nichts anderes mehr. So trocken und nüchtern er eben gewesen war, so leidenschaftlich und heiss wurde die Sache jetzt. Er war zielstrebiger. Besitzergreifender. Bei weitem ungestümer, als vorletzte Nacht. Er liess Pippa in diesem schwindelerregenden Wirbel nicht eine Sekunde Zeit, zur Besinnung zu kommen. Sie wurde mitgerissen von einem Sturzbach an Empfindungen, überwältigt, von einem Meer an Gefühlen. Und wieder entrang er ihr die Worte. Doch diesmal nicht auf dem Höhepunkt des Sturms - Dazu war sie viel zu atemlos, viel zu wenig sie selbst - sondern danach, als er sich nach Atem ringend neben sie sinken lies. „Ich liebe Dich.“, flüsterte sie kaum hörbar in sein Haar. Lu Ten schloss die Augen und seufzte. Dann kam jetzt wohl der schwierige Teil. „Ich weiss.“, murmelte er und erhob sich. Verwirrt beobachtete Pippa, wie er mit geschmeidigen, schnellen Bewegungen begann, sich anzukleiden. Sie tastete nach ihrer Brille, um besseren Durchblick zu bekommen. Er hatte schon das Fenster erreicht. Sogar sein strenger Pferdeschwanz saß akkurat wie immer. „Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte sie unsicher. „Alles bestens.“, erwiderte er ruhig. „Ich wünsche eine gute Nacht.“ „Eine ... aber warum denn?“ „Weil man das tut.“ Er runzelte die Stirn, als begreife er den Sinn der Frage nicht ganz. „Aber ...“ „Ja?“ „Ich dachte ...“ „Ja?“ Pippa biss sich auf die Lippe. „Ich dachte, Du bleibst?“ „Bleiben? Wozu?“ WOZU? „Du ... vor ... das letzte Mal bist Du geblieben.“ „Ja.“, gab er zu. „Da war das hier auch noch keine Affaire. Ich versuche nur, Deinem Wunsch zu entsprechen, und das ganze unverbindlich zu gestalten.“ Ach. DAS war ihr Wunsch? Wirklich? „Oh. Ach so.“ „Ja, ach so. Gute Nacht.“ Mit diesen Worten verschwand er so schnell, wie er aufgetaucht war. „Nacht.“, flüsterte Pippa den wehenden Gardinen zu. Noch lange saß sie da, die Arme um ihr unversehrtes Knie geschlungen, das Herz fest im Griff mysteriöser Sehnsucht, und fragte sich, ob etwas mit ihren Wünschen nicht stimmte. Für die nächsten Nächte hielt Lu Ten eisern an diesem Konzept fest, besuchte das Fräulein des Nachts, beglückte, wurde beglückt; und verschwand nur allzu bald wieder in sein eigenes Zimmer. Und der Plan fruchtete. Er konnte es spüren. An der Art, wie ihre Blicke ihn tagsüber verwirrt streiften. An der Tatsache, dass sie nicht mehr versuchte, ihm auszuweichen. Im Gegenteil; sie verwickelte ihn wieder in ihre ebenso chaotischen, wie herausfordernden Konversationen, schenkte ihm ein ums andre Mal ihr erwartungsvolles Eulenblinzeln. Etwas lag dem Käuzchen schwer auf dem Herzen. Lu Ten betete, dass er es war. Agnam Ba, Hof der Koros Zu Lees gutem Glück, hatte Niha tatsächlich beschlossen, das beste aus ihrer derzeitigen Situation zu machen. Das Wissen, ihren Ehemann nicht lange behalten zu dürfen, führte dazu, dass sie jede Minute mit ihm bis ins letzte auskostete. Sie schaffte es sogar beinahe, die Angst zu verdängen, es könne jeden Moment eine Schar Soldaten an die Tür klopfen, um sie abzuführen. Nur tief in der Nacht, wenn Lee sorglos wie ein Baby neben ihr schlummerte, starrte Niha an die Decke der Scheune, und fragte sich, wie lange ihr noch bliebe, bis ihre neue, wundervolle Welt zusammenbrach. Viel Zeit war es in der Tat nicht, denn Seine Lordschaft zog es vor, über alles, was in seinem Land vorging, bestens informiert zu sein. Wenn dieses etwas seine Familie betraf, um so mehr. In diesem Augenblick, zwei Tage nach Lees Vermählung, widmete Zuko sich gerade mit Inbrunst seinem zweiten Frühstück, das er immer gemeinsam mit Jin einnahm, als ein Diener mit einer besonders dringlichen Botschaft herbeieilte. Das rote Sigel wurde umgehend gebrochen und nur Sekunden später hörte man ein durchaus erstauntes „Also doch!“. Jin blickte von ihrem Teller auf. „Ist etwas passiert, Mylord?“ „Dein Sohn.“, murmelte der Sonnengekrönte, geistesabwesend die restlichen Zeilen überfliegend. „Aha. Welcher denn? Oder besser gesagt: Wie viel Versuche habe ich, aus dieser dürftigen Information meine Schlüsse zu ziehen? Darf ich drei mal raten?“ Zuko liess das Pergament langsam sinken, und schickte Jin einen entsprechenden Blick. „Was denn?“, fragte sie unschuldig. „Kein Grund, mir die gezückte Augenbraue zu präsentieren. Die Sätze: `Also doch!´“ Sie gab eine unzulängliche Imitation seines rauen Basses zum Besten, „Und `Dein Sohn.´ sind nicht wirklich aussagekräftig.“ „Hm.“, brummte er. „Und wenn ich `Lee´ und ein `Hat heimlich geheiratet.´ hinzufüge?“ „WAS?“ Jin liess den Löffel fallen. „Also doch!“, entfuhr es nun auch ihr. „Das sagte ich bereits, mein Herz.“ „Geheiratet? Ohne uns?“ „Scheint so. Jedenfalls amtlich. Die Flammenzeremonie wurde allerdings noch nicht vollzogen.“ „Aber gültig ist es?“ „Sicher.“ Inzwischen bestrich Zuko sein Brötchen dünn aber sorgfältig mit Butter. „Außer natürlich, ich würde den entsprechenden Beamten seines Amtes oder seines Kopfes entheben.“ „Oh. Gut! Ich meine ... dass sie zu ihm passt, ist ja wohl klar, oder?“ Zuko, längst mit dem Schinken beschäftigt, versäumte es, entsprechend zu reagieren. „ODER?“ „Äh ... wie? Ja. Zweifellos.“ „Zuko ...?“ „Ja, Kobold?“ „Veralberst Du mich?“ „Nur ein wenig. Ist es Dir recht, wenn wir erst morgen nach Agnam Ba reisen? Ich würde den Vorsitzenden der Agrar-Kommission nur ungern versetzten.“ „Natürlich! Heute ist in der Weberei ohnehin Inventur.“ „Oh nein!“ „Was, oh nein?“ „Dann bist Du heute Abend wieder biestig.“ „BIESTIG?“ Mylady begann mit dem Fuss auf den Boden zu klopfen. „Das kann ich auch gleich werden, wenn Du´s so drauf anlegst.“ „Gott behüte!“ Zerfa rannte durch das hohe Gras und versuchte Knäulchen einzufangen. Niha hatte die jährliche Flohkur angeordnet und entsprechend gewitzt war der Fluchtversuch der Katze. Just in diesem Moment wand sie sich durch eine hohe Hecke. Doch ihre Verfolgerin war hartnäckig, gewissenhaft und fast ebenso flink. Als das Mädchen schliesslich auf der anderen Seite der Hecke war, starrte es aber nur mit offenem Mund auf die gegenüberliegende Seite der großen Wiese. In ihrem ganzen Leben hatte Zerfa noch keinen einzigen Drachen gesehen. Jedenfalls keinen echten. Und nun standen da drei. Drei riesige, beeindruckende Drachen mit Schuppen, die im Morgenlicht glänzten. Zwischen prächtigen Zelten - alle in Rot und Orange gehalten - eilten Menschen in seltsamer Kleidung geschäftig hin und her. Befestigten Zeltschnüre, spannten Sonnensegel oder kümmerten sich um alle Arten von Reittieren. Ein Zirkus!? Erst einmal hatten die Koros einen Zirkus besucht. Es war ein unvergessliches Abenteuer gewesen. Vielleicht könnten sie ja alle zusammen die Vorstellung besuchen? Nur all zu gern wäre Zerfa hinübergelaufen, um sich die Tiere und die Akrobaten anzusehen. Bestimmt gab es Akrobaten! „Guten Tag.“ Erschrocken holte sie Luft und wirbelte herum. Da stand ein großer Mann, in Farben gekleidet, die sehr gut zu den Zelten passten. Der Wind zupfte an seinem langen, schwarzen Haar und wehte ihm einige Strähnen ins Gesicht. Achtlos strich er sie fort. Das Mädchen starrte einen Moment auf sein linkes Auge und sah rasch wieder fort. Bestimmt mochte er es nicht, angestarrt zu werden. Ebenso wenig, wie sie selbst. „Hallo.“, flüsterte sie. „Entschuldige bitte. Ich wollte Dich nicht erschrecken.“ „Schon gut.“ Zerfa zuckte mit einer Schultern. „Suchst Du vielleicht das hier?“ Auf dem Unterarm des Mannes lag Knäulchen und liess sich schnurrend streicheln. „Ja!“ „Sie ist wohl ausgebüxt?“ „Ja. Sie mag nicht baden.“ „Das glaub ich gern.“ Da der Herr recht freundlich zu sein schien, wagte Zerfa es erneut, ihm kurz ins Gesicht zu spähen. Die komische Stelle um sein Auge sah aus wie eine Narbe. Eine Brandnarbe. Fast so wie die von Zuko II; Agni möge ihn schützen! Aber von denen gab es ziemlich viele. Niha sagte, der Krieg von früher sei schuld daran. Vielleicht war der Mann ja im Krieg gewesen. Oder die Narbe stammte von etwas anderem ... Vielleicht sogar von einem Kunststück? „Bist Du ... ein Feuerakrobat?“ „Ein Feuerakrobat? Hm. So etwas in der Art.“ „Aber Du gehörst zu dem Zirkus?“ „Zirkus?“ Ein Lächeln erschien auf dem Gesicht des Mannes. „Ja. Genau genommen bin ich der Direktor.“ „Wirklich?“ „Ja.“ „Toll!“, hauchte Zerfa ehrfürchtig. „Dann gehören die Tiere alle Dir?“ „Ja. Magst Du sie Dir ansehen?“ „Darf ich denn?“ „Sicher.“ „Ja! Das heisst ... ich muss zuerst Niha fragen.“, fügte sie schüchtern hinzu. „Gut. Dann sehen wir sie später an.“ „Das wär schön! Darf Jem auch kommen? Er ist mein Bruder.“ „Natürlich darf er auch.“ „Was ... was kannst Du denn?“ „Was ich kann?“, fragte der Mann leicht amüsiert. „Na ... so als Feuerakrobat.“ „Hm. Mal sehen.“, murmelte er. „Genügt das hier?“ Er öffnete die Hand und liess hunderte von sternenförmigen Funken auf das taubedeckte Gras regnen. „Oder das?“ Jetzt liess er weiches, goldenes Licht erscheinen, das sich langsam zu einem wundervollen Vogel formte. „Oh ... das ist schön!“ „Freut mich, wenn es Dir gefällt, Fräulein Koro.“ Große Augen starrten ihn erschrocken an. „Hellsehen kannst Du auch?“ „Ein bisschen.“ Zerfa war zutiefst beeindruckt. Dieser Mann konnte ja wirklich tolle Sachen. Außerdem wirkte er wirkte so ... zufrieden. „Vielleicht ... kann ich ja auch mal zum Zirkus.“, meinte sie unsicher. „Möchtest Du das denn?“
 „Weiss nicht. Da sind viele seltsame Leute, oder?“ Zuko dachte einen Moment an den Hofstaat. „Ja.“, erwiderte er. „Ziemlich viele und ziemlich seltsame Leute.“ „Weil ... dann würde ich da vielleicht hinpassen.“ Aus irgendeinem Grund ging der Herr Zirkusdirektor nun in die Hocke und blickte ihr geradewegs in die Augen. „Du bist nicht seltsam, Fräulein Koro.“, sagte er fest. „Du bist ein sehr gescheites Mädchen.“ „Weiss nicht.“ Das Kind zuckte wieder mit den Schultern. „Nur weil man angestarrt wird, ist man noch lange nicht seltsam.“ „Du ... wirst auch viel angestarrt, oder?“, flüsterte sie. „Ja. Sehr oft.“ „Ich ... find sie gar nicht schlimm.“ „Was? Meine Narbe?“ „Ja. Sogar der Feuerlord hat eine. Fast genau wie Deine.“ „Hm, das stimmt wohl. Nun ... ich finde Deine Augen auch nicht schlimm.“ „Nein?“ „Nein. Überhaupt nicht.“ Zerfa blickte in die hellen Augen. Sie waren so golden, dass sie fast auch ein bisschen seltsam wirkten. Hier war jemand, der sehr genau wusste, wie man sich fühlte, wenn man die Zielscheibe von Spott oder Misstrauen war. Jemand, der sie verstand. Plötzlich drehte der Mann den Kopf und erhob sich. "Ah. Da kommt ja unser Vize-Direktor.“, murmelte er und machte seinem strapazierfähigen Assistenten ein Zeichen. Tian Fu, geübt im Umgang mit seinem etwas exzentrischen Arbeitgeber begriff sofort. Er kannte das Katz-und-Maus-Spiel, wenn der Feuerlord unerkannt bleiben wollte. „Tian, mach einen artigen Kratzfuss und stell Dich Fräulein Koro vor." "Sehr erfreut, junge Dame!", sagte der Hinzugekommene und verbeugte sich tief. Zerfa kicherte. "Äh ... Gleichfalls.“ Erwartungsvoll blickte sie zu Zuko auf. „Was kann er denn?", wollte sie neugierig wissen. "Tian? Er ist unser Dompteur." "Wie meinen?" Zukos rechte Hand blinzelte etwas verunsichert. "Na, Viecher zähmen, Tian. Du weisst schon." "Ah. Natürlich. Insbesondere Drachen!", murmelte der Konsul. "In Deinen Träumen! Für Drachen ist unsere Kobold-Lady zuständig." "Ihr habt einen Kobold? Einen ECHTEN?", hauchte Zerfa verzückt. "Nicht direkt. So nenne ich meine Frau. Ich glaube, Du kennst sie sogar." "Wer? Ich?" "Ja." "Kann nicht sein." Vehement schüttelte Zerfa den Kopf. "Hm. Ich denke aber doch. Tian? Mach Dich nützlich, entfleuche und hol mein Weib.“ „Ja, Gebieter.“ Im Fortgehen mummelte der Konsul etwas, das wie „verdammter Affenzirkus“ und „dringend eine Gehaltserhöhung“ klang. Zuko legte verwundert den Kopf schief. Da hatte wohl jemand auf einem Heldenepos geschlafen? Nur wenige Augenblicke später näherte sich eine Frau. „Tian sagt, Du möchtest mich sprechen, Herr und Meister?“ „Ja, ich hab hier jemanden, der gerne den Kobold der Truppe kennen lernen möchte.“ „So?“ Mit offenem Mund starrte Zerfa die Dame an. Sie kannte sie tatsächlich. „Ach Du meine Güte ... Das ist ja Zerfa!“ Jin ging in die Hocke und breitete die Arme aus. Das Kind wusste sich vor lauter Verwirrung nicht anders zu helfen, als das Angebot anzunehmen, und stürzte sich hinein. „Du ... Sie sind Lees Mama!“, jammerte sie kläglich. „Ja. Unter anderem.“ „Und ... und ist das da ... Dein Mann?“ „Ja.“ „Aber ...“ „Was denn, Knöpfchen?“ „Ist er der Feuerlord?“ Zerfas Stimme war kontinuierlich höher geworden und nun schielte sie, das Gesicht an Jins Schulter versteckt, unsicher zu deren Ehemann. Kein Wunder konnte er hellsehen! „Ja. Ich fürchte, ich bin der Feuerlord.“, sagte er entschuldigend. „Niha wird schimpfen!“ Momentan schimpfte Niha nicht, sie summte. Gemeinsam mit Lee bepflanzte sie ein kleines Beet mit jungen Erdbeer-Pflanzen. Als sie aufblickte und ihren dreckstarrenden Mann sah, musste sie grinsen. Bevor er jedoch zurück grinsen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt. „Äh ... Niha?“ „Ja?“ „Ich glaube, Du würdest Dich jetzt gern waschen gehn.“ „Was?“, lachte Niha. „Wir sind doch noch gar nicht fertig.“ „Ich glaube trotzdem, dass Du es möchtest. Und kämmen vielleicht auch?“ Der Blick, mit dem er sie bedachte, war sehr seltsam. „Wieso denn?“ „Weil Du mich sonst später anschreien wirst, ich hätte Dich nicht gewarnt.“ „Himmel, Lee ... was ist denn?“ Sie folgte seinem Blick und liess prompt die kleine Schaufel fallen. „Oh mein Gott.“, hauchte sie, mit einem Mal so weiss wie die Wand hinter ihr. „Sag mir nicht, dass er das selbst ist.“ „Äh ... doch.“ „Oh mein GOTT! Ich ... muss mich waschen!“ „Sag ich doch.“ In einem untypischen Anflug von Tragik drehte sie sich zu ihm um. „Du ... ich liebe Dich!“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Ja. Und Du wirst noch viele Jahre haben, mir das zu zeigen, Süße. Also beruhige Dich bitte.“ „Gut ... gut.“, flüsterte Niha und ging zögernd rückwärts. Doch da sich die Delegation Feuer-Papa & Co. nach wie vor durch nichts aufhalten liess, begann sie zu rennen. Lee lehnte sich indes mit den Unterarmen auf den Griff seines Spatens und wartete geduldig, bis die Prozession vor ihm stand. „Lee!“ Wie immer war es Jin, die als erste losstürmte, und ihren Sohn umhalste. „Mama.“ Fest erwiderte Lee die Umarmung. „Ist er sauer?“, flüsterte er in ihr Ohr. „Hm. Du weisst ja, dass man das nicht immer so genau sagen kann ...“ Gebieterisches Räuspern unterbrach die beiden. „Äm ... Vater.“ „Sohn.“ „Also ich ... äh ...“ Lee schob beiden Hände in die Gesässtaschen seiner Hose und zuckte mit den Schultern. Er erntete keinerlei Reaktion. Regungslos stand Zuko II auf dem Hof der Koros und wartete. Eine winzige, wirklich klitzekleine Schweissperle bildete sich auf der Stirn seines Nachkommen. „Die gute Nachricht ist: Ich bin jetzt unter der Haube!“, wagte Lee seinen Vorstoß. Mit Optimismus lag man schliesslich nie falsch. Zuko II hob lediglich die Braue. „Das ... müsste Dich doch freuen. Mein persönliches Potential, Ärger zu machen, ist damit ... um einiges reduziert.“ Zuko II hob sein Kinn an. „Ja. Um ... einiges.“, murmelte Lee. „Oh, verdammt!“, brach es dann aus ihm heraus. „Ich hatte einfach keine ZEIT, euch eine Nachricht zu schicken! Ich ... die Tage davor waren die schlimmsten meines ganzen Lebens, und wenn Du Dich bitte erinnern würdest, gab es davon durchaus einige. Und ... und ich konnte nicht riskieren, sie wieder zu verlieren, verstehst Du? Sonst hätte sie es sich am Ende noch anders überlegt.“ Zuko II stand nur unverrückbar wie ein Fels auf dem Fleckchen Erde, welches er besetzt hatte. „Sag doch was!“, bat Lee rau. „Vielleicht begrüsst Du mich mal anständig?“ Der Himmel wusste, was Seine Lordschaft unter diesen Umständen als anständig empfand. Der Prinz zögerte und machte Anstalten sich in den Staub zu knien. „Lee! Ich sagte anständig!“ Erleichtert machte Lee einen Schritt auf seinen Vater zu. Er wurde in eine innige, bärenhafte Umarmung gezogen. „Du nutzloses Gör! Ich sollte Dir den Hosenboden stramm ziehen.“ „Ich freu mich auch Dich zu sehen, Vater!“ „Unverschämtes Balg!“ „Ja, Papa.“ „Weisst Du eigentlich wie viele graue Haare Du mich kostest?“ „Seh´ noch keine.“ „Rotzbengel!“ Nun wurde Lee losgelassen und scharf gemustert. „Du rennst ja immer noch in diesen unmöglichen Klamotten rum.“ „Hey, das ist meine zweitbeste Hose. Na ja ... sie war es.“, sagte Lee, angesichts des Rissen über dem rechten Knie. „Da kann man nur hoffen, dass die Beste komplett hinüber ist.“, murmelte Zuko. „Lee?“ Etwas zupfte am rechten, zweitbesten Hosenbein. „Zerfa? Wo kommst Du denn ...?“ „Ich hab Deinen Papa getroffen.“, erklärte sie ehrfürchtig. „Den Feuerlord.“ „Äh ... ja.“ „Er sagt, er will mit Niha sprechen.“ „Na ja ... sie ... ist im Haus.“ „Bestimmt freut sie sich. Sie hat ja immer gesagt, sie würde ihn gern mal sehen.“ „Hm ... ja. Das hat sie gesagt. Magst Du nachsehen, ob sie soweit ist?“ Zerfa nickte. Doch bevor sie ins Haus rannte, musste sie Lee noch ihre spektakulärste Entdeckung mitteilen. „Er kann hellsehen!“, flüsterte sie. „Ja.“, seufzte Lee. „Ich weiss.“ „Reizendes Kind.“, meinte Zuko, als die Kleine im Haus verschwand. „Ja. Das ist sie. Die ganze Familie ist wunderbar. Und Niha ...“ Lee warf seinem Vater einen flehenden Blick zu. „Ich geb zu, sie ist manchmal recht resolut, aber ...“ „Ich erinnere mich.“ „Wenn sie gewusst hätte, wer Du bist ... DICH hätte sie nie aus dem Haus geworfen.“ „Ach? Dann lässt mein Gedächtnis wohl nach.“ „Nein. Sie ... sie ist so ziemlich die loyalste Untertanin, die Du Dir vorstellen kannst. Sie hat sogar ein Bild von Dir an die Wand gekleistert.“ „Ein schlechtes, wie ich gehört habe.“ „Vater, bitte ...“ „Lee, es ist ihr Haus. Sie darf jeden hinauswerfen, der ihr nicht passt.“ Nur wenig später stand Zuko in der kleinen Küche und starrte desillusioniert auf sein Konterfei. Dieses „Portrait“ war ja wirklich grottenschlecht. „Tian? Denkst Du nicht, wir sollten nur noch die Verbreitung lizensierter Drucke zulassen?“ „Das wäre Zensur, mein Lord.“ „Ah. Und dagegen haben wir was?“ „So heisst es.“ „Zu schade. Ich habe doch nicht wirklich so eine Geier-Nase, oder?“ „Nein. Eher falkenartig, wie Mylady Euch sicher gern bestätigen wird.“, sagte der Konsul geduldig. „Vogel ist Vogel!“ „Ich finde auch nicht, dass wir Schnäbel im Gesicht haben.“, stimmte Lee seinem Vater zu. „Außerdem siehst Du auf dem Bild aus, als hättest Du einen übersäuerten Stoffwechsel.“ „E ... Euer Hoheit?“ Die Stimme war kaum zu hören. Zuko drehte sich um. Himmel ... das Mädel war ja fast grün im Gesicht. Sie hielt den Blick auf den Boden gerichtet und er konnte die Augenfarbe nicht erkennen, meinte jedoch, sich an grau zu erinnern. Kaum sah er in ihre Richtung, warf sie sich fast panisch auf die Knie, und presste die Stirn auf die flach am Boden liegenden Hände. „Du bist Niha.“, stellte er fest. „Ja.“ „Du kannst aufstehen.“, murmelte Zuko, der es grundsätzlich nicht leiden konnte, wenn Leute auf dem Boden herumlungerten, es sei denn, sie hatten ihren Spass dabei. Gehorsam, aber mit wackligen Beinen stand Niha wieder auf. Lee konnte sich nicht erinnern, sie jemals so verängstigt gesehen zu haben. Sein Herz zog sich zusammen. „Mein Vater ist nur hier um ...“
