Victim von Anshie (Another Story) ================================================================================ Kapitel 1: Victim ----------------- Serie: Death Note Disclaimer: Death Note © by Obata Takeshi & Ohba Tsugumi, Death Note : Another Note © by Nishio Ishin Beta: Ryusei Widmung: Shirou, Juliet & Minami_Takahashi dafür, dass sie meine Opfer cosplayen, B für das wunderbare Cover-Bild Anmerkung: In Another Note wird nicht sehr viel auf das Aussehen der drei Opfer eingegangen. Sehr viel von dem hier verwendeten Chara-Design entspringt meiner Fantasie. Ich bitte darum, es nicht zu klauen, ohne mich zu fragen. Danke! ^-^ – – – V – I – C – T – I – M – – – „Das werden unschöne Narben bleiben. An vielen großflächigen Körperpartien sind die Wunden zu tief, als dass sich die Haut noch von selbst regenerieren könnte.“ „Das wird in der Anstalt sowieso niemanden interessieren.“ „Doktor!“ „Was? Empfinden Sie es denn nicht in gewisser Weise als Schande, einem Mörder das Leben gerettet zu haben? Davon abgesehen ist es eigentlich die reinste Zeitverschwendung. Was glauben Sie denn, was den hier erwartet? Mehr als die Todeszelle wird der in seinem kurzen Leben sowieso nicht mehr zu Gesicht kriegen.“ „…“ „Ach nun schauen Sie doch nicht so. Sie sind jung. Sie machen sich zu viele moralische Gedanken. Lernen Sie, zwischen Arbeit und privater Einstellung zu differenzieren. Sehen Sie? Ich mache hier bloß meinen Job. Was ich über die Patienten denke, spielt keine Rolle solange ich sie alle gleich behandele. Und ich habe den Kerl hier behandelt, wie alle anderen Patienten auch. Damit ist meine Aufgabe erfüllt. Verstehen Sie, was ich sagen will, Schwester Brooks?“ „Ja, ich denke schon, Doktor.“ „Also, lassen Sie uns gehen.“ Seine Aufgabe erfüllt, ja? So, so… Mit einem leisen Klacken schloss sich die Tür und wieder kehrte Stille ein in Zimmer 409 des Hope Krankenhauses in Los Angeles. Ein leises, permanentes und äußerst penetrantes Ticken drang an das Ohr des Patienten. Irgendwo im Raum musste sich ein Wecker oder eine Wanduhr befinden. Er hörte es nur leise, so wie er auch die Stimmen des Arztes und der Schwester nur leise gehört hatte, aber das Geräusch machte ihn schier wahnsinnig. Er wollte schlafen. Warum wirkte dieses verdammte Schlafmittel oder was auch immer sie ihm heute wieder gespritzt hatten, nur nicht mehr? Er wollte doch nur seine Ruhe haben. Doch nicht einmal die schien man ihm zu gönnen. Der Geruch von Desinfektionsmittel und Gummi lag in der Luft. Krankenhausgeruch, um es zu spezifizieren. Ekel erregend. Allmählich wurde er wacher und seine Wahrnehmungskraft kehrte zurück. Zu dem Ticken der vermeintlichen Uhr gesellte sich das laute Piepen der Apparate. Wieso war er überhaupt hier? Er sollte doch eigentlich tot sein… Langsam öffneten sich seine schweren Lieder und große, dunkle Augen erblickten zuerst die kahle, weiße Zimmerdecke. Er wusste nicht, ob er den Körper bewegen konnte. Im Moment spürte er ihn kaum. Kein Wunder, voll gepumpt mit Drogen wie er war. Dabei halfen sie ihm doch kein bisschen. Es tat trotzdem noch weh. Sein Körper vielleicht nicht, aber… „Ts!“ Das Geräusch, was über seine blassen, aufgesprungenen Lippen kam, war krächzend und kläglich leise. Es klang nicht so, wie er vorgehabt hatte, es klingen zu lassen. Seine Stimme gehorchte ihm nicht. Das einzige, was er von seinem Versuch, die Stimmbänder zu belasten, hatte, war ein drückender Schmerz in der Brust. So schwach. So schwach war sein Körper nun. Und mit diesem Körper hatte er Menschenleben genommen. Mit dieser heruntergekommenen Persönlichkeit hatte er IHN besiegen wollen. Was für einen erbärmlichen Anblick musste er jetzt wohl bieten? „Mörder“ nannten sie ihn, pah! Keine Ahnung hatten sie. Überhaupt keine! Er dachte daran zurück, wie es begonnen hatte… ~ „Ich finde das wirklich gut gelungen, Mister.“ Der hagere Mann mit den Bartstoppeln und dem billigen Jackett lächelte schief. „Da stehen Sie aber alleine da mit Ihrer Meinung, junger Mann.“ Die Sonne schien warm an diesem wolkenlosen Tag Ende Juni. Die Vögel sangen wie immer die gleichen abgedroschenen Lieder und wie immer klang es als ob sie sagen wollten, dass sie der Rest der Welt nichts anginge. Tauben pickten Essensreste aus den Fugen des Asphalts und schreckten nicht davor zurück, sich kleinen Kindern so aufdringlich zu nähern, dass diese ihre Eistüten vor Schreck selbst fallen ließen. Eine Vielzahl an Menschen tummelte sich im Park. Familien genossen ihren freien Samstag bei einem gemeinsamen Picknick, Verliebte trafen sich zu einem Date und manch einer kam hier her, um seine Gedanken einfach schleifen zu lassen, um die graue, stinkige Welt voll von menschlichem Abschaum und Abgasen, Enttäuschung und Sinnlosigkeit für eine Weile zu vergessen. So auch diese beiden, die sich an diesem Tag aus einem Zufall heraus – denn es missfiele