Killing Fields von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Schildkröten im Paradies ----------------------------------- Schildkröten im Paradies Der Kaffee ist schwarz. Tief schwarz. Und Tseng starrt in ihn; sucht auf dem Grund der billigen Plastiktasse nach Antworten, von denen er genau weiß, dass er sie dort nicht finden wird. Antworten auf Fragen, die ihm niemand geben kann. Der Regen klatscht auf den grauen Beton, Autos rauschen vorbei. Dreckiges Wasser spritzt hoch. Ungewohnte Geräusche. Immer noch. Unter der Platte war es ruhiger. Unter der Platte wurden die Anzüge nie von kaltem Regen durchweicht. Aber die Platte gibt es nicht mehr. Seit drei Jahren ist sie Geschichte. Vergangenheit wie der Konzern, für den er gearbeitet hat. Und ein Mann wie er hat genauso wenig eine Vergangenheit wie eine Zukunft. Sicher, noch ist das ShinRa-Logo überall zu finden. Selbst auf der Packung Zucker, die er gerade zwischen seinen Fingern dreht. Doch ShinRa hat sich überlebt. Die anderen Spieler kommen zum Zug; diejenigen, welche von Weltrettung reden, von Wiederaufbau. WRO – Welt Rettungs-Organisation, der Name selbst ist ein einziger Witz. Über den Tseng nicht lachen kann. Es ist das Surren seines PHS, welches ihn aus den brütenden Gedanken holt. Nur eine kurze Nachricht; eine Adresse flackert auf dem Display. Elena hat ihren Job gemacht. Tseng schmeißt den Plastikbecher in den nächsten Mülleimer, sieht noch wie der nicht getrunkene Kaffee ausläuft. Eine dunkle Lache auf grauem Beton, die bald vom Regen fort gewaschen wird. Lange Schritte bringen ihn zu seinem Auto. Der schwarze Sportwagen steht im Halteverbot, die Lichter der Stadt spiegeln sich kaum in der matten Lackierung. Über die Frontscheibe beugt sich eine junge Frau in grauer Uniform, steckt einen Zettel zwischen Glas und Scheibenwischer. Sie sieht erst auf, als Tseng fast direkt vor ihr steht. Überraschung spiegelt sich in ihrem puppenhaftem Gesicht. „Schicken sie den Strafzettel mit einem freundlichen 'Fick dich' an Tuesti.“ Seine Stimme bleibt höflich, leise. Der Tonfall, in dem er jemanden bittet sich doch selbst zu erschießen. In dem er auch Rechenschaft vor einem versammelten Konzern-Vorstand abgibt. Die uniformierte Frau blinzelt irritiert. „Ihr Wagen steht im Halteverbot.“ erläutert sie unnötigerweise eine Tatsache, die Tseng bekannt ist. Er hebt die linke Augenbraue. Dreht leicht den Kopf, sieht zu dem Schild, dann wieder zu der Frau. Die ihn nun eingehender mustert, versucht sein Gesicht einzuordnen. Das sie nicht kennt. „Und das hat nichts mit Mr. Tuesti zu tun.“ Worte, mit denen sie die Kontrolle über die Situation bewahren möchte. Tseng zieht den Fetzen Papier hinter dem Scheibenwischer hervor, faltet ihn sorgsam in der Mitte. Präzise. Die Ecken liegen alle genau übereinander. Der Blick der Frau löst sich von seinem Gesicht. Gleitet tiefer. Bleibt hängen auf dem faltenfreien schwarzen Jackett. Und plötzlich weiten ihre Pupillen sich, hat sie eine Assoziation gefunden. Dann werden die Augen schmaler, ihre Lippen pressen sich zusammen. Abscheu, Angst – Emotionen, die sie mit dem schwarzen Anzug und dessen Träger verbindet. „Wenn sie hier so dämlich stehen bleiben, werde ich sie leider überfahren müssen.“ Tseng lächelt, weiße Zähne blitzen auf. Und sie versteht, dass der Turk keine leere Drohung ausspricht. Sie tritt zurück. Dreht ihm nicht den Rücken zu, während er die Tür öffnet, sich in sein Auto schiebt. Sieht, wie er das Handschubfach öffnet und den Strafzettel dort drinnen verschwinden lässt. In einer Sammlung von Papieren, die alle genauso ordentlich zusammen gefaltet wurden wie dieser. Dann zündet er sich eine Zigarette an, startet den Motor und atmet zufrieden den beißenden Rauch in seine Lungen während 500 PS unter der Haube erwachen. Der Turk ignoriert die Frau, schenkt ihr nicht einmal mehr einen weiteren Blick im Rückspiegel, als er auf das Gaspedal tritt. Der Instinkt hat ihn in die richtige Gegend der Stadt