 „Danke Lee. Ich kann durchaus für mich selbst sprechen.“ „Aber sie hat die unsinnige Idee, Du würdest diese Ehe nicht dulden.“ „Ich möchte hören, was sie zu sagen hat.“ Sagen? Niha biss sich auf die Lippen. Sie konnte unmöglich etwas sagen ... „Nun?“ „Es tut mir alles sehr leid, Hoheit.“, flüsterte sie. „Leid?“ „Ich ... wusste nicht, wer Lee ist.“ „Ihr habt unter falschem Namen geheiratet?“ „Nein!“, rief Lee. „Der Richter hat meinen vollen Namen genannt.“ „SO viel Zeit hattet ihr?“ „Oh, Papa, bitte!“ „Du wusstest also nicht, dass Du es mit einem Prinzen zu tun hast?“ „Nein.“ „Hm. Aber wenn Du es gewusst hättest? Hättest Du ihn dann geheiratet?“ Das war eine gute Frage. Hätte sie? Niha wusste es nicht. „Ich ... ich weiss es nicht.“, wisperte sie kaum hörbar. „WAS? Natürlich hättest Du!“ „Lee! Langsam hab ich genug. Entweder Du lässt sie sprechen, oder Du gehst raus zu den Kindern. „Nun, Niha, wenn Du willst, KANN diese Ehe annulliert werden.“ wendete Zuko sich wieder an seine Noch-Schwiegertochter. „NEIN!“, rief sein Sohn sofort. „Lee!“ „Das werde ich nicht zulassen!“ „Lee. So sind nun mal die Gesetze. Du kannst nicht einfach Frauen heiraten, die nicht wissen, wer Du bist!“ „Das ist mir scheissegal!“ „Was Du nicht sagst!“, knirschte es gefährlich leise. „Wenn Du jetzt bitte den Raum verlassen würdest.“ „Nein! Diese Ehe wird nicht ...“ „LEE!“, donnerte Zuko. „Ich sage es nur noch einmal. Hinaus!“ Lee sah seinem Lord in die Augen. Hinter der harten, unnachgiebigen Oberfläche lagen Verständnis und Liebe. Die einzigen Dinge, die ihn veranlassen konnten, dem Befehl Folge zu leisten. „Ich liebe dieses Mädchen.“, flüsterte er rau. „Das ist mir bewusst. Du kannst sie trotzdem nicht zwingen.“ Eine warme Hand legte sich auf seine Schulter. „Lass mich das klären.“ Lee nickte. Im Klären war sein Vater gut. Verdammt gut. Er nickte noch einmal und verliess das Zimmer. „So. Vielleicht können wir uns jetzt ungestört unterhalten.“ Niha stand noch immer wie festgewurzelt an Ort und Stelle wagte es nicht, aufzublicken. „Tian?“ „Mein Lord?“ „Vielleicht stellst Du Fräulein Koro - nein, der Herzogin - einen Stuhl bereit?“ „Selbstverständlich.“ Es scharrte hinter Niha. „Setz Dich, bitte.“ Plumps. „Möchtest Du Tee oder so?“ „Nein.“, hauchte die Herzogin von Goam. „Gut. Hast Du Dich von Deinem Schock erholt?“ „Nein.“ „Bedauerlich ... Tian? Haben wir etwas gegen Schockzustände bei uns?“ „Nein, Sire.“ „Wie nachlässig! Mach bitte eine entsprechende Notiz.“ „Natürlich, Herr.“ „Nun, Niha. Vielleicht hilft es Dir, Dich zu erinnern, wie Du mich vor einiger Zeit vor die Tür gesetzt hast?“ „Nein!!“ Das klang entsetzt. Hochgradig entsetzt! „Hm ... auch nicht. Dann muss ich es wohl anordnen.“ „Bitte?“, stiess sie aus. „Du wirst Dich jetzt beruhigen!“ „I ... ich versuch´s.“ „Schön. Und jetzt“, fügte er hinzu. „Sag mir, ob Du möchtest, dass ich diese Ehe annulliere.“ Mit wildklopfendem Herzen wagte Niha es zum ersten Mal, ihn anzusehen. Er sah ihm sehr ähnlich, ihrem Lee. Doch da war mehr Härte. Mehr Bereitschaft, zu tun was getan werden musste. Mehr Skrupellosigkeit und soviel mehr an Erfahrung, dass es die Zeitspanne eines Lebens sprengte. Dies war ein Mann, der einen Weg gegangen war, den nur wenige beschritten hätten. Nicht immer ganz aufrecht, nicht immer ganz gerade. Jedoch unbeirrbar. Und jeden Schritt hatte er mit der Bereitschaft gemacht, die Konsequenzen zu tragen. Dieser Weg hatte ihn geformt, gehärtet und zu dem gemacht, der er war. Was Niha hinter den unnahbaren Zügen noch nicht erkannte, war die Demut im Herzen dieses Mannes. Demut und Dankbarkeit, die der Liebe entsprangen, die er erfahren hatte. Er war so viel mehr, als die kleine Niha Koro sich vorgestellt hatte. „Ihr ... Ihr wollt es. Oder?“ „Ich? Nein. Aber was ICH möchte, ist momentan mehr als irrelevant. Was willst Du?“ „Ich ... ich weiss nicht.“ „Du weisst es nicht?“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Hm. Seltsam. Ich war immer davon ausgegangen, dass die Frau, in die Lee sich verlieben wird, seine Gefühle vorbehaltlos erwidern würde. Aber, so kann man sich täuschen.“, murmelte er und musterte sie eindringlich. „Aber das tu ich doch!“ „Was? Dich täuschen?“ „Nein! Sie erwidern. Seine ... seine Gefühle.“ „Wo liegt dann das Problem?“ „Ich ... bei mir.“ „Bei Dir?“ „Eigentlich ... bei Euch.“ „Ach ...“ Seine Braue entschwebte sacht. „Tian, mein Freund, täusche ich mich, oder hört sie sich ein wenig an wie Jin?“ „Äh ...“ „Ja. Genau.“, sagte Zuko lakonisch. Dann wandte er sich erneut Niha zu. „Das eigentliche Problem ist also meine Stellung. Verstehe ich das richtig?“ „Ihr ... Ihr seid ... Zuko II, Agni schütze Euch.“, stammelte sie. „Und ich ... züchte Schweine. Und davon auch nur ein paar. Ich hab drei Geschwister, für die ich sorgen muss. Und ... und ich hätte keine Ahnung, wo wir nun leben sollten; wo ich hingehören würde ...“ Als Zuko stumm blieb, warf Konsul Tian Fu ihm einen erstaunten Blick zu. Er kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, wie die Antwort lautete. Niha gehörte nun zu den Tatzus. Punkt. Aus. Ende. Aber heute schien Seine Lordschaft wieder überaus unberechenbar zu sein. Jedenfalls unberechenbar genug, um sich auf diese seltsame und irgendwie sinnlose Diskussion einzulassen. Es war glasklar, dass diese Ehe bestehen bleiben würde! Das Mädchen knetete inzwischen seine Hände und suchte weiter nach Gründen für eine Annullierung. „Ich passe nicht. Und ... irgendwann wird Lee das auch sehen. Und dann ...“ Ihre Stimme zitterte. Agni! Sie konnte doch nicht anfangen, vor dem Feuerlord zu flennen! „Er findet bestimmt eine passendere Frau!“ „Verstehe.“, sagte Zuko nach einer Pause. Er begann mit langen Schritten auf und ab zu gehen. „Ich fasse mal zusammen. Lee ist ein fürstlicher Prinz, Du bist eine mittellose Bäuerin. Du hast Angst, Dich in seiner Welt nicht zurecht zu finden. Ausserdem scheinst Du mir ein wenig an der Beständigkeit seiner Gefühle zu zweifeln.“ Niha zuckte mit den Schultern und nickte kaum merklich. „Hm.“, brummte er. „Ich könnte Dir natürlich versichern, dass Lee noch niemals zuvor von Liebe gesprochen hat, doch ich nehme an, das hat er Dir selbst schon gesagt.“ Sie nickte wieder. „Schön. Sehr bezeichnend. Es sei denn, Du hältst meinen Sohn für einen Lügner.“ „Nein!“ „Exzellente Wahl. Trotzdem lebst Du eventuell in dem Glauben, er wäre vielleicht etwas unbeständig? Falls ja, möchte ich Dir den unbestechlichsten Menschen des Landes vorstellen. Tian? Zeig Dich von Deiner Schokoladenseite.“ „Es ist mir eine Ehre, Ihro Gnaden.“ „Tian!“, seufzte Zuko. „Du sollst sie erleuchten, nicht einschüchtern.“ „Ich versuche mein Bestes.“ „Gut. Dann gib bitte eine Charakterisierung meines zweiten Kindes zum besten.“ „Charakterisierung?“ „Deine Ohren funktionieren erstaunlich gut, mein Freund.“ „Äh, ja ... also.“ Der Konsul räusperte sich umständlich, ging kurz in sich, und legte los. „Lee Iroh Tian Tatzu. Zweitgeborener Prinz der geeinten Feuernation. Sohn von Zuko und Jin Tatzu. Geboren am ...“ „Tian. Die Kurzform, bitte.“ „Ja. Schön. Wundervoller Junge. Hervorragende Erbanlagen. Überaus intelligent. Einer von sieben Großkampfmeistern der Feuernation und ernstzunehmender Pai-Cho-Gegner. Einziger körperlicher Mangel ist seine Epilepsie, die allerdings medikamentös behandelt wird, und kein Problem darstellt. Extremer, zuweilen unangebrachter Hang zum Humor.“ „Den er nicht von mir hat!“, warf Seine Lordschaft beiläufig ein. „Zu seinen hervorstechendsten Eigenschaften zählen Lebensfreude, Optimismus, Empathie und eine unglaubliche Anpassungsfähigkeit. Doch vor allem,“, betonte Tian. „Ist er einer der großherzigsten, gütigsten Menschen, die ich kenne. Und sobald er sich entschlossen hat, jemanden ins Herz zu schliessen, wird nichts und niemand denjenigen daraus vertreiben. Er ist - wie ich aus eigener Erfahrung weiss - eine treue Seele. Treu, beständig, charakterfest, idealistisch und uneigennützig. Dass er dabei Charme für fünf hat, habt Ihr mit Sicherheit selbst erlebt. Ungerechtigkeit bringt ihn auf die Palme. Heuchelei macht ihn wütend. Ausserdem mag er gutes, reichliches Essen, Tierwelpen, Kinder, sowie alte Menschen und Hängematten. Und: ich darf voller Stolz behaupten, sein Taufpate zu sein.“ „Danke, Tian. Sehr ergreifend.“ „Ja. Und ... ich sollte vielleicht seinen ... äh, Hang zu Frauen nicht verschweigen, der jedoch der Tatsache entspringt, dass er sich in weiblicher Gesellschaft sehr wohl fühlt. Äh ...“ „Na Bravo, Tian!“, murrte Zuko. „Ich hatte gehofft, Dein Vortrag wäre zu Ende. Dann unterrichte das Mädchen jetzt bitte auch davon, dass die Ehe für Lee etwas Unantastbares ist.“ „Aber natürlich! Hatte ich das nicht erwähnt?“ „Nein. Hast Du nicht. Und ich werde versuchen, es nicht als böse Absicht zu deklarieren.“ „Nun,“ Niha sah sich einem forschenden Blick ausgesetzt. „Hast Du immer noch Vorbehalte gegen eine Ehe mit meinem Sohn?“ „Ihr WOLLT, dass ich seine Frau bleibe?“, fragte sie ungläubig. „Selbstredend. Vielleicht ist Dir das nicht ganz klar, aber das Glück meiner Familie ist mir wichtiger als alles andere.“ „Aber ... ich hatte Euch hinausgeworfen.“, stammelte das Fräulein Schwiegertochter. „Ja. Mein Weib fand das überaus amüsant.“ „Und Ihr?“ „Sagen wir: Es war eine Erfahrung, die ich schon lange nicht mehr gemacht hatte.“ „Oh Gott!“ Zuko fand es an der Zeit, einen Punkt unter die Sache zu setzten. „Niha. Du bist ein ehrliches, anständiges Mädchen, das meinen Sohn aufrichtig liebt. Denkst Du wirklich, ich hätte etwas anderes für ihn erhofft?“ „Nicht?“ Plötzlich geschah etwas unvorhergesehenes. Ein Lächeln vertrieb die Strenge. Niha blinzelte. Dieses Lächeln kannte sie. Nur auf einem anderen Gesicht. Es war warm, unvergesslich und unglaublich schön. „Nein.“, sagte Zuko schlicht. „Du hast alle Gründe, die gegen eine Ehe mit Dir und Lee sprechen, aufgezählt. Nun sag mir, ob sie schwerer wiegen, als Deine Gefühle für ihn.“ Die Augen, die in ihre sahen, machten es schlichtweg unmöglich zu lügen. „Nein.“, gab sie zu. „Dann erkläre ich Deine Einwände hiermit für nichtig! Und jetzt, erhebe Dich.“ Beim zweiten Anlauf schaffte sie es tatsächlich wieder auf die Beine. Dann umfasste Zuko II, dessen Bildnis seit sie denken konnte die Wand ihrer Küche schmückte, Nihas Kopf und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Willkommen in der Familie, Kind.“ Lee, der offensichtlich vor dem Haus auf und ab gestiefelt war, stürzte sich auf das heraustretende Herren-Duo. „Und?“, fragte er seinen Vater. „Was ist? Hast Du sie zur Vernunft gebracht?“ „Unnötig. Die junge Dame schien mir schon sehr vernünftig zu sein.“ „Was? Aber ... Das KANN nicht Dein Ernst sein! Ich werde einer Annullierung nicht zustimmen!“, rief der Prinz. „Niemals!“ „Lee ...“ „Nein! Du verstehst das nicht!“ „Ich verstehe das nicht?“, fragte Zuko leise. „Du redest von Liebe, und denkst, ich verstehe das nicht? Dafür sollte ich Dir drei Monate Hausarrest verpassen!“ „Papa ...“ „Es wird keine Annulierung geben.“ „Ich ... was?“ Lee schloss die Augen und entliess einen Stoßseufzer. „Danke!“ „Sie liebt Dich, mein Sohn. Und das ist wohl der einzige Punkt, der gegen ihre Vernunft spricht.“ Er verpasste Lee einen Schlag auf den Rücken, der diesen fast umwarf. „Aber ich mag sie trotzdem!“ An diesem Abend kam die Familie Koro in den Genuss wahrlich erlesener Gesellschaft. Die Kinder waren, nachdem sie stundenlang auf dem geduldigsten der drei Drachen herumgekrochen waren (selbstverständlich unter den wachsamen Augen der Leibgardisten), erschöpft, aber glücklich. Jetzt hockten sie bei den Erwachsenen am Feuer und stopften sich abwechselnd mit leckeren Pasteten und Süssigkeiten voll. Im Augenblick gab Lee eine Interpretation seiner Ehefrau zum besten, wie sie versucht hatte, ihm das Melken näher zu bringen. Niha wurde blutrot. SO ungeduldig war sie nun auch wieder nicht, oder? Allerdings schien die Darstellung sehr wohl ins Schwarze zu treffen. Maja versuchte vergeblich, ihr Kichern zu unterdrücken, Jin lachte Tränen und Seine Lordschaft amüsierte sich prächtig. Mylady sass an ihren Gatten gelehnt da, der sie wie stets bereitwillig wärmte, und genoss ihre neue Familie. „Jin, hör auf sie so anzusehen.“, murmelte Zuko in einem passenden Moment. „Wen denn?“ „Die Kinder. Es sind nicht unsere.“ „Aber jetzt schon. So ... ein bisschen.“ „Falls Du vorhast, sie zu entführen, kann ich diese Tat nicht decken.“ „Spielverderber!“ Sie bekam einen Kuss auf die Schläfe. „Vielleicht können wir sie ausleihen? Ein halbes Jahr bekommen wir sie, und ein halbes Jahr Lee und Niha.“ „Niha, ich glaube meine Mutter will tatsächlich Deine Geschwister klauen.“, staunte Lee. Doch seine Eltern ignorierten ihn. „Sie werden Dich einsperren Kobold!“ „Und Du würdest nichts dagegen tun?“, fragte Jin. „Wie denn? Wenn Du kriminell wirst, sind mir die Hände gebunden.“ „Kriminell?“ „Aber ja. Und außerdem wäre es kein Einzelfall. Schliesslich bist Du beinahe vorbestraft.“ „Also ...“ „Ich kann gerne eine Abschrift aus Ba Sing Se kommen lassen. In Deiner dortigen Akte steht, Du hättest Dich mit einem zwielichtigen Individuum eingelassen, und wärest in einen Fall von illegalem Feuerbändigen verwickelt gewesen. Alles schwarz auf weiss.“ „Wie gut, dass Du mich daran erinnerst. Dieser Kerl war wirklich keine passende Gesellschaft für mich.“ Niha und Maja blickten verwirrt zu Lee. Der grinste nur. „Die unpassende Gesellschaft, die illegal Feuer bändigte, war mein Vater.“, klärte er sie auf. „Plaudert der Bengel gerade Staatsgeheimnisse aus?“, erkundigte Zuko sich in mildem Tonfall. „Ja. Du siehst also, er kann unmöglich die Verantwortung für diese Kinder übernehmen!“ „Mama, Du musst Dich nicht mit mir einigen, sondern mit Niha.“ „Also ... äh. Ich weiss nicht.“ Niha war ein wenig überfordert. Diese Leute waren irgendwie ein bisschen ... verrückt. „Mein Weib zieht Dich nur auf, Niha.“, beruhigte Der Feuerlord sie. „Allerdings steht die Frage noch offen, wo ihr in Zukunft leben werdet.“ So plötzlich konnte es also wieder ernst werden. „Habt ihr schon darüber gesprochen?“ „Nein. Niha hatte sich bis jetzt geweigert, das Thema zu diskutieren.“ „Ich wusste ja nicht, ob wir ... zusammenbleiben dürfen.“ „Ja, ja.“, seufzte Lee. „Dazu hättest Du ja auch nur EINMAL auf mich hören müssen.“ „Ich werde euch nicht vorschreiben, im Palast zu wohnen.“, stellte Zuko klar. „Doch es würde uns zweifellos sehr freuen.“ „Aber ... der Hof.“ „Überlegt es euch in Ruhe.“ „Ich finde den Vorschlag mit dem halben Jahr eigentlich ganz gut.“, sagte Lee. „Ich soll meine Geschwister hergeben?“ „Himmel, nein! Aber wir könnten abwechselnd hier wohnen, und im Palast, falls Du das willst. Wir müssten nur einen Verwalter einstellen, für die Zeit, in der wir nicht da sind.“ „Hat der Junge gelernt, seine grauen Zellen zu benutzen?“, fragte Zuko. „Das hab ICH ihm beigebracht!“, strahlte Jin. „Sicher. Wer auch sonst.“ Plötzlich eilte ein Soldat herbei, sprach mit Hauptmann Liang, Zukos persönlichem Leibwächter, der daraufhin aus dem Schatten trat und einige knappe Worte ins herrschaftliche Ohr murmelte. Zuko lauschte, straffte sich kaum merklich und nickte dann. Jin sah ihn fragend an. „Nur etwas Besuch.“, beruhigte er sie und erhob sich. „Besuch? Das Dorf?“ „Scheint so.“ Prompt stand Jin ebenfalls auf, klopfte sich einige Krümel von ihrer Tunika und zupfte Zukos Kragen zurecht. „Du kannst ruhig sitzen bleiben.“, murmelte er. „Sei nicht albern!“, erwiderte Mylady, die wusste, dass ihrem Gatten solche Dinge sehr viel leichter fielen, mit ihr an seiner Seite. Also stellte sie sich neben ihn und wartete. Als erster wagte sich Bürgermeister Miro höchstpersönlich in den flackernden Lichtkegel des großen Feuers. Zögernd trat er näher. Er war immer noch nicht sicher, ob der alte Chang nur irgendeinen Unsinn verzapft hatte, oder ob der große Bursche da wirklich und wahrhaftig der Feuerlord war. Beeindruckend genug war er jedenfalls, auch wenn die Herrschertracht fehlte. Die anwesenden Soldaten und Gardisten liessen alle Zweifel verpuffen und der Bürgermeister verbeugte sich so tief, dass man seine Gelenke krachen hörte. „Euer Lordschaft! Wir waren uns nicht sicher ... so ohne Anmeldung.“ „Der Besuch ist inoffiziell.“ „N ... natürlich!“, stotterte Miro. „Ich ... verzeiht! Wir dachten nur ... äh ...“ „Wie ist Dein Name?“ „Miro, Herr! Bin der Ortsvorsteher.“ „Ist er das?“, flüsterte die alte, schwerhörige Nora so laut, das man sie bestimmt noch in Leng-Leng verstehen konnte. „Psssst!“, machte ganz Agnam Ba im Kollektiv. „Wenn er das ist, will ich ihn anfassen! Soll Glück und Kindersegen bringen!“ Bürgermeister Miro wurde blass. Wenn jemand herausfand, dass die Alte mit dem vermessenen Wunsch seine Mutter war, wäre er geliefert! „Nun, Miro. Warum lässt Du die Leute nicht vortreten?“ „Wir wollen Euch nicht belästigen!“ „Ich will ihn anfassen!“ „Ihr belästigt uns nicht.“ „Wirklich, Herr? Das ist ... Ihr seid zu gütig!“ Miro winkte die Meute herbei. Mit siebenundsechzig Mann (na gut, 58,21% davon waren Frauen) im Rücken fühlte er sich gleich sichtlich wohler. Todesmutig ergriff er die ausgestreckte Hand seines Herrschers und sank auf die Knie. Plötzlich bückte sich die kleine Person, die neben Zuko II stand, zum Bürgermeister hinunter. „Lieber nicht knien.“, flüsterte sie. „Er mag das nicht so besonders.“ „W ... wie?“ „Er schaut den Menschen lieber in die Augen.“, erklärte Mylady hilfsbereit. „Oh!? Verzeihung!“, stiess Miro aus, seine eigenen Sehorgane zuckten verunsichert zum Blick des Flammengekrönten. Dann erhob er sich und drehte sich zu seinen Leuten. „Also ... nicht knien! Ihr habt´s gehört.“, zischte er. Nora hatte im Laufe ihres langen Lebens nicht nur gelernt, schwerhörig zu sein, wenn es drauf ankam, sondern auch hartnäckig. „Darf man ihn nun anfassen, oder was?“, insistierte sie. Man durfte. Zukos Hand wurde geschüttelt, verschämt mit der ein oder anderen Stirn berührt und einmal sogar flüchtig geküsst (später waren die anderen Frauen ziemlich verärgert über diese Waghalsigkeit. Vor allem deshalb, weil sie nicht selbst auf die Idee gekommen waren). Nora wartete bis alle fertig waren, dann nahm sie die schwielige Pranke ihres Lords so vorsichtig zwischen beide Hände, als handle es sich um ein Porzellanvögelchen und schaute zu ihm auf. „Danke!“, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. „Ohne Dich hätt´ ich am Ende auch noch meinen Miro im Krieg verloren. Bist ein guter Junge! Ich danke Dir!