beiden Betroffenen sicher, es als Schicksal zu bezeichnen – getroffen hatten. Der Brünette, Mitte dreißig, die zausen Haare zu einem Zopf gebunden, der ein bisschen an einen Rattenschwanz erinnerte, stand von der alten Holzbank auf, die ihn allein rein optisch sehr an seine derzeitige Lebenssituation erinnerte: heruntergekommen, sperrig, abgenutzt und eigentlich nur noch reif für den Sperrmüll. Der jüngere Schwarzhaarige setzte sich im selben Moment. Nicht etwa aus Abneigung oder Ablehnung gegenüber zu viel Nähe fremder Personen machte der Ältere Platz, sondern rein zufällig ohne tiefgründigeren Beweggrund, einfach weil ihm gerade danach gewesen war zu gehen. Der Schwarzhaarige wiederum war gerade erst gekommen und hatte beschlossen sich eine Weile zu setzen, die Menschen zu beobachten und über den nicht vorhandenen Sinn des Lebens zu grübeln. Dreist und unverschämt, fern von jeglicher Erziehung wie er nun mal war hatte er zuallererst einen Blick auf die Mappe mit den Papieren geworfen, die der Brünette zurückgelassen hatte, ehe er dem offensichtlichen Eigentümer schließlich nachrief: „Hey, Mister! Sie haben da was verloren!“ Der Brünette drehte sich um und warf einen kurzen Blick auf die braune Mappe, die der Fremde, der schätzungsweise zehn Jahre jünger war als er selbst, bei der Bank winkend hochhielt. „Werfen Sie es weg“, antwortete er schließlich interesselos. „Ich habe es mit Absicht liegen gelassen.“ „Mit Absicht?“, wiederholte der Schwarzhaarige fragend und blickte noch einmal nach unten auf die dicke Mappe in seinen Händen. Nicht, dass er von so etwas viel Ahnung gehabt hätte, aber es sah nicht aus wie etwas, was man mit Absicht liegen ließ. Der Brünette konnte nicht sagen wieso, denn er legte grundsätzlich wenig Wert auf soziale Konversationen und dennoch war er umgekehrt. So war es dazu gekommen, dass er nun seit rund zwanzig Minuten, in denen er eigentlich hatte nach Hause gehen und den passenden Strick für seinen Hals suchen wollen, stattdessen hier im Park auf dieser alten, viele Geschichten erzählenden Bank saß und zusah, wie dieser schwarzhaarige Zausel mit den dunklen Schatten unter den Augen – oder war das Schminke? – sein Manuskript las. DAS Manuskript. Dieser unheilvolle Stapel Papiere, mit unzähligen schwarz gedruckten Lettern darauf, die für „nicht gut genug“ befunden worden waren. „Sind Sie Schriftsteller?“, fragte der Schwarzhaarige ihn schließlich. „Oder ist das nur ein Hobby?“ Es war kein Wunder, dass man ihn nicht erkannte. Er war schließlich nichts weiter als ein Klatschpressenautor. Niemand achtete auf den klein gedruckten Namen am Ende einer Satire oder Kritik in einem Sonntagsmagazin. Und erst Recht niemand machte sich die Mühe den Namen eines solchen Niemandes im Impressum zu suchen oder gar im Internet. Dabei fand man über jede Suchmaschine sogar ein paar Bilder von ihm. „Freiberuflich“, antwortete er dem Fremden schließlich. Und da fiel ihm ein, dass er hier tatsächlich nun schon eine gute halbe Stunde mit einem wildfremden jungen Mann saß, dessen Namen er noch nicht einmal kannte. „Entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich heiße Believe Bridesmaid. Ich schreibe Artikel für die Sunday News und diverse kleinere Magazine.“ Diverse kleinere Magazine traf es gut, wenn man bedachte, dass schon bei Sunday News die größte Neuigkeit aus Schlagzeilen anderer Zeitungen bestand, die über den Konkurs der Sunday News berichteten. Der Schwarzhaarige ließ sich jedoch nichts anmerken. Believe konnte nicht sagen, ob er die Sunday News gar nicht kannte oder tatsächlich nur nicht wusste wie schlecht es schon seit Monaten um sie stand. Der Jüngere blickte nur starr auf die Hand, die ihm zur Begrüßung entgegengestreckt wurde, sah seinem Gegenüber dann ins Gesicht ohne den freundlichen Gruß zu erwidern und lächelte. Etwas peinlich berührt ließ Believe die Hand wieder sinken. Ein komischer Kauz war das hier. „Freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Bridesmaid. Nennen Sie mich Ryuzaki. Wir sind vom selben Schlag, was die freiberufliche Arbeit angeht.“ Ah, dann bewegte er sich in der gleichen Branche? Womöglich hatte er sich deshalb die Zeit genommen sein Manuskript anzusehen. „Nun, Mr. Bridesmaid…“, fuhr der Schwarzhaarige fort und stand auf. Wollte er schon gehen? Das wäre bedauerlich. Gerade hatte Believe angefangen zu hoffen, dass er sich an seinem letzten Lebenstag wenigstens noch einmal anständig mit einem Gleichgesinnten unterhalten konnte. Zu seiner Verwunderung machte der junge Mann, der sich selbst als Ryuzaki vorgestellt hatte, (Believe kannte sich nicht gut genug mit asiatischen Namen aus, um sagen zu können, ob es ein Vor- oder ein Nachname war) keine Anstalten zu gehen. Stattdessen stellte er erst den einen Fuß, der in einem ausgelatschten Turnschuh steckte, auf die Bank, dann den anderen. Schließlich ging er in die Hocke, machte einen Buckel, kratzte sich am Hinterkopf und widmete sich in dieser äußerst unbequem aussehenden Sitzhaltung wieder dem Manuskript in seinen Händen. „Sie haben sich damit bei einem Verlag beworben, verstehe ich das richtig?