geführt. Noch bevor Elena ihm die Adresse schickte. Eine Gegend, in der sich niemand retten lassen will. Nicht von der WRO, nicht von ShinRa. Die Menschen, die hier leben, haben bereits vor Meteor jeden Glauben verloren. Es sind genau die Menschen, die früher unter der Platte ihr Dasein fristeten. In Sektor Fünf oder Sieben. Die einzige Rettung, die sie kennen ist eine billige Flasche Wodka, ein schneller Schuss oder bunte Pillen. Plakate der WRO, die versprechen, das sich alles ändert, alles besser wird, dienen in diesem Viertel nur als Ersatz für zerschlagene Fensterscheiben. Tseng parkt das Auto in einer schmalen Seitenstraße. Der Geruch von lange vergessenem Abfall und Urin kriecht ihm schon in die Nase, bevor er ausgestiegen ist. Ein vertrauter Geruch. Schnell sieht er sich um, streift mit geschultem Blick über die eng stehenden Häuser, über die Dächer. Gewohnheit, Ausbildung. Und wie so oft irritiert ihn die Sicht auf den freien Himmel für die Dauer eines Wimpernschlags. Er rückt die Krawatte zurecht, fokussiert sich wieder auf das was vor ihm liegt. Weshalb er hier ist. Langsam dreht er sich zu den drei Jungen, die in einem Hauseingang sitzen, ihn beobachten, seit er in die Straße gefahren ist. Keiner von ihnen ist älter als Sechzehn. Ihre Kleidung ist abgetragen, dreckig. Dass der Stoff sie kaum vor der Kälte und dem Regen schützen kann, stört sie schon lange nicht mehr. Sie merken es nicht einmal. Der Klebstoff, den sie aus einer Tüte inhalieren, gibt ihnen die Illusion von Wärme. Und macht sie träge, lethargisch. In der Zeit, in der einer der Jungen eine Pistole aus seinem Hosenbund zieht, hätte Tseng alle drei töten können. Sie glauben, dass vor ihnen schnelles Geld steht. Jemand, der in diesem Aufzug, mit diesem Auto hier her kommt, provoziert das Schicksal. In ihrer vernebelten Wahrnehmung ist der zierliche Mann keine Herausforderung. Sie werden schnell eines besseren belehrt. Der Lauf von Tsengs Pistole presst sich auf die Stirn, des Jungen, der gerade die Waffe gezogen hat. Die linke Hand des Turks greift nach unten, umfasst das Handgelenk seines Gegenübers. „Ihr passt auf das Auto auf.“ Nun ist die Stimme nicht mehr freundlich. Der gezischte Befehl lässt die beiden anderen Jungen zusammen zucken. „Ist auch nur ein Kratzer im Lack, breche ich eurem Kumpel mehr als seine Hand.“ Es knackt und der Junge schreit laut auf, bevor er seine Pistole fallen lässt. Fassungslos starrt er auf den Knochen, der aus seinem Handgelenk heraus ragt. Tseng fängt die Waffe auf, ehe sie scheppernd auf dem Boden landen kann. Er weiß nicht, ob sie schon entsichert ist. Will Risiken vermeiden. Die beiden anderen nicken hektisch. Sie haben verstanden, dass nicht der Mann im Anzug die Beute ist. „Wenn ich zurückkomme und der Wagen noch genauso aussieht, sorge ich für die medizinische Versorgung.“ erklärt Tseng ruhig, steckt seine Pistole in das Halfter und nimmt das Magazin aus der Waffe des Jungen. Er kennt die Regeln in diesem Viertel. Weiß, dass die Drei begriffen haben, was er von ihnen will. Es sind Regeln, an die er sich selbst lange hatte halten müssen. Obwohl es eine gefühlte Ewigkeit her ist, dass er in so einem Häusereingang gesessen hat, sich das Hirn mit Drogen voll pumpte, um den Tag zu überstehen. Und die Nacht. Dann noch mehr Drogen für den folgenden Tag. Ein anderes Leben. Kaffee und Zigaretten sind für ihn inzwischen eher Lebensmittel als Drogen. Und der Gestank von Urin und Abfall hängt über allem. Er lässt die Drei sitzen. Ignoriert die schmerzverzerrten Flüche, die ihm hinter her gerufen werden. Eine Seitenstraße weiter schiebt er sich lautlos in einen anderen Hauseingang, holt seine Handschuhe aus der Tasche und streift das schwarze Leder über die schlanken Finger. Die Handschuhe sind nicht unbedingt nötig, aber das Reinigen von Schmauchspuren ist eine lästige Aufgabe, die er sich so simpel ersparen kann. Noch mehr vertraute Gerüche fressen sich in seine Nase. Abgestandene Luft, in welcher