“ Angesichts der vertraulichen Anrede hatten siebenundsechzig Menschen entsetzt Luft geholt. Doch Zuko der Erhabene strich nur sacht über die gebrechliche Hand und meinte: „Gern geschehn!“ Jin lächelte still in sich hinein. „Hauptmann Liang?“, wisperte sie dann über die Schulter. „Haben wir noch genug Essen für alle?“ „Nun, wir könnten ein weiteres Schwein auflegen, Mylady.“ „Hervorragende Idee!“ Jetzt zeigte sich, dass die optimistischen Einwohner des kleinen Pilger-Orts ganz offensichtlich ein Fest erwartet hatten. Wie von Zauberhand erschienen Kartoffeln, Würste, Gemüse und sogar Kuchen. Zunächst sass man in ehrfürchtigem Abstand um die Feuer, tuschelte, murmelte, spekulierte. Doch nach und nach schmolz Rens Selbstgebrannter die Befangenheit fort (dem Wirt selbst hatte der Fusel ja auch schon über seinen mittelschweren Schock hinweggeholfen) und als auch noch der Prinz dem Zeug Beifall zollte, feierte man ungehemmt in den Sternenhimmel hinein. Die Kinder tollten herum, bis sie sich vor Müdigkeit in einem der Zelte zusammenrollten und flüsterten, bis ihnen die Augen zufielen. Von nun an wurden weder Zerfa noch Jem je wieder gehänselt, oder verspottet. Aus dem ganz einfachen Grund, dass jemand, der auf dem Schoß des Feuerlords herumgeturnt war, glasklar eine Respektsperson darstellte. Das Fürstenpaar kam in dieser Nacht, beziehungsweise an diesem Morgen, erst sehr spät zu Bett. Völlig erledigt schälte sich Jin aus ihren Kleidern und kroch zu Zuko unter die Decke. „Müde, Kobold?“ „Mhm. Schrecklich. Aber auch schrecklich glücklich.“ Sie bekam einen Kuss auf die Nasenspitze. „Manchmal vergesse ich fast, was Du diesen Menschen bedeutest.“, murmelte sie und strich sein Haar zurück. Zuko lächelte schräg. „Nun, solange Du nicht vergisst, was ich den hier anwesenden Menschen bedeute ...“ „Als ob ich das jemals könnte!" Sie gab ihm einen innigen Gute-Nacht-Kuss und kuschelte sich in Form. „Dummer Drache.“ Kapitel 18: Der Spion, der mich liebte -------------------------------------- Wohnsitz der Tutuks Nach einer Woche Kollaborations-Taktik holte Lu Ten sich Korb Nummer zwei. Auch dieser Antrag hatte es zugegebenermassen etwas an Romantik vermissen lassen, da er ihn zwischen Fenster und Angel gestellte hatte, aber das war noch lange kein Grund sich so anzustellen, oder? Jedenfalls brachte die wiederholte Sturheit seiner Auserwählten den Prinzen dazu Skrupel und Rücksicht in die Kiste und die schweren Kaliber auszupacken. Selbst wenn es dazu nötig war, einen Teil seiner fast schon legendären Zurückhaltung abzulegen. Es war also Abend und man saß zu Tisch. Nur Nemo fehlte (Lu Ten hatte so eine Ahnung, wo der sich herumtrieb). Das Ehepaar Tutuk war bester Laune und überaus redselig. Pippa hatte den Verdacht, dass dieser Umstand dem Charisma, der Eloquenz und dem gewinnenden Lächeln eines gewissen Assistenten zu verdanken war. Dieser Mensch wickelte gerade schamlos ihre Eltern um den Finger. Einfach so! Oder sollte sie sagen, mal wieder? Aber es war schön, wenn die Augen ihres Vaters so blitzten, weil er ein Wortgefecht genoss, oder die Wangen ihrer Mutter sich rosig färbten, weil eine ihrer Ideen bis ins kleinste Detail nachvollzogen wurde. Weniger schön waren die provozierend berechnenden Seitenblicke, die sie selbst kassierte. Sie machten Pippa unruhig und zappelig. Außerdem erinnerten sie sie erneut daran, dass sie trotz seiner regelmäßigen Besuche, den Rest der Nächte in erschreckender Einsamkeit verbracht hatte. Statt des köstlichen Essens bearbeiteten Pippas Zähne lieber die eigene Unterlippe. „Ich denke, Horung hat zu diesem Thema sehr anschauliche Theorien entwickelt. Finden Sie nicht auch, Fräulein Tutuk?“, fragte Lu Ten leutselig. Nach fünf Sekunden Stille, sah Pinerias Mutter sich veranlasst, einzuschreiten. „Pineria!“ „Was?“ „Man hat Dich etwas gefragt.“ „Was? Wozu? Das Gespräch läuft doch bestens ohne mich.“ „Bitte? Nehme ich da eine leichte Spannung wahr?“, erkundigte Nele sich. „Äh ... nein. Wieso?“, sagte ihre Tochter hastig. Jemand hielt es jedoch für angebracht, ihr in den Rücken zufallen. „Gut möglich.“, gab Lu Ten zu. „Das mag daran liegen, dass ihre Tochter meinen Antrag abgelehnt hat.“ „HERR Song!“, zischte Pippa aufgebracht. „Das interessiert meine Eltern nicht!“ „Sie hat WAS? Einen Antrag? Einen Heiratsantrag?“, rief Nele, die durchaus interessiert schien. „Abgelehnt. Zum wiederholten Mal. Sie ist der Meinung, lieber als Maitresse fungieren zu wollen.“ „LU TEN!“ Nun klang Fräulein Tutuk dezent entsetzt. Mr. Perfect demonstrierte weiterhin in aller Ruhe seine tadellosen Tischmanieren. Eins zu Null für ihn. „Pippa ... Wirklich?“ „Ob ich wohl noch ein Stück Schinken haben könnte?“, tastete sich der Professor vor. „Beo, mein Lieber, jetzt ist wohl KAUM der Zeitpunkt, einen Nachschlag zu verlangen!“ Der Kronprinz wurde derweil über den Tisch hinweg streng angefunkelt. „War es wirklich nötig, dieses Thema vor meinen Eltern anzuschneiden?“ „Ach, Du möchtest eine unverbindliche Liaison, aber darüber zu sprechen empfindest Du als peinlich?“ „Ich ... man könnte das ganze diskreter angehen.“ Sie konnte ja nicht ahnen, dass sie mit dem Mann sprach, der bei Hofe als Musterbeispiel von Diskretion und Verschwiegenheit galt. „Diskret?“, fragte er leise. „Ich habe keine Lust mehr, diskret zu sein. Ich war es die letzten paar Tage. Und, um ehrlich zu sein, hat diese Art der Diskretion ein bisschen viel mit Heimlichtuerei zu tun. Das liegt mir nicht besonders.“ „Aber ... ich will nicht heiraten!“ Pippa sprang auf. „Die sogenannten Moralvorstellungen der Gesellschaft sind doch nur Ausdruck eines verunsicherten, beschränkten Geistes ... Wir ... wir Wissenschaftler müssen uns über diese Dinge erheben. Der Intellekt darf solche Grenzen nicht akzeptieren!“ „Ach. Interessant. Verheiratete Menschen sind also dumm? Hast Du diese haarsträubende These bereits veröffentlicht?“ „Pippa. Warum in aller Welt willst Du ihn denn nicht?“, mischte Nele sich wieder ein. „Das hat nichts mit wollen zu tun!“ „Womit dann?“, erkundigte sich Lu Ten. „Ich ... ich will nunmal nicht, dass mein ganzes Leben umgekrempelt wird.“ „Ach je, Kind. DAS schon wieder.“ „Ja, Mama. Das schon wieder!“ „Wenn IHR der Meinung seid, einen so guten Schinken solle man verkommen lassen ...“ „Bitte sehr.“ Zuvorkommend schob Lu Ten das Fleisch in Beos Richtung. „Also wirklich, Pineria. Es ist doch nur mal wieder Deine irrationale Angst. Du kannst nicht für immer in Deinem Schneckenhaus bleiben." „Kann ich wohl!“, verteidigte sich Pippa verzweifelt. „Zufällig ist es ein sehr gemütliches Schneckenhaus!“ `Zufällig ist es ein sehr gemütliches Schneckenhaus!´ Zwei Stunden später war Pippa immer noch fassungslos, einen so albernen Satz von sich gegeben zu haben. Doch er sagte so viel über sie aus. Sie war albern. Albern und Feige. Warum gab sie den Kampf nicht endlich auf? Wenn sie ehrlich war, wollte sie ihn doch gar nicht gewinnen! Da widerfuhr ihr schon dieses unfassbare Glück, und was tat sie? Sträubte sich dagegen, wenn sie doch eigentlich nur Staunen und unfassbare Seligkeit hätte empfinden sollen. Endlich hatte sie gefunden, wovon sie immer nur gelesen hatte. Sie wurde geliebt. Und das Gefühl war lebendiger, echter und umfassender, als sie es sich ausgemalt hatte. Warum zögerte sie? Weil es eine Entscheidung war, die ihr niemand abnehmen konnte? Ja, nach einem halben Leben auf ziemlich wackligen Beinen, war es für die Tochter der Tutuks nicht leicht, in eine Welt zu treten, in der nur eine Sache ihr vertraut sein würde: Lu Ten. Doch mittlerweile wurde schmerzhaft klar, dass dieser hartnäckige Mensch die wichtigste Sache überhaupt war. Und dafür würde es sich lohnen, Vertrautes loszulassen! Gleich morgen würde sie zu ihm gehen und ... Ein Blitz liess Pippa zusammenzucken. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie das nahende Unwetter nicht bemerkt hatte. Was seine „geschäftlichen“ Angelegenheiten anging, wurde Lu Ten an diesem Abend leider ebenfalls enttäuscht. Das Arbeitszimmer des Professors beherbergte auch heute nur Staub, Pergament und seltsame Instrumentarien. Verdammt! Nemo konnte doch nicht hinter einer seit Jahren veröffentlichten Studie her sein, oder? Um WAS zum Teufel ging es hier? Wo sollte er denn noch suchen? `Weiter vorn liegt der neuere Kram.´ Natürlich! Er war so bescheuert! Sein Waldkäuzchen hatte es ihm doch klipp und klar gesagt! Er löschte sämtliche Kerzen und setzte seinen nächtlichen Streifzug durch das Haus fort. Nun allerdings mit einem klaren Ziel. Vor dem kleinen Arbeitszimmer im ersten Stock, welches sowohl Beo, als auch Nele Tutuk als Zwischen-Archiv diente, machte er Halt, und belauerte zum wiederholten Mal eine stoisch stumme Holztür. Da sie wie erwartet zu keinerlei verdächtigen Aktivitäten neigte, trat er vorsichtig ein. Neunzig Minuten später war Seine Hoheit bereit, einzuräumen, dass er vielleicht, unter Umständen, möglicherweise, ganz eventuell, doch nur Gespenstern hinterher jagte. Sein Rücken schmerzte, seine Augen brannten vor Müdigkeit  und langsam fragte er sich, wie wohl ein Mensch gestrickt sein musste, um solche Massen langweiliger, hirnrissiger Fakten anzuhäufen und zu Papier zu bringen. Aber, da war sein Instinkt. Und der flüsterte ihm unablässig Warnungen ins Ohr. Doch da war nur NOCH eine Gleichung, NOCH eine Skizze, NOCH eine chemische Formel … Lu Ten sog scharf die Luft ein und hob den unauffälligen Notizzettel näher ans Licht. Bei allen Göttern! Es gab keinen Zweifel! Als er neben dem hochwissenschaftlichen Tintengewirr elementarer Bausteine und Verbindungen nun auch noch eine blasse Randnotiz entdeckte, bestätigte sich sein Verdacht. `Extrem instabil!!!´ Instabil? In der Tat. Wenn er seine chemisch-physikalische Bildung richtig herum zusammengekleistert hatte, war das Zeug mehr als nur `extrem instabil´. Saugefährlich wäre weitaus passender. Warum, zum Teufel liess Beo so etwas herumliegen? Wo jeder es finden konnte? Und woher wusste Nemo Ran davon? Wie auch immer; die Formel musste sichergestellt werden. Sollte dieses Wissen den falschen Personen in die Hände fallen, könnte das empfindliche Gleichgewicht der Elemente nachhaltig gestört werden. Und was dies bedeutete, hatte die Generation seines Vaters mehr als deutlich zu spüren bekommen. Jetzt galt es nur noch, herauszufinden, WER so scharf auf diese Formel war. Nemo würde seine Auftraggeber bestimmt nicht freiwillig preisgeben ... Das leise Donner-Grollen empfand Lu Ten als ungemein passend. Es unterstrich die Dramatik der Situation. Dann kämpfte sich eine Erkenntnis durch seine freudige Erregung. Da draußen braute sich ein verdammt übles Gewitter zusammen! Pienria wusste nicht, ob sie das Unwetter als böses Omen für ihre getroffene Entscheidung ansehen sollte, oder nicht. Jedenfalls war sie mit ihrer üblichen Flucht in den Keller schon viel zu spät dran! Sie hastete zur Tür und tastete kopflos nach der Klinke. Bevor ihrem verzweifelten Treiben Erfolg beschienen war, öffnete sich die Tür. „Lu Ten!“ Lu Ten lehnte am Kopfteil von Pippas Bett und hielt sie im Arm. Mehr war gar nicht nötig. Ab und an streifte ein beruhigender Kuss Stirn und Schläfen. Wie schnell das Klima doch seine Schrecken verloren hatte. Jetzt, wo sie sich an etwas klammern konnte, war der Donner eben einfach nur Donner, und Blitze ein faszinierendes Schauspiel. Sie fühlte sich so geborgen, dass sogar an Schlaf zu denken gewesen wäre, obwohl der Himmel all seinen Groll auf Schloss Tutuk hernieder liess. Aber da war noch etwas zu klären ... „Lu Ten?“ „Hm?“ „Was ... was Deine Frage angeht ... Willst Du sie vielleicht wiederholen?“ „Ob Du Dich jetzt besser fühlst?“ „Nein. Die andere Frage. Die ... wichtige.“ Lu Ten sog scharf die Luft ein. DAS würde sie ihm nicht antun, oder? Pippa wartete nervös auf eine Reaktion. Die bestand leider darin, dass er sich losmachte, aufstand und sie anfunkelte. Mal wieder. „Was ist...?“ „Oh nein, nicht so!“ „Was ist denn?“ „Du nimmst allen ernstes JETZT meinen Antrag an?“ „J ... ja. Aber ... ich dachte, es freut Dich.“ „Freuen? Sicher! Ich mache Luftsprünge!“ Er gestattete sich, eine gehörige Portion Sarkasmus in die Stimme zu packen. „Aber ...“ „Pineria! Noch vor zehn Minuten hattest Du Todesangst, konntest nicht klar denken. Und jetzt willst Du mir weiss machen, Du wärest in der Lage, eine so wichtige Entscheidung zu treffen?“ „Natürlich bin ich das.“ „Ach? Und die Tatsache, dass Du Dich bei mir einfach nur sicher fühlst, spielt dabei keine Rolle?“ „Doch.“, sagte Pippa leise und starrte auf ihre verknoteten Finger. „Sie spielt wahrscheinlich die größte Rolle überhaupt. Aber das Gewitter tut es nicht!“ „Ich verstehe nicht ...“ „Ich fühl mich eben sicher bei Dir. So sicher, wie sonst nirgends. Egal, ob da ein Gewitter ist, oder nicht. Und ich ... ich hatte diese Entscheidung schon getroffen, bevor es angefangen hat zu donnern.“, schloss sie. Lu Ten starrte sie an. „Wirklich?“ „Wirklich.“ „Du bist ... Dir sicher?“ Pippa entfuhr ein wackliges Lachen. Dafür, dass er bislang so hartnäckig darauf bestanden hatte, sie zu heiraten, war er jetzt ziemlich zögerlich. „Ja, ich glaub schon.“ „Du glaubst?“ Himmel, war dieser Mensch mit einer Goldwaage auf die Welt gekommen? „Ich bin mir sicher.“, versicherte sie leise. „Fratz!“ Er umfasste zärtlich ihr Gesicht. In nächsten Augenblick bekam Fräulein Tutuk das absolut wundervollste Lächeln, und den süßesten Kuss ihres Lebens. Sobald die provisorische Verlobung besiegelt war, brach Pippas Neugierde mit aller Macht durch. Plötzlich wollte sie alles über ihn wissen. Nicht, dass das früher anders gewesen wäre, aber nun hatte sie endlich das Recht, ihn zu löchern. „Erzähl mir von Deinen Eltern.“, bat sie, eng an ihn gekuschelt. „Wie sind sie denn so?“ „Überaus liebevoll.“ „Und untereinander?“ „Auch. Fast noch mehr. Sie sind ... einander sehr zugetan.“ Seine Stimme hatte sich kaum merklich verändert, war irgendwie wärmer geworden. Fast schien es, als wäre das alles, was er zu diesem Thema zu sagen hätte. Doch Pineria täuschte sich. „Sehr!“, fügte er mit Nachdruck hinzu. „Hm. Hört sich fast an, wie bei meinen Eltern. Sie teilen sowohl emotional als auch intellektuell eine höhere Ebene miteinander.“ „Nun ... äh, ja.“ Lu Ten rieb sich die Nase. „Das klingt nicht besonders überzeugend.“, sagte Pippa mit schief gelegtem Kopf. „Na ja. Die Bindung zwischen meinen Eltern ist sehr stark. In jeder Hinsicht. Auch was die körperliche Komponente angeht.“ „Die körperliche? Wirklich? Immer noch?“ „Ja. Gäbe es nicht die wundersame Wirkung des Ombru-Saftes, hätte ich vermutlich viermal so viele Geschwister.“ „Ombru-Saft?“ „Ja.“ „Was ... ist das?“ „Ein Verhütungsmittel.“ „Was verhütet es denn?“ „Es verhütet die natürlichen Nebenwirkungen des Beischlafs. Ich dachte, Du wärst auf dem Gebiet der Biologie bewandert.“ „Oh!“, machte Pippa. „Das dacht ich auch. Wie wirkt er denn, dieser Saft? Hemmt er den Sexualtrieb?“ „Hemmen? Um Himmels Willen. Mein Vater würde das Zeug nicht anrühren, wenn es irgendetwas hemmen würde. Der Saft sorgt nur dafür, dass es zu keiner Befruchtung kommt.“ „Oh Verstehe. Wie viele Geschwister hast Du denn?“ „Vier. Zwei Brüder, zwei Schwestern.“ „Vier? Das muss schön sein.“ „Mhm. Manchmal etwas anstrengend.“ „Vermisst Du sie gar nicht?“ „Doch.“, gab er zu. „Jeden Tag.“ „Und wie sind sie so?“ „Meine Geschwister?“ „Ja.“ „So unterschiedlich, wie man nur sein kann. Die beiden jüngsten sind Zwillinge. Zirah ist ein Wildfang. Sie will meistens mit dem Kopf durch die Wand. Auch wenn gar keine da ist. Kiram ist ihr Gegenpol. Ruhig. Er beobachtet, zieht seine Schlüsse und tut dann, was er für richtig hält. Die Mittlere ist Aya. Sie ist die sanftmütigste von uns, hasst Streit und Auseinandersetzungen. Sie ist sehr begabt. Eine wahre Künstlerin.“ „Künstlerin? Was macht sie? Musik?“ „Ja, vor allem. Sie singt, spielt mehrere Instrumente. Aber sie tanzt auch, malt ganz wundervoll. Ansonsten ist sie eher zurückhaltend. Scheint in meiner Familie weit verbreitet zu sein.“, murmelte er. „Aber sie hat, außer meiner Mutter, mehr Herzenswärme, als irgend ein andrer Mensch den ich kenne. Dann wäre da noch Lee. Er ist nur ein gutes Jahr jünger als ich. Er ist der Idealist. Lee mag fast jeden und fast jeder mag Lee.“ Ein schmerzliches Lächeln huschte über seine Züge. „Also so ziemlich das Gegenteil von mir. Wenn Lee einen Raum betritt, kann man darauf wetten, dass sich mindestens die Hälfte aller Frauen Hals über Kopf in ihn verliebt.“ Und die andere Hälfte ist vermutlich schon ohnmächtig, wegen Dir, dachte Pippa. „Er ist ... charmant. Attraktiv. Geistreich. Alles was Frauen so gefällt.“ „Und Du? Was ist mit Dir?“, fragte Pippa leise. „Mit mir? Was soll mir mir sein? Ich bin ich. Der Älteste. Ich bemühe mich, meinen Aufgaben gerecht zu werden. Aber das tun die anderen auch.“ „Mit dem gleiche Erfolg?“ „Was?“ „Na ja. Dir gelingt doch alles. Du weisst alles. Du kannst alles. Und vermutlich erreichst Du auch Alles.“ „So siehst Du mich?“ „Sollte ich nicht?“ Er sah aus dem Fenster. „Keine Ahnung.“, murmelte er. „Auch bei mir läuft nicht alles unbedingt so, wie ich will.“ „Wie meinst Du das?“ „Manchmal ... bin ich allein.“ Es klang, als koste ihn dieses Geständnis viel Überwindung. „Ich tue etwas, das getan werden muss, und plötzlich sehen alle mich ganz merkwürdig an. Oder sie albern herum, und ich bemerke, dass ich den Witz gar nicht verstehe. Jeder in meiner Familie hat auf seine Art ein leidenschaftliches Temperament. Außer mir.“, schloss er kaum hörbar „Im Grunde bin ich nur ein Langweiler.“ „Ein Langweiler?“ Sie lachte ungläubig. „Du bist kein Langweiler! Nur weil man weiss was man tut, ist das noch lange nicht langweilig.“ Auch eine Sichtweise. Und gar nicht die schlechteste, wie Lu Ten fand. Nach diesem Abend forcierte Lu Ten, beflügelt durch Pippas Einwilligung, die Lösung seines zweiten Problems. Er wollte diesen Schwindel hier endlich aufgeben. Sich als Prinz zu outen gehörte zwar nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, aber Pineria anzulügen rangierte in dieser Rangliste NOCH weiter unten. Das Problem war - wieder einmal - Nemo. Solange ihm nicht das Handwerk gelegt worden war, konnte Lu Ten sein Inkognito nicht aufgeben. Wenn die Tutuks sich plötzlich seltsam verhielten, könnte Ran Verdacht schöpfen. Also musste er weg! Sich auffällig unauffällig zu benehmen und dabei eine kaum zu überbietende `ich-weiss-etwas-was-Du-nicht-weißt-Arroganz´ an den Tag zu legen fiel Seiner Hoheit nicht weiter schwer und schon bald hatte er, wohin er auch ging, einen neugierigen, kleinen Schnüffler im Schlepptau ... Perfekt! Drei Tage später Die Organisation hatte seit zwei Tagen nichts von Nemo Ran gehört. Man beschloss, ihm einen sehr erfahrenen, sehr gewitzten und sehr skrupellosen Agenten lauf den Hals zu hetzten, um ihn freundlich aber bestimmt nach dem jetzigen Stand der Dinge zu fragen. Zu Nemos Leidwesen gab es keinen wirklichen Stand der Dinge. Zu dem Zeitpunkt, an dem sein Kollege losgeschickt wurde, sass Nemo schon an einen Stuhl gefesselt in einem unzugänglichen Teil der weitläufigen Kellergewölbe von Schloss Tutuk. Nemo blinzelte ins grelle Licht. Der Schweiss brannte ihm in den Augen und seine Hände spürte er kaum noch. „Damit kommst Du nicht durch!