“ „Ja“, antwortete Believe. „Und sind abgelehnt worden?“ „Natürlich.“ „Wieso ist das für Sie natürlich?“, wollte Ryuzaki wissen und wandte seinen Blick dem neben ihm Sitzenden zu. „Nun ja, es ist der dreizehnte Verlag gewesen“, erklärte Believe seufzend. Er hatte die Hände vor den Knien gefaltet und sich nach vorn gebeugt, die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt. „Nicht nur, dass die Dreizehn eine Unglückszahl ist“, fuhr er fort. „Nach einer gewissen Anzahl von Versuchen gibt man die Hoffnung einfach auf, verstehen Sie?“ „Die Dreizehn ist doch keine Unglückszahl!“, antwortete Ryuzaki mit einem empörten Tonfall, den Believe sich nicht erklären konnte. Der Fokus seiner Aussage hatte ja nicht einmal auf der Dreizehn liegen sollen, sondern auf die Tatsache, dass er die Hoffnung aufgegeben hatte. Das war wirklich ein komischer Kauz, der sich da zu ihm gesellt hatte. Moment mal! Wer hatte sich hier eigentlich zu wem gesellt? Schwer zu sagen. „Die Dreizehn ist eine sehr mysteriöse Zahl, finden Sie nicht? Sie erinnert mich an meinen Namen.“ An seinen Namen? Believe verstand nicht. Aber er fragte auch nicht nach. Ryuzaki wandte den Blick wieder ab und starrte auf die braune Mappe, geradezu als könne sie dadurch jeden Moment zum Leben erwachen. „Und nun da Sie die Hoffnung ohnehin verloren haben, wollten Sie Ihre harte Arbeit einfach hier liegen lassen? In der Hoffnung, dass jemand sie findet und entweder interessiert mit nach Hause nimmt, wo sie nach einmaligem Lesen in einer dunklen Schublade verschwinden würde oder er sie desinteressiert gleich in den Mülleimer dort vorn verfrachtet?“ Er deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger zu dem überfüllten Mülleimer aus dünnen, geformten Eisendrähten, der wenige Meter von der Bank entfernt stand. Wahrscheinlich gerade weit genug weg, um den bestialischen Gestank von der Bank aus nicht ertragen zu müssen. Es tat ein bisschen weh zu hören, was aus seiner tatsächlich harten Arbeit wohl geworden wäre, hätte ihn nicht der Schwarzhaarige mit seiner seltsamen Manier dazu gebracht sich zu ihm zu setzen. Aber im Grunde war es wohl das, worauf es hinauslief. „Ja, ich denke, so könnte man es durchaus sagen.“ Ryuzaki lächelte. Seltsame und vor allen Dingen unpassende Momente zu lächeln suchte dieser Kerl sich aus, fand Believe. „Ich denke, das wäre ein Verlust.“ Believe, der den Kopf in Wehmut einen Moment gesenkt hatte, blickte wieder auf. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte mich natürlich nicht einmischen. Es geht mich ja auch gar nichts an, ob sie die Lust an diesem trübsinnigen Leben verloren haben und Sie eigentlich nur noch die Frage nach der geeigneten Suizidmethode hier hält.“ Believes sonst so trübe kleine Augen weiteten sich und seine Schultern hoben sich angespannt. „Woher…?“, rutschte es ihm prompt heraus. Der Schwarzhaarige lachte. Nun lächelte er nicht nur im falschen Moment, nein jetzt lachte er sogar. Lachte er ihn aus? Verunsichert wandte der, der eigentlich mehr Lebenserfahrung von ihnen beiden haben sollte, sich ab. Er konnte damit nicht umgehen. Bei Frauen hatte es ihn auch immer verunsichert, wenn sie gelacht hatten. Er wusste nie, ob man über ihn lachte oder ob es nur eine freundliche Geste, als Zeichen dafür, dass man das Gespräch genoss, hatte sein sollen. Wahrscheinlich hatte er deshalb nie eine Freundin gehabt. Von seiner Unbeholfenheit bei sozialen Kontakten einmal abgesehen – wer wollte schon so einen zugegebenermaßen weniger attraktiven, eigenbrötlerischen Wirrkopf wie ihn haben? Eine anständige Frau jedenfalls nicht. „Entschuldigen Sie bitte meinen Sarkasmus“, grinste Ryuzaki. „Es war nur so eine Vermutung. Sie sahen aus wie auf dem Weg zum Galgen. Es geht mich natürlich nichts an.“ Das tat es allerdings nicht. Ganz schön dreist, dieser Bursche! Aber was spielte es eigentlich für eine Rolle, ob er diesem Fremden von seinem Vorhaben erzählte oder nicht? Wirklich glauben würde er es sicher ohnehin nicht und etwas dagegen unternehmen erstrecht nicht. Believe Bridesmaid würde sich hier noch etwas oberflächlich unterhalten, dann würde er nach Hause gehen, einen Abschiedsbrief an seine Mutter schreiben, zu der er seit der Trennung von seinem Vater und seinem eigenen Auszug keinen Kontakt mehr gehabt hatte und von der er nicht einmal wusste, ob sie überhaupt noch lebte und dann würde er sich das alte Seil aus dem Keller schnappen und diesem verbitterten, unsinnigen Leben ein für alle Male ein Ende setzen. So würde es passieren und nicht anders. „Um ehrlich zu sein liegen Sie mit ihrer Vermutung gar nicht mal so falsch“, seufzte Believe schließlich und lächelte ironisch. „Tatsächlich?