Memory von _Zara_ ([Ray/Tala♥Mariah]) ================================================================================ Kapitel 4: Unbedachte Worte --------------------------- „Brian fordert dich zu einem Match heraus!“ „Was?“, fragte der Chinese ungläubig. Tala musterte seinen Gegenüber. In dessen Augen konnte er ein aufloderndes Feuer erkennen. „Ist das so schwer zu verstehen?“, murrte der Lilahaarige neben ihm. „Oder willst du dich etwa davor drücken wie ein Feigling? Ehrlich gesagt würde es mich nicht überraschen! Ihr mickrigen Chinesen seid alle so! Schau dir nur an, wie die Dorfbewohner sich alle versteckt haben aus Furcht!“ Er hatte Recht. Das ganze Dorf war wie verlassen. Nicht einmal von Kevin konnte man eine Spur entdecken. Das Mädchen, das bis jetzt hinter Ray gestanden hatte, ging nun ein paar Schritte nach vorne. Dieser Kerl hier, mit seinem kühlen Blick und den roten Haaren… ‚Ist es nicht viel mehr dein Stolz, der an dir nagt?’ Auf einmal schoss ein stechender Schmerz durch ihren Kopf. Sie fiel auf die Knie. Das Atmen fiel ihr schwer. Alles um sie herum begann zu verschwimmen. Der Schwarzhaarige bemerkte erschrocken den Zustand seiner Freundin. Er setzte sich zu ihr und legte seinen Arm um ihre kalten Schultern. „Geht es dir nicht gut?“ Er bekam keine Antwort. Mariah bedeckte mit einer Hand ihr Gesicht. Mit der anderen krallte sie sich in dem schlammigen Boden fest. Was war los mit ihr? Dieser Mann, sie kannte seinen Namen…und wer war…? „Ray …“, begann sie keuchend, „Was ist das? Es tut so weh! …wer ist…Brian?“ ‚Hab keine Angst! Er ist heute gar nicht hier!’ Der Schwarzhaarige begriff sofort, dass Mariah dabei war, ihre Erinnerungen wieder zu erlangen. Zornig wandte er sich den Stehenden zu. „Wo ist er? Habt ihr eigentlich die geringste Ahnung, was dieses Schwein ihr angetan hat?!“ „Es war ihre alleinige Entscheidung!“ Tala betrachtete die Rothaarige, wie diese immer mehr in sich zusammensackte. Kurz hob sie ihren Kopf in seine Richtung. „Wovon redet ihr? Was passiert hier mit mir?“, fragte sie geschwächt. Der Russe warf dem Schwarzhaarigen einen verwunderten Blick zu. „Sie weiss es nicht?“ Der Gefragte verneinte. „Belass es dabei! Es wäre besser!“, riet dieser ihm. Seine Antwort stieß auf völlige Ignoranz. „Verschwinde gefälligst!“, schrie Ray ihn wütend an. „Und wage es nicht, hier jemals wieder mit deinem verfluchten Team aufzutauchen!!“ Ian rümpfte seine Nase und schaute den Chinesen höhnisch an. „Nicht ohne diesen Kampf! Brian gibt sonst nie seine Ruhe!“ ‚Deal ist Deal! Für diese Nacht gehörst du mir!’ „Hört endlich auf damit!!!“ Alle drehten sich zu Mariah um. Sie war aufgestanden und drohte, abermals zur Seite hin umzufallen. Als Ray ihr helfen wollte, schubste sie ihn weg und wich etwas zurück. „Du hast es mir verschwiegen …“, flüsterte sie. Sie ging ein Stück in Richtung des hohen Eisberges, der sich inmitten des Dorfes empor hob, als ob sie fürchtete, einer der Anwesenden könnte ihr zu nahe kommen. „Nichts hast du mir gesagt!!!“, schrie sie nun ihren völlig entsetzten Freund an. ‚Was hast du nur getan?’ Ihr Gang wankte. Die ersten Tränen rannen über ihre Wangen und hinab an ihrem Hals. „Wieso hast du mich belogen?“ Ihre Stimme wurde wieder etwas leiser, bis sie kaum noch zu vernehmen war. „Ihr alle habt…gelogen…“ Der Schwarzhaarige wollte sie aufhalten, doch die beiden Russen versperrten ihm den Weg. „Nein, Mariah, hör mir zu! Lass es mich erklären…!“ Mit Gewalt versuchte er, durch die Barriere der Männer zu kommen, um seiner Freundin zu folgen, aber seine Kraft hatte inzwischen zu sehr abgenommen. Die Rothaarige tappte benommen zu dem gläsernen Gebilde. Sie konnte schon nicht mehr die anderen hören oder sehen. Immer mehr Augenblicke aus ihrer Vergangenheit belagerten ihre Gedanken. Sie liefen wild durcheinander. Erst mit der Zeit schienen sie ein klares Bild zu ergeben. ‚Tue nichts, das du später bereust, denn es ist viel schwieriger, das Verbrechen an sich selber wieder gut zu machen, als du erahnst!’ Sie schluckte. Ein Zittern durchfuhr ihren Körper. Verweint sah sie in ihr Spiegelbild an der glatten Eiswand. Da entdeckte sie plötzlich einen jungen Mann am Boden hinter ihr liegen. „Lee!?!“ ‚Mariah, bitte tu es nicht!’ Sie stürzte zu dem Schwarzhaarigen. Er war kaum ansprechbar. Als er sie neben sich spürte, öffnete er mühsam seine Augen. „Renn weg …bevor er zurück kommt…!“ Er hustete. Behutsam versuchte sie, ihn zu stützen. „Was ist mit dir passiert, Lee?“ Der Gefragte blieb stumm. Auf die Lippen des Chinesen legte sich ein Lächeln. „Es tut mir alles so leid, Mariah! Ich wünschte, ich hätte das alles verhindern können! Aber jetzt, da alles zu spät ist, bitte ich dich um einen letzten Gefallen!“ Die Rothaarige nickte, auch wenn sie nicht genau wusste, was ihr Freund vorhatte. „Lauf! So schnell du kannst! Flieh aus dem Dorf und dreh dich nicht um!“ Auf einmal vernahmen sie ein Scharren neben sich. Mariah fuhr herum. Ein großer Mann mit bläulichen Haaren verschränkte grinsend seine Arme vor der Brust, daneben ein Blonder, der die Verletzten siegessicher musterte. „Glaubst du, damit kannst du sie schützen?