“, stiess er aus. „Ach nein?“, kam die gelassene Antwort. „Wüsste nichts, was dagegen spricht.“ „Meine Leute werden kommen um nach mir zu suchen.“ „Oh, damit rechne ich ganz fest.“ Mist! Verdammter, arroganter Mistkerl! Diese Mission war SO wichtig und was tat er? Er war so blöd auf den ältesten aller Tricks hereinzufallen. Er hatte es vermasselt. Ganz klar. Mission „Pulverfass“ war gescheitert und Schuld war Nemo Ran. „Und Du denkst, Du wärst ihnen gewachsen?“, höhnte er mit dem Mut der Verzweiflung. „Du weisst nicht, mit wem Du Dich angelegt hast, SONG!“ Das letzte Wort spie er voll Verachtung aus. „Ich bin nur ein kleiner, unbedeutender Fisch, im Vergleich zu denen, die sie schicken werden. So was wie Dich vertilgen die samt Zopf.“ „Ich bebe.“ „Das solltest du auch! Verdammter Verräter!“ „Was?“ „Wie schafft es so was wie Du eigentlich, in den Spiegel zu schauen?“ „Ich benutze meine Retina, Du Cretin.“ „Solche Typen wie Du widern mich an!“ „Mir ist auch nicht grade danach, mit Dir zu knutschen.“ „Ja, DAS machst Du ja schon mit der gutgläubigen, alten Jungfer.“ Die goldenen Augen des Gegners, bisher kühl und distanziert, begannen zu glimmen. „Du solltest hier niemanden außer mir beleidigen. Sonst kann ich recht ungemütlich werden.“ „Ha! Wie sie auf Dich reinfallen konnte ...“ „SIE ist auf gar niemanden reingefallen! Thema beendet.“ Ein Knebel wurde unsanft in Nemos Mund geschoben. Nur für den Fall, dass doch jemand in diesen ungenutzten Teil des Kellers kam. „Ich werd euch mal allein lassen. Dich, die Dunkelheit und die Ratten. Vielleicht bringt Dich das dazu, etwas kooperativer zu werden.“, meinte Lu Ten, und überprüfte ein weiteres Mal die Fesseln. „Denn wenn Du mir sagst, wer Deine Auftraggeber sind, werd ich um einiges netter.“ Er ging zu einer schweren, verrostetet Tür. Sie protestierte quietschend, als man sie zwang, sich zu öffnen. „Solange wünsch ich viel Spass.“ Während Nemo also viel Spass hatte, ging Lu Ten das nächste Problem an. Seine kleine Falle musste erneut präpariert werden. Er rechnete spätestens Übermorgen mit „Besuch“. Der Mann mit der Einsatz-Nummer 034/807 bewegte sich der geschulten Lautlosigkeit und der Routine eines alten Hasen. Schnell und geschmeidig schlich er durch das Zimmer Nemo Rans. Wenn Ran etwas gefunden hatte, war das hier der richtige Ort, um Antworten zu bekommen. Vor dem Bett ging 034/807 in die Hocke. Dann registrierte er, einen dummen, aber folgenschweren Fehler begangen zu haben. Allerdings war es zu spät, diesen zu korrigieren, denn der kalte Stahl in seinem Nacken bewies zweifelsfrei, dass er erwischt worden war. Die Hoffnung, es könne sich bei dem Schwertträger vielleicht nur um seinen jungen Kollegen Ran handeln, erstarb im Keim, als eine leise, drohende Stimme erklang. „Umdrehen! Langsam!“ Der am Boden kniende stutzte. Diese Stimme. Er war sich nicht ganz sicher, aber ... „Bist Du schwerhörig?“ Dieses dunkle Grollen ... „Hoheit?“, fragte der Eindringlich zögerlich und kam sich aufgrund der Unwahrscheinlichkeit dieser Möglichkeit etwas albern vor. „Pan Ling?!?“ Die Stirn von Agent 034/807 presste sich ehrerbietigst auf den Boden. „Verzeiht! Ich wusste nicht ...“ „Was tust Du hier?“ „Einer unserer Agenten ist hier im Einsatz. Er hat sich nicht wie vereinbart gemeldet ...“ „Einer EURER Agenten?“ Da niemand ihn sehen konnte, gestattete Lu Ten sich ein kurzes, verwirrtes Stirnrunzeln. „Oh, erheb Dich endlich!“ „Sehr wohl. Eigentlich ist er noch kein richtiger Agent. Ein Anwärter, sozusagen. Aber vermutlich seid Ihr bereits im Bilde.“ „Äh, nicht wirklich. Ich bin eher zufällig hier.“ „Wirklich? Dann wisst Ihr wohl auch nichts über seinen Verbleib. Wie dumm! Der Junge war recht vielversprechend.“ Pan Ling hatte schon viele unerfahrene Burschen ausgebildet; inclusive aller anwesenden Thronfolger. Eine Leistung auf die der alte Haudegen zurecht stolz war. Der Kronprinz war wirklich der geborene Spion. Nur war seine Berufswahl leider schon vorbestimmt. „Hm. Doch.“, murmelte Lu Ten nun. „Vermutlich tue ich das. Folge mir.“ Nemo hörte die Schritte. Fieberhaft versuchte er seine Fesseln noch ein wenig weiter zu lösen. Gleich würde diese Song-Type ihr rotes Wunder erleben! Doch die Song-Type hatte mit nichts anderem gerechnet und Nemo Rans Ausflug ins Heldenfach wurde mit zwei schnellen Handgriffen abgewehrt. Er fand sich auf dem Boden kauern wieder, im Nacken eine erbarmungslose Hand. „Verdammter Bastard!“, keuchte er. „Oh, ich versichere Dir, meine Eltern sind so verheiratet, wie man nur sein kann!“ „Du schleimiger Grotten-Molch ...“ „Agent 941-A! Hüte Deine Zunge!“ „Pan ... Pan Ling?“ „Erfasst.“ „Ihr steckt mit ihm unter einer Decke?“, hauchte Nemo entsetzt. „Natürlich. Und Du ebenfalls.“ „Niemals!“ Pan seufzte. Diese jungen Hunde. Zu viel Heldenmut. Zu wenig Hirn. „Kadett Ran, es wird Dir zweifellos eine große Ehre sein, Lu Ten Aang Tatzu, Abkömmling des hohen Hauses Kairoku, Erbe des Drachenthrons, kennen zu lernen.“ „DAS hat er Euch weiß gemacht? Er ist ein mieser Verrä ...“ „NEMO! Ich kannte den Prinzen schon, als er noch in die Windeln gemacht hat.“ „Welch schmeichelhaftes Beispiel.“, murmelte Seine Hoheit. „Ihr meint ... er ... er.“ Nemo schluckte, blickte auf und begegnete einer gezückten Augenbraue und verschränkten Armen. „A ... aber. Das kann nicht ... Vergebt mir!“ Er warf sich auf den Boden und presste die Stirn auf die flachen Hände. „Wofür? Dafür, dass Du meinem Vater treu ergeben bist? Oder dafür, dass Du der Feuernation hilfst, den Frieden zu bewahren?“ „Ich ...“ „Steh auf, Kadett 941. Ich denke, das A können wir streichen.“ Das A stand für den noch nicht bestätigten Status eines Mitgliedes der `Organisation´. „Streichen? Aber ich habe versagt.“ „Versagt.“, schnaubte Ling. „Ich kann Dir eins versichern: man versagt nicht, wenn man gegen einen Tatzu den Kürzeren zieht. Du hast Dich wacker geschlagen. Und noch wichtiger: Du hast Mut und Treue bewiesen. Herzlichen Glückwunsch, von nun an bist Du Agent 034/941, Mitglied des Geheimdienstes Seiner königlichen Hoheit Zukos II. Prüfung bestanden.“ „Prüfung?“, fragte Lu Ten gedehnt. „Ja. Prüfung. Die erste Aufgabe für einen jungen Anwärter ist selbstverständlich ein gestelltes Szenario. Alles andere wäre unverantwortlich. Professor Tutuk hatte schon mehrmals die Güte, mit uns zusammen zu arbeiten. Zuletzt vor vier Jahren. Ich glaube, es ist das dritte Mal, dass diese Formel `sichergetellt´ wurde. „WAS?“, rief Nemo. „Aber ...“ Auf Lu Tens Gesicht hingegen, dämmerte ein langsames Lächeln. Ja, das hörte sich irgendwie ganz nach seinem alten Herren an. Nemo, seinerseits, redete sich in Rage. „Man hat mich hierherschickt, um ... um ... Also, das GLAUB ich ja jetzt nicht! Welcher hirnverbrannte ...“ „Scheint eine recht wortgewaltige Beleidigung meines Vaters zu werden.“, mutmaßte Lu Ten. „WAS? Nein! Ich ...“ „So lauschig dieses Plätzchen hier auch ist, so würde ich einen beheizten Raum und drei Schälchen Sake dennoch vorziehen.“ „Hört sich gut an.“, brummte Pan. „Ich nehm auch drei.“ „Nemo?“ „Wie? Äh ... ja. Wenn Ihr dies wünscht, Hoheit.“ „Und wie ich wünsche. Es scheint, als hätte ich einiges wettzumachen. Und nenn mich Lu Ten. Oder Grotten-Molch. Aber nicht Hoheit.“ Normalerweise gestattete sich der Kronprinz keinen Rausch. Aber hier, am Ende von Nirgendwo, um zwei Uhr Nachts konnte man sich Agni sei Dank in aller Gemütlichkeit volllaufen lassen und Pan Ling alte Anekdoten über den Herrn Papa aus der Nase ziehen. Dieses Material war ebenso geheim, wie amüsant und Nemo musste mehrmals daran erinnert werden, dass im Haus noch Leute schliefen. Als er anfing, zotige Lieder über Barmädchen zu intonieren, schüttelte Lu Ten sich vor Lachen aus und Pan sah sich genötigt, die beiden so gut es ging, in eine abgelegene Bibliothek zu bugsieren, um sie dort großzügig auf die bereitstehenden Sofas zu verteilen. Am Morgen danach standen die unvermeidlichen Kopfschmerzen auf dem Programm. Pineria traute ihren Augen nicht, als sie in die Küche kam, wo Lu Ten grade dem wachsbleichen Nemo wortlos eine dampfende Tasse vor die Nase stellte. „´anke.“ „Bitte.“ „Nemo? Wo WAREN Sie denn die letzten Tage?“, rief Pippa. „Ich ... äh ... Tante war krank. Und könnten Sie vielleicht ... leiser ...?“ „Krank? Geht´s ihr wieder gut? Warum haben Sie nicht Bescheid gegeben?“ „Das ganze ist meine Schuld.“, meldete sich Lu Ten und schlürfte ohne ein Anzeichen von schlechtem Gewissen seinen Tee. „Hab vergessen es auszurichten.“ „Vergessen?“ „Ja.“ Miss Tutuk warf ihrem Assistenten einen ungläubigen Blick zu. Er schien ebenfalls meilenweit von seiner sonstigen, tadellosen Verfassung entfernt zu sein. „Mit oder ohne Absicht?“, fragte sie süffisant. „Mit. Aber wir haben das bereits ausdiskutiert.“ „Ach tatsächlich?“ „Ja.“ Die Hintertür öffnete sich und ein Unbekannter betrat die Küche. „Morgen.“ „Mo ... Wer SIND Sie?“ „Ling. Pan Ling. Sehr erfreut, Fräulein Tutuk.“ „Äh ...“ „Is mein Onkel.“, nuschelte Nemo schnell in seinen Tee. „Ach? Der mit der kranken Frau?“ „Sicher.“, bestätigte der überzeugte Junggeselle Pan. „Hat schrecklichen Ausschlag, die Arme. Darum bin ich hier. Um nich auch noch die Krätze zu kriegen.“ Lu Ten räusperte sich vernehmlich. „Äh ... falls es keine Umstände macht.“, sagte Pan hastig. „Nein.“ So GANZ bekam Pippa ihr Stirnrunzeln nicht los. „Natürlich nicht. Das Haus ist groß genug. Herr Song?“ „Ja?“ „Ob ich Sie wohl kurz draußen sprechen könnte?“ „Sicher.“ An der frischen Luft wurde Lu Ten erst mal eindringlich gemustert. „Was ist hier los?“ „Wenn ich `Nichts.´ sage, komme ich damit durch?“ „Nein.“ „Dacht ich mir. Und wenn ich Dir versichere, es Dir später zu erklären?“ „Wenn ich `Nein.´ sage, komme ich damit durch?“ Langsam hatte sie es raus, ihrem gestrengen Verlobten sein spontanes Lächeln zu entlocken. „Nein, Fratz.“, seufzte er. „Dann muss ich wohl oder übel warten?“ „Nur bis heute Nachmittag. Dann ... Ich habe Dir etwas zu beichten.“ „Wirklich?“ Pippa blinzelte. „Ja.“ „Das klingt ernst.“ Er holte tief Luft. „Zumindest wichtig. Und wohl auch überraschend.“ „Hm. Fein.“, nickte Pippa. Aber in ihrer Magengegend brauchte sich Unheil zusammen. Überrascht wurden auch Lu Ten und Nemo, als sie eine Stunde später zusammen mit Pan das Büro des Professors betraten. Der alte Agent hatte auf diesen Besuch bestanden. Beo Tutuk blickte von seinem Schreibtisch auf, beäugte das Grüppchen über seine Brille hinweg und erhob sich dann. „Ah!“, rief er erfreut. „Mein lieber ... Wie war der Name doch gleich?“ „Ling. Pan Ling.“ „Ja. Richtig. Wundervoll! Dann war die Prüfung also schon?“ „Ja. Gestern Nacht.“ „Gut. Sehr gut! Ich bin sicher, der Junge hat glänzend abgeschnitten, waswas?“ Jovial schlug Pinerias Vater Lu Ten auf die Schulter und strahlte in die Runde. „Äh ...“, machte Pan. „Wie? Nicht bestanden?“, fragte Beo. „Ist aber ein brillanter junger Mensch. In der Tat brillant! Diese Pai-Cho-Taktik ...“ „Er ... er war aber nicht der Kandidat.“ „Ach nein?“ Der Professor blinzelte. „Dabei hielt ich den Witz für so gelungen.“ „Welchen Witz?“ Agent Ling versuchte, seine aufkeimende Verwirrung zu verbergen. Manchmal war es wirklich schwer diesem Akademiker-Volk zu folgen. „Na, dass er den Namen des Dings gewählt hat. Des Krondings. Lu Ten. Aber dann ist das wohl Ihr richtiger Name, waswas?“ „Ja.“, gab Lu Ten zu. „Na ja.“, räumte Beo gutmütig ein. „Sie können ja nichts dafür.“ Pan biss sich auf die Lippen, während Nemo einen heftigen Hustenanfall erlitt. „Nein. Dafür kann ich nichts.“, stimmte Lu Ten mit einem strengen Seitenblick auf die beiden Scherzkekse zu. „Aber es wäre angebracht, wenn ich unter vier Augen mit Ihnen sprechen könnte.“ „Ach? Wirklich? Worum geht es denn?“ Trotz der neugierigen Lauscher holte der hohe Herr auf Freiersfüssen tief Luft und sagte: „Es geht ... um Ihre Tochter.“ „Pineria? Haben wohl einen Narren an ihr gefressen, waswas? Ist mir schon aufgefallen. In der Tat schon aufgefallen.“ Lu Ten biss die Zähne zusammen. Wie sagte Onkel Iroh doch immer? Augen zu und durch! „Ziemlich.“, presste er hervor. „Gut! Bravo! Hatte schon Angst, es wäre nur wegen Ihres Auftrags. Das Schäkern. Aber der Auftrag war ja gar nicht Ihr Auftrag, wenn Sie verstehen.“ „Vollkommen.“ Auf inoffiziellen Wegen und dafür umso schneller verbreitete sich diese Nachricht nur Stunden später im Palast. Den Kronprinzen hatte es erwischt. Voll erwischt! Mit hochgezogener Braue wendete Seine Lordschaft sich um. „Könntest Du das bitte wiederholen, Tian?“ „Man munkelt, Prinz Lu Ten habe sich verliebt.“ „So? Munkelt man?“ „Ja.“ „Und warum erfahre ich davon erst jetzt, wenn MAN schon munkelt?“ „Das Gerücht ist brandneu! Ich bin sicher, sonst weiss es noch niemand.“ Dieser Niemand stiess die Tür auf und rannte, die höfische Etikette vollkommen ignorierend, in den Raum. „Zuko! Hast Du´s schon gehört?“ „Aber ja.“, sagte der Gatte Lady Jins gelassen und küsste ihr beruhigend die Stirn. „Und damit kommst Du nicht zu mir??“ „Wär ich ja noch.“ „Ach und wann?“ „Demnächst.“ „Demnächst? Zuko ... wie lange weisst Du davon?“ „Äh, lange genug. Schliesslich erfahre ich immer als erster, was vor sich geht. Tian,“, setzte er beiläufig hinzu. „dieser Husten klingt recht besorgniserregend. Könntest Du vielleicht VOR meinem Büro abkratzen, statt mittendrin?“ „Natürlich, oh Mitfühlender.“ Jin legte den Kopf schief und musterte ihr Eheanhängsel misstrauisch. „Du schwindelst ja.“, stellte sie dann fest. „Wer?“, fragte Zuko. „Ich?“ „Ja. Du reibst Dir die Nase ... Du HAST es gar nicht gewusst.“ „Doch! Hab ich.“ „Seit wann?“ „Seit ... eben.“ „So wie du gekuckt hast, hattest Du es erst in dem Moment erfahren, als ich reinkam.“ „Lächerlich.“ „HA! Ich hab´s vor Dir gewusst!“ „Kann man so nicht sagen.“ „Doch. Kann man!“, triumphierte Jin. Aber ihr Triumph bedeutete die Niederlage des Drachen. Also milderte sie ihn mit einem gesunden Schuss Anteilnahme, küsste Zuko auf die Wange und strich tröstend darüber. „Armer Schatz. Ist Deiner Allwissenheit tatsächlich mal etwas entgangen?“ „Gar nicht!“, brummte er. „Wie Du meinst.“ „Was soll das heissen, wie ich meine?“ „Nichts. Ich muss jetzt los. Es Sela erzählen und Tante Ria.“ „Ja. Tu was Du nicht lassen kannst.“ „Gut.“ Jin wuselte zur Tür. Dort angekommen fiel ihr Blick auf ein unangetastetes Tablett mit abgestandenem Essen. „Du hast ja Dein Essen gar nicht angerührt!“ „Ich war beschäftigt.“ „Oh! Beschäftigt? Aber ans Atmen denkst Du noch, oder?“ Er verdrehte die Augen. „Zuko!“ „Ja doch!“ „Ich werd was bringen lassen. Und das ISST Du dann auch bitte.“ „Ja.“ „Heiss! Oder zumindest warm!“ „Ja!“ „Gut! Ich werd nachsehn!“ „Ich ess ja was! Nur war ich eben VORHER zu beschäftigt.“ „Verstehe. Ab morgen keine einsamen Mahlzeiten mehr aufs Arbeitszimmer!“ „Aber ...“ „Keine Diskussion! Und ... Zuko?“ „Ja, mein Herz?“ „Ich hab´s vor Dir gewusst!“ Ihr Kobold-Kichern, das durch die hastig geschlossene Tür drang liess Zuko kläglich grinsen. Verdammt! Sie hatte es doch tatsächlich vor ihm gewusst. Was beide zu wissen glaubten, war tragischerweise nur die halbe Wahrheit. Ja, ihr Sohn hatte eine Frau gefunden, aber sein Schicksal würde sich verworrene Pfade suchen, an deren Ende eine Zwangs-Ehe stand. Und Lu Ten würde - wie immer - seinem Land dienen und seine Pflicht tun. Kapitel 19: Ein Herren-Quartett auf großer Fahrt. ------------------------------------------------- Seit einer guten viertel Stunde tigerte Lu Ten in Pinerias Arbeitszimmer auf und ab. Er war derart unter Spannung, dass er das heiteren Chaos, das ihn umgab, nicht einmal mit Missachtung strafte. Staub und Unordnung waren ihm heute schlichtweg egal. Ein Umstand, der seine Brüder mit Sicherheit dazu veranlasst hätte, einen Arzt zu rufen. Aber Seine Hoheit hatte andere Sorgen. GANZ andere Sorgen. Als die Tür sich öffnete fuhr er herum und starrte dem Kommenden misstrauisch entgegen. Pippa legte den Kopf schief und blinzelte ihn an. „Entschuldigung!“, sagte sie angesichts seiner Mine spontan. Zu spät fiel ihr ein, dass es als völlig normal angesehen wurde, das eigene Arbeitszimmer zu betreten. „Ähm. Ja. Natürlich. Ich ... habe auf Dich gewartet.“ „Ist es denn schon Drei Uhr?“ „Nein.“ „Oh. Gut.“ „Ja.“ Pippas ungutes Gefühl vom Vormittag verstärkte sich. Vergeblich versuchte sie seine angespannten Gesichtszüge zu deuten. Irgendetwas plagte ihn. „Ich sagte Dir ja bereits, ich hätte etwas zu beichten.“ „Ja.“ Zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte sah er ihr in die Augen. Dann holte er tief Luft und zwang die zurechtgelegten Worte über seine Lippen. „Als ich Dich gebeten habe, den Rest Deines Lebens mit mir zu verbringen, war ich nicht besonders fair.“ Oh mein Gott! Er wollte einen Rückzieher machen! Sie hatte es ja gleich gewusst. Der sachliche Herr Song war endlich wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Doch als er weitersprach schien es fast so, als sei das Problem ein anderes. „Ich habe Verpflichtungen, Pineria. Schwerwiegende. Ich kann nicht einfach so leben, wie ich es mir passt. Menschen hängen von mir ab. Viele Menschen. Mein Leben ist anders, als ...“ Er machte eine beinahe hilflose Geste mit der Hand. „Als das hier.“ „Ich ... verstehe nicht. Ich dachte, Du bist auch Wissenschaftler.“ „Es ... ist eher ein Hobby von mir.“ „Hobby? Dich als Wissenschaftler auszugeben?“ Pinerias Stimme war mit jedem Wort ungläubiger geworden. „Nein. Die Wissenschaft ist ein Hobby.“ „Aha. Und was bist Du dann?“ „Die Frage ist nicht, was ich bin, sondern wer.“ „Wer?“ Pippas banges Gefühl nahm überhand. Das alles klang so gewichtig und endgültig. „Was heisst das?“ Lun Ten schloss die Augen und holte tief Luft. Es war an der Zeit. „Wie Du weißt, bin ich auf Anweisung deines Onkels hier.“ „Ja.“ „Meine Familie schuldete ihm ... einen Gefallen.“ „Ja?“ „Die Bedingungen Deines Onkels beinhalteten leider, dass ich hier unter falschem Namen auftauchen musste.“ „Wieso sollte er ...?“ „Als ich erkannt habe, wie es um mich steht - um uns - hätte ich Dich aufgeklärt. Aber es hätte Nemo alarmieren können. Und da ich ihn des Hochverrats verdächtigte ...“ „Hochverrat?“ „Ja. Es stellte sich als Irrtum heraus. Er arbeitet für die Regierung.“ „Gute Güte!“, stammelte Pippa, der schon seit zwei Minuten der Kopf rauchte. „Genauer gesagt ... arbeitet er für meinen Vater.“ „V ... Vater. Aha.“ Vielleicht wurde es Zeit, stutzig zu werden? „Und inkognito.“, murmelte Miss Tutuk. „Warum inkognito?“ Sie holte erschrocken Luft. „Ist Dein Vater ein wichtiger Regierungsbeamter?“ „Das ... könnte man so sagen.“ „Ach Du meine ... Also gut.“ Sie straffte sich. „WER ist Dein Vater?“ Bei `Minister´, `Kanzler´ oder `Konsul´ würde sich einen Anfall sicher nicht verhindern lassen. „Zuko Tatzu.“ Sie bekam keinen Anfall. Leider. „Was?“, hauchte sie stattdessen. „Zuko.“, wiederholte Lu Ten leise. „Der Zweite.“ „D ... der Feuerlord?“ Das war ein Scherz, oder? „Ich heiße leider nicht nur wie der Kronprinz, ich ... bin es.“ Es MUSSTE ein Scherz sein! Aber er war nicht lustig. Ganz und gar nicht! „Nein!“, jammerte Pippa. „Oh nein!“ „Fratz ...“ Sie sank auf den nächstbesten Stuhl. „Ich WOLLTE es ja sagen, aber ...“ 