“ Kam es ihm nur so vor oder wirkte seine Überraschung allgemein gespielt? Dieser Typ wurde Believe zunehmend suspekt. Beängstigenderweise hatte er das Gefühl, dass sein Gegenüber wirklich gewusst hatte, dass er sich umbringen wollte. Wer war er? Ein Todesengel? Unfug! „Nun ja“, murmelte Ryuzaki und legte den Daumen nachdenklich an die Lippen. „Das ist durchaus vergeudetes Talent, aber da kann man wohl nichts machen.“ Nichts machen? Hieß das, er wollte ihn nicht aufhalten? Kein „Denken Sie doch mal an die Menschen, die Sie vermissen werden“ oder „Selbstmord ist keine Lösung, nur ein Fluchtweg.“ Nichts dergleichen? Das machte ihn noch einmal verdächtiger. Einerseits war Believe enttäuscht, denn er hatte erwartet die Reaktion des Fremden voraussehen zu können. Andererseits verschaffte sich dieser wirre Schwarzhaarige mit seiner ungewöhnlichen Art einen gewissen Respekt bei ihm. Er war eine interessante Person, keine Frage. „Wie dem auch sei“, begann der Besagte nach einigen Sekunden, in denen er offensichtlich auf eine Reaktion seitens seines Gegenübers gewartet hatte, erneut. Er streckte den Rücken durch, stand auf, sodass er einen kurzen Moment lang auf der Bank stand, vergrub die Hände in den Hosentaschen und hüpfte dann mit beiden Füßen gleichzeitig herunter. Wenn er so aufrecht stand, wirkte er gleich viel größer, als in dieser gekrümmten, kindischen Sitzhaltung. „Ich habe Ihnen genug Ihrer verbleibenden Lebenszeit gestohlen, Mr. Bridesmaid“, stellte er fest ohne seinen Gesprächspartner anzusehen. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag. Es wird noch nicht Ihr letzter sein.“ Und damit kehrte er ihm den Rücken. Würde es nicht? Wieso nicht? Woher wollte dieser Kerl das wissen? „Na warte!“, dachte Believe. „Dir werde ich’s zeigen.“ Er würde sich heute Abend erhängen, und sei es nur, damit dieser neunmalkluge Sonderling es am nächsten Tag in der Zeitung las und feststellen musste, dass er mit seiner Vorraussagung falsch gelegen hatte. Er hatte es ja ohnehin vorgehabt, also was spielte es für eine Rolle? Believe Bridesmaid brachte sich an diesem Abend nicht um. Und auch nicht am Abend darauf. Er wusste nicht einmal wieso. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab. ~ Quarter Queen war 13 Jahre alt, zierlich und zurückhaltend, höflich und trotz ihres allgemein alles andere als perfekten, jungen Lebens von fröhlicher Natur. Sie galt in ihrer Klasse als begabt und fleißig, jedoch leider auch als Außenseiterin. Ihre allein erziehende, streng katholische Mutter machte ihr das Leben nicht unbedingt immer leichter, auch wenn es natürlich nicht in ihrer Absicht lag, der Tochter Kummer zu bereiten. Es geschah wohl eher unbewusst. Nachdem Quarters Vater die kleine Familie bereits verlassen hatte, als Quarter erst 5 Jahre alt gewesen war, sorgte sich die Mutter selbstverständlich erst Recht um das Einzige, was ihr geblieben war. Dass ein 13-jähriges Mädchen in Los Angeles die Blümchenkleider, die sie ständig geschenkt bekam, nur trug, um der armen Mutter einen Gefallen zu tun, daran dachte Mrs. Queen nicht. Und daran, dass ihre Tochter dadurch zum Gespött unter Gleichaltrigen wurde, sowieso nicht. Sie sah schließlich so entzückend aus, ihr kleines Goldlöckchen. So herzallerliebst. Ihr Ein und Alles. Ihr ganzer Stolz. „Pass doch auf!“, schrie ein Mädchen mit heller, klarer Stimme, als sie ein Zweites mit voller Absicht mit beiden Händen an den Schultern zurückschubste und es so darstellte, als habe ihr die Andere im Weg gestanden. Der barsche Tonfall passte so gar nicht zu dem hübschen Gesicht. Ein anderes Mädchen hatte bereits hinter dem Opfer gelauert, fing es auf und schubste es lachend wieder zurück zu ihrer Komplizin. So führten die beiden ihr Spielchen eine Weile fort, während zwei andere Mädchen amüsiert lachend daneben standen. „Hört auf!“, jammerte das goldgelockte Opfer in der Mitte. Sie war zu schwach, als dass sie auch nur gegen zwei von ihnen eine Chance gehabt hätte. „Lasst mich endlich in Ruhe!“ Doch ihr Flehen blieb unerhört. Erst nach guten zehn Minuten kam ein Mann mittleren Alters aus der Bäckerei, vor der das Gezanke stattfand und stapfte wütend mit seinem dicken Bierbauch auf die Mädchen zu. „Nun ist aber Schluss da!“, gaffte er sie an und wedelte wild gestikulierend mit den Stummelärmchen. „Ihr verscheucht mir ja die ganze Kundschaft! Macht euch das Leben wo anders zur Hölle!“ „Ja, ja“, maulten die Mädchen wenig beeindruckt und verdrehten genervt die Augen. Einen letzten Stoß für ihr Goldlöckchen hatten sie noch übrig und der war so heftig, dass das arme Mädchen rückwärts stolperte und weich in einem Müllsack neben der dazugehörigen Tonne landete. Das schöne, pfirsichfarbene Blumenkleid bekam einen weniger schönen, großen Marmeladenfleck ab. „Sammelt mir ja meinen Müll wieder ein!