“, wollte Brian von Lee wissen. Das Mädchen sprang auf. Ihr Herz schlug heftig. ‚Da du anscheinend so sehr von dir überzeugt bist, wie wäre es dann mit einer Wette?’ „Jetzt lauf doch!!!!“ Lee hatte seine letzten Kräfte zusammen genommen und sich aufgerichtet. Mariah starrte voller Angst die Russen an. Für einen Augenblick war sie wie gelähmt. Dann rannte sie los. Immer weiter durch das menschenleere Dorf. Ihre Wunden beachtete sie gar nicht mehr. Es war ihr egal. So schnell wie ihre Beine sie trugen lief sie durch den angrenzenden Wald, immer, immer weiter. Die Häuser in ihrem Rücken waren bereits durch die vielen Bäume verdeckt. „Du einfältiger Idiot!“ Brian trat mit voller Wucht in die Rippen von Lee, sodass ein Knacken zu vernehmen war und Blut aus dessen Mundwinkel rann. Er fiel zu Boden. Nasser Schlamm bedeckte seine Kleidung. Der Blauhaarige setzte seinen Fuß auf den Nacken und presste den Liegenden nach unten. „Da gehörst du hin, du Schwächling!“ Spencer packte ihn am Arm. „Lass uns zu Tala gehen! Mit dem hier sind wir fertig!“ Sie ließen den Chinesen zurück und schlenderten lässig zu den anderen Mitgliedern der Demolition Boys, die gerade dabei waren, Ray festzuhalten. Als dieser den Russen erkannte, riss er sich in vollem Zorn los und schlug dem Ankömmling mit aller Wucht ins Gesicht. Er wollte ihm noch eine verpassen, doch der Blonde stellte sich dazwischen und zerrte den Schwarzhaarigen beiseite. „Du elender Penner!!“ Lachend wischte sich der Blauhaarige das Blut seiner aufgeplatzten Augenbraue weg. Gerade als er auf seinen Gegenüber losgehen wollte, drehte sich Tala um und entfernte sich ein Stück. Auffordernd blickte er zu seinen Teamkollegen, sie sollten ihm folgen. „Ich sehe, du bist stark verwundet.“, richtete er sich an Ray. „Das Match soll fair sein.Wir werden es in zwei Tagen austragen.Bis dahin solltest du wieder einigermaßen bei Kräften sein.“ „Moment mal!“, schritt Brain ein. „Ich will das sofort erledigen!“ Genervte blaue Augen ließen ihn verstummen. Er gab ein leises Knurren von sich, dann machte er sich mit Ian und Spencer auf den Weg. „Wohin zum Teufel willst du?“, fragte der Blonde. „Wir werden uns in der nahegelegenen Stadt einquatieren!“ Der Lilahaarige stapfte gelangweilt den Berg hinauf. „Ich muss das jetzt nicht verstehen, oder?“ Mariah schnappte nach Luft. Erschöpft lehnte sie sich gegen einen Baum und verschnaufte. Sie war endlich zum Stehen gekommen, irgendwo in den Bergen. „Ich bin im Kreis gelaufen!“, bemerkte sie. Ihr Schädel brummte. Wo sollte sie jetzt hin? Die Lufttemperatur sackte spürbar ab. In der Nacht würde sie bestimmt unter 0° rutschen. Verzweifelt sank sie auf die Knie. Sie hatte ihre Freunde im Stich gelassen. Ray, Lee, das ganze Dorf. Ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Sie fühlte sich ähnlich wie bei diesem Geschehnis vor einem halben Jahr. Sie war hilflos, schwach und ängstlich. Vor Schande vergrub sie ihr Gesicht in ihrem durchnässten Kleid. Es hatte seine helle, zarte Farbe verloren, stattdessen einen schmutzigen Ton angenommen. An manchen Stellen klebte immer noch das Blut. Plötzlich hörte sie Stimmen. Mariah zögerte erst, dann guckte sie vorsichtig hinter dem Stamm hervor und erblickte vier Männer ganz in der Nähe. Einer von ihnen lief voraus. Er hob sich von den anderen ab. Als er kurz innehielt, bemerkte er das Mädchen. Erschrocken duckte sie sich zurück in ihr Versteck. Sie betete zu Gott, dass er sie nicht gesehen hatte oder sie zumindest in Ruhe lassen würde. Doch sie schien kein Glück zu haben. Auf einmal raschelte es, Zweige knacksten und sie spürte, wie etwas weiches ihren Körper bedeckte. „Wie weit ist es denn noch? Meine Füße tun weh!“, nölte Ian. Keiner sagte etwas. Der Rothaarige ging wenige Meter vor den restlichen Mitgliedern der Demolition Boys. Abwesend betrachtete er den dunklen Himmel, der nicht weichen wollte. Hier und da segelten kleine Eiskristalle herab, legten sich auf seine Stirn und schmolzen. Schnee war etwas reines, so empfand er. Er deckte nach furchtbaren Kriegen die blutigen Schlachtfelder zu und besänftigte damit die Erde. Nach jedem Kampf ließ Tala es schneien. Vielleicht, um damit die Götter um Verzeihung für seine Vergehen zu bitten. Ganz genau verstand er es selbst nicht. Es war nicht so, dass er gläubig gewesen wäre, nein, es wusste nur, dass seine Aufträge, die er für Boris und die Biovolt Corporation erledigte, teilweise unmenschliches Verhalten von ihm abverlangte. In den Biovolt Camps wurden den Bladern ihre Gefühle abtrainiert, dennoch hatte er ein schlechtes Gewissen. Es glich einem Ritual, um mit sich Frieden zu schließen. Er wollte an irgendetwas glauben, um nicht alleine die ganze Last der Schuld tragen zu müssen. Ein Donnern ertönte. „Ich hätte bei dem Kampf nicht ganz so viel Kälte freisetzen lassen sollen!“, sagt er zu sich. Er schweifte über den Wald, der sich am Wegesrand auftat. Da bemerkte er im Augenwinkel eine Bewegung. Es war nur für eine Sekunde, doch die reichte aus, damit er das Mädchen erkannte. „Geht schon mal vor. Ich komm gleich nach!