„Nemo.“ „Ja.“ Lu Ten begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Sie saß einfach nur auf diesem Stuhl, blass wie ein Leintuch, und starrte ins Leere. „Das alles ändert nichts an der Tatsache, dass ich Dich liebe.“, sagte er ruhig. Sie nickte schwach. „Pipps? Sag doch was.“ Ihre Augen glitten ziellos durch den Raum, bis sie sein Gesicht fanden. Sie waren entsetzt und traurig. „Ich kann das nicht!“ Ihre Stimme bebte. „WAS? Aber natürlich kannst Du!“ „Wir würden am Hof leben müssen.“ „Ja.“, Er nahm ihre Hände und wärmte sie zwischen seinen. „Aber es ist schön dort. Massenhaft Platz für ein Labor. Und unsere Bibliotheken sind sogar noch größer als eure. Es wird Dir gefallen!“ „Sie werden mich anstarren!“ „Unsinn. Niemand wird Dich anstarren. Ich werde bei Dir sein.“ „Nein. Du ... Du verstehst das nicht! Die ... die Leute halten mich für wunderlich. Für verrückt. Hier kann ich das aushalten, weil es nicht so viele Menschen gibt, aber ...“ „Niemand wird dich für verrückt halten. Niemand! Am Hof gibt es dutzende von Wissenschaftlern und Philosophen. Wir sind andersartige Denkweisen gewöhnt.“ „Aber ... da sind tausende von Menschen. Und sie WERDEN mich anstarren! Und auslachen!“ „Pippa. Niemand wird es wagen Dir auch nur einen schiefen Blick zuzuwerfen. Und von auslachen kann gar keine Rede sein. Sieh mich an, Fratz!“ Sie tat es. Und selbst durch den dichten Tränenschleier war er ... perfekt. Oh ja, sie würden sie anstarren. Sich hinter ihrem Rücken über sie lustig machen. `Brillenschlange, Hinkebein. Spielst mit Käfern ganz allein!´ Und DANN würden sie sich fragen, was zum Teufel den Sohn Zukos II geritten hatte, ausgerechnet eine humpelnde Bekloppte zu erwählen. Und irgendwann würde Lu Ten selbst Ziel der Tuscheleien und des Spotts sein. Ihr Lu Ten, der immer so bedacht darauf war, alles richtig zu machen. Ihr Lu Ten, für den Perfektion beinahe eine Selbstverständlichkeit darstellte. Ihr zurückhaltender, aufrichtiger, kluger Lu Ten, der es sein Leben lang geschafft hatte, allen Erwartungen gerecht zu werden. Er war es nicht gewohnt, die Menschen zu enttäuschen. Er war es nicht gewohnt, seinen Vater zu enttäuschen. Und nun war er im Begriff, genau das zu tun. Sie konnte ihm das nicht antun! Der Gedanke, man würde sich letztendlich über IHN das Maul zerreissen, war schrecklicher als alles andere. „Ich kann das nicht.“, flüsterte tonlos. „Pineria ...“ „ICH KANNS NICHT!“ Die Panik in ihrer Stimme entsetzte Lu Ten. So hatte er sie bisher nur ein mal erlebt. Während des ersten Gewitters. Er war im Begriff, sie ihren größten Ängsten auszusetzen. Menschenmassen. Aufmerksamkeit. Er hätte alles gegeben, das Waldkäuzchen an seiner Seite zu halten. Selbst den Thron, wenn er gekonnt hätte. Aber ihre Flügel zu stutzen ... Dazu war er nicht bereit. Nicht, wenn ihre Freiheit das war, was sie brauchte. Pippa starrte in sein Gesicht. `Sag mir, dass ich Unrecht habe!´, betete sie. `Sag mir, dass das alles Unsinn ist. Dass ich dort leben kann, Dass sich für Dich nichts verändern wird. Sag´s mir doch!´ `Sag mir, dass alles unwichtig ist, solange Du da bist!´ Doch Lu Ten senkte nur den Blick. „Es ... tut mir leid.“, brachte er heraus. „Wenn ich die Verantwortung für das Land abgeben könnte, würde ich es tun. Ich ... ich hatte gedacht, Du könntest bei uns glücklich sein. Bei mir.“ Noch mehr Tränen rannen über Pippas Gesicht. Warum redete er ihr die dummen Bedenken denn nicht aus? Warum schrie er sie nicht an, oder ... oder befahl ihr zur Vernunft zu kommen? Warum nur sah er so unendlich traurig aus? „Ich wollte Dir nicht weh tun. Niemals.“, sagte er rau. „Ich hätte dich ... in Ruhe lassen sollen. Ich hoffe, Du kannst mir irgendwann verzeihen.“ Damit wandte er sich ab und verliess den Raum. Er blickte nicht zurück. Auch nicht, als er abreiste. Feuerpalast, fünf Wochen später Es war die vierte Vase, die an diesem Tag zu Buch ging. Und es war die vierte, die auf Nihas Konto ging. Fassungslos stand sie vor der erneuten Bescherung. DAS waren die teuersten Scherben, die sie in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekommen hatte. Bestimmt Truong Dynastie, oder so. „Oh nein! Oh mein Gott!“ „Schon gut, Mistress. Ich werde sofort einen Diener rufen.“ Das Angebot stieß leider auf taube Ohren. Mistress Niha hatte sich nämlich schon gebückt. Die heutige Tollpatschigkeit hätte sie eigentlich eines besseren belehren sollen, so aber taten das die messerscharfen Scherben. „AUTSCH!“ „Mistress! Nicht doch. Das müsst Ihr nicht tun!“ „Aber ich WILL es tun!“ „Ihr blutet. Ich werde einen Arzt ...“ „Ach! Das bisschen Blut.“, schniefte Niha unwillig. „Es ... äh ... tropft auf den Teppich.“ „Ist der etwa auch ...?“ „Antik? Ja.“ „Sehr?“ „Ja.“ „Oh nein!“ Verzweifelt umklammerte Niha die verletzten Finger, doch ihr Blut hatten dem filigranen Muster des Läufers bereits diverse Farbkleckse hinzugefügt. Sie hatte Lust zu heulen! Eigentlich hatte sie mehr als nur Lust dazu. Sie tat es. „Mistress? Setzt Euch hier hin. Ich hole sofort den Arzt.“ „Nein. Ich w ... will keinen Arzt! Ich will Sch ... Schweine!“ „Ihr habt Hunger?“ „NEIN!“, plärrte die Momentane UND Zukünftige von Prinz Lee. Die SEHR zukünftige. Und genau da lag das Problem. Übermorgen würden Lee und sie die Flammenzeremonie vollziehen. Vor da an wäre sie in den Augen der gesamten Feuernation die Frau von Prinz Charming. Es war einfach zu früh! Sie musste das mit dem ganzen antiken Kram und kostbaren Firlefanz in den Griff bekommen. Bis übermorgen! „Pria?“ „Mylord!“ Auch DAS noch! „Gibt es ein Problem?“ „Ich ... weiss nicht so genau, Hoheit.“ Im hastigen Bemühen, die Spuren ihrer Tränen zu vernichten, wischte Niha sich Blut übers Gesicht. Na ja. Wenigstens lenkte das von den roten Augen ab. „Schon gut, Pria. Ich kümmere mich um meine Schwiegertochter.“ „Wie Ihr wünscht.“ Am liebsten hätte Niha sich an den weiten Ärmel der Hofdame geklammert, doch die verneigte sich grazil und ward nicht mehr gesehen. Es war das erste Mal, dass die kleine Niha Koro, nein Tatzu, mutterseelenallein mit dem Feuerlord war. Sie schluckte. „Das mit den Vasen ...“ „Vasen? Welche denn? Es gibt hier so schrecklich viele.“, sagte Zuko der Sparsame leichthin. „U ... und der Teppich?“ „Durchgelaufen.“ Ein Laut zwischen Lachen und Schluchzen entwich Niha. Als ein Taschentuch in ihr Gesichtsfeld baumelte, griff sie dankbar danach. „Könnte es sein, dass der Zustand meiner Vasen und Teppiche mit der bevorstehenden Zeremonie zu tun hat?“ „Ja.“, hickste Niha. „Hm. Aber de facto seid ihr bereits verheiratet.“ „Ja. Aber ... aber nur amtlich. Nicht SO. Ich meine ... nicht so ... öffentlich und pompös. Bis jetzt konnte ich mir einbilden, diese Ehe sei normal.“ „Normal? Mit Lee?“ Damit erntete er ein weiteres, wackliges Lachen. „Oh, er ist ... ganz wundervoll. Ein wahrer Mustergatte.“ „Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Aber Scherz beiseite. Eure Ehe, Niha, IST normal. Normal, besonders und absolut legal.“ „Vielleicht gewöhn ich mich ja an die ganzen Vasen.“, flüsterte sie leise. „Hm.“, brummte Zuko. „Begleite mich ein Stück.“ Ein paar Gänge weiter öffnete er die Tür zu einer Bibliothek. In dem einladenden Raum roch es nach Leder, Holzpolitur, Kaminfeuern und altem Papier. Die perfekte Drachenhöhle. „Komm! Ich möchte Dir etwas zeigen.“ Schnurstracks ging Seine Lordschaft zu einer kleinen, verglasten Vitrine und holte ein schlichtes Ebenholzkästchen heraus. Dessen einziger Schmuck war ein Paar herrlicher Phönixe aus kostbarem Goldlack. Langsam und bedacht hob Zuko den Deckel. Auf roten Samt lag schimmernde, irisierende Seide. Er nahm den Stoff und breitete ihn vorsichtig aus. Das Gespinnst war nicht breiter als sein Handteller, maß in der Länge aber über zwei Meter. Zwei elegante Drachen waren in die dicke Seide gewoben. Einer grün, einer rot. Niha holte tief Luft. „Das ist wunderhübsch!“ „Ja, nicht wahr?“, lächelte Zuko. „Aber weißt Du auch, was es ist?“ „Vielleicht ein antiker Gebetsschal?“ „Nein. Es handelt sich um eine Schärpe. So alt ist sie noch nicht.“ Fast ehrfürchtig strich er mit den Fingerspitzen über den Stoff. „Es ist das Geschenk einer kleinen Weberin an ihren Bräutigam.“ Niha blickte auf. Meinte er etwa ... „Dieses Mädchen besass noch weniger als Du, Niha. Ihr gehörten ein paar abgetragene Kleider, eine Katze und das Herz eines zwielichtigen Individuums. Und doch gibt auf dieser Welt kein materielles Gut, das mir kostbarer wäre, als dieses Stück Stoff. Ich mag zwar der Feuerlord sein, aber wenn die Türen unserer Gemächer sich schliessen, sind wir Jin und Zuko. Es wäre mir Recht, wenn Du uns in diesem Licht sehen könntest.“ Er blickte sie forschend an und nicht zum ersten mal bemerkte Niha, dass dieses helle, durchdringende Gold das gleiche war, das die Augen ihres Lee zum funkeln brachte. Noch viel mehr, als er der Herrscher des Landes war, war er der Vater von fünf Kindern. Dieser Mann hatte ihren Gatten in den Schlaf gesungen, ihm Geschichten vorgelesen, seine Tränen getrocknet, nächtelang an seinem Krankenbett gewacht und ihn den Unterschied zwischen Recht und Unrecht gelehrt. Ihn ermahnt, ermutigt und zu einem aufrichtigen, selbstbewussten Menschen erzogen, der mit beiden Beinen fest im Leben stand. Dies hier war der über alles geliebte Papa ihres Lee. „Das tu ich.“, sagte sie leise. „Gut!“ Langsam faltete er die Drachenschärpe wieder zusammen und verstaute sie umsichtig. „Dann wirst Du Dich auch darauf freuen, morgen endgültig unsere Schwiegertochter zu werden, nicht wahr?“ „Ja.“ „Er liebt Dich Niha. Und in diesem Leben wird er damit nicht wieder aufhören, also solltest Du Dich daran gewöhnen.“ „Ich ... ich denke, das schaff ich.“ „Gut! Sehr gut!“ Er lächelte. Plötzlich war sich Niha sicher: bis in ein paar Jahren würde sie Zuko II ebenso lieben, wie seine Kinder es taten. Doch sie täuschte sich. So lange brauchte sie nicht. Feuerpalast, zwei weitere Monate später Zuko betrachtete seinen Erstgeborenen. Das tat er nun schon seit geschlagenen fünf Minuten. Ohne bemerkt zu werden. Bemerkenswert! „Weißt Du, man könnte wirklich glauben, Du legst es darauf an, mir den Thron unterm Hintern wegzuackern.“ Lu Ten blickte irritiert auf und runzelte die Stirn. Also kein Unterschied zu seinem vorangegangenen Gesichtsausdruck. „Unsinn!“, brachte er hervor. „Es gibt nur viel zu tun. Zuko hob die Braue. „Sicher.“, stimmte er nachdenklich zu und wechselte einen kurzen Blick mit Tian Fu. „Wie immer.“ „Eben.“ Nachdem er umständlich etwas von `Organisation alter Steuerakten´ gemurmelt hatte verliess der Kronprinz schliesslich den Raum und Seine Lordschaft wendete sich an seinen Freund und Helfer. „Tian?“ „Hoheit?“ „Ich mag mich irren, denn zugegebenermassen bin ich wenn es um meine Bälger geht wenig objektiv ... aber war ursprünglich nicht auch dieses Kind mit so etwas wie Humor gesegnet?“ „Äh ... eigentlich ja. Wenn auch einen schwer nachvollziehbaren. Irgendwas scheint mit ihm nicht zu stimmen.“ „Tian?“ „Ja?“, seufzte der Konsul, der diesen Tonfall nur allzu gut kannte. „Du bist wirklich ein Blitzmerker. Darauf wäre ich selbst nie gekommen.“ „Na ja, vielleicht schneidet die Hono die Blutzufuhr zum Hirn ab.“ Zuko entwich ein Lachen. „Fein. Ich denke zehn Peitschenhiebe dürften für diese Frechheit genügen, oder?“ „Ich schreib´s auf die Liste.“ „Ja. Und wir werden eine kleine Reise unternehmen. Ich fürchte, Lu Tens Zustand hängt mit meiner Strafaktion zusammen. Und ich HASSE es, ein schlechtes Gewissen zu haben.“ „Oder Unrecht.“ „Mach zwanzig draus.“ „Ja, oh Schlagwütiger.“ Eine halbe Stunde später bemerkte Jin eine gewisse Unruhe im Websaal. Als sie aufblickte, sah sie den Grund. „Zuko? Was tust Du denn hier?“ „Allem Anschein nach stören.“ „Unsinn! Ich bin nur nicht gewohnt, Dich um diese Uhrzeit in freier Wildbahn zu sehen." Bevor ihr Gatte auf die Idee kam, wieder zu gehen, schnappte Mylady ihm am Ärmel, zog ihn in ihr kleines, verglastes Atelier und drückte angesichts der vielen neugierigen Blicke einen wirklich nur sehr kurzen Kuss auf seine Lippen. „Also, mein Gebieter, was führt Dich her?“ „Vielleicht wollte ich mich nur ein bisschen umsehen.“ „Mhm. Und meine Frauen wuschig machen?“ „Bitte? Ich mache doch niemanden wuschig ... Was auch immer das ist.“ „Machst Du wohl. Aber Du kannst ja nichts dafür.“ „Nun, um ehrlich zu sein, habe ich einen Grund für mein Kommen.“ „Was Du nicht sagst.“ Zuko liess sich auf der Kante von Myladys kostbarem Schreibtisch nieder und drehte geistesabwesend eine Schreibfeder zwischen den Fingern. „Es geht um unser Lu Ten-Problem.“ Sofort wurde Jin ernst. „Ja?“ „Ich denke, wir haben jetzt lange genug gewartet. Er scheint sich von alleine nicht wieder einzukriegen.“ „Nein.“, meinte Jin bekümmert und setzte sich neben ihn. „Er wird nur von Tag zu Tag verschlossener.“ „Ich werde mir das Mädchen ansehen. Es muss einen Grund geben, warum aus dieser Sache nichts geworden ist.“ „Ich kann sie nicht leiden!“ „Das weißt Du doch noch gar nicht!“ „Doch!“, stiess Jin aus. „Sie macht mein Kind unglücklich.“ „Kobold.“, seufzte er. „So gesehen hätte Deine Tante mich davonjagen müssen.“ „Wollte sie ja auch. Aber dann hast Du all ihre Klöße gefuttert, und sie brachte es nicht mehr übers Herz.“ „Ah. Die Klöße! Wann ist wieder Kloß-Tag?“ Jin nahm seine Linke und verknotete ihre Finger mit seinen. „Dienstag in einer Woche.“ „Schön. Und jetzt versprich mir, dass Du dem Mädchen eine Chance gibst.“ „Natürlich tu ich das. Ich werd´s wohl müssen.“ „Jin ...“ „Ja. Ich versprech´s!“ „Gut. Dann geh ich mal den Kriegsrat einberufen, um einen Schlachtplan zu schmieden.“ „Endlich!“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Viel Spass, Drache.“ Der `Kriegsrat´ beinhaltete alle männlichen Tatzus (exklusive des Thronfolgers), Tian Fu und Fon. „Wo ist Lu Ten?“, fragte Kiram und schnappte sich einen Pfirsich aus der großen Ostschale. Er war erst vor zwei Tagen von seinem achtwöchigen Besuch am Hofe Ba Sing Ses zurückgekehrt, und genoss es sichtlich, wieder ordentlich herumlümmeln zu dürfen. „Abwesend, da er der Grund dieser Veranstaltung ist.“ „Endlich unternimmst Du was.“, seufzte Lee. „Was, unternehmen?“ Kiram sah von einem zum anderen. „Zum Beispiel werde ich gegen einen meiner Grundsätze verstoßen und eines meiner Kinder zu etwas zwingen müssen.“ „Hä?“, machte Kiram. „Das ich DAS noch erlebe!“, strahlte Iroh. Sie wurden beide ignoriert. „Der Plan ist folgender: Lee und Kiram gehen nach Kioshi und benehmen sich daneben.“ „Aus dem Alter bin ich seit drei Monaten, zwei Wochen und vier Tagen raus!“, protestierte Lee zurecht. „Dann benimmt sich eben nur Kiram daneben. Und zwar so sehr, dass DU ihn nicht zur Vernunft bringen kannst.“ „Verstehe! Dazu brauchen wir dann natürlich den Streber.“ „Lee!“ „Schon gut. Lu Ten eben.“ „Hä?“ „Sag mal Kiram ...“ Lee klang süffisant. „Hast Du heute Deinen Tee noch nicht gehabt?“ „Was? Also ... da ist man mal ne Weile nicht da, und schon spielt ihr alle verrückt! Geht´s vielleicht darum, dass Lu Ten gestern so seltsam war?“ „Das ist er leider seit drei Monaten.“, klärte Zuko seinen Jüngsten auf. „Was, echt?“ „Ja!“, erschallte die fünfstimmige Antwort. „Hm. Steckt bestimmt ne Frau dahinter.“ Kiram war in dem Alter, indem man als Kerl entdeckt, dass hinter den meisten Dingen eine Frau steckt. „Was hat König Nuro Dir eigentlich ins Essen gekippt?“, wollte Lee wissen. „Wenn, dann war´s seine Tochter. Die steht auf mich.“ „Könntet ihr beiden BITTE beim Thema bleiben?“ „Ja doch.“ „Gut. Dann wäre das geklärt. Ihr zwei lockt Lu Ten nach Kioshi, während wir vier alle Vorbereitungen für eine Hochzeit treffen. Inclusive des Beschaffens der Braut. An die Arbeit!“ „Ah. Das erinnert mich an früher, was Fon?“, schwärmte Iroh. „Mhm.“, brummte der alte Kämmerer. „Waren tolle Zeiten damals, als wir Mylady aufgerissen haben.“ Kiram spuckte seinen Pfirsichkern quer durchs Zimmer, während Lee sich an einem Ingwer-Keks verschluckte. „Vielleicht,“, merkte Zuko der Erhabene spitz an. „gehen wir alle schon mal packen. Und zwar BEVOR ich mich daran erinnere, das gewisse Individuen es dereinst für nötig hielten, meine Zukünftige zu betäuben.“ „Oh je. Der Junge ist immer noch so nachtragend wie früher.“ „Das war Deine Erziehung, Hoheit!“ Draußen holte Kiram seinen älteren Bruder ein. „War Lu wirklich die ganze Zeit so?“ „Ja. Seit er zurück ist.“ Lee blieb ungewohnt ernst. „Ich hab alles versucht, ihn aus der Reserve zu locken. Nichts! Er arbeitet nur wie ein Besessener.“ „Meine Güte. Ich war wohl zu lange weg.“ „Ja. Man kann nur hoffen, das Mädel ist all den Kummer auch wert.“ „Glaubst Du nicht?“ „Na ja ... immerhin ist sie dumm genug, ihn nicht zu wollen. Und wenn wir mal ganz ehrlich sind, ist er schon verdammt perfekt. Bei guter Pflege entwickelt er sogar Humor.“ „Ja. Perfekt. Und wir müssen versuchen mitzuhalten.“, seufzte Kiram. „Ph! Streber!“ „Selber!“ Schloss Tutuk Mimmis Zustand als trostlos zu bezeichnen wäre untertrieben gewesen. Sie benahm sich buchstäblich, wie ein geprügelter Hund. Weder Leckerlies, noch Stöckchen werfen konnten daran etwas ändern. Also gab Pippa es auf. Sie saß sowieso lieber in ihrem Arbeitszimmer und starrte Ewigkeiten auf ein und dieselbe Seite eines Buches. Dann merkte sie nicht, wie es draußen zu dämmern begann, oder wie die Kälte ins Zimmer kroch. Es war nett, wenn Eri den Raum betrat, um Feuer zu machen. Denn dann konnte man statt der Buchseite die Flammen anstarren. Schlimm - so wirklich schlimm - waren die Gewitter. Früher hatten sie sie in Angst und Schrecken versetzt. Heute ... brachten sie sie nur zum Weinen. Da half kein Keller, in dem man sich verkriechen konnte. Nein, sie hatte keine Angst mehr vor Unwettern, sondern die reine Panik. Sie hielten ihr das vor Augen, was sie nicht haben konnte. Und die Sehnsucht danach wuchs ins Unerträgliche. Manchmal war diese Sehnsucht so groß, dass sie kurz davor war einen Brief in den Palast zu schicken. Doch sie landeten alle im Papierkorb. Zerknüllt und tränenverschmiert. Genauso fühlte sich auch ihr Innerstes an. Das war gestern so gewesen. Heute. Und so würde es auch morgen sein. Morgen Das Herrenhaus der Tutuks lag in völliger Ahnungslosigkeit und Unschuld zwischen den Hecken und Büschen des weitläufigen Parks. Elegante Nebelschleier machten sich widerstrebend vom Acker, um den kräftiger werdenden Sonnenstrahlen Platz zu machen, als lautes Pochen an der Tür die andächtige Ruhe störte. Eri wuselte aus der Küche. Dass die Leute auch immer dann kommen mussten, wenn sie bis zum Ellbogen in irgendeinem Teig steckte. „Ja?