“, rief der erboste Bäcker den Mädchen nach, doch die hatten sich längst gackernd aus dem Staub gemacht. Quarter seufzte, richtete sich auf und klopfte sich den Dreck vom Kleid. „Du, Mädchen! Sieh zu, dass du mir den Müll zusammenließt! Ausgeleerte Beutel nimmt die Müllabfuhr nämlich nicht mit!“ Und damit verschwand der dicke Herr wieder in seinem Geschäft. Quarter blickte auf den aufgerissenen Müllsack am Boden, dann auf ihr ruiniertes Kleid. Sie hatte es eh nie gemocht. Aber peinlich war es ihr trotzdem, dass sie mit diesem großen Fleck darauf nun den ganzen Weg bis nach Hause laufen musste. „Die schöne Marmelade.“ Quarter schreckte auf, als sich so plötzlich jemand vor sie auf den Boden kauerte und begann mit den Fingerspitzen den Müll aufzusammeln und ihn wieder in die Tüte zu stopfen. Sie legte den Kopf schief und beobachtete den jungen Mann von oben herab mit ihren großen blauen Augen. „Wieso wirft jemand so viel Marmelade einfach in den Müll? Das ist doch Verschwendung. Mir kommen fast die Tränen, wenn ich es sehe“, murmelte der junge Mann mit den schwarzen Haaren. Es war zum Glück nicht viel gewesen, was aus dem Müllsack gefallen war. Quarter fand ihre Stimme gerade wieder, als ihr Gegenüber so gut wie fertig war. „Vielen Dank, für Ihre Hilfe“, bedankte sie sich höflich. „Ich muss jetzt gehen. Entschuldigen Sie.“ „Passiert dir so etwas öfter, Quarter?“ Die Angesprochene hatte sich bereits zum Gehen umgedreht, doch nun blieb sie stehen und ihre großen Augen weiteten sich noch etwas mehr. Irritiert und mit verengten Brauen drehte sie sich um. „Woher wissen Sie wie ich heiße?“, fragte sie. Nun, wo der junge Mann stand, konnte sie ihn erstmals richtig betrachten. Er sah seltsam aus. So gebückt wie er ging, war er nur ein bisschen größer als sie, aber er war ein ganzes Stück älter. Ihre Mutter hätte sie ausgeschimpft, wenn sie so eine krumme Haltung an den Tag gelegt hätte. Der lange Pony des Schwarzhaarigen hing ihm über die Stirn und sogar über die Nase. Es sah so aus, als wäre er noch nie im Leben bei einem Frisör gewesen. Seine Augen waren dunkel, doch sie schienen im Licht rötlich zu glänzen. Irgendwie machte er Quarter Angst. „Ich habe deinen Namen vorhin aufgeschnappt“, erklärte Ryuzaki. „Ich kam aus dem Laden,…“ Er deutete auf die Konditorei. „…als deine Freundinnen dich so genannt haben.“ Quarter biss sich auf die Lippen und wandte den Blick ab. „Das sind nicht meine Freundinnen“, gab sie patzig von sich. „Wenn Sie uns beobachtet haben, dann hätte Ihnen das eigentlich auffallen müssen. Sie hätten auch einfach gleich was unternehmen können, anstatt nur herumzustehen und zu gaffen!“ Oho, das Mädchen hatte ja eine ganz schön große Klappe. Den anderen Mädchen gegenüber war sie vorhin dagegen sehr kleinlaut gewesen. Ryuzaki grinste amüsiert. „Wieso denn? Hätte ja auch sein können, dass du dich selbst wehren willst.“ Quarter verschränkte mürrisch die Arme vor der Brust. „Sehe ich so aus, als könnte ich das?“ Ryuzaki legte scheinbar nachdenklich den Zeigefinger an die Lippen. „Nein, jetzt wo ich so darüber nachdenke, eher nicht.“ Seufzend wandte Quarter sich ab. Was für ein Idiot. Es war ja ganz nett von ihm, ihr den Müll einzusammeln, aber sonst schien er ja nicht gerade der Hellste zu sein. „Entschuldigen Sie mich, ich muss jetzt wirklich gehen. Danke nochmals für die Hilfe.“ Eine äußerst ironische Betonung lag auf dem letzten Wort. „Quarter!“, rief Ryuzaki ihr erneut nach, nachdem sie bereits einige Schritte gegangen war. Er ging ein Stück schneller, um sie wieder einzuholen. „Fühlst du dich in letzter Zeit nicht gut?“ „Was?“ Quarter blieb stehen. Ihr Blick wandelte sich zu Entsetzen. Was wollte dieser Fremde überhaupt von ihr? Sie wollte nur endlich in Ruhe gelassen werden. War es denn nicht genug, dass sie in der Schule ständig gemobbt wurde? Musste ihr jetzt auch noch so ein dämlicher Psychopath auflauern? Was machte sie denn nur falsch? „Hast du öfter Schmerzen als sonst? Bist du öfter krank?“ Quarter schluckte. Er machte ihr Angst. Ziemlich sogar. Und zwar nicht nur mit seiner Aufdringlichkeit, sondern viel mehr damit, dass er Dinge über sie zu wissen schien, die er nicht wissen konnte. Und das, obwohl sie diesen Mann noch nie zuvor gesehen hatte. „Woher wissen Sie das? Spionieren Sie mich aus? Sind Sie ein Perverser?“, schoss es aus ihr heraus. Sie redete schneller und noch etwas aggressiver als zuvor. „Hören Sie mal, es geht Sie gar nichts an, ob ich krank bin oder nicht, kapiert? Ich kenn Sie ja nicht mal!“ „Dein Vater ist an Krebs gestorben, nicht wahr?“ Was? Was sagte er da? Quarters Mund öffnete sich einen Spalt breit und ihre Augen blickten starr in die ihres Gegenübers. „Du kanntest ihn kaum, aber ein paar Jahre nachdem er euch verlassen hat, hat deine Mutter dir das gesagt, als du sie um ein Treffen mit ihm gebeten hast, stimmt’s?