“ Ohne weiter auf die verdutzen Mienen seiner Kollegen zu achten, lief er an ihnen vorbei in den Wald. Dort blieb er stehen. Er wartete noch kurz bis die anderen gänzlich hinter den Felsen verschwunden waren, dann drückte er einen dunkelgrünen Strauch mit weißen Blüten beiseite. Dieser war mit spitzen Dornen versehen, sodass Kratzer sich über seine Haut zogen und eine rötliche Spur hinterließen. Er schlüpfte aus seinen grauen Mantel und legte ihn dem Mädchen, das dort kauerte, über die Schultern. „Bist du weggelaufen?“ Mariah zuckte zusammen. Wie erstarrt wagte sie es nicht, sich zu rühren. Sie kam sich vor, wie ein Tier, das in der Falle saß und nun ihrem Jäger zum Opfer gefallen war. „Hier draußen ist es zu gefährlich! Du solltest nicht hier sein!“, ermahnte er sie. Misstrauisch sah die Rothaarige ihn an. War er nicht eigentlich ihr Feind? Warum wollte er ihr helfen? Ein kühler Wind pfiff an ihr vorbei und hinterließ eine Gänsehaut. „Du willst nicht zurück in dein Dorf, hab ich recht?“ Die Gefragte schüttelte den Kopf. Sie fürchtete sich zu sehr vor dem Urteil der Leute dort und auch vor dem von Ray. Er würde sie verachten für ihre Feigheit, sie vielleicht verlassen. Der Rothaarige streckte ihr seine Hand entgegen. „Dann komm mit mir! Ich kann dir helfen!“ Erstaunt sah sie auf. Tala lächelte etwas. Zögerlich nahm sie sein Angebot an. Sie hoffte, sie hatte keinen Fehler begangen, dass sie ihm vertraute. Er nahm sie mit in die Vorregionen von Chengdu, die Hauptstadt von Sichuan, die hinter den Bergen lagen. Die Straßen waren leer, kein Mensch war noch unterwegs. Nach ein paar Minuten kamen sie bei einem Hotel vorbei, in das sie eintraten. Der Russe ließ sich an der Rezeption einschreiben und den Zimmerschlüssel aushändigen. Der Hotelier begutachtete die verdreckte Kleidung der Rothaarigen mit Unwohlsein, sagte aber nichts. Behutsam schloss Tala die Tür hinter ihnen. Das Licht flammte auf. Im Flur war es kalt. Die Heizung musste sich wohl erst warmlaufen. „Wenn du möchtest kannst du ein Bad nehmen!“, schlug der Rothaarige vor. „Ich muss schnell runter und ein dringendes Telefonat führen!“ Er verließ das Appartement. Mit einem Schlag war es still. In Mariahs Ohren rauschte es noch leise. Sie betastete sie vorsichtig. Jene begannen zu glühen, da es draußen so furchtbar kalt gewesen und sie beinahe erfroren wären. Mit langsam erfolgenden Schritten schlenderte das Mädchen durch die Räume des Appartements. Erst jetzt fühlte sie den nassen, klammen Stoff ihres Kleides an sich. Sie zog sich aus und warf die Fetzen in eine Ecke. Dann betrat sie die Dusche und ließ sich heisses Wasser über den Körper laufen. Die Rothaarige seufzte. Sie machte sich Sorgen um Lee. Er hatte sie beschützt, doch sie, was hatte sie für ihn getan? Sie hatte ihn verlassen. So sehr hoffte sie, dass ihm Brian und Spencer nicht noch mehr zugefügt hatten. Und was mit Ray passiert war, dass wusste sie auch nicht. Sie hatte ihn einfach zurückgelassen. In diesem Augenblick war sie so schrecklich wütend auf ihn gewesen, so sehr, dass sie es nicht mehr länger in seiner Gegenwart ausgehalten hätte. Aber nun, wo ihr Zorn abgeschwächt war, bereute sie es. Abermals musste sie weinen. Sie war vor ihren Problemen geflohen. Doch was jetzt? Ein Ende der Qualen war nicht in Sicht. Sie war ganz alleine. Mit der Brause wusch sie sich die Tränen weg. Sie hörte, wie Tala zurück kam und etwas im Nebenzimmer abstellte. Mariah hängte die Dusche auf, stieg aus der Wanne und wickelte sich in ein Handtuch, welches dort bereit lag, ein. Im Appartement hatte sich die Luft bereits angenehm erwärmt. Als sie die Tür vom Bad öffnete, beschlugen die Fenster im Zimmer durch den Dampf. „In dem Karton sind ein paar Sachen für dich.“, vernahm sie die tiefe Stimme des Russen aus dem Nebenzimmer. „Ich wusste nicht, was dir gefällt, also hab ich alles einpacken lassen.“ Und tatsächlich befand sich auf dem Tisch eine große schwarze Schachtel, voll mit den edelsten und schönsten Kleidungsstücken, die Mariah je gesehen hatte. Eines schien wertvoller als das andere. Tala musste sie alle in einer Edel-Boutique in dem Hotel gekauft haben. Mit Vorsicht zog sie einen Rock und das passende Oberteil dazu an. Es passte perfekt. Es gab noch eine Mütze, die zum Gesamten gehörte, doch diese ließ sie noch im Karton liegen. Das Kostüm hatte eine auffällige Farbe. Die Rothaarige kannte den Namen. Es nannte sich ‚königsblau’. Wie ein Licht strahlte es und ließ das Mädchen älter erscheinen. Ihre zerissene Haarschleife, die sie zuvor abgenommen hatte, legte sie beiseite. Sie passte nicht mehr zu ihr. Mariah schlüpfte in die silberne Ballerinas, die ebenfalls mitgeliefert worden waren. „Ich kann das nicht annehmen!“, sagte sie, als sie im Türrahmen von Talas Zimmer stand. Der Rothaarige saß auf der Coach und blickte von seiner Zeitung auf. Ihr Anblick verschlug ihm die Sprache. Er schluckte. Traurig wandte er sich von ihr ab. „Wieso? Ich würde es dir gerne schenken!“ Sie ging zu ihm hin. „Ich schätze, es war sehr teuer und …-“ „Schon in Ordnung. Ich habe genug Geld. Mir wird es nicht fehlen.