“, fragte sie dann auch eher ungnädig. „Guten Tag.“ „Wir kaufen nichts! Außer es handelt sich um spektakuläre Neuerungen auf dem Gebiet der Mechanik oder Physik.“, leierte sie lieblos den Satz herunter, den der Professor ihr eingebleut hatte. „Ach ...“ „Wenn Sie ein anderes Anliegen haben, muss ich Sie zum Hintereingang bitten.“ Der große Kerl mit der Kapuze über dem Schädel holte tief Luft. Doch bevor er loswerden konnte, was auch immer ihm auf der Zunge lag, schnappte der kleinste und dickste des seltsamen, vierköpfigen Trupps ihn am Ellbogen. „Wundervoll. Hintereingang. Alles bestens.“ „Onkel ...“ „Was denn? Die Dame hat uns zum Hintereingang gebeten. Also beweg Dich, Junge!“ Der Dünnste, einer mit einer ziemlich spitzen Nase, holte erschrocken Luft. „Vielleicht sollten wir ...“ „Still, Tian! Du verdirbst den ganzen Spass!“ „Spass?“, fragte Eri misstrauisch. „Hört mal, ich hab nich den ganzen Tag Zeit. Und die Herrschaften nich mal den halben. Warum macht ihr eure Spässe nich einfach anderswo?“ „Weil wir,“, grollte der Große jetzt. „Den Professor zu sprechen wünschen.“ „Ja. Das wollen viele.“ Mit diesen Worten wurde das große Portal wieder ... geschlossen. Zuko blinzelte ungläubig das nur drei Zentimeter von seiner Nase entfernt materialisierte Holz an. Dann drehte er auf dem Absatz um und begann das Haus zu umrunden. Nicht, ohne vorher noch Iroh anzufunkeln. „Danke, ONKEL!“ „Nichts zu danken, mein Junge. Hatten lange nicht mehr so viel Spass, was Fon?“ „Tian? WARUM wollte ich die beiden noch mal dabeihaben?“ „Ich glaube Du hast etwas von `dann kann ich sie im Auge behalten´ gesagt.“ Da Sonntag war, griff Tian auf das „Du“ zurück, das Zuko ihm vor über 20 Jahren mühsam abgetrotzt hatte. „Jaja.“, kicherte der General. „Paranoia gehört doch zu den zuverlässigsten Motivationen.“ „Paranoia?“, fragte sein Neffe. „Seid wann basiert eine Paranoia auf Fakten?“ „Wie KANN man nur so kleinlich sein? Diese Statistik über zerbrochenes Porzellan und all den Kram sagt an sich noch GAR nichts aus.“ „Eine Rechnung über 14653 Jy sagt nichts aus?“ „Es war nur ein Haufen altes Geschirr!“ „Es war ANTIK!“ „Aber die Kinder hatten ihren Spass.“ „Ich denke eher, IHR hattet euren Spass, Onkel.“ „Das auch.“, räumte Iroh gut gelaunt ein. Als diese vier Kasper auch noch die Hintertür tyrannisierten, platzte Eri der Kragen. „Jetzt hab ich aber genug! Wenn mein Reng kein Suppengemüse aus euch machen soll, dannäh ... äääh ... Oh!“ Der Große hatte die Kapuze zurückgeschlagen. Neben dem arroganten Zinken, den er im Gesicht hatte, prangte eine verdammt große, verdammt markante Brandnarbe. „Ich denke, wir hatten schon das Vergnügen.“, schnarrte er von Oben herab. Angesichts seiner vertikal ausgeprägten Dimensionen kein Kunstwerk! „Äh ...“ „Das auch. Also nochmal: WIR würden gerne mit Professor Tutuk sprechen, falls seine, und auch DEINE Zeit es erlaubt.“ Eri schluckte. „`türlich.“, hauchte sie. „Ich ... ich hol ihn sofort. Aber ... Sie ... Ihr ... das mit der Hintertür war nicht so gemeint!“ „Will sie jetzt, dass wir noch ne Runde ums Haus traben?“, flüsterte Fon lautstark. „Hast Du etwas nicht die guten Schuhe an?“, fragte Iroh interessiert. „Na Du weisst doch ... mein Hühnerauge, Hoheit.“ Das `Hoheit´ gab Eri den Rest. Irgendwie drehte sich die Küche. „Tian? Stuhl!“ Der Spitznasige schoss an ihr vorbei und schob ihr gerade noch rechtzeitig ein Sitzmöbel unters Hinterteil. „Danke.“, stammelte sie. „Gern.“ Der Tonfall war so freundlich, dass Eri nach dem Rettungsanker griff. „Könnten Sie mich mal zwicken?“ „Wie bitte?“ „Zwicken? Richtig doll.“ Tian begriff. „Er wird dadurch nicht verschwinden.“, meinte er sanft. „Nein? Schade eigentlich.“ Nachdem es endlich gelungen war, Eri weitgehend zu beruhigen, stand einem Gespräch mit dem Professor nichts mehr im Wege. Außer der Abwesenheit dieses Herren. `Man´ wanderte also mit auf dem Rücken verschränkten Armen im großen Arbeitszimmer auf und ab. „Zuko. Müsst Ihr nun auch schon die Böden anderer Leute so überstrapazieren?“ „Wenn sie mich warten lassen: Ja!“ „Na ja. Immerhin sind wir unangemeldet gekommen.“ „Ich sollte eigentlich der Kabinettssitzung beiwohnen.“, murmelte Seine Lordschaft. „Ja. Stattdessen gibt´s Tee und ganz hervorragenden Butterkuchen. Etwas, das EINIGE von uns sehr zu schätzen wissen.“ „Ich bin nicht zum Teekränzchen hier!“ „Wär ich jetzt nicht draufgekommen.“ Zuko war eben im Begriff einen Vortrag über die Gefahren der Ironie an der Grenze zu selbstmörderischen Tendenzen vom Stapel zu lassen, als die Tür aufging. „Ah. Wundervoller Herbsttag, waswas? Eri meinte, dass Besuch da ist. Den Rest des wirren Zeugs hab ich nicht so ganz verstanden.“ Der Rest des wirren Zeugs trat einen Schritt vor. „Professor Tutuk?“ „Ja, ja. Bin ich. Und Sie ... Wir haben uns doch schon mal ... nicht wahr?“ „Ja. Des öfteren.“ „Aber natürlich! Hab ein schreckliches Namens-Gedächtnis! Der Lord, nicht wahr?“ „Ja.“ „Freut mich!“ Beo schüttelte enthusiastisch die dargebotene Hand. „Freut mich außerordentlich. Was führt Sie hierher? Wieder ein Problem mit den Düngemitteln, waswas?“ „Nein. Nichts dergleichen.“ „Dann eine Partie Pai-Cho vielleicht?“ „Später gerne.“ „Hattet eine undurchsichtige Taktik, soweit ich mich erinnere, nicht wahr? Erst kürzlich ist mir was ähnliches untergekommen.“, murmelte Beo und wurde ein wenig betrübt. „Wirklich schade, dass der Junge fort ging.“ Sein Gegenüber war von diesem Gedankensprung weder überrascht, noch überfordert. Im Gegenteil. „Um genau diesen Jungen geht es.“, sagte Zuko. „Wirklich? Lu Ten? Kann mir nicht vorstellen, dass er was angestellt hat.“ „Nein. Hat er nicht. Genau gesagt stellt er so gut wie nichts mehr an.“ Der Professor kniff die Augen zusammen und versuchte für einen Augenblick in der Realität Fuß zu fassen. „Ah!“, machte er. „War also doch kein Zufall, der Name! Jaja, jetzt seh ich´s auch. Frappierende Ähnlichkeit, wenn ich so sagen darf.“ „Danke.“ „Prinz also, hm? Hat man gar nicht gemerkt. Gut erzogen, der junge Mann. Wirklich sehr gut erzogen.“ „Wir gaben uns Mühe.“ „Jaja, tut man das nicht immer? Nur ... manchmal etwas schwierig, die Kinder. Durchaus schwierig.“ Von seinen eigenen Gedanken abgelenkt, seufzte der Professor tief. „Sie haben eine Tochter, nicht wahr?“ „Ja. Natürlich! Pineria. Ist grade nur etwas ... durch den Wind.“ „Klingt vielversprechend.“, brummte Iroh. „Wegen ihr sind wir hier.“ „Wegen meiner Pippa?“ „Ja.“ „Und Eurem Sohn? „Exakt.“ „Ja.“, sinnierte Beo. „Vielleicht keine schlechte Idee. Haben es vermasselt, die beiden, waswas?“ „So ziemlich.“ „Das Mädel kann manchmal ein rechter Dickschädel sein.“ „Na, sowas kommt in UNSRER Familie ja Agni sei Dank nicht vor.“ „Onkel!“ „Hm?“ Nachdem Iroh ein weiteres Mal streng angefunkelt worden war (wenn er richtig gezählt hatte war das das siebte Mal. Ein recht guter Schnitt, für 9 Uhr morgens), wandte Zuko sich wieder dem Gastgeber zu. „Wir würden gerne mit Pineria sprechen.“ „Gut, gut. Wollen mal sehen, ob sie sich her locken lässt.“ Eigentlich hatte Pippa keine Lust, die Besucher zu sehen, doch ihr Vater hatte gemeint, es sei dringend. Irgendwer hatte wohl Interesse, ihren Aufsatz über die verschiedenen Stadien der Verpuppung von Riesenhirschkäfer-Larven zu veröffentlichen. Hoffentlich würde es reichen, eine Tasse Tee zu trinken, ein wenig zu nicken, und über das dumme Wetter zu sprechen. Als sie das Zimmer betrat, wunderte sie sich ein bisschen. VIER? So bahnbrechend war ihr Aufsatz gar nicht gewesen. „Wer macht es denn nun?“, fragte der kleinste der Herren. „Wollt ihr Streichhölzer ziehen?“ „Nein! Tian wird anfangen.“ „Ist vielleicht besser, bevor jemand mit dem Kopf durch die Wand geht.“ „Verzeihung.“, sagte Pippa leise. „Sie wollten mich sprechen?“ Das Quartett wandte sich ihr zu, wobei einer der Männer sich sogleich diskret in die Schatten zurückzog. Dann trat Tian einen Schritt vor. Zu sagen, er sei geschubst worden, wäre übertrieben. „Äh. Wir haben einige Fragen an sie.“, sagte er vorsichtig. Die ganze Situation wirkte merkwürdig. Pineria schlang unsicher die Hände ineinander. „Kommen sie vom Studienkreis für Entomologie?“ „Nein. Nicht direkt.“ „Sondern?“ Konsul Fu räusperte sich und schaltete auf Sekretär. „Ich stehe im Dienste Seiner Lordschaft, Zukos II. Fräulein Tutuk, sind Sie Royalistin?“ Bei Erwägung des Herrscherhauses hatte sich Pippas Herz schmerzhaft zusammengezogen. „Ich ... glaube schon.“ „Sie glauben?“ „Ehrlich gesagt habe ich darüber noch nie wirklich nachgedacht.“ „Nun, wenn sich der Feuerlord mit einer Bitte an Sie richten würde, würden Sie versuchen, ihr nachzukommen?“ „Warum sollte er so etwas tun?“ „Beantworten Sie bitte die Frage.“, sagte der Mann spitz. „Ich ... vermutlich würde ich das.“, stammelte Miss Tutuk nun doch ziemlich eingeschüchtert. „Sehr gut. Wir haben nämlich ein Anliegen an Sie.“ „Ein ... ein Anliegen?“ „Sie sind Pineria Tutuk, wohnhaft daselbst?“ „Äh ... ja.“ Pippa blinzelte. „Natürlich.“ „Sie ist süss!“, wisperte einer der beiden älteren Männer. „Onkel!“ „Gut.“, fuhr Tian unbeirrt fort. Er war ganz in seinem Element. Beamter durch und durch. „Ich habe hier ein königliches Gesuch.“ „Für ... mich?“ „Ja. Machen wir´s kurz.“ Mit dem kurzen Ruck seiner Rechten entfaltete Tian ein großes Pergament, während er mit der Linken ein Brillengestell auf der Nase platzierte. „Tiram Agni, 12. Oktav im Jahre des Drachen 1823. Im Namen Zukos II, Klammerauf, im Weiteren Regent genannt, Klammerzu, eröffne ich, Tian Fu, Konsul, der hier Anwesenden Pineria Tutuk, dass sie drei Tage Zeit hat, Ihre persönlichen Angelegenheiten zu ordnen und sich im Feuerpalast einzufinden, wo Ihre Verl ...“ „Das mit den Klammern macht er schön.“ Tian drehte sich um, um Fon einen kurzen, indignierten Blick zuzuwerfen, räusperte sich und fuhr fort. „Also wo war ich? Ah .. ja! ... im Feuerpalast einzufinden, etc. etc., wo ihre Verlobung mit Seiner Hoheit Prinz Lu Ten Aang Tatzu, erstgeborener Sohn des Regenten und Erbe des Drachenthrons, stattfinden wird. Dieser Verlobung hat nach 33 Tagen die Flammenzeremonie zu folgen. Fräulein Tutuk erklärt hiermit, keine anderweitigen Verpflichtungen amouröser Art eingegangen zu sein und Schrägstich oder eingehen zu wollen und dem Thronfolger fortan ein liebendes, treues Weib zu sein.“ Ungläubig, mit offenem Mund starrte Pippa den Sprecher an. „Sollten Sie den Wünschen des Regenten nicht Folge leisten, wird dieses Gesuch in einen Befehl umgewandelt. Gegen diesen Erlass kann innerhalb vierzehn Tagen schriftlich Widerspruch eingelegt werden. Allerdings ist diese Frist vor ...“ Konzentriert schielte Tian aus dem Fenster, um den ungefähren Sonnenstand zu überprüfen. „... etwa sechs Stunden abgelaufen.“ „Abgelaufen?“, quietschte Pippa, die rein gar nichts verstand. „Ja. Die bedauerlich langsamen Mühlen der Bürokratie.“ „Was? Das ... das können Sie nicht tun. Mich zwingen.“ „Sie sind Untertanin Seiner Lordschaft. Natürlich können wir!“ „Danke, Tian.“, mischte sich sanft aber bestimmt eine rauchige Stimme aus dem Hintergrund ein. „Vielleicht übernehme den Rest des Gesprächs doch lieber ich.“ „Sicher?“ „Sicher.“ „Ich dachte ...“ „Du warst wie immer vorbildlich! Doch ich denke, wir sollten Fräulein Tutuk jetzt beruhigen.“ Der große Herr aus dem Hintergrund trat nun ins Licht. Selbst Pippa, die mit Tratsch, Klatsch, Royalität und all dem Schnickes nichts anfangen konnte, erkannte das eklatanteste Merkmal dieses Gesichts auf Anhieb. Dass es - abgesehen davon - einem anderen Gesicht verblüffend ähnlich sah, veranlasste Fräulein Tutuk sich erst mal zu setzten. Jedoch nur, um gleich darauf wieder aufzuspringen. „Ich ... wenn das Lu Tens Idee war ...“ ... wäre das absolut wundervoll! „Mein Sohn,“, sagte der Herrscher der Roten Lande. „Hat derzeit keine Ideen. „Aber ...“ „Wir hatten eben ein sehr interessantes Gespräch mit Ihrem Vater.“ „Ach ja?“ „Ja. Und mir scheint, Sie haben ein ganz ähnliches Problem, wie Lu Ten.“ „Hat er das denn? ... Probleme?“ „Oh ja. Und es ist so gar nicht seine Art.“ „Also ... ich ...“ „Wollen Sie mir nicht sagen, wo IHR Problem liegt, Fräulein Tutuk?“ Die unruhig wandernden Augen trafen Zukos Blick für einen kurzen, sehr aufschlussreichen Moment. „Ist das nicht offensichtlich?“, flüsterte Pippa. „Nein.“ „Ich ... passe nicht in seine Welt.“ „Oh, aber seine Welt ist ziemlich groß.“ „Ach ja? Groß genug für eine Verrückte?“ Nach diesem unbedachten Ausbruch musste sie sich auf die Lippen beißen, um nicht loszuweinen. Zuko musterte die junge Dame eindringlich. Und er erkannte Dinge, die ihm in seiner Jugend tagtäglich aus dem Spiegel entgegen gestarrt hatten. Unsicherheit, Scham und Einsamkeit. „Angst, Fräulein Tutuk, ist etwas sehr mächtiges. Es gibt nicht viel, das in der Lage ist, eine wirklich tiefsitzende Angst zu überwinden. Aber Liebe und Vertrauen zählen mit Sicherheit zu den wenigen Dingen, die das vermögen.“ Angst? Er dachte, ihre Angst vor Menschen hätte sie von einer Ehe mit seinem Sohn abgehalten? Mittlerweile wusste sie, dass es schlimmeres gab, als ausgelacht zu werden. „Ich bin es gewohnt, für seltsam gehalten zu werden.“, gab sie stockend zu. „Aber Lu Ten ... Ist er es gewohnt? Was würdet Ihr sagen, wenn er wegen mir zum Gespött würde?“ „Niemand spottet über Lu Ten. Die Leute spotten nicht mal über Lee. Und seine Hosen gäben wahrhaft Grund dazu. Aber sagen Sie mir doch, inwiefern man Sie für seltsam hält. „Na ... das!“ Sie wedelte an sich rauf und runter. „Alles. Die komischen Haare. Die Brille. Und das mit dem Bein wird auch nicht mehr besser, falls Ihr das glaubt.“ „Ich weiss, dass die Versteifung dauerhaft ist.“, sagte Zuko sanft. „Ja. Gut. Dann wisst Ihr ja auch, dass es nicht geht! Außerdem bin ich zu wirr. Konfus. Rede über drei Sachen auf einmal. Und, und ... ich führe immerzu Selbstgespräche.“ „Nun, dagegen ist nichts einzuwenden.“, sagte Seine Lordschaft. „Ich halte es für sehr vernünftig, ab und an mal ein klares Wort mit sich selbst zu wechseln.“ Fräulein Tutuk war dem subtilen Humor momentan jedoch nicht zugänglich. „Aber meistens sind sie nicht klar!“, rief sie verzweifelt. Zuko merkte, dass es höchste Zeit war das Mädchen endlich zur Vernunft zu bringen. „Setzten Sie sich!“, sagte er knapp. „Aber ...“ „Bitte!“ Es war der gleiche Tonfall, der Mimmi dazu veranlasst hatte `Sitz´ zu machen, wenn dieser ganz spezielle Assistent ihres Frauchens es gefordert hatte. Als Pippa saß, nahm Zuko ihr gegenüber Platz. Nachdem er ihren Gesichtsausdruck ergründet hatte, beugte er sich vor und erlaubte sich, eine ihrer kalten Hände zu ergreifen. „Pineria. Über meine Söhne wurde vielleicht nie gespottet. Für mich gilt das jedoch nicht. Ich bin in meiner Jugend recht oft gedemütigt und zur Schau gestellt worden und das sogar von dem Menschen, der mich hätte schützen sollen. Ich kann mich nur zu gut daran erinnern, was Scham ist. In den meisten Fällen ist es ein Gefühl, das diejenigen, die es fühlen sollten nicht empfinden, wohl aber die, die keine Schuld trifft. Ich will nicht behaupten, dass Dich nicht der ein oder andere verwunderte Blick treffen wird, denn es ist leider menschlich, etwas, das man nicht kennt zu begaffen. Aber Du wirst mindestens ebenso viele Leute treffen, die Dich akzeptieren, mögen und verstehen werden. Und meine Familie ... nun, ich befürchte mit der Zeit werden sie Dich mit ihrer Fürsorge wahrscheinlich in den Wahnsinn treiben.“ „Aber ... ich passe doch nicht dazu. Ich bin immer zerstreut und zerzaust.“ „Zerzaust?“ Ein leichtes Lächeln überzog das Gesicht des Feuerlords. „Sie kennt offensichtlich unsere Jin noch nicht.“, murmelte Iroh, die Gedanken seines Neffen lesend. „Offensichtlich.“, stimmte Zuko zu. „Pineria, ich kann Dir versichern, Du müsstest Deine Erscheinung noch erheblich mehr derangieren, um meiner Gattin Konkurrenz zu machen.“ „W ... wirklich?“ „Ja. Wenn im Palast Schuhe, Schals oder Haarbänder an dubiosen Orten auftauchen, ist davon auszugehen, dass es sich um Myladys Eigentum handelt. Sie ist - gelinde gesagt - eine Schusselnuß.“ „Sehr treffend formuliert, Hoheit.“, stimmte der Konsul zu. „Wenn jemand nicht zum Prunk und Pomp des Hofes passt, dann ist das meine Jin. Dafür danke ich den Göttern jeden Tag aufs neue. Und Lu Ten ... er muss sich den lieben langen Tag an Vorschriften, Regeln und ein kompliziertes Hofzeremoniell halten. Schenk ihm doch bitte einen wohlverdienten Ausgleich dafür. Sei verschroben, konfus und unberechenbar. Sei alles, was er nicht ist. Nicht sein darf.“ „Seid ... Ihr sicher?“ „Oh ja. Er ist sehr unglücklich ohne Dich.“ „Ich b ...bin auch nicht ...“ „Scht ... Schon gut!“ Zuko streckte den freien Arm aus, um das Taschentuch entgegenzunehmen, welches Tian ihm reichte. „Es wird alles gut.“, murmelte er, während Fräulein Tutuk hingebungsvoll seinen zweitliebsten Kimono durchnässte. Wieder zurück im Feuerpalast Lu Ten wusste nicht, wie oft er heute schon unterbrochen worden war. Zu oft! Als wäre die Rückrufaktion seiner jüngeren Brüder nicht genug gewesen, glänzte Sein Vater auch noch durch Abwesenheit. Das hiess dreifaches Arbeitspensum für den Kronprinzen. Eigentlich etwas, das er sehr begrüsst hätte, denn es hielt ihn vom Grübeln ab. Nur heute wollten ihn die Leute einfach nicht in Ruhe lassen! Ob sein Vater auch wegen jeder albernen Kleinigkeit gestört wurde? Just in diesem Moment ging die Tür schon wieder auf. „Was ist denn schon wieder?“, fragte er ohne aufzublicken. „Entschuldige. Mir war nicht bewusst, dass ich störe.“ „Vater ...“ „Gib Bescheid, wenn Du ein paar Minuten für mich erübrigen kannst.“ „Unsinn! Für Dich habe ich natürlich Zeit.“ „Bist Du sicher?“ „Ja! Worum geht es?“ Die Augenbraue Seiner Lordschaft wölbte sich langsam. Jetzt brauchte er also schon einen Grund, mit seinem Sohn zu sprechen? „Worum es geht?“, wiederholte er lakonisch und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Ich will Dir sagen, worum ES geht. Wir haben bemerkt, dass Du Dich sehr in Dich selbst zurückgezogen hast.“ In sich? Wenn Lu Ten derzeit etwas mied, dann war das innere Einkehr. „Ich weiß nicht, was Du meinst.“, murmelte er. „Es gibt also nichts, worüber Du Dein Herz ausschütten willst?“ „Nein.“ „Sicher?“ „Ja!“ Zuko seufzte. „Gut. Ich dachte eigentlich, dass Du uns vertraust ...