“ Allerdings stimmte das. Sie war neun gewesen, als sie ihn hatte treffen wollen. Und da hatte ihre Mutter ihr gesagt, dass er tot war. Aber woher…? Das war gruslig. Sie würde ihrer Mutter davon erzählen, sobald sie zu Hause war. Womöglich kannte sie diesen Typen ja. Ein entfernter Verwandter? Aber wenn es so wäre, dann könnte er ihr das doch einfach sagen, oder nicht? Quarters Herz schlug schneller. „Lassen Sie mich in Ruhe!“, schrie sie schließlich. „Verschwinden Sie!!!“ Sie drehte sich um und rannte los. Klappernd fiel das Brillenetui aus ihrer Tasche. Sie bremste, drehte sich um und blickte auf den Boden, dann entschied sie sich, es einfach liegen zu lassen und rannte weiter. Diesmal folgte Ryuzaki ihr nicht. „Ein Tumor?“, wiederholte Mrs. Queen mit geweiteten, glasigen Augen, als der Arzt ihr wenige Tage später nach der Untersuchung ihrer Tochter das Ergebnis mitteilte und ihr gleichzeitig alle Hoffnung nahm. Zu groß. Operation zu gefährlich. Was sollte das heißen? Sie würde ihre Tochter bald verlieren. Lange hatte sie nicht mehr zu leben. Das war nicht gerecht! Sie hatte doch bereits ihren Mann verloren. Das war nicht fair. Nein, das war nicht fair! ~ Es war kalt und die Luft roch staubig. Beyond Birthday legte beide Hände flach an den Mund und stieß etwas warmen Atem aus. Dann rieb er sich die Hände. Unglaublich was für ein Temperaturunterschied hier herrschte, wenn man bedachte, dass es dort draußen vor der Tür des leer stehenden, längst baufälligen, alten Bürogebäudes sommerlich warm war. Hier oben im vierten Stock, umgeben von altem, abgenutzten Mobiliar und dicken Schichten Staub auf dem grauen Steinboden, von dessen einstiger Befliesung nichts mehr übrig war, war es bitterkalt im Vergleich zu draußen. B drehte sich wieder um, hob das kleine Fernglas vom Boden auf, kauerte sich mit angewinkelten Beinen vors Fenster und lugte durch das Fernglas hinüber zum Nachbarhaus, welches ein Wohnblock war. Eine junge Frau mit blonden Haaren öffnete gerade wie beiläufig ihr Zimmerfenster, wandte sich ab, streckte beide Arme und verschwand wieder aus dem Blickfeld des Schwarzhaarigen. Das Zimmer befand sich unmittelbar gegenüber, sodass er ideale Sicht genoss. Es handelte sich um das Schlafzimmer von Backyard Bottomslash, 28 Jahre alt, Bankangestellte. B grinste und beugte sich etwas weiter nach links, um sich das Zimmer durch das Fernglas noch genauer ansehen zu können. Details konnte er natürlich nicht ausmachen, obwohl seine Augen im wahrsten Sinne des Wortes unmenschlich gut waren, aber es reichte, um zu erkennen, dass sich im Raum stapelweise Plüschtiere befanden. Ungewöhnlich viele für eine junge Frau. Womöglich eine Sammelleidenschaft. „Fünf, sechs, sieben…“, murmelte B leise in sich hinein und deutete mit dem Finger vor sich, während er die Stofftiere zählte. Wieder trat Backyard ans Fenster und versperrte ihm somit die Sicht. Er nahm das Fernglas herunter. Sie würde ihn nicht sehen von hier aus. Die Sonne stand in einem Winkel, der es ihr geradezu unmöglich machte, mit offenen Augen zu seinem Fenster zu schauen. Backyard hielt sich schützend die Hand vors Gesicht, blickte dann nach unten auf die Straße und verharrte so eine Weile. Dann schloss sie das Fenster und zog die Vorhänge zu. B drehte sich um und ließ sich neben dem Fenster mit dem Rücken zur Wand an dieser herabrutschen. Er griff die Linsendeckel des Fernglases, die neben ihm am Boden lagen, packte das Fernglas in seine Tasche und holte stattdessen einen Putzlappen hervor. Er stand auf, ging wieder zum Fenster und schloss es. Sorgsam begann er das Fenster abzuwischen, ja regelrecht zu schrubben. Und anschließend den Boden, auf dem er gesessen hatte. Seine Fußspuren auf der dicken Staubschicht verschwanden mit dieser. Und als er das Gebäude verließ, verschwand der letzte Beweis dafür, dass jemals jemand an diesem Tag an diesem Ort gewesen war. ~ Mit einer flotten Handbewegung steckte Backyard Bottomslash ihr langes, blondes Haar mit einer Haarspange am Hinterkopf zu einem Dutt zusammen. Mit großen, eiligen Schritten und dennoch keineswegs salopp, lief sie die Treppen zur U-Bahn hinunter, nichts ahnend, dass sie heute gleich von zwei Männern verfolgt wurde. Erst als die U-Bahn kam, sie einstieg und sich setzte, bemerkte sie einen von ihnen. Sofort verdrehte die junge Frau genervt die Augen, kam sich jedoch zu blöd vor, ihren Sitzplatz so offensichtlich noch einmal zu wechseln, nachdem ihr Verfolger sich ihr gegenüber gesetzt hatte und die ohnehin schon überfüllte Bahn losgefahren war. Also blieb sie stumm, adrett wie immer, mit geradem Rücken, vornehm überkreuzten Beinen, die Hände auf dem Schoß gefaltet, sitzen und blickte in die entgegen gesetzte Richtung. Neben dem Eingang im Fahrradbereich stand ein junger Mann mit schwarzen Haaren und rötlich schimmernden Augen. Er stand leicht gebückt da und hielt