“ Für Mariah war dieser Mann, der da auf der Coach saß und las, ein unlösbares Rätsel. Sie verstand ihn nicht. Normalerweise hatte sie eine gute Menschenkenntnis, doch bei ihm versagte sie. Er glich einer undurchdringbaren Wand aus Stahl oder irgendetwas, was halt nicht zu durchdringen war. Seufzend ließ sie sich neben ihn fallen. Er beachtete sie nicht weiter, sondern starrte immerzu auf seine Zeitung. Bestimmend nahm sie sie ihm aus der Hand und schaute ihn an. „Wieso hilft du mir? Ist das eine Falle?“ Tala stand auf und ging zum Schrank. Mit einem Ruck öffnete er sein durchnässtes Hemd, zog es aus und nahm sich ein neues. „Wenn du so misstrauisch bist, wieso bist du dann überhaupt mitgekommen?“, war die Gegenfrage. „Hatte ich eine Wahl?“ Trotzig lehnte sich die Rosa-rothaarige zurück. Leicht verärgert stellte sich Tala vor sie und bückte sich zu ihr herunter. Sie sah ihm absichtlich nicht in die Augen. Daraufhin packte er ihr Kinn und zog sie an sich heran. „Du glaubst, ich bin genauso eine Ratte wie die anderen Mitglieder der Demolition Boys?“, fragte er mit einem intensiven Blick. Das Mädchen presste seine Hände gegen seine Brust. Er kam ihr näher, sodass sie seinen Atem auf der Haut spüren konnte. „Lass das!“, befahl sie ihm panisch. „Du glaubst, ich würde genauso handeln wie Brian, nur weil ich die Gelegenheit dazu habe, nicht wahr?“ Er ließ sie los und verschwand im anderen Zimmer. Vor Erleichterung holte Mariah tief Luft. Er hatte ihr nichts getan. Er hatte nichts gegen ihren Willen getan. Etwas bedrückt merkte sie, dass sie seine Freundlichkeit als böses Spiel heruntergehandelt hatte. Sie hatte ihm nicht vertraut, nur deswegen war er zornig geworden. Zögerlich folgte die Rothaarige dem jungen Mann. „Entschuldige, das war nicht fair von mir!“ Jener lehnte sich, mit dem Rücken zu ihr gewandt, aus dem Fenster und atmete die kühle Luft ein. Seine Haare wurden durch den starken Wind, welcher immerzu draußen tobte und Stunde um Stunde schlimmer wurde, durcheinander geweht. „Ist schon gut.“ Die Nacht war hereingebrochen. Mariah lag in einem großen Bett und hatte sich auf eine Seite gedreht. Sie vernahm das Rütteln des Sturms an den Fenstern, als wollte er sie wegreissen und ans andere Ende der Welt schleudern. Und dann noch Talas leises Schnaufen aus dem anderen Zimmer. Er schlief auf der Coach. Der Gedanke, dass sie nicht ganz alleine war, beruhigte sie. Dennoch vermisste sie die Nähe von Ray, seine sanften Berührungen, seine Küsse. Seit langer Zeit hatte sie niemandem mehr so vertraut wie ihm. Sie wünschte sich, er wäre jetzt bei ihr und könnte sie in den Arm nehmen und ihr ihre momentane innere Kälte austreiben, die sie seit einer Stunde nicht mehr loslassen wollte. Es blieben nur noch zwei Tage bis zu seiner Abreise. Sollten sie diese getrennt verbringen? Machte er sich überhaupt Sorgen, wo sie gerade war oder verschwendete er keinen einzigen Gedanken an sie, da sie ihn einfach so verlassen hatte? Im Augenwinkel bemerkte Mariah plötzlich, wie sich langsam die Tür zu ihrem Zimmer öffnete und eine dunkle Gestalt hereintrat. Sie richtete sich auf und blinzelte in die Dunkelheit. „Tala? Bist du es?“, fragte sie unsicher. Eine männliche Stimme antwortete ihr: „Der ist nicht da!“ Man konnte heraushören, dass dieser Mann grinste, während er sprach. Er schritt auf sie zu, bis er keinen Meter mehr von ihr entfernt war. Der Chinesin blieb beinahe das Herz stehen, als sie den Fremden erkannte. „Ich muss mich noch bei meinem Kumpel bedanken, dass er mir bescheid gegeben hat, wo du steckst!“, sagte er mit seinem unverwechselbaren russischen Akzent. Mariah durchdrang ein stechender Schmerz. Tala hatte sie an ihn verraten! Aus diesem Grund hatte er telefoniert! Das war sein dringendes Gespräch gewesen! Tränen der Verzweiflung rannen ihr nun seitwärts an ihrem Gesicht hinunter. Es war ihr, als wäre sie um ein halbes Jahr in die Vergangenheit zurückversetzt worden. Sollte es schon wieder passieren? Sollte sich alles wiederholen? Verängstigt sah sie ihrem Peiniger in die Augen, der begann, sich über sie herzumachen. „Nein, Brian, bitte tu es nicht!“, flüsterte sie mit zittriger Stimme. Doch der Angesprochene scherte sich nicht darum. Er legte sich auf sie und drückte ihre Arme auf die Matratze. Sie leistete keine Gegenwehr. Ihr Körper stand nicht mehr unter ihrer Kontrolle, sondern unter der des Russen. Brian küsste sie. Das Mädchen fuhr zusammen, als sie seine Zunge spürte. Dieser Kuss, er war ganz anders, als die zärtlichen von Ray. Er raubte ihr die Sinne. ‚Warum? Warum tust du das?’ Alte Erinnerungen an jene Nacht schossen in ihren Kopf. ‚Du sollst mich nie wieder vergessen! Nicht einmal, wenn dein geliebter Ray bei dir ist!’ Der Blauhaarige zog ihr ihr Hemd aus und warf es neben das Bett. „Mariah..“ Er wiederholte ihren Namen immer und immer wieder. „Mariah…Mariah…Mariah…“ Alles drehte sich um die Rothaarige. Schwärze umhüllte sie. „Mariah!?