“ „Vater, was soll das alles?“ „Was das soll? Du benimmst Dich seit drei Monaten wie ein wandelnder Eisberg, und fragst MICH, was das soll?“ „Ich benehme mich wie immer!“ „Tatsächlich?“, Seine Lordschaft lachte freudlos. „Sicher. Dann habe ich Dir eine Mitteilung zu machen. Du hast ja schon des öfteren verlauten lassen, dass Dir eine Vernunfts-Ehe nichts ausmachen würde. Ich habe beschlossen, Dich beim Wort zu nehmen.“ „Du .. was?“ Jetzt zeigte der Kronprinz doch eine Regung. Ungläubig starrte er seinen Vater an. „Vielleicht rüttelt es Dich ein bisschen auf. Bei Lee wirkt die Ehe jedenfalls wahre Wunder.“ „Ich soll heiraten, weil Lee die Ehe gut tut?“ „Nein. Du sollst heiraten, weil das Land einen Erben braucht. Ich habe die Minister bereits beauftragt, einen entsprechenden Ehevertrag zu formulieren. Die junge Dame ist mit den Konditionen einverstanden.“ „Junge Dame?“ „Ja. Da bereits alles geklärt ist, habe ich sie mitgebracht.“ „Aber ...“ „Ah. Du hast Einwände?“ Hatte er? Nicht wirklich. Was machte es schon für einen Unterschied? Auf diese Weise musste er schon niemandem etwas vorheucheln. Er betete nur, diese Frau erhoffte sich nichts von ihm, denn das war das einzige, was er zu geben hatte: Nichts! „Nein.“, sagte Lu Ten leise. „Keine Einwände.“ Zuko presste die Lippen zusammen. Diesen kalten, verschlossenen Menschen kannte er kaum. Beinah hätte er die Beherrschung verloren und den Jungen geschüttelt. Aber wie konnte er seinem Sohn einen Vorwurf machen, wenn er doch nur nach ihm selbst kam? War er nicht ebenso gewesen, in der Zeit nach der Krönung. Ohne Jin? „Gut.“, sagte Zuko. „Dann darf ich Dir Deine zukünftige Ehefrau vorstellen. TIAN?“ Eine Seitentür öffnete sich. „Mylord?“ „Bring das Mädchen herein.“ „Sofort, Hoheit!“ Die Tür schloss sich wieder. Eine Minute später wurde die Klinke erneut gerückt. Lu Ten sah aus dem Fenster und ballte kaum merklich die Fäuste. Doch was half es? Sich jetzt zu weigern, hiesse nur das Unvermeidliche aufzuschieben. Irgendwann würde das Land einen Erben brauchen. Dieses Land, um das sich sein ganzes Leben drehte, und es doch nicht füllte. Dieses Land, dass ihn schon so viel gekostet hatte. Dieses Land, das zu lieben er sich wahrscheinlich eines Tages würde zwingen müssen. „Lu Ten?“ Er schnellte herum. Ungläubig starrte er sie an. Woher wusste sein Vater ... Agni. Sie war so verunsichert. Die Hände auf die Art verschränkt, die so typisch für sie war, blinzelte sie ihr herzerweichendes Käuzchen-Blinzeln. Wie gern er die Wangen gegen ihrem wilden Haarschopf gedrückt hätte. Wie gern er sie gehalten hätte. Wie weh es tat, sie zu sehen ... „Nein!“, flüsterte Lu Ten rau. „Nicht sie!“ „Du hast die Wahl mir überlassen.“, stellte Zuko fest. „Nein! Ich werde nicht zulassen, dass Du sie hierzu zwingst!“ „Hältst Du dies für den geeigneten Zeitpunkt Dein überentwickeltes und bedauerlich fehlgeleitetes Ehrgefühl unter Beweis zu stellen, mein Sohn?“ „Ja, erschreckend, wie sehr er Dir ähnelt, Mylord.“ „Jin!“ Zuko hatte sich umgewandt. „Ich dachte, ich sehe mal, ob ihr zwei das hinbekommt. Allerdings habe ich so meine Zweifel.“ „Unsinn.“, sagte Mylord und runzelte die Stirn. „Zuko. Du hast sie schon hierher beordert. Denkst Du nicht, Du solltest alle weiteren Schritte Lu Ten überlassen?“ „Es gibt keine weiteren Schritte. Pineria wird wieder nach Hause geleitet.“, stiess Lu Ten hervor. „Solltest Du nicht vorhaben, mich zu entmachten, glaube ich das kaum.“, merkte Zuko kühl an. „Vater! Es widerspricht Deinen Prinzipien ...“ „Was? Für das Glück meiner Kinder zu sorgen?“ „Himmel! Ihr beiden habt jetzt wirklich nichts besseres zu tun, als zu streiten? Das Kind wird ja noch völlig verängstigt.“ Mylady eilte auf Pippa zu, zog sie in eine duftende Umarmung und sah ihr dann forschend ins Gesicht. „Ich bin Jin.“, sagte sie schlicht. JETZT bekam Pippa Angst. Eine Heidenangst, denn das warme Strahlen dieser grünen Augen übermittelte eine mehr als klare Botschaft. Sie war nun Teil dieser Familie. Dieser großen, liebevollen, mächtigen Familie. Nur ... der älteste Sohn dieser Familie schien mit der Sache nicht ganz einverstanden. „Ich werde nicht zulassen, dass Pineria ...“ „Was heisst hier, nicht zulassen?“, brauste Zuko auf. „Ich habe das Gefühl, Du vergisst, wen Du vor Dir hast!“ „Aufhören! Alle beide! DU ...“ Jin fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Lu Tens Gesicht herum. „... hörst auf so bockig zu sein. Und DU ...“ Sie schnappte ihren Gatten am Ellbogen. „... kommst mit mir.“ Dem mehr oder minder freiwilligen Abgang des Herrscherpaares folgte erdrückende Stille. Pippa war ratlos. Der Mann, dessentwegen sie hier war, hatte ihr den Rücken zugewandt. Die Arme fest verschränkt, starrte er durch die verglasten Türen nach draussen. Zu allem Überfluss schien er nicht bereit, eine Konversation in Angriff zu nehmen. „Du ... Du wärst also eine Verlobung mit einer Wildfremden eingehen?“, fragte sie schliesslich zaghaft. „Aus Vernunfts-Gründen?“ Lu Ten betrachtete die unpassend grünen Gärten. Sie waren so voller Leben. „Aus einem anderen Grund ist es mir nicht mehr möglich.“, gab er schliesslich zu. „Was?“ Pippas brauchbares Knie gab den Geist auf. Schnell suchte sie nach einer Sitzgelegenheit. „Ist es zu spät?“, fragte sie mit zittriger Stimme. „Zu spät? Wofür?“ „Ich ... Hast Du ...“ Sie holte tief Luft. „Wenn ich gewusst hätte, dass Du mich nicht mehr ... Ich werd jetzt gehen!“, piepste sie und drehte sich zur Tür. Vielleicht würde sie es noch schaffen, den Raum zu verlassen, bevor sie mit dem Weinen begann. „Pineria?“ Sie stockte. Hoffte. „Ich hoffe, mein Vater hat Dich nicht zu sehr erschreckt.“ „Nein.“, würgte sie heraus. „Er war sehr nett. Wiedersehen.“ „Ich ahnte nicht, dass er von Deiner Existenz weiss.“ Das war zu viel! Die Tränen, die Pippa bisher nur die Sicht getrübt hatten, quollen über und stürzten in Bächen über ihre Wangen. So schnell wechselte er also von „Ich würde alles dafür aufgeben, bei Dir zu sein.“ zu „Hab doch glatt vergessen meinem Papa von Dir zu erzählen.“? Diese ganze Aktion war umsonst gewesen. Der Mut, die Hoffnung ... alles umsonst. Warum war sie auch so dumm gewesen, zu denken, er würde sich dem gleichen Gram hingeben, wie sie selbst? Vor Kummer nächtelang wach liegen? Nichts mehr essen? Für ihn gab es schliesslich hunderte Möglichkeiten, Tausende. Sie war nicht seine einzige Chance auf Glück. Sie hatte den Fehler begangen, von sich auf ihn zu schliessen ... So schnell ihr Bein es zuliess hastete sie vollends zur Tür. Und Lu Ten? Er stand da und hörte mit an, wie seine einzige Chance auf Glück den Raum verliess. Sein Kiefer und seine Kehle schmerzten vor Anspannung, während die Umrisse des sonnenbeschienenen Teiches sich in seine Netzhaut brannten. „Zuko?“ Eine energische Hand zupfte an der schweren Seide des Odoro. „Agni, Jin! Und Du behauptest ICH sei ungeduldig. Lassen wir sie noch ein paar Augenblicke allein. Dann kannst Du sie meinetwegen beide mit Beschlag belegen.“ „Ja, oh Gebieter. Ich hielt es nur für angebracht, Dich darüber zu informieren, dass Deine zukünftige Schwiegertochter sich eben davonschleicht, wie ein geprügelter Hund.“ „WAS?“ „Das mir dem allein lassen hat wohl nicht ganz hingehauen.“ „Dieser Idiot!“ „Sprich bitte nur von DEINEM Erbgut.“ „Jin, bitte!“ „Ja, schon gut. Ich kümmere mich um das Mädchen.“ „Gut. Ich hab einen Kopf zurechtzustutzen.“ Nachdem er geschlagene drei Minuten blicklos ins Leere gestarrt hatte, ging ein Ruck durch den Kronprinzen. `Wenn ich gewusst hätte, dass Du mich nicht mehr ...´ Moment mal ... nicht mehr was? Dass er WAS nicht mehr? „Hirnverbrannter Idiot!“, fluchte er laut. Die Seitentür flog auf. „Agni verleihe mir Geduld, aber ich habe Dich doch nicht zum Trottel erzogen!“, grollte Zuko. „Scheinbar doch.“, schnappte Lu Ten und stürmte an seinem Vater vorbei und riss die große Doppeltür auf. „Wo ist sie?“, herrschte er die Wachposten an. „Äh ... was?“ „Nicht was. Wer! Wo ist Miss Tutuk?“ „Ich ... weiss nicht, Hoheit. Die junge Dame ging in Richtung der Galerie.“ „Danke!“ „Jetzt fängt der auch noch mit dem Herumgerenne an.“, murrte Tomo. „Ja.“, seufzte sein Kollege. „Und wir müssen dann wieder aufpassen, dass uns keiner aus Versehen in die Lanzen läuft.“ „Jepp.“ „Verrückter Haufen.“ „Jepp.“ „Verzeihung!“, schnurrte die Stimme des Drachen drohend sanft. „Aber ist euch bewusst, dass der Chef des verrückten Haufens eure Unterhaltung mitanhört?“ Pippa wusste gar nicht, wohin sie lief. Sie wollte nur weg. Doch das war gar nicht so einfach hier. Als sie rechts abbog, erstreckte sich vor ihr ein Gang, auf dem sich bedauerlich viele Leute tummelten. Ihre Hand ertastete eine Türklinke und drückte sie. Musik. Eine Gum Jo? Dunkelrote Seide, ein Ruck, leichter Schmerz im Rücken und ein enges Gefühl an der Kehle. Als sie zitternd und erschrocken nach Luft japste, erstarb die Musik und der muskulöse Unterarm minderte den unangenehmen Druck gegen ihren Hals. Keuchend registrierte Pippa, dass sie gegen eine Wand gedrückt wurde, doch wenigstens ging die überbreite, Orden-behangene Brust jetzt ein wenig auf Abstand. „Ich glaube nicht, dass von diesem Gast große Gefahr ausgeht, Hauptmann.“, sagte eine warme Frauenstimme ruhig. Der besagte Offizier trat zurück und gab Pineria den Blick auf ein sonnendruchflutetes, großes Zimmer frei. Den vielen, unterschiedlichen Instrumenten zufolge offensichtlich ein Musikzimmer. In der Mitte sass eine junge Frau auf einem prächtigen Seidenkissen. Sie legte eben ihre bauchige Kniegeige zur Seite und erhob sich. „Ich wollte nicht stören!“, krächzte Pippa. Das alles war einfach zu viel! „Das tun Sie nicht. Hauptmann Nezu hat nur ein unüberwindbares Misstrauen gegenüber sich öffnenden Türen und Fenstern.“ Bevor der jungen Dame klar gemacht werden konnte, dass `Ich wollte nicht stören!´ ja eigentlich `Ich will hier weg!´ heissen sollte, wurde Pippa unnachgiebig sanft zu einer kleinen Chaiselongue gezogen und dort platziert. „Tee?“ Das verwirrte Opfer nickte, sah auf und sog überrascht die Luft ein. Vor Pineria stand das wohl schönste Wesen, das sie in ihrem gesamten Leben zu Gesicht bekommen hatte, und blickte sie besorgt an. Wie es sich wohl anfühlte, so auszusehen? „Zucker?“ „Ja ... bitte.“ Mit unnachahmlicher Grazie legten elegante Finger ein Stück Kandis in die hauchdünne Tasse, griffen nach einer Kanne und schenkten dampfenden Tee ein. Wie konnte man nur solche Hände haben? Als könnten sie längst vergangene Geschichten erzählen. „So. Bitte sehr.“ Das Lächeln der jungen Frau war so allumfassend, dass sich der kalte, verkrampfte Klumpen in Pippas Magen ein wenig löste. „Danke.“, flüsterte sie. „Gern geschehen.“ Eine zweite Tasse Tee wurde mit der gleichen, selbstvergessenen Sorgfalt zubereitet, wie die erste. „Sie sind Fräulein Tutuk, nicht wahr?“ Pippa, die eben fasziniert zugesehen hatte, wie die junge Grazie ihren Tee rührte, riss ihren Blick los und nickte wieder. „Weiss jeder hier über mich bescheid?“, fragte sie bang. „Aber nein. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Sorgen? Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Morgen würden sich die Leute im Palast nicht einmal mehr an sie erinnern. Sie schluckte und konnte es trotzdem nicht verhindern, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. Rasch wurde ihr die Tasse abgenommen und auf ein kleines Tischchen gestellt. „Was haben Sie denn?“, fragte die Geigenspielerin leise. „N ... nichts!“ „Wirklich?“ Die Augen dieser Person waren viel zu verständnisvoll. Sie zauberten ans Licht, was versteckt werden wollte, gemahnten an das, was vergessen werden wollte. „Ich ... möchte nach Hause!“ „Ich denke nicht, dass Sie das sollten. Nicht bevor Sie die Sache mit meinem Bruder ins Reine gebracht haben.“ „Bruder?“ „Ich bin Aya.“, sagte Ihre Hoheit sanft. „Ich sollte wirklich gehen!“, stammelte Pippa nach einer Schrecksekunde. „Was ist zwischen Ihnen und Lu Ten vorgefallen?“ „Nichts! Gar nichts! Ihr Vater hat sich getäuscht, das ist alles.“ „Getäuscht? Das tut er eher selten.“ „Aber ... aber er will mich nicht mehr!“ Nachdem diese Worte endlich raus waren, wurde Pippa von abgehackten Schluchzern geschüttelt und schlug beschämt die Hände vors Gesicht. Sie wurde in eine unwiderstehlich tröstliche Umarmung gezogen. „Nicht doch.“, murmelte Aya. „Das muss ein Missverständnis sein.“ „N ... nein. Er ...“ Hicks „... hat gesagt ...“ „Was hat er gesagt?“ „Dass er ... mich nicht mehr ...“ Hicks „LIEBT!“ „Waren das seine genauen Worte?“ „N ... nein. Aber er ...“ Hicks „... hat gesagt, dass ... dass er ... nur noch ... aus ...“ Hicks „Vernunftsg ... gründen h ... h ... heiraten kann!“ Aya versuchte, sich die Situation vorzustellen, während sie ihr bestes tat, die sogutwie-Verlobte ihres Bruders zu beruhigen. Sie brauchte nicht allzu lange, um das Dilemma zu erahnen. „Ich verstehe.“, sagte sie leise. „Hat mein Vater Lu Ten gesagt, dass Sie aus freien Stücken hierher gekommen sind?“ „N ... nein.“ Hicks „Ichweissnicht!“ „Nun, das ist wichtig. Solange Lu Ten denkt, Sie würden zu etwas gezwungen, wird er niemals damit einverstanden sein.“ „Aber er selbst w ... wäre doch eine Zwangsehe eingegangen.“ Das Schluchzen hatte ein wenig nachgelassen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass Miss Tutuk bereit war, den ein oder anderen Punkt noch einmal zu überdenken. „Ja. Das wäre er. Weil er für einen Erben zu sorgen hat. Aber er glaubt, er hätte Sie verloren. Darum ist es ihm egal, wen unser Vater für ihn bestimmt. Weil er die Frau ohnehin nicht lieben könnte. Verstehen Sie?“ „Ich ... nein.“ „Die einzig mögliche Liebesheirat wäre die mit Ihnen. Und er denkt, Sie wollen ihn nicht.“ „Das ... das TUT er?“ „Aber ja.“ „Aber ich ... ich WILL ihn ja!“ „Ich weiss.“, sagte Aya. „Nur muss er es auch wissen.“ Pippa nickte schwach, und wischte sich linkisch die Tränen vom Gesicht, als der Hauptmann sich beinahe aufs Neue genötigt sah, sich auf einem hereinplatzenden Eindringlich zu stürzen. Agni sein Dank erkannte er diesen Störenfried jedoch sofort und blieb unverrückbar wie ein Fels auf seinem Posten. „Pineria?“ Da ihr die dummen Tränen schon wieder in die Augen schossen, presste Pineria die Hände im Schoss zusammen und brachte kein Wort heraus. „Fratz, ich wollte nie sagen, dass ich Dich nicht mehr ...“ Angesichts der anwesenden Personen (es waren immerhin zwei zu viel) verstummte Lu Ten und räusperte sich. Aya verstand und erhob sich. „Da hätte ich doch fast meine Fechtstunde vergessen.“, murmelte sie entschuldigend. Als sie die Tür schloss, sah die Prinzessin noch einmal zurück, eine unerklärliche Wehmut in ihrem Blick. Doch das bemerkte zum Glück niemand. Pippa hatte viel zu weiche Knie, um aufzustehen. „Fratz ... Ich dachte Du ... Ich dachte er hätte es Dir befohlen. Ich dachte, Du willst das nicht. Und ich dachte ...“ „Du denkst zu viel!“, flüsterte Pippa tränenerstickt. „Viel zu viel!“ Sie hatte Recht. Also umfasste Lu Ten ihre Handgelenke, zog sie hoch und in die Arme. Für die nächsten Minuten dachte NIEMAND mehr in diesem Zimmer. Das war auch der Grund, warum die beiden den Rest ganz gut hinbekamen. Aya war noch keine zehn Meter weit gegangen, als man sie aufhielt. „Aya!“ „Papa.“ Lächelnd wartete die Prinzessin, bis ihr Vater aufgeschlossen hatte. „Begleitest Du mich ein Stück, Schatz?“ „Gerne.“ „Deine Mutter hat Fräulein Tutuk schon überall gesucht. Aber das Mädchen scheint zuerst Dir in die Arme gelaufen zu sein.“ „Zuallererst natürlich Hauptmann Nezu.“ „Oh nein! Gab es Verletzte?“, fragte Zuko mit einem spöttischen Seitenblick auf den bis auf die Zähne bewaffneten Kage seiner Tochter. „Nein. Nur Tee.“ „Ich nehme an, die Situation hat sich jetzt geklärt?“ „Ja, das hat sie.“ Zuko legte einen Arm um seine Tochter und drückte einen Kuss auf ihre Schläfe. „Das ist mein Flämmchen! Und Du meinst, sie kommen jetzt ohne Hilfe klar?“ „Nun ... als ich die Tür zugemacht hab, sah es ganz danach aus.“ „Dann wollen wir hoffen, dass Deine Mutter nicht mitbekommt, wo sie sind, sonst kriecht sie noch durchs Schlüsselloch.“ „Soll ich ihr das sagen?“ „Willst Du ohne Nachtisch ins Bett?“ „Himmel. Nein!“ Zwei Tage später In seinem Arbeitszimmer widmete sich der Kronprinz der überaus wichtigen Aufgabe, seine zukünftigen Ehefrau auf das höfische Leben mit all seinen Regeln und Pflichten vorzubereiten. Das tat er. Mit sehr großem ... äh, Enthusiasmus. Miss Tutuk - wie immer sehr verständig - wendete das Gelernte voller Eifer an. Mit anderen Worten: man knutschte selbstvergessen herum. Schweratmend und mit geröteten Wangen machte Pippa sich los. „Das ... das Küssen gehört also zu meinen wichtigsten Aufgaben als Ehefrau?“ , schnaufte sie. „Zu den allerwichtigsten!“ „Und was noch?“ „Nun, wenn es dunkel wird, dann ...“ „Lu TEN!“ „Du hast gefragt.“ „Schon. Aber DAS muss warten!“ „So?“ „Ja. Bis nach der Hochzeit.“ „Und die Tatsache, dass wir auf Tutuk schon aktiv waren?“ „Agni!“ Pippa wurde noch roter und begrub ihr Gesicht an seiner Brust. „Ich hatte wahrhaftig ein Techtelmechtel mit dem Thronfolger. Ich fasse es nicht!“ „Ich dachte, Wissenschaftler stünden über solchen Dingen.“, spottete besagter Thronfolger. „Das ... äh ... gilt nicht, wenn gekrönte Häupter involviert sind.“ „Ach.“ „Ja, ach! Sag mir lieber, was Deine Aufgaben als Ehemann sein werden.“ „Hm. Also zuerst natürlich das Küssen.“ „Auch?“ „Selbstredend. In einer Ehe sollte man immer an einem Strang ziehen.“ „Sehr lobenswert!“, nickte Fräulein Tutuk. „Eben. Und dann muss ich noch die ein oder andere Liste vervollständigen.“ „Liste?“ „Für die Statistik.“ „Welche denn?“ Da sie in just diesem Moment ihr Eulenblinzeln unter Beweis stellte, kam Lu Ten nicht umhin, zärtlich ihr Gesicht zu umfassen. „Zum Beispiel die über Sommersprossen. Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, sie alle zu zählen, Fratz. Ich bin grade mal bis zweihundertsiebenunddreissig gekommen.“ Sacht presste er die Lippen auf Sprosse 237, gleich neben dem Schlüsselbein. Pippa schmolz. „Ich bin wirklich froh, dass Dein Vater vernünftiger war als wir.“, seufzte sie. „Wir? Ich war die Vernunft selbst. DU wolltest nicht heiraten!“ „Ich wollte ja. Ich dachte nur ...“ Sie stockte, unsicher, ob sie dieses Thema ansprechen sollte. „Was dachtest Du?“ „Ich ... hatte Angst Dich zu blamieren.“ „Bitte? Blamieren? Du mich?“ Ungläubig starrte er sie an. „Das ist das Schwachsinnigste, das Du je gesagt hast.“ „Wirklich?“, fragte sie leise. „Du hast mich anfangs doch auch für verrückt gehalten.“ „Was?“ „Stimmt es etwa nicht?“ Sie forschte in seinen Augen. Lu Ten erinnerte sich an die ersten Tage seines Kurzexils. Zugegeben: ein-, zweimal war ihm dieses Wort durch den Kopf gegangen. Aber er war aufgebracht gewesen. Übellaunig. Voreingenommen. Er hatte es nie wirklich so gemeint. „Nein.