ein japanisches Comicbuch, wie es heutzutage auch in Amerika viele Menschen lasen, nahe vors Gesicht. Über den Rand des Büchleins, dessen kindliche Thematik so gar nicht zu seinem optischen Gesamtbild passte, beobachtete er die blonde Frau, die nicht weit weg von ihm saß, ihn jedoch nicht bemerkte. So aus der Nähe betrachtet war sie wirklich hübsch. Eine schmale Nase, glänzendes Haar, strahlend blaue Augen, ein vornehmes schwarzes Kostüm mit engem Rock und fliederfarbener Bluse darunter. Kein Wunder, dass so eine Frau einen Stalker hatte. Der Schwarzhaarige grinste. Nein, nicht er war gemeint. Der Mann, der sich der Frau gegenüber gesetzt hatte war etwas älter als der Schwarzhaarige, hatte aschbraunes Haar, einen Dreitagebart und war etwas rundlich. Er trug eine dunkle Jeans und eine braune, scheinbar schon recht alte Lederjacke. Ganz offensichtlich niemand, mit dem eine Frau wie Backyard Bottomslash freiwillig auch nur reden würde. Und dennoch beobachtete er sie nahezu gierig. Sie waren einige Stationen weit gefahren und schließlich stieg die alte Dame, die den Platz direkt neben Backyard besetzt hatte, aus. Als habe er nur darauf gelauert, sprang der dickliche Herr auf und wechselte den Sitzplatz. Backyard sog die Luft tief ein und stieß sie genervt wieder aus. Ihre Abneigung mehr als deutlich zeigend, wandte sich den Kopf in die andere Richtung und rutschte auf der schmalen Bank so weit wie möglich weg. „Was denn, Backy?“, sprach der Mann sie grinsend an und stieß mit dem Ellenbogen leicht ihren Oberarm an. „Wie sieht’s aus? Heute Abend?“ „Hören Sie!“ Mit einem Mal hatte Backyard sich umgedreht und sah den unerwünschten Gast streng an. „Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt und das hier ist meine letzte Warnung. Lassen Sie mich endlich in Ruhe oder ich wende mich an die Polizei und zeige Sie wegen Belästigung an!“ Der Brünette lachte lallend. „Ach was, glaubst du doch nicht wirklich!“, sagte er, hob den Arm, legte ihn um ihre schmalen Schultern und zog sie zu sich. „Könntest mir auch einfach mal ne Chance geben, Backy. Weißt ja gar nicht, was ich dir alles bieten kann, he? Ich hab Erfahrung, wenn du verstehst…“ Die eindeutigen Hüftbewegungen, die er machte, um seine Aussage zu unterstützen, sagten mehr aus, als Backyard hatte wissen wollen. Ruckartig stand sie auf und riss sich dabei von dem aufdringlichen Mann los. Allein bei dieser unfreiwilligen Umarmung hatte sich ihr ganzer Körper vor Ekel verkrampft. Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet. „Jetzt reicht’s!“, zischte Sie. „Sie werden noch von mir hören – oder um genau zu sein, von meinem Anwalt!“ Mit großen Schritten lief sie zwischen den Sitzen hindurch, vorbei am Fahrradabteil und vorbei an dem Schwarzhaarigen, der die ganze Szene aufmerksam beobachtet hatte. Die Bahn hielt und Backyard Bottomslash sah zu, dass sie so schnell verschwand. „Vorher zeig ich dir aber noch, was für ein Mann ich bin, Backy!“, grölte ihr ihr Verfolger noch amüsiert nach. Entweder war er angeheitert, geisteskrank oder schlichtweg zu dumm, um den Ernst der Lage zu verstehen. Aber was davon zutraf, war Backyard in diesem Moment egal. Hauptsache er folgte ihr nicht weiter. Wenigstens für den Moment. Diesmal war er zu weit gegangen. Sie würde ihn anzeigen, das war wohl das Beste. Die U-Bahn fuhr nur ein kurzes Stück weiter, bis wieder die Lautsprecherdurchsage ertönte und den nächsten Halt ankündigte. B stand auf, streckte sich, nur um dann in ohnehin wieder gebückter Haltung aus der Bahn zu schlurfen. Er warf noch einen Blick über die Schulter zu Humphrey Rattle. Die roten Lettern seines Namens glimmten flackernd über dem Kopf des Mannes. Darunter einige Zahlen. „Wie ironisch“, dachte B. Dass dieser Mann selbst sowieso nicht mehr lange zu leben hatte… ~ 27.07.2002 Einige Wochen waren vergangen. Die Sonne schien warm auf den Elysian Park hinab und tauchte die grünen Blätter der Bäume und die bunten Blumen in den Beeten und am Wegrand in weiches Licht. Kinder rannten spielend um den Springbrunnen herum und spritzten sich gegenseitig Wasser ins Gesicht. Enten schwammen auf den Teichen und ließen sich nicht stören von dem Künstler, der am Ufer seine Staffelei aufgebaut und seine Ölfarben ausgepackt hatte. Believe Bridesmaid saß auf der gleichen alten Bank wie schon einige Wochen zuvor. In der rechten Hand hatte er einen Kugelschreiber, mit der linken hielt er den Notizblock auf seinem Schoß fest. Einige Seiten waren schon beschrieben. Aber etwas wirklich Brauchbares war nicht dabei, wenn man es so überdachte. Er seufzte. Wie demotivierend. Nachdenklich hob er den Kopf und wollte sich gerade nach hinten lehnen, um in den Himmel zu starren und auf eine Eingebung zu warten, da lenkte jemand seine Aufmerksamkeit auf sich. „Hey!