“ Mit einem Mal verschwand die Schwere von Brians Körper von ihr. Sie schreckte hoch und fand sich aufrecht sitzend zwischen weichen Kissen wieder. Tala saß an der Kante von ihrem Bett und hielt ihre Hand. Als sie ihn erblickte, versuchte sie sich loszureissen. „Du hast mich an ihn verraten!!“, schrie sie ihn an. Sie wollte ihn von sich stoßen. Doch so sehr sie auch versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, er ließ sie nicht los. „Was ist mit dir?“, fragte der Rothaarige verwirrt. „Brian…er war hier…“, brachte sie tränenerstickt hervor. „Du hast mir gesagt, ich kann…dir vertrauen…“ Beruhigend streichelte Tala ihre Wange. So aufgelöst hatte er sie noch nie erlebt. In ihren Augen konnte er ihre wahnsinnige Angst erkennen, die in ihr herrschte. „Mariah, es war nur ein Traum!“, sagte er mit einem besänftigenden Ton. Behutsam umarmte er sie. Sie fühlte sich so zerbrechlich an. „Ich habe es ernst gemeint! Du kannst mir vertrauen!“ Die kleine Chinesin klammerte sich an seinem Hemd fest. Abermals hatte ihr Tala geholfen. Er schien immer da zu sein, wenn sie Angst hatte. Er vertrieb die schrecklichen Erinnerungen, die drohten sie zu verschlingen. Er gab ihr die Wärme zurück, die sie verloren hatte. Mariah bemerkte erschrocken, dass sie dabei war, etwas für den Russen zu empfinden. Noch bis eben war sie mit ihrem Herzen nur bei Ray gewesen, doch nun blockierte Tala ihre Gedanken. Dieser strich zärtlich über ihre Haare. „Ich verspreche dir, ich lasse nicht zu, dass irgendjemand dir jemals wieder weh tut!“, flüsterte er. „Wenn du mich brauchst, ich werde immer bei dir sein!“ Weitere Tränen tropften auf das Bettlaken. Der Stoff färbte sich an den Stellen dunkler. Sie löste die Umarmung und sah den Rothaarigen verzweifelt an. Seine blauen Augen schienen ihre Seele einzufangen. Sie vereinnahmten diese so sehr, als ob sie sie nie wieder freigeben wollten. „Diese Albträume…sie quälen mich. Ich weiss nicht, was ich tun soll…“, sagte Mariah benommen. „Ich kann einfach nicht vergessen, was damals passierte…was mit Brian passiert ist…“ „Es gäbe einen Weg, der dir helfen würde, darüber hinwegzukommen.“, begann Tala. Ein trauriger Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Nur bin ich mir nicht sicher, ob es die richtige Lösung ist!“ „Könnte ich dann wieder leben wie früher?“, fragte das Mädchen hoffnungsvoll. „Würde ich es dann endlich schaffen, jemandem aufrichtig zu lieben?“ Er wich ihrem Blick aus. Für einen kurzen Moment wünschte er, er hätte erst gar nichts gesagt. Denn dieser Ausweg gefiel ihm ganz und gar nicht. Auf keinen Fall wollte er, dass ein anderer Mann Mariah anfasste, doch das wäre zwangsläufig die Bedingung. „Der einzige Weg, über etwas Schlimmes hinwegzukommen, ist…“ Der Russe unterbrach seinen Satz. Langsam stand er auf ohne sie anzuschauen, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen. „Man muss das durchstehen, wovor man sich am allermeisten fürchtet, was für dich bedeutet, du müsstest…nochmal mit Brian…“ Fassungslos starrte die Rosa-rothaarige ihren Gegenüber an. War das sein ernst? Sie konnte nicht einmal die Gegenwart ihres Peinigers ertragen! Allein sein Grinsen ließ sie erzittern! Aber je länger sie darüber nachdachte, desto mehr verstand sie es. Man konnte es mit einem schlimmen Traum vergleichen: wenn man vor etwas davon lief, folgte der Schrecken einem, egal wohin man auch flüchtete. Man musste sich zusammenreissen und sich seiner Angst stellen. Nur so schaffte man es, sie zu besiegen. Im Zimmer war es totenstill. Von draußen prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben und verursachte ein gleichmäßiges, betäubendes Geräusch. Ab und zu streifte ein herumfliegender Zweig das Glas. Der Sturm wütete die ganze Nacht und ließ verwischte Gefühle zurück. „Hey, aufwachen!“ Ray kam zu sich. Unter Schmerzen richtete er sich auf. Ein kleiner, grünhaariger Junge befand sich zu seiner Rechten. „Wo…wo bin ich?“, fragte der Schwarzhaarige, immer noch durcheinander. „In der Nähe von Chengdu! Ich habe dich hier auf dem Boden aufgegabelt!“, antwortete Kevin. „Wahrscheinlich bist du durch den Blutverlust ohnmächtig geworden!“ Plötzlich kamen Rays Erinnerungen zurück. Erschrocken fuhr er herum und suchte mit den Augen die Umgebung ab. Als er nichts entdecken konnte, fasste er sich verzweifelt an den Kopf. „Ich habe sie die ganze Nacht gesucht, aber sie ist spurlos verschwunden!“ Seine Stimme zitterte und durch seinen klammen Körper fuhr ein Beben. Sein Zopf hatte sich gelöst und ließ das dichte, schwarze Haar nun wild in sein Gesicht hängen. Ununterbrochen peitschte der Regen von oben auf die beiden Männer herab. „Was ist mit Lee?“ Ray erhob sich. „Ich habe ihn in ein Krankenhaus in der Stadt gebracht!“ Wankend ging er ein paar Schritte, bevor er wieder zusammenbrach. Kevin eilte zu ihm. „Wo willst du denn hin? Das Dorf liegt in der anderen Richtung!“ „Ich muss Mariah finden!“, keuchte der Chinese. „ Ich habe ihr doch versprochen, sie nie wieder alleine zu lassen!“ Der Grünhaarige versuchte, seinen Freund zur Vernunft zu bringen: „Sie ist bestimmt irgendwo in Sicherheit! Du solltest dich jetzt lieber erstmal um dich kümmern!