kalter Rauch hängt, vermischt mit Dünsten von gekochtem Gemüse. Eine einzelne Lampe, nur eine Glühbirne in einer Fassung, die von der Decke hängt, versucht gegen die Dunkelheit im Hausflur an zu kämpfen. Tseng muss sich strecken, um die Lichtquelle heraus drehen zu können. Ein kurzes Quietschen, dann herrscht komplette Finsternis in dem schmalen Gang. Er lauscht. Wartet. Versichert sich, dass er alleine auf dem Flur steht, ehe er den Schalldämpfer auf seine Pistole setzt. Es gibt Jobs, die bemerkt werden sollen. Deutliche Zeichen für die Welt, das jemand ShinRa zu feste auf den Fuß getreten ist. Jobs, die Rude und Reno ausführen. Auch wenn immer seltener solche Befehle auf ihren Schreibtischen landen. ShinRa gehört jetzt zu den Guten. Und die Guten schlagen keine Kniescheiben ein, oder erschießen Kinder. Dann gibt es Jobs, die etwas mehr Subtilität erfordern. Die kein großes Aufsehen erregen dürfen. Tseng zieht es vor, diese Art von Jobs alleine zu erledigen. Schnell und sauber. Vorsichtig bewegt er sich durch die Dunkelheit, zählt Türen ab. Bis er vor der dritten auf der rechten Seite steht. Nach einem Adressschild sucht er erst gar nicht. In einem Haus wie diesem will niemand den Namen des anderen kennen. Er versichert sich nur mit einem kurzen Tasten über die Appartementnummer, dass er an der richtigen Tür steht. Holt dann einen Dietrich aus seiner Hosentasche und öffnet das Schloss. Ein leises Klicken bestätigt, dass er in die Wohnung kommt. Auch hier ist es dunkel. Einzig ein schmaler Streifen Licht fällt durch eine angelehnte Tür. Dahinter das Geräusch eines quietschenden Bettes, ächzende und stöhnende Stimmen. Mit zwei Menschen hat der Turk nicht gerechnet, es macht den Job etwas komplizierter. Tseng lauscht wieder. Wartet unbeteiligt, während im Schlafzimmer das Stöhnen lauter wird. Er nutzt die Zeit, um sich um zu sehen. Wie vermutet, gibt es in dieser Wohnung nicht viel. Eine weitere Tür führt zu einer winzigen Küche, in der sich dreckiges Geschirr in der Spüle stapelt. Daneben das Wohnzimmer. So beengend, wie der Rest des Appartements. Und optisch noch kleiner wirkend, durch die vielen Bücherregale, die sich in den Raum quetschen. Es bleibt kaum Platz für ein abgewetztes Sofa und einen kleinen Tisch. Während Tseng sich fragt, was all die Bücher hier sollen, dringt durch den Türspalt ein lautes: „Oh ja, Baby!“ Der Augenblick, den er abpassen wollte. Direkt nach dem Orgasmus ist die Aufmerksamkeit am geringsten, gibt es den wenigsten Widerstand. So leise wie er die Wohnung betreten hat, schiebt er sich in das Schlafzimmer. Unbemerkt von den beiden Menschen auf dem Bett. Zielt mit der Pistole direkt auf den Hinterkopf des Mannes, dessen sehniger Körper noch über der Frau liegt. Ihre Umrisse sind zierlich, die Augen hält sie geschlossen, während sich die Brust schwer atmend hebt und senkt. Sie ist zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Tsengs Finger krümmt sich und im selben Moment, in dem ein kurzer pochender Laut zu hören ist, fräst sich die Patrone in den Schädel des Mannes. Blut und Knochensplitter treffen die Frau frontal. Der Turk sprintet zum Bett, presst ihr die Hand auf den Mund, ehe sie schreien kann. Er ist zu langsam. Ein Wort, ein Name dringt erstickt über ihre Lippen. Ein Laut, den Tseng ignoriert. Der Lauf der Waffe presst sich gegen ihre Schläfe und der Turk drückt ein zweites Mal ab. Sie stirbt mit weit aufgerissenen Augen; einem Blick, in welchem Fassungslosigkeit über eine grausame Erkenntnis geschrieben steht. Ein Blick, der Tseng in seinen Bann zieht. Sekunden verstreichen zähflüssig. Dehnen sich in einer gefühlten Ewigkeit, in der er sich nicht los reißen kann. Erst ein Blinzeln später bemerkt er, dass ihr Blut auf seinen Anzug gespritzt ist. Auch auf das Hemd und in sein Gesicht. Tseng löst sich aus seiner Starre, sieht sich suchend um und findet schließlich das kleine Badezimmer. Das Wasser, das wenig später röchelnd aus dem Hahn tropft, ist