“, rief er und sprang auf. Block und Stift ließ er liegen und rannte den Weg entlang, bis er die hagere Gestalt vor sich eingeholt hatte. „Hey, Sie! Uhm, Mr. Ryuzaki!“ Der Angesprochene blieb stehen und drehte sich um. Die Hände tief in den Hosentaschen der Jeans vergraben, den Rücken gekrümmt und mit großen, aufmerksamen Augen sah er sein Gegenüber an. Er trug das gleiche weiße Longsleeve wie beim letzten Mal. „Ich hatte gehofft, Sie noch einmal zu treffen“, begann Believe. „Erinnern Sie sich?“ Der Schwarzhaarige nickte und lächelte. „Natürlich erinnere ich mich, Mr. Bridesmaid. Der Schriftsteller.“ Believe lachte etwas verlegen. Er wurde nicht oft als Schriftsteller bezeichnet. Noch seltener behielt man ihn als solchen in Erinnerung. „Ja“, sagte er. „Genau der. Störe ich gerade? Ich würde Ihnen gerne eine Frage stellen.“ „Nur zu.“ Believe nickte. „Warum haben Sie sich neulich mein Manuskript durchgelesen? Warum haben Sie es nicht einfach liegen gelassen und mich nicht beachtet? So wie… alle anderen auch.“ Ryuzaki antwortete nicht. Er stand da und starrte mit seinen großen, schwarz unterlegten Augen, so wie er es immer tat. Aber er antwortete nicht. „Also“, setzte Believe etwas reserviert erneut an. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin Ihnen natürlich dankbar dafür, nein ich muss mich sogar bei Ihnen bedanken. Wären Sie nicht gewesen, dann hätte ich meinem Leben an diesem Abend womöglich wirklich ein Ende gesetzt.“ Auf die sonst so ausdruckslose Miene seines Gegenübers schlich sich ein Grinsen und er legte den Kopf leicht schief. „Das hätten Sie nicht“, sagte er schließlich wissend. „Huh?“ Wie bitte? Was sollte das denn nun schon wieder heißen? Woher wollte er das denn wissen? „Glauben Sie mir, Mr. Bridesmaid. Das hätten Sie nicht…“ Ryuzaki machte eine nickende Kopfbewegung in Richtung Bank. „Lassen Sie Ihre Unterlagen nicht wieder liegen“, sagte er, woraufhin Believe sich kurz zur Bank umdrehte. Als er sich Ryuzaki wieder zuwenden wollte, hatte dieser ihm längst den Rücken gekehrt und war den Weg entlang davon geschlurft. ~ Starr und ausdruckslos blickten die schwarzen Augen an die kahle Krankenhausdecke. Wie leere Hüllen stachen sie aus den deutlich sichtbaren Augenhöhlen des knochigen Gesichts hervor. Da war kein rotes Glänzen mehr in ihnen. Nur noch Dunkelheit. Konnte man mit diesen Augen überhaupt noch etwas sehen? Doch, er hatte sie gesehen. Den Herrn Doktor Edward Sumrise, der ihn so verachtete und die junge Krankenschwester Balance Brooks, die öfter nach ihm sah, als die anderen. Eine gutherzige Person war sie. Und sie hatte noch ein langes Leben vor sich. Der Doktor leider auch. Die Apparate piepsten gleichmäßig und das Ticken der Uhr ging fast darin unter, wenn man aufhörte, daran zu denken. Die Tür öffnete sich. B schaffte es, den Kopf leicht zur Seite zu drehen. Da waren sie wieder. Die rot glimmenden, flackernden Buchstaben und Zahlen. „Oh, Sie sind wach, Mr. Birthday“, sagte sie lächelnd. „...Birthday.“ So war er lange nicht genannt worden. Eigentlich noch nie. Denn vor dieser ganzen… Geschichte… hatte schließlich niemand seinen wahren Namen gekannt. Der freiberufliche Schreiberling Believe Bridesmaid, der kurz vor dem Suizid gewesen war, als er ihn getroffen hatte. Die kleine Quarter Queen, deren Schicksal es gewesen wäre, ihrem schwachen, kranken Körper zu unterliegen und die erfolgreiche Schönheit Backyard Bottomslash, die in der Blüte ihres Lebens beinahe vor ihrer Ermordung noch einer Vergewaltigung zum Opfer gefallen wäre. Sie alle hatten nur Ryuzaki gekannt. Selbst die FBI-Agentin Naomi Misora hatte ihn bis zu letzt nicht gewusst und hätte ihn auch niemals erfahren, wenn man ihn ihr nicht gesagt hätte. Seinen wahren Namen. Den Namen, den nur L, dieser Bastard, kannte. Beyond Birthday. Der Strohpuppenmörder. Nun lag er da, nicht mehr als ein Häufchen Elend. Von der einst ebenmäßigen, blassen Haut war kaum noch etwas übrig. Eine schwarze, raue Kruste hatte sich über dem nackten Fleisch gebildet. Von Haut konnte man eigentlich gar nicht mehr reden. Einen jämmerlichen Anblick bot er dar. „Wie fühlen Sie sich?“, riss Schwester Brooks ihn aus den Gedanken. „Brauchen Sie ein Mittel gegen die Schmerzen?“ Nein, danke, bloß nicht noch mehr Drogen! Er hatte schon genug davon intus. „Wissen Sie“, kam es krächzend, leise und schwach über seine fahlen Lippen – oder was davon noch übrig war. „Sie sind eine warmherzige Person, Miss Balance Brooks.“ Die Augen der rothaarigen Frau weiteten sich etwas. Sie ließ von ihrer Tätigkeit die Medikamente auf dem Schiebetisch neben dem Bett zu sortieren ab und sah ihn an. Doch Bs Blick war längst wieder der Zimmerdecke zugewandt. „Wer hat Ihnen denn meinen Namen verraten?“, fragte sie verdutzt. B grinste und schloss müde und erschöpft die Augen. „Niemand, Miss Brooks“, murmelte er kraftlos. „Niemand...“ – – – E – N – D – E – – – Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)