“ Leicht irritiert von Kevins Freundlichkeit gab Ray nach. Er würde es keinen Meter mehr weiter schaffen, das fühlte er. Der Kleine hatte es schwer, seinen Kollegen aufrecht zu halten. Schließlich erreichten sie das Dorf, in welchem wieder ein paar wenige Menschen umherliefen und ihre letzten Sachen vor dem Sturm retteten. „Das war ganz schön heftig gestern!“, sagte der Grünhaarige, während er Rays Wunden im Arztzimmer desinfizierte und ihm Verbände anlegte. „Ich meine, als die Demolition Boys plötzlich hier aufgetaucht sind!“ „Du warst nicht mal dort.“, gab der andere zurück. Beide schwiegen für eine Weile. Kevin wusste, was er andeuten wollte. Und mit seiner Anschuldigung hatte er auch nicht ganz unrecht. „Als Lee und ich im Dorf ankamen, haben sie bereits auf uns gewartet. Wir haben versucht, sie irgendwie dazu zu bewegen, so schnell wie möglich wieder abzureisen, aber dieser Brian hat sich nur darüber lustig gemacht.“, begann der Kleine zu erzählen. „Lee hat sie herausgefordert: sollte er sie in einem Kampf besiegen können, dann müssten sie verschwinden. Er wollte Mariah davor bewahren, Brian wiederzusehen. Der Kerl mit den roten Haaren… –“ „Tala?“ „Ja, der hat die Herausforderung angenommen. Ich glaube, ich habe noch nie miterlebt, wie Lee so auseinander genommen wurde! Diese Russen haben viel besser durchdachte und verarbeitete Blades wie wir! Am Ende hatte Tala eine solche Kälte mit seinem Bit Beast Wolborg erzeugt, dass es sogar begann zu schneien!“ „Also deswegen hat sich das Wetter so schlagartig umgestellt!“, fügte Ray hinzu. Der Grünhaarige stand auf und lief zur Tür. „Ich geb dem Ältesten noch schnell Bescheid, dann fahren wir nach Chengdu und gucken, wie es Lee inzwischen geht!“ Damit bog er um die Ecke. Ray saß auf dem Bett und dachte an seinen Freund, der jetzt gerade wohl im Krankenhaus lag und schwer verletzt war. Gestern, als er ihn auf der Erde liegend vorgefunden hatte, hatte er schon die Befürchtung, er wäre nicht mehr am Leben, so furchtbar war sein Anblick. Zum Glück hatte sie ein Auto an der Hauptstraße eine kurze Strecke mitgenommen, sonst hätten sie die Stadt wohl nie erreicht. Der Arzt meinte, Lees Rippen wären mehrfach gebrochen, dazu kamen noch weitere Brüche, Prellungen und innere Blutungen. Er wurde sofort auf die Intensivstation gebracht und operiert. Mehr wusste er selbst nicht. Eine nette Krankenschwester hatte ihm ebenfalls geraten, sich behandeln zu lassen, doch er machte sich zu große Sorgen um Mariah. In dem kurzen Augenblick, als sie Lee auf der Krankenbare an ihm vorbeigeschoben hatten, hatte dieser Rays Hand gepackt. Er hatte ihm gestanden, dass er seine Freundin geküsst hatte, obgleich er über Rays Gefühle für Mariah im Bilde war. ‚Es tut mir leid, Ray…ich war dumm…! Bitte sei nicht sauer…’ Dann war er im OP-Saal verschwunden. Der Schwarzhaarige realisierte erst jetzt, was das eigentlich bedeutete. Obwohl dieser Gedanke an ihm nagte, machte er seinem Freund keine Vorwürfe. Immerhin lag es schon ein halbes Jahr zurück. Was ihm viel mehr Kopfschmerzen bereitete, war, dass er nicht wusste, wo Mariah sich derzeitig befand. Diese Nacht war es unheimlich kalt gewesen. Es gab bestimmt noch weitere Erdrutsche, die durch diesen starken Regen ausgelöst worden waren. Humpelnd ging der Chinese hinaus aus der Hütte. Von weitem konnte er Kevins grüne Haare erkennen. Dieser winkte ihn zu sich. Gedankenverloren sah Ray noch ein letztes Mal in den wolkenbedeckten Himmel und fühlte, wie ein paar Wassertropfen auf seiner Haut aufkamen. „Ich hoffe, es geht dir gut, Mariah...!“ Eine kräftige Hand legte sich auf die Schulter der Rothaarigen. „Zieh dir was warmes an und dann folge mir!“ Gelbe Augen sahen dem jungen Mann fragend entgegen. „Wohin?“ „Gleich gegenüber befindet sich ein Krankenhaus! Ich möchte, dass sie sich deine Verletzungen dort mal anschauen!“ „A-Aber...mir geht es gut!“ Tala warf ihr wortlos seinen schwarzen Mantel in den Schoß und zog sich ein anderen, grauen an, den er zuvor aus dem Schrank geholt hatte. Schnell war klar, dass er keine Widerrede duldete. Still stiegen sie die Treppen hinunter in die Vorhalle des Hotels. Als Mariah hinaus ins Freie trat, stieg ihr sofort ein frischer und kühler Geruch in die Nase. Es roch nach kalten Morgentau und nach Schnee. Wenige Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die dicken, dunklen Wolken, die träge am Himmel hingen und tauchten die ganze Stadt in ein dämmriges Licht. Kein Vogelgezwitscher war zu hören. Ein eisiger Windzug pfiff durch die leeren Gassen und erzeugte einen heulenden Gesang. Das Mädchen lief ein wenig voraus, so als ob sie begierig darauf war, zu sehen, wie der gestrige Sturm gewütet hatte. Sie entdeckte viel zersplittertes Holz auf den Straßen und einige zerbrochene Fensterscheiben, deren Scherben sich nun auf dem Boden verbreiteten. Mariah wandte sich zu ihrem etwas abseits stehenden Gefährten um. Dieser schritt stumm durch die kleinen Pfützen, die sich durch den Regen in den Unebenheiten des Asphalts gebildet hatten. Eine angenehme Wärme kam ihnen entgegen, als sie den weißen Eingangsbereich des Krankenhauses betraten. Tala deutete auf einen DINA4-Block, der aufgeschlagen, mit einem Stift daneben, auf dem Empfangstisch lag. Sie sollte sich in die Patietenliste einschreiben. Als die Chinesin gerade den Stift ansetzte, las sie, ohne es bewusst zu wollen, den Namen des Vorgängers. Ihre Hand begann zu zittern. „Was ist?