rostbraun und lauwarm, aber es reicht um die roten Spritzer von der hellen Haut zu waschen. Auf dem schwarzen Anzug sieht man das Blut kaum, das weiße Hemd zieht er aus, wischt sich damit noch einmal über das Gesicht und stopft es in eine Plastiktüte, die er neben dem verdreckten Waschbecken findet. Turtle's Paradise steht in grellen Buchstaben gedruckt auf ihr. Tseng verzieht die Mundwinkel nur kurz zu einem bitteren Lächeln. Obwohl er selbst wie seine beiden letzten Opfer wutainesische Wurzeln hat, war er nie in der bekanntesten Bar der Insel. Mit der Tüte im festen Griff verlässt er die Wohnung genauso lautlos, wie er sie betreten hat. Die drei Jungen hocken noch so im Häusereingang, wie er sie zurück gelassen hat. High durch geschnüffelten Kleber sind sie morbide fasziniert von dem weißen Knochen, der aus dem Handgelenk des Jungen heraus ragt, der die Pistole gezogen hat. Tseng greift unter sein Jackett, zieht die eigene Waffe und reicht sie einem der Jungen. „Das Haus da vorne. Dritte Tür auf der rechten Seite. Da findet ihr das Geld, das für den Arztbesuch reichen sollte.“ Der Junge sieht irritiert auf die Pistole, dann an dem Turk herauf, der direkt vor ihm steht. „Uhm, cool.“ ist das einzige, was er über die Lippen bringt. Bevor er sich hochzieht und seinen Freunden einen Tritt versetzt. „Lass uns das mal checken.“ Sie laufen los, wissen nicht, dass sie die letzten Stunden in Freiheit verbringen werden. Morgen früh wird eine Nachbarin die offene Wohnungstür bemerken, die WRO verständigen. Tuestis Leute werden die drei Jungen schnell finden und sie werden für einen Doppelmord zur Verantwortung gezogen. Die Tatwaffe ist ein eindeutiges Indiz. Kaum jemand wird ihnen glauben, dass sie diese Waffe von einem Mann in einem perfekt sitzendem Anzug, der einen 200.000 Gil-Wagen fuhr, geschenkt bekommen haben. Einem Mann, der vor ihnen in der Wohnung war. Die wenigen, die den drei Straßenjungen glauben werden, wissen, dass man den Turks nichts nachweisen kann. Tseng denkt nicht mehr an die Drei, denen er so einfach die Zukunft genommen hat, als er das Auto auf die nächste Auffahrt zum Highway lenkt. Er versucht an absolut nichts zu denken. Etwas, das sein Geist nicht zulässt. Immer wieder gleiten Erinnerungsfetzen aus den Tiefen des Unterbewusstseins an die Oberfläche. Hat er den Blick der Frau vor sich. Sieht die Überraschung. Die Erkenntnis in ihren Augen. Seine rechte Hand schließt sich fest um das Lenkrad. So fest, das die Knöchel weiß hervor treten. Die linke zerrt das PHS aus der Jackett-Tasche; er stellt das technische Gerät auf 'Aufnahme' und beginnt, den Bericht zu diktieren, den er gleich Rufus Shinra geben wird. Der Klang der eigenen Stimme kämpft gegen die Geister in seinem Kopf. Erfolglos. Zwei Motorradfahrer schneiden ihn, und Tseng tritt auf das Gaspedal, lässt den Motor aufheulen. Für fünf Minuten lenkt ihn das wilde Rennen über den Highway ab. Dann verliert er das Interesse, schaltet hoch, reizt die Leistung des Motors aus und lässt die Motorräder hinter sich zurück. Immer noch wartet er auf den Adrenalinkick, das kurze Hochgefühl, das nach einem erfüllten Job eigentlich eintreten sollte. Heute Abend spürt er nichts. Nur gähnende Leere. Kurz, bevor er das Lenkrad einschlägt und in die Einfahrt der Tiefgarage abbiegt, fragt er sich, ob er an dem Punkt angekommen ist, den nur wenige Turks jemals erreichen. Der Punkt, an dem man innerlich ausgebrannt ist. Wenn man zu viele Menschen getötet hat, zu tief in die dunkelsten Abgründe geblickt hat. Als Turk stirbt man meistens selbst, bevor es so weit ist. Er ist 29 und fühlt sich alt. In diesem Moment unglaublich alt. Und gerade noch rechtzeitig tritt er fest auf die Bremse. Bringt seinen Wagen mit quietschenden Reifen nur wenige Zentimeter vor dem Heck der teuren Limousine zum Halt, die seinen gewohnten Parkplatz blockiert. Das Getriebe knirscht protestierend, als ruppig der Rückwärtsgang eingelegt wird. Niemand hört das laute Fluchen, niemand