“, antwortete er wahrheitsgemäss. „Ich hielt Dich für seltsam. Für anders. Aber nicht für verrückt. Und außerdem,“, fügte er hinzu. „hat sich herausgestellt, dass seltsam und anders genau das ist, was ich brauche.“ Er legte seine Stirn an ihre. „Die Zeit ohne Dich war ... leer. Endlos. Und irgendwie ...“ „Unwirklich.“ „Ja.“ „Ich weiss.“, flüsterte Pippa. „Mir ging es genauso. Allem Anschein nach wies ich fast alle bekannten Entzugserscheinungen auf.“ „Ah, Fratz. Jetzt muss ich Dich doch wieder zum Küssen verdonnern.“ „Mein Leben scheint ja wirklich aufreibend zu werden.“ „Natürlich. Aber dafür zeig ich Dir nachher auch Dein neues Labor.“ „Was? Oh! Können wir nicht gleich ...?“ Ihr strenger Ex-Assistent hob ungnädig eine Braue. „Tsts, Fräulein Tutuk. Ich muss doch sehr bitten. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ „Na gut.“, seufzte sie und schmiegte sich schicksalsergeben an ihn. „Tu, was Du tun musst.“ Während die beiden also diesem kaum überschaubaren Berg an Pflichten tapfer ins Auge blickten, sahen sich die Wächter des Palastes mit einem ganz anderen Problem konfrontiert. Die meisten von ihnen hatten in ihrem Leben schon so einiges erlebt und aufgehalten. Doch nun raste ein riesiges, fellbehangenes Etwas in einem solchen Tempo an ihnen vorbei, dass die Wandteppiche Schräglage bekamen. Wenn man es aufzuhalten versuchte, witschte es einem zwischen den Beinen hindurch, an gezückten Hellebarden vorbei und gallopierte auf Tellergroßen Pfoten munter weiter. Die Wachen riefen sich Warnungen zu, erschrockene Diener liessen stapelweise Geschirr fallen und unschuldig flanierende Hofdamen kreischten ängstlich auf. Der Aufruhr wurde immer größer. So groß, dass zu guter Letzt sogar die Kage, die persönlichen Leibwächter der fürstlichen Familie, allarmiert wurden. „Haltet das Vieh auf!!!“ „Verdammter ...“ „Um Gottes Willen, tut doch was!“ Mit ungebremster Energie raste das Monstrum weiter seinem Ziel entgegen. Und Erschreckenderweise schien dieses Ziel irgendwo in Richtung der Büroräume des Kronprinzen zu liegen. Einer der Palastwächter erkannte das tatsächliche Ausmass der Gefahr. „DER PRINZ!“, schrie er. „SCHÜTZT DEN PRINZEN!!!“ Fast zeitgleich mit diesen Worten krachte am entgegengesetzten Ende des Flurs eine Tür gegen die Wand und brachte die tödlichste Waffe Seiner Lordschaft ins Spiel. Hauptmann Takeru Nezu, Zukos Blutwolf. Der zur Zeit hochrangigste diensthabende Offizier der königlichen Leibgarde. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern spurtete der Kage der Katastrophe entgegen. Todesmutig. Präzise. Unaufhaltsam. Jetzt wussten alle: Entweder würde es tote Feinde geben, oder toten Leibwächter. Dem Prinzen würde jedenfalls kein Haar gekrümmt, soviel stand fest. Etwas anderes kam Hauptmann Nezu einfach nicht in die Tüte. „NACH LINKS!“, brüllte er Lu Ten an. Seine Hoheit, eben erst aus der Tür getreten, um die Ursache des ganzen Lärms zu ergründen, reagierte instinktiv. Wenn Nezu einen „bat“ nach links zu gehen, dann ging man nach links! Und zwar schleunigst. Er sah die rotgoldene Uniform an sich vorbei fliegen, hörte einen dumpfen Aufprall und dann wehleidiges Jaulen. Wehleidig? Jaulen? Bevor er die Situation jedoch klären konnte, brachte jemand anders sie erst so richtig durcheinander. „Was machen Sie denn da? Lassen Sie sie los!“ Der Hauptmann erinnerte sich dunkel an die Person, die seine Schultern so stümperhaft malträtierte. Doch da ihre Einmischung als irrelevant eingestuft werden konnte (ein kräftiger Huster von ihm hätte sie umgeworfen), ignorierte er sie kurzerhand. Statt dessen setzte er lieber das schraubstockartige Gebiss dieses Viehs außer Kraft, indem er die Schnauze umklammerte. „Lassen Sie meinen Hund los!“, zeterte Pippa. „Hören Sie bitte auf, mich zu schlagen, Miss, da ich Sie andernfalls in Gewahrsam nehmen muss.“ Dieser Mann klang so ungerührt, als bitte er um einen Schuss Milch in seinen Tee. Dass sie einen der seltenen Kaffe-Trinker vor sich hatte, konnte Fräulein Tutuk ja nicht ahnen. Zudem trank er dieses Gebräu stark, schwarz und so bitter wie irgend möglich. Hätten Dinge, die irgendwann aus einer Kuh getropft waren, diese geschmackliche Folter verunreinigt, hätte der Hauptmann sich genötigt gesehen, seinen Adjudanten zu entlassen. „Sie ungehobelter Mensch!“ Belustigt lehnte Lu Ten im Türrahmen und beobachtete, wie sein Waldkäuzchen sich mit dem kühnsten und gefürchtetsten Krieger des ganzen Reiches anlegte. Der Hauptmann hielt die Mimmi-Situation spielend unter Kontrolle, beziehungsweise im Nackengriff. Lediglich die junge Dame vor ihm veranlasste ihn zu einem leichten Stirnrunzeln. „Fräulein Tutuk ...“ „Sie ... Sie ... was verstehen Sie an dem Wort loslassen nicht?“ „Ich kann nicht zulassen, dass dieser Hund wild durch den Palast rennt.“ „Es ist doch nicht Ihr Palast!“ Pippa traf ein Blick, so eisig wie die ewigen Gletscher sturmumtoster Pole. „Nein.“, sagte der Kage kalt. „Nur meine Verantwortung!“ Das war dann doch etwas einschüchternd. „A ... aber Mimmi tut keinem was.“, versuchte sie es ein letztes Mal, mit deutlich weniger Wind in den Segeln. „Sagt wer?“ „Na .... ich.“ Seiner Hoheit entwich ein leises Lachen. „Lu Ten!“ „Hoheit.“ JETZT neigte der uniformierte Rüpel natürlich demütig das Haupt. „Probleme, Hauptmann?“ „Nein.“ „Nein?“, ereiferte sich Pippa. „Nein? Dieser Mensch da drangsaliert Mimmi. DAS ist das Problem.“ „Er tut nur seine Pflicht.“ „Pflicht? Es ist seine Pflicht wehrlose Hund zu foltern?“ Der wehrlose Hund versuchte gerade inbrünstig, sich im Leder dicker Militärstiefel zu verbeissen. „Gib auf, Fratz. Gegen dieses Bollwerk des Pflichtbewusstseins kommst Du nicht an.“ „Aber das ... ist Mimmi!“ „Ja. Und DAS ... ist Hauptmann Nezu.“ „Sie wollte doch nur zu Dir!“ „Wie wahr.“, räumte Lu Ten ein. „Hauptmann, Ihr könnt den Hund jetzt loslassen.“ Schneller als man `Tierschutz´ sagen konnte, lockerte sich der unbarmherzige Griff des Hünen. Da Mimmi besseres zu tun hatte, als es diesem fiesen Kerl heimzuzahlen, wurde er nur kurz angeknurrt. Sie wollte sich gerade auf ihr ursprüngliches Ziel stürzen, als dessen donnerndes „Platz!“ sie aufhielt. Eigentlich hatte sie diesmal keine Lust auf Gehorsam, doch ihre Hinterbeine sahen das anders, und knickten ein. „Braves Mädchen!“ Die meisten Zuschauer trauten ihren Augen nicht, als Prinz Lu Ten sich nun in die Hocke begab und dieses mehr-rassige Riesenungetüm freudig umarmte. Mimmi, direkt im Hundehimmel angekommen winselte enthusiastisch vor sich hin. „Ja. Ist ja gut. Du hast mir auch gefehlt.“, sagte Lu Ten und kraulte die flauschigen Ohren. „Da sehen Sie´s? Ganz brav ist sie!“ Stoisches Schweigen. „Sind Sie nicht der Mensch, der mich gestern gegen die Wand geworfen hat?“ „Ja.“ „WIE bitte?“ Lu Ten sah von einem zum anderen, stand auf und überliess der seligen Mimmi eine Hand zum bekauen. Der Leibwächter stand nur stumm da, in die aufmerksame Betrachtung des gegenüberliegenden Mauerwerks vertieft, und sah offensichtlich keine Veranlassung, sich zu verteidigen. Das liess wiederum nur einen Schluss zu. „Verstehe. Du bist gestern also einfach so ins Musikzimmer geplatzt.“ „Ich wusste ja nicht, dass überhaupt jemand da drin war.“, murmelte Pippa, jetzt ein wenig kleinlauter. Hauptmann Nezu hätte die ein oder andere ätzende Bemerkungen zum Thema Anklopfen einwerfen können, doch so etwas stand ihm nicht zu und so liess er sich nur ungerührt von den halb ungnädigen, halb belustigten Blicken des Kronprinzen durchlöchern. „Gut. Ich möchte eins klarstellen. Diese junge Dame wird in Zukunft nicht mehr gegen Wände geworfen!“ „Natürlich.“ „Auch vom Foltern unschuldiger Hunde bitte ich abzusehen.“ „Ja, Hoheit.“ „Ach, und Eure Stiefel sehen auch ziemlich mitgenommen aus.“, plagte Lu Ten den Offizier weiter. Jeder wusste, dass Takeru Nezu nicht einmal ein Staubkorn auf den Epauletten seiner Uniform duldete. „Ich werde sie entsorgen.“ „Ja. Tut das.“ Nach einer zackigen Verbeugung entfernte sich der Hauptmann. Als ihn niemand mehr sehen konnte, gestattete er sich ein kurzes, zufriedenes Lächeln. Der Kronprinz war endlich wieder der Alte. Hervorragend! Epilog: Drei Worte ------------------ Jin sass an der prächtig gedeckten Tafel des großen Sonnensaals und blickte zufrieden in die Runde. Um sie herum war gerade die Hochzeitsfeier ihres Ältesten in schönstem Gange. Die Musik, das fröhliche Lärmen der Gäste, das helle Klingen von Gläsern, all dies vermengte sich zu einer sehr angemessenen Geräuschkulisse für das Schweigen an diesem speziellen Tisch. Die Gefräßigkeit der Tatzus machte eben selbst vor hochoffiziellen Anlässen keinen Halt. Amüsiert beobachtete Jin ihre Kinder, die sich das Essen mit der gleichen Konzentration einverleibten, wie ihr Vater das tat. „Sieh mal an, Zuko, Das ist schon Dein zweiter Sohn, der am Tag seiner Flammenzeremonie an der kompletten Feier teilnimmt.“ „Natürlich!“, meinte Lee und griff nach einer Weinkaraffe. „Sollte man das nicht? Und außerdem: wann sonst gibt´s solche Unmengen zu Essen?“ „Hm.“ Jin zuckte mit den Schultern. „ICH kenne das anders.“ „Ach ja?“ „Wie denn?“, fragte Kiram kauend. Lu Ten, seinen Brüdern wie immer eine halbe Nasenlänge voraus, murmelte etwas wie Binnichtsicherobichdaswirklichwissenmöchte in seine Schüssel. „Na ja,“ sagte Mylady. „Ich dachte damals es sei hier so üblich, dass das Brautpaar sofort ... äh ... verschwindet. Aber lassen wir das Thema!“, fügte sie hastig hinzu. Lee spuckte geistesgegenwärtig seinen Wein in den Kelch zurück. „Wie jetzt ..?“, hustete er. „Soll das heissen, Du und Papa habt sofort nach der Flammenzeremonie...“ Jetzt hielt Zuko es für angebracht sich einzuschalten. „Natürlich NICHT.“, stellte er richtig und bediente sich an den Krebsen. „Die Glückwünsche haben wir noch ganz gesittet entgegen genommen.“ Lees Grinsen verhiess nichts Gutes. „Soso. Da war wohl jemand ungeduldig.“ Jin sass puterrot neben ihrem Gatten, der nur ungerührt nach einem Schüsselchen mit Sonnenpfeffer-Paste griff. „Diese `Ungeduld´, mein Sohn, hatte einen triftigen Grund. WIR hatten nämlich bis nach der Hochzeit gewartet.“ „Stimmt!“ Jin nickte eifrig, froh, dass Zuko ihr den Rücken stärkte. „Wir waren brav.“ „ICH war brav, Kobold. Du hast nur ständig versucht, mich rumzukriegen.“ „Also ... ALSO ...!!!“ Zirah tat so, als hielte sie sich die Ohren zu. „Ich hör nichts! Laaalalalalaaaaaaa!“ „Oh. Entschuldige, Floh.“, tröstete ihr Erzeuger sofort. „DICH hat natürlich der Kranich gebracht.“ „Ah. Gut!“ Pippa blickte etwas hilflos zu ihrem frischangetrauten Ehemann auf. Doch Lu Ten zuckte nur mit den Schultern und meinte. „So sind sie immer, fürchte ich.“ „Pah! Nur weil Du in den Keller gehst, um das Grübchen unter Beweis zu stellen, müssen wir ja nicht auch solche Trauerklöße sein.“ „Das WAS?“, fragte Lu Ten indigniert. „Grübchen.“, wiederholte Lee. „Das da!“ er zog den linken Mundwinkel hoch und tippte mit dem Finger auf die entstandene Falte. Sein älterer Bruder schnaubte verächtlich. „Sowas hast Du, aber ich nicht.“ „Bitte? Klar hast Du´s auch!“ Als Gäste sich näherten, musste die Zankerei leider vertagt werden. Der Abend war schon recht weit fortgeschritten, als Lu Ten endlich die Gelegenheit fand, eine dringende Sache zu klären. Er fand, was er suchte, auf der großen Terrasse, die die Südseite des Sonnensaals flankierte „Vater?“ Zuko beendete seine Betrachtung des Sternenhimmels und wendete sich um. „Ja?“ „Störe ich?“ „Wie kommst Du darauf?“ „Vielleicht möchtest Du lieber alleine sein.“, murmelte der Kronprinz etwas vage. Dieses untypische Verhalten veranlasste Mylord, seine Braue zu heben. „Nein, ich möchte lieber wissen, was meinem Sohn auf dem Herzen liegt.“ „Ich ... habe mich noch nicht entschuldigt.“ „Entschuldigt? Wofür?“ „Für mein Verhalten. Nach meiner Rückkehr. Ich war ...“ „Unglücklich?“ „Das auch. Doch vor allem ... ich hätte mich nicht so verschanzen dürfen. Ihr alle habt versucht mir zu helfen, aber ...“ Er brach ab und zuckte mit den Schultern. „Ich weiss.“, seufzte Zuko. „Wenn uns etwas plagt, verrammeln wir die Türen, nicht wahr? Deine Mutter hat lange gebracht, mir das auszutreiben. Und selbst heute gibt es Dinge, die ich mit mir allein ausmachen muss. Zumindest bilde ich mir das ein. Sie hat gelernt damit umzugehen, lässt mich wissen, dass sie da ist und wartet, bis ich soweit bin. Na ja ... meistens. Manchmal knackt sie die Austernschale auch mit Gewalt.“, fügte er mit einem halben Lächeln hinzu. Dann wurde er wieder ernst. „Dachtest Du wirklich, wir hätten einfach nur zugesehen, wie du immer unglücklicher wirst?“, fragte er und betrachtete Lu Ten eindringlich. „Ich dachte, ich hätte es gut genug versteckt.“ „Gut? Mag sein. Gut genug für Deine Familie? Nein.“ „Dann ist es wohl mein Glück, diese Familie zu haben.“ „Ich hoffe. Aber es tat weh, zu sehen, dass wir die in dieser Situation keine Stütze sein konnten.“ „Aber ... das ward ihr! Auch wenn es nicht so gewirkt hat.“ „Ich weiss, dass Dich die Tatsache, mein Sohn zu sein, oft genug Deiner Entscheidungsfreiheit beraubt ...“ „Papa ...“ „Und ich weiss, dass es nicht leicht ist, mit dieser Verantwortung zu leben, Lu Ten. Wenn ich eine Wahl hätte, würde ich sie Dir nicht aufbürden. Aber ich kann sie an keinen anderen weitergeben. Und ich möchte es auch nicht. Ich kann mir niemanden vorstellen, der dieser Aufgabe ebenso gewachsen wäre, wie Du. Nur, zu sehen, wie sehr es Dich manchmal belastet ...“ „Das tut es nicht! Nicht über die Maßen. Manchmal ... Ja, manchmal würde ich gern etwas anderes machen. Manchmal gäbe ich alles darum, nur der Sohn einer Weberin und eines Kellners zu sein. Aber nur manchmal. Ich schätze, jeder hat mal die Schnauze voll. Mein Alltag sieht einfach etwas anders aus, als der der meisten. Doch ich mache meine Arbeit gern und ich mache sie gründlich. Schliesslich hatte ich den besten Lehrer. Du hast mich auf meine Aufgabe vorbereitet. Tust es jeden Tag. Du hast mir beigebracht, was es heisst Verantwortung zu übernehmen. Wenn ich Dir, oder euch, in der Zeit nach meiner Rückkehr das Gefühl gegeben habe, nicht mehr euer Sohn sein zu wollen, dann tut mir das schrecklich leid!“ „Nein.“, wehrte Zuko ab. „Mir tut es leid. Wenn ich könnte, liesse ich meinen Kindern die Freiheit, ihr Leben zu leben wie sie es wünschen. Denn das ist etwas, dass ihr mich gelehrt habt. Etwas, dass Du mich gelehrt hast. Und das ist wahrscheinlich die größte und wertvollste Lektion meines ganzes Lebens. Du hast mir beigebracht, dass ich ein Vater sein kann. Einfach so. Indem ich bin, wie ich bin. Ich hatte nämlich eine Höllenangst davor. Und jetzt? Ich kann ich Dir nur sagen: Es ist bei weitem mein Lieblingsjob!“ „Hm.“ Lu Ten lächelte und blickte seinem Vater in die Augen. „Neben der Kobold-Dressur?“ „Ah ... DAS ist ein Hobby!“ Als Zuko wenig später neben Jin trat, sah sie kurz auf, griff nach seiner Hand und drückte sie in stummem Einverständnis. Es gab eben niemanden, der ihn so verstand, wie diese Frau. „Ob die Kinder so glücklich werden, wie wir?“, murmelte er. „Ich weiss nicht, ob überhaupt jemand so glücklich sein kann.“, antwortete sie leise und legte den Kopf an seine Schulter. „Die Hälfte macht einen ja schon ganz kirre.“ „Damit kann ich leben.“ „Du bist eben tapfer wie kein Zweiter!“ „Ob wir uns schon zurückziehen können?“ „Was ist das nur mit Dir und Hochzeitsfeiern?“ „Du denkst, ich bräuchte Hochzeitsfeiern dazu?“ „Äh ... nein. Ich weiss es schliesslich besser.“ „Ja, das tust Du!“ „Ja, das tu ich.“ „Kobold?“ „Ja?“ „Drei Worte.“ Sie sah ihn mit diesem speziellen Leuchten in den Augen an, das allein ihm vorbehalten war „Und ich Dich!“, flüsterte sie. Am nächsten Morgen Da Zuko beschlossen hatte, sie hätten sehr wohl das Recht, sich frühzeitig zurückzuziehen, war das gut ausgeruhte Herrscherpaar am nächsten Morgen mutterseelenallein im Speisesaal. Zuko verschwand, seiner morgendlichen Routine folgend, erst einmal mitsamt Teetasse hinter einer Zeitung. Jin suchte ihrerseits eben eine Auswahl an Schinken, Ei und Pasteten zusammen, als ihr etwas in den Sinn kam. „Findest Du es nicht auch komisch, dass Lu Ten nichts von seinem Grübchen gewusst hat?“, fragte sie beiläufig und schob ihm den voll beladenen Teller zu. „Danke!“, brummte er. „Schon. Lee, Kiram und Aya haben schliesslich das gleiche.“ „Ja, nicht wahr? Und Du.“ Langsam senkte sich die Lektüre Seiner Lordschaft. „Wie bitte?“ „Du auch! Was denkst Du denn, von wem die Kinder sie haben?“ „Das weiß ich doch nicht! Von mir jedenfalls nicht!“ „Zuko!“ Sie musste lachen. „Natürlich haben sie sie von Dir. Die drei Jungs und Aya haben exakt Dein Lächeln!“ Wie vom Donner gerührt starrte Zuko sein Weib an. „Armer Schatz!“ Schnell erhob sich Jin, krabbelte auf seinen Schoß, nahm ihm die Zeitung aus der Hand und zog seinen Kopf zu sich. „Wie ich sehe, sitzt der Schock tief. Du hast Dich also noch nie im Spiegel angelächelt?“ „Warum sollte ich mein Spiegelbild angrinsen? Das wäre ... dämlich!“ Dafür bekam er einen langen Kuss. „Ich hab wirklich ein LOCH in der Backe!?“, grummelte er dann. „Ja, Drache, hast Du! Und diese vier Kinder von Dir gelten als überaus charmant. Fünf mal darfst Du raten, warum. Wegen des Lochs in der Backe, das sie von Dir geerbt haben.“ „Ach. Und mein fünftes Kind gilt als uncharmant?“ „Dafür, dass du bis eben noch nichts von Deinem Charme wusstest, klingst Du jetzt aber sehr gekränkt.“ „Na ... Also ICH mag auch das ohne Grübchen.“ Als Reaktion auf ihr ansteckendes Lachen, stellte er das Thema dieser Diskussion unter Beweis. Prompt legte Jin ihren Finger auf die Furche „Da ist es ja.“, flüsterte sie und drückte zärtlich ihre Lippen darauf. „Das ist ... Ein Feuerlord hat kein Grübchen zu haben.“ „Fein. Dann gehört es ab jetzt eben mir!“ „So?“ „Ja!“ „Das tut es doch sowieso.“ „Zuko!“ Sie umfasste sein Gesicht. „Du bist so s ...“ „Keine Adjektive mit S!“ „Üss?“ „Nein.“ „Exy?“ „NEIN!“ „Wundervoll?“ „Kann man gelten lassen.“, räumte er gnädig ein. ***ENDE*** Nachwort So, das war´s mal wieder. Wie immer geht mein Dank an Pe(tra), die sich geduldig stundenlange, wirre Plots anhören musste, an alle Kommentar und ENS-Schreiber. Und natürlich generell an alle, die ihre Freude an der Geschichte hatten (haben). Vielen, vielen Dank für eure Treue und diesmal auch für eure Geduld, Diese Story hat leider etwas gedauert. Dafür wuchs parallel die nächste Geschichte um Aya auch schon ein bissl. Der Prolog von "Der Wächter des Drachen" steht schon online, würde mich freuen, wenn ihr dort vorbeischaut, und auf meine Aya-Maus achtgebt! Dann macht´s gut, bis hoffentlich bald! Eure Alexandra P.S.: Oh neeee! Jetzt hab ich doch glatt noch das wichtigste vergessen: Ihr alle dürft euch auch bei Chrissiem bedanken, denn ohne sie hättet ihr noch VIEL mehr Fehler vorgesetzt bekommen. ^^ Danke Chris! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)