“, fragte Tala nach, als er das Zögern von ihr bemerkte. Doch er bekam keine Antwort. Stattdessen suchte Mariah hastig den Raum nach einer Krankenschwester ab, bis sie eine etwas ältere mit bräunlichen Haaren entdeckte. Sie stürmte auf sie zu und packte sie an den Schultern. „Wo ist das Zimmer 102?“ Die Frau konnte vor Schock erst nicht erwidern. Aber dann beschrieb sie ihr den Weg. Ohne sich auch nur um Tala oder die Schwester zu kümmern, stürmte die Rothaarige los und verschwand am Ende eines Ganges um die Ecke. Eine blonde Krankenschwester gesellte sich zu der immer noch leicht verstörten Kollegin. „Was wollte das Mädchen?“ Die Brünette fasste sich an den Kopf. „Sie wollte wissen, wo sich das Zimmer mit diesem schwer verletzten befindet!“ „Du meinst den, der gestern eingeliefert worden ist?“ Sie nickte. Dann überlegte sie kurz und ging zu dem Empfangstisch. „Darf ich mal?“ Der Russe machte ihr Platz. Die Blonde warf einen Blick auf die Liste. „Ach ja, hier steht es! Jetzt erinnere ich mich auch wieder! Der Patient heisst Lee Chou!“ Tala hielt inne. War ER das? Sofort lief er den selben Gang entlang, in dem er Mariah hatte verschwinden sehen. An der Ecke bog er ab. Seine Gedanken drehten sich nur noch um diesen einen Mann, gegen den er gekämpft hatte. ER musste es sein! Aber wieso war es nötig gewesen, ihn hieher zu bringen? Natürlich, der Kampf war hart gewesen und er hatte sicher etwas abbekommen. Aber mit diesem Ausmaß hatte selbst er nicht gerechnet! Oder war noch etwas anderes passiert, nachdem er weggegangen war? Tala hastete die Treppen hoch, die gar kein Ende mehr zu nehmen schienen. Endlich angekommen im 4. Stock, blieb er kurz stehen, um seine Orientierung wiederzufinden. Vor ihm lagen zwei lange Gänge. Welchen sollte er nehmen? Er sah auf die Zimmernummern. Vor ihm war das Zimmer 98. Also musste 102 dort hinten... Schon fiel ihm die offene Tür ins Auge. Er konnte ein leises Schluchzen vernehmen, das immer deutlicher wurde, je näher er dem Zimmer kam... „...es tut mir Leid!“, flüsterte der Rothaarige traurig. „Das wollte ich nicht...“ Mariah kniete an einem Bett. Ihr Gesicht hatte sie in der weißen Decke vergraben. Ihre Hände umklammerten fest die des jungen Mannes, der regungslos da lag und von einem Gerät, das gleich daneben angebracht worden war, künstlich beatmet wurde. Viele Schläuche hingen am Bettrand herab. Das entsetzliche Bild, dass sich Tala bot, ließ ihn an der Wand hinabsinken. „Es...tut mir so...wahnsinnig Leid...“ „Wir sind da!“ Der Schwarzhaarige zog die Eingangstür auf. Sein kleiner Freund huschte an ihm vorbei. Rays Schritte erfolgten nur zögerlich. Er hatte Angst davor, was für Nachrichten ihn nun hier erwarten würden. Was wäre, wenn sie ihm sagen würden, dass die Operation nicht gelungen war? Kevin zeigte in eine Richtung. „In der Patientenliste steht, sie haben ihn ins Zimmer 102 verlegt! Wir müssen da lang und dann die Treppen hoch!“ Ein Gefühl der Erleichterung breitete sich in Rays Körper aus. Es schien alles gut gelaufen zu sein. Irgendwann, so hoffte er, würde vielleicht wieder alles so werden, wie es einmal war. Irgendwann, wenn wieder Ruhe in das Dorf eingekehrt war und er wieder zusammen mit Lee und Mariah baden gehen konnte, dann könnte sein Wunsch vielleicht Wirklichkeit werden. Als sie an der Tür ankamen, hörten sie Stimmen, die aus dem Raum zu ihnen heraus drangen. „Wer kann das sein?“, fragte der Grünhaarige leicht verdutzt. Ray hielt Kevin zurück, die Tür zu öffnen. Diese eine Stimme, er kannte sie. Sein Herzschlag fing an, sich zu verschnellern. War SIE das? Wie war sie hierher gekommen? Wo war sie die ganze Nacht gewesen? Als er die Klinke langsam herabdrückte, betete er, dass er recht, dass er sich nicht getäuscht hatte. Es konnte nur SIE sein! Nur sie! „Wieso?“, keuchte die Rothaarige. Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Er hat mich herausgefordert!“, erklärte ihr der Russe. „Er hat versucht, dich vor unserem Anblick zu bewahren! Er wollte nicht, dass du uns zu Gesicht bekommst!“ Mariah streichelte vorsichtig über die Wange von Lee. Dabei schüttelte sie leicht ihren Kopf. „Du bist so blöd!“, sagte sie mit gebrochener Stimme. „Warum hast du das nur getan? Siehst du nicht, was du angerichtet hast?“ Sie krallte sich in das Shirt von dem Schwarzhaarigen. Tränen benetzten die blasse Haut von ihm. „Du hast doch alles nur noch schlimmer gemacht...