wird Zeuge wie die beherrschte Maske der Selbstkontrolle für die paar Sekunden fällt, welche Tseng braucht um einen freien Parkplatz in der Garage zu finden. Die meisten Plätze sind belegt. Ungewöhnlich für eine Zeit, in der es selbst die eifrigste Bürodrohne nach Hause getrieben haben sollte. Bevor er aussteigt, greift Tseng nach seiner Zigarettenschachtel. Dann wieder nach seinem PHS. In seinem Terminkalender ist kein Empfang, keine Party eingetragen. Es muss eine spontane Idee des Präsidenten gewesen sein. Eine Idee, die das Pochen hinter Tsengs Schläfen verstärkt. Er zieht einmal, zweimal an der Zigarette. Drückt sie im überquellenden Aschenbecher aus. Es war ein langer Tag. Die Tür des Autos fällt geräuschvoll ins Schloss, nachdem er ausgestiegen ist. Seine Schritte hallen hohl von den grauen Betonwänden wieder, als er um den Wagen herum läuft. Im Kofferraum liegt ein frischer Anzug, den er am Morgen aus der Reinigung geholt hat. Und während der Turk hastig die Kleidung wechselt, das gestärkte weiße Hemd zuknöpft, die Krawatte korrekt bindet, gleiten seine Augen wachsam durch die diffus beleuchtete Garage. Bleiben an zwei grau uniformierten Männern hängen, die in der Nähe des Aufzugs herum lungern. Ihre Anwesenheit versetzt Tseng einen unangenehmen Stich in der Magengrube. Erinnert ihn daran, dass die eigene Abteilung vollkommen unterbesetzt ist. Seine langen, sicheren Schritte lenken ihn genau auf die beiden Männer zu, die abrupt Haltung in dem Augenblick annehmen, in welchem sie ihn erkennen. „Sir!“, der Stämmigere der beiden salutiert. Hofft, dass Tseng nicht merkt, wie wenig Interesse er an diesem Pflichtdienst zeigt. Jeder hätte es bis zu diesem Punkt geschafft, ohne von den WRO-Soldaten aufgehalten zu werden. Es ist nur ein müdes Grinsen, dass der Turk für den Mann erübrigen kann, während er auf den Fahrstuhl wartet. In der Kabine säuselt leise Musik aus gut versteckten Lautsprechern. Eine freundliche weibliche Stimme begrüßt ihn im neuen ShinRa-Firmensitz. Tseng ignoriert die Stimme, lehnt sich gegen die verspiegelte Rückwand und schließt kurz die Augen. Hätte Rufus nicht so ausdrücklich auf einen Bericht direkt nach Erledigung des Jobs bestanden, wäre er jetzt auf dem Weg nach Hause, müsste sich nicht noch mit dieser ungeplanten Veranstaltung beschäftigen. Die Fahrstuhltür öffnet sich im obersten Stockwerk des Gebäudes, und Tsengs Miene ist so kalt und ausdruckslos wie immer. Die Frustration tief vergraben unter der Maske, die wieder so perfekt sitzt wie der Anzug. In der Öffentlichkeit wird der Schoßhund seinen Herren nicht beißen. Ein Schatten schiebt sich in sein Sichtfeld, noch bevor er einen Blick in die weitläufige Suite werfen kann. Der bullige Mann tritt erst zurück, als er sich versichert hat, dass Tseng alleine den Flur betreten will. „Spontane Idee?“ Auch die Erleichterung, dass Rude seinen Job mit gewohnter Routine ausführt, bleibt hinter der Maske versteckt. Der größere Turk nickt wortlos. Leise Gesprächsfetzen dringen an ihre Ohren, das Klirren von Gläsern. Unterlegt mit seichtem Jazz. „Wer ist da?“ Tseng greift wieder nach einer Zigarette und widersteht nur mühsam dem Drang, hier und jetzt sich etwas mehr Zeit durch das Rauchen zu erkaufen. „Alles was wichtig ist.“ antwortet Rude ihm knapp. Und ist der einzige, der Tsengs leises Seufzen hört. „Reno hat vor zwei Stunden die Order bekommen, die Sicherheit zu organisieren.“ setzt er hastig nach, bevor sein Boss die Frage stellen kann, die ihm bereits auf der Zunge liegt. „Wir haben dich nicht angerufen, weil Elena etwas von Job murmelte.“ Die Zigarette wird doch zwischen die Lippen geschoben, Tseng murmelt zustimmende Laute. Inhaliert den Rauch und verschafft sich endlich an Rude vorbei einen Überblick. Vom Flur aus kann er in den großen Raum sehen, der nur spärlich möbliert ist, und durch ein Panoramafenster einen weiten Blick über Edge gewährt. Aber nur wenige Gäste genießen die Aussicht. Die meisten stehen in kleinen Gruppen zusammen, tauschen schnatternd den neusten Klatsch, belanglosen Smalltalk, aus. Männer in teuren Anzügen, Frauen in eleganten Abendkleidern. Eine Gesellschaft, in welcher Tseng sich nie wohl gefühlt hat. Sie wissen, wer er ist; wissen, welche Position er im Konzern inne hat. Er ist ein Turk. Der Wachhund des Präsidenten. Ein Köter, dem die Zähne gezogen wurden. Ein wutainesischer Köter. Tseng hat gelernt mit den Blicken umzugehen, die ihm zugeworfen werden. Ignoriert sie, so wie die Mitglieder der 'feinen' Gesellschaft ihn ignorieren. Er kann den selben Smalltalk führen, wenn er will. Kann sich über Musik, das Wetter und Aktienkurse unterhalten. Er kann jedoch auch Knochen brechen, Menschen dazu bringen die eigene Mutter zu verkaufen oder ihnen eine Kugel in die Eingeweide jagen, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie wissen es. Wissen, dass auch der dreckigste Köter noch zuschnappen kann. Tseng wirft die Zigarette in den nächsten Aschenbecher, lässt Rude auf dessen Posten zurück und begibt sich auf die Suche nach Rufus. Er muss sich nicht lange umsehen. Der Präsident der ShinRa-Company ist wie so oft das Zentrum der Aufmerksamkeit. Männer und Frauen umschwärmen ihn wie Motten eine Straßenlaterne. Kämpfen um einen Moment seiner Gunst. Lachen über seine belanglosen Witze, lassen sich von seiner gespielten Freundlichkeit blenden. Verbrennen sich; genau wie die Motten, die zu nahe an die Lichtquelle kommen. Der Turk kennt das Spiel. Weiß, dass Rufus es nur erträgt, wenn er betrunken ist, high auf Drogen. Dann ist er der perfekte Präsident, der Mann den die Öffentlichkeit sehen will. Den die Medien wieder lieben. Die er so um den Finger gewickelt hat, wie die Brünette, die an diesem Abend an seiner Seite hängt, sich in ihren Fantasien das Leben als zukünftige Ms Shinra ausmalt. Und die Rufus als Entschuldigung dient, sich nicht mit einem anderen Gast zu beschäftigen. Plötzlichen versteht Tseng, wie es zu dieser spontanen Veranstaltung gekommen ist. Mit einem Lächeln hat Rufus Shinra ein weiteres Mal die Vertreter der WRO aus manövriert. Ein geschäftliches Treffen in etwas gewandelt, was seinen Zwecken dient. Reeve Tuesti steht abseits der Menge, welche Rufus umschwärmt. Er bemerkt Tseng, bevor der Präsident ihn sieht. Die Begrüßung fällt kühl aus. Ein Nicken und ein zu höfliches: „Guten Abend, Tseng.“ „Reeve.“ Die Erwiderung des Turks ist genauso reserviert. Es hat einmal eine Zeit gegeben, in welcher sie sich mehr zu sagen hatten. Jetzt herrscht nur angespanntes Schweigen zwischen ihnen. Stille, die der Leiter der WRO zuerst bricht. „Du siehst müde aus.“ „Ich habe viel zu tun, Reeve.“ Der Versuch der Versöhnung kommt Jahre zu spät. Unbewusst tritt Tseng von einem Fuß auf den anderen, windet sich innerlich unter dem Blick des Älteren. Er will keine längere Unterhaltung mit ihm führen. Nicht an diesem Abend. Das ausgerechnet Rufus ihn davor bewahrt, bedeutet keine Verbesserung der Situation. „Mein Turk.“ ruft der Präsident laut aus, hat Tseng nun auch wahr genommen. „Dieser Mann ist das perfekteste, was ShinRa jemals aus einem Menschen machen konnte.“ erklärt er der kichernden Frau an seiner Seite. „Ohne Mako, versteht sich.“ „Sir.“ versucht Tseng die Ausführung zu unterbinden. Rufus ist betrunkener als er erwartet hätte. „Du hast deinen Job perfekt erledigt, nicht wahr?“ In den eisblauen Augen liegt ein herausforderndes Funkeln, welches den bitteren Zynismus der Worte unterstreicht. Der Turk hat genug Übung darin, mit Rufus Launen umzugehen. „Wie sie es verlangt haben, Sir.“ antwortet er beherrscht, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Ich sage doch, er ist perfekt. Und er tut, was ich ihm sage. Tust du doch, Tseng?“ Der Turk zwingt sich zu einem langsamen Nicken. Rufus weiß, dass er ihm in der Öffentlichkeit nie widersprechen wird. Tseng ist schließlich sein Turk. Dieses Mal ist es das Klingeln seines PHS', das Tseng vor weiteren Peinlichkeiten bewahrt. Mit einem entschuldigenden Lächeln, sich auf seine Position als Leiter des Departments of Administrative Research berufend, nimmt er das Gespräch an. „Wir haben eine Situation am Buffet, Sir.