“ Tala setzte sich zu ihr ans Bett. Warum empfand er plötzlich Mitgefühl mit ihnen? So etwas kannte er gar nicht. Aber aus irgendeinem Grund konnte er das weinende Gesicht von Mariah nicht ertragen. Je länger er sie ansah, desto mehr schmerzte es ihm in seiner Brust. Bryan hatte also recht gehabt! Er hatte es nur nicht zugeben wollen... Jetzt fiel ihm auch wieder dieses lächelnde Gesicht ein, dieses eine lächelnde Gesicht, dass er bis jetzt in seinem Unterbewusstsein verborgen gehalten hatte. "Siehst du es?", fragte das lachende Mädchen ihren Begleiter. Der Rothaarige konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er trat von hinten an sie heran und umarmte sie. Diese errötete leicht, dann aber wandte sie sich zu dem jungen Mann um und gab ihm einen Kuss. Er erwiderte ihn. "Dort möchtest du also mal wohnen?" Tala sah auf ein kleines, verschneites Dorf hinab. Die angrenzenden Bäume bogen sich unter der dicken Schneedecke. An ihren Ästen blitzten Eiskristalle herab, in denen sich die wenigen Sonnenstrahlen in in allen Farben brachen. "Ja! Aber nur, wenn du mit mir zusammen hierher ziehst!", strahlte die Rothaarige zurück. Der Russe drükte sie fester an sich. Sanft strich er ihr über den Nacken. "Nichts auf der Welt könnte mich davon abhalten!" ... Verträumt schwelgte Tala in seinen Gedanken. Es fiel ihm gar nicht weiter auf, als er plötzlich, Mariah betrachtend, etwas vor sich hin murmelte: „Sie sieht ihr wirklich...unglaublich ähnlich...“ Auf einmal ging die Tür auf und zwei Männer standen dort und blickten auf sie mit großen Augen herunter. „Mariah?!“ Die Angesprochene drehte sich um. „Du...?“ Sie schluckte, als sie ihren Gegenüber erkannte. Dieser wollte sie freudig umarmen, als sein Blick auf den Russen fiel. Sofort überkam ihn der Hass auf diese Person und packte sie am Kragen. Ein Stuhl fiel mit einem lauten Krach um, als diese von Ray gegen die Wand gedonnert wurde. „Was hast du hier zu suchen, ah? Willst du dir ansehen, was du und deine kranken Leute angerichtet haben?“ Die Chinesin fuhr sofort dazwischen. „Ray, nein! Lass ihn in Ruhe!“ Sie befreite Tala aus den wütenden Händen ihres Freundes. „Was ist los mit dir? Wieso nimmst du diesen Bastard in Schutz?!“, wollte der Schwarzhaarige zornig wissen. „Er hat mir geholfen! Er ist nicht so wie der Rest der Demolition Boys!“ Ray verstand die Welt nicht mehr. Verteidigte seine eigene Freundin gerade ihren Feind?! Hatte Tala sie vielleicht dazu gebracht? „Geh aus dem Weg, Mariah! Du scheinst es nicht zu kapieren! Aber ich tue es und ich werde dem allen jetzt ein Ende setzen!“ Der Chinese versuchte sie beiseite zu schieben, doch sie drückte ihn bestimmend weg. Ray wurde immer wütender. Seine Freundin war ihm in den Rücken gefallen! Ihrem ganzen Stamm! Und vor allem Lee! Sein Verstand hatte sich längst ausgeschaltet. Zurück war nur der Hass auf die beiden geblieben, die sich ihm nun entgegenstellten. Mariah versuchte, ihn zu beruhigen: „Er ist kein böser Mensch! Ohne ihn wäre ich gestern verloren gewesen! Aber er hat mich bei sich aufgenommen und mir damit wahrscheinlich mein Leben gerettet!“ Rays Augen funkelten sie an. Er wusste nicht mehr, was er in diesem Moment alles zu Mariah sagte: „Hast du vor, dich deinem 'Retter' jetzt auch noch an den Hals zuwerfen?“ Die Rothaarige erschrak. Diese Kälte und dieser Ausdruck von tiefsten Hass hatte sie noch nie zuvor bei ihm gesehen! Wie hatte sie sich so sehr in ihm täuschen können? „...wie meinst du das?“ „Ich meine, erst den Kuss mit Lee, und jetzt noch hier mit Tala!“ „Ray, dass mit Lee, dass war...ich weiss auch nicht genau...ich hatte Angst und ich war so dankbar, dass er bei mir geblieben ist!“ „Ach ja? Und, warst du Tala auch schon 'dankbar' für seine aufopfernde Hilfe?“ Der Russe, der bis sich bis jetzt zurückgehalten hatte, erhob das Wort: „Hey, jetzt komm mal wieder runter! Wenn du jetzt nicht aufhörst, deiner Freundin Sachen an den Kopf zu werfen, die du dir in deinem Wahn zusammengesponnen hast, wirst du es später bitter bereuen!“ Der Angesprochene wich einen Schritt zurück. Abwertend betrachtete er seine Gegenüber. „Ihr scheint euch ja wirklich toll zu verstehen! Wieso heiratet ihr nicht gleich?“ Der Knall hallte in dem großen Raum wider. Niemand wagte, etwas zu sagen. Man konnte nur noch das leise Piepen der Geräte vernehmen. Tränen rannen über Mariahs Gesicht. Fassungslos stand sie vor Ray. Ein weiterer Knall schreckte die Anwesenden auf. „Ich...kann es nicht glauben...!“ Damit rannte die Rothaarige hinaus. Tala verließ ebenfalls den Raum. Auf der Türschwelle drehte er sich nochmal zu Ray um. „Du bist wirklich ein Idiot!“, sagte er kühl und schloss die Tür. Der Grünhaarige, der bis jetzt kein Wort rausgebracht hatte, fand nun endlich seine Sprache wieder. Vorsichtig näherte er sich seinem Freund, der sich nun mit gesenktem Kopf auf das Bett setzte. „War das nötig?“, fragte er. Behutsam strich sich Ray über die Wange. Sie brannte. Dieser Schmerz ließ seinen Verstand langsam wieder zurückkehren. „Was hab ich da nur zu ihr gesagt?“, murmelte er leise vor sich hin, ohne Kevins Frage zu beantworten. „Wieso konnte ich nicht meine verdammte Klappe halten?“ Er warf einen kurzen Blick auf den bewusstlosen Lee. „Tala hat recht, nicht wahr?“ Die schwarzen Haare fielen über seine Schultern, hinab, über den gebeugten Rücken. Ein verzweifeltes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Ich bin wirklich ein totaler Idiot...!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)