“ Elena versucht gar nicht, ernst zu klingen. Ihre formale Anrede ist eine Parodie seiner Wortwahl gegenüber Rufus. „Die ihre Anwesenheit erfordert.“ Tseng nickt, entschuldigt sich der Etikette entsprechend. „Der Bericht liegt morgen früh auf ihrem Schreibtisch, Sir.“ Dann lässt er den Präsidenten stehen. Einfach so. Und nur Reeve Tuesti kennt die Wahrheit hinter den Masken. Weiß, das Tseng der einzige Mensch auf ganz Gaia ist, der sich Rufus gegenüber fast alles erlauben kann. Am Buffet flirtet eine hübsche Blondine im blauen Abendkleid mit einem älteren Mann, wickelt ihn charmant und leichtfertig um den kleinen Finger. Tseng muss zweimal hinsehen, ehe er das sich ihm bietende Bild mit seiner Erwartung in Verbindung bringen kann. Elena wirkt in dem eng anliegenden Stoff ungewohnt feminin. Ein Detail, das nicht einmal er übersehen kann. „Was für eine Situation haben wir?“ fragt er, neben sie tretend. Lächelnd. „Du hättest fast keinen rohen Fisch mehr bekommen.“ Sie drückt ihm den Teller in die Hand, den sie gehalten hat. Auf ihm die letzten Reste Sushi, die sie für Tseng aufgehoben hat. Er quittiert die Geste mit einem Heben der Augenbraue. „Ich bin nicht zum Essen hier, Elena.“ „Du hast aber heute noch nicht gegessen, und wirst auch nicht essen, wenn du nach Hause fährst. Ich kenne dich.“ Eine simple Feststellung, die ihn dazu bringt, das Sushi wenigstens zu probieren. Zwischen zwei Bissen holt er sich weitere Informationen. Versichert sich, das Elena, Rude und Reno die Stellung halten werden, bis der letzte Gast verschwunden ist. Dass die zusätzliche Sicherheit durch die WRO-Soldaten gewährleistet wird. Elena unterbricht ihn schließlich. „Tseng, du hast Feierabend. Eine 72 Stunden Schicht liegt hinter dir. Fahr nach Hause, geh ins Bett. Wir schaffen das schon. Reno macht seinen Job.“ Erst jetzt merkt Tseng, dass er tatsächlich müde ist. Weiß aber auch, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf finden wird. Eine schmale Hand legt sich beruhigend auf seinen Arm. Drückt kurz zu. „Feierabend.“ wiederholt Elena bestimmt. „Stimme Laney da voll zu.“ Reno ist neben ihnen am Buffet aufgetaucht, ohne von einem der beiden anderen Turks bemerkt worden zu sein. Er greift an Tseng vorbei nach einer Speise, die teuer, exquisit und ungenießbar aussieht. Streift dabei seinen Boss kurz an der Schulter. „Der Laden hier ist voll unter Kontrolle. Kein' Stress.“ In der rechten Hand hält Reno eine halb geleerte Bierflasche. Die Flüssigkeit in ihr hat längst alle Kohlensäure verloren. „Haste schon deinen Statusbericht bekommen?“ Tseng nickt und ignoriert Renos Schmatzen. Was immer er sich gerade gegriffen hat, es schmeckt dem Zweiten in der Kommandoliste nicht. Aber es ist Nahrung. Und Reno isst alles, was er in die Finger bekommt. „Gut. Ich kann nur ergänzen: Die Situation is' wie erwartet. Cheffe is' bis unter die Haarspitzen ...“ Die Ausführung wird unterbrochen. Sie sind nicht alleine am Buffet. „Beschäftigt.“ Vor Zeugen verliert keiner der Turks ein Wort über Rufus Shinras Zustand. Mit einem letzten widerwilligem Schlucken vertilgt Reno die Eroberung vom Buffet, zieht dann seine Zigarettenschachtel aus der Tasche des zerknitterten Jacketts und hält sie Tseng entgegen. Elena räuspert sich trocken. „Ich halte mal zu aufdringliche Fans von Rufus fern. So wie es aussieht, wird es heute keine Nachtschicht geben müssen.“ Das dreckige Grinsen, welches kurz über Renos Gesicht huscht, können nur sie drei untereinander deuten. „Mach das. Ich tip' noch auf 'ne Stunde. Dann is' die Veranstaltung hier vorbei.“ Nach der Party wird niemand dem Präsidenten in dessen privates Schlafzimmer folgen. Elena lässt die beiden Männer am Buffet stehen, verschmilzt mit der Masse. Eine Masse, von der sie ein Teil wäre, hätte sie sich vor Jahren nicht für einen anderen Weg entschieden. Tseng folgt ihr noch einen Moment mit den Augen und es muss an dieser Nacht liegen, dass er sich fragt, warum er nie bemerkt hat, wie hübsch sie eigentlich ist. „Gaia an Tseng!“ Renos Hand streift durch sein Blickfeld. Dann, als er sich sicher ist, dass er die Aufmerksamkeit seines Bosses hat, deutet er mit einem Nicken in eine ruhigere Ecke. Weg vom Buffet, weg von den Menschen, die zwar auf dem selben Planeten aber in einer ganz anderen Welt leben. Für ein paar Minuten stehen Reno und er zusammen. Rauchen ihre Zigaretten. Schweigen. Beobachten die Menschen in ihren teuren Abendgarderoben. Lauschen ihren Gesprächen. Und versuchen beide, sich so ein Leben vorzustellen. Bis Reno sich schüttelt. „Fuck, man Alta, ich will auch das mein einziges Problem so'n scheiß entlaufener Luxus-Wauwau is'!“ kommentiert er die Ausführung einer Frau in den Fünfzigern, die seit Minuten eine Gruppe von Gästen mit der Geschichte ihres verloren gegangenen Hundes unterhält. „Willst du das wirklich?“ Tseng nimmt Reno die Bierflasche ab, leert sie in einem Zug. Wie er vermutet hat, ist das Getränk längst schal. Warm und abgestanden, wurde es doch seit dem Anfang der Party herum getragen. Reno trinkt nicht, wenn er arbeiten muss. „Fuck!“ Der entrüstete Ausruf gilt nicht dem Bier. „Tseng Tseng, irgendetwas is' total schief gelaufen.“ Die Feststellung wird mit einem Schulterzucken beantwortet. Hier und jetzt will Tseng nicht darüber reden. Hier und jetzt hat Reno sich sehr weit aus einem Fenster gelehnt, das in der Öffentlichkeit besser geschlossen bleiben sollte. Und Tsengs Stellvertreter versteht den eisigen Blick, mit welchem er bedacht wird. Weiß, dass er nichts mehr sagen sollte. Doch wäre es nicht Reno, würde er jetzt schweigen. „Fahr nach Hause. Ich ruf dich an wenn dieser Scheiß hier vorbei is'.“ Vom Tablett eines vorbei laufenden Kellners nimmt Reno einen Cocktail. Trinkt die bunte Flüssigkeit ebenfalls in einem Schluck aus. Getrieben von Frustration, die sich nicht mit einem Drink fortspülen lässt. Sie müssen mit dieser Frustration leben. Haben akzeptiert, damit zu leben. Wenn man es noch Leben nennen kann. „Schick mir den Bericht über den Abend. So schnell wie möglich.“ Tseng klopft imaginären Staub von seinem Anzug. Zupft das Jackett zurecht, zieht den Knoten der Krawatte noch einmal fest. „Dein Turf.“ Mit diesen Worten überlässt er Reno die Verantwortung. „Bis Morgen.“ Es ist eine eindeutige Ansage. Niemand soll es wagen, heute ein weiteres Mal Tsengs Kreise zu stören. Und er wartet weder eine Bestätigung noch einen Widerspruch ab. Auf dem Weg zum Fahrstuhl, sich zwischen den Menschen hindurch schlängelnd, kann Tseng fast körperlich spüren, wie sich türkisfarbene Augen in seinen Rücken bohren. In der Tiefgarage, mit langen Schritten auf seinen Wagen zuhaltend, gleitet seine Hand in die Jackett-Tasche. Er muss das PHS nicht einmal heraus ziehen, um es aus zu stellen. Kapitel 2: C2H50H ----------------- C2H50H Das kalte Wasser prasselt auf seinen geschundenen Körper. Er ist erst 29 Jahre alt, aber zählt man nur die Narben zusammen, muss er mindestens Vierzig sein. Tseng hat vor langer Zeit aufgehört, sie zu zählen. Und hat auch aufgehört, sich wieder und wieder die Fehler vor Augen zu führen, die ihm diese Narben eingebracht haben. Sie sind da. Gehören zu ihm. Erinnern ihn jeden Tag daran, was er ist. Schusswunden, Messerstiche – jeder Turk ist so gezeichnet. Wasser rinnt über seine Unterarme. Über Überbleibsel verblichener Brandwunden. Zigaretten, die auf seiner Haut ausgedrückt wurden. Es braucht mehr, viel mehr als ein paar Zigaretten um einen Turk zum Reden zu bringen. Ohne den Narben einen weiteren Blick zu widmen, greift Tseng nach dem Duschgel. Die Tür zum Badezimmer ist offen. Von der Duschkabine aus kann er die Haustür seines Apartment sehen, den kleinen Wohnbereich. Ein Sofa, ein Couchtisch auf dem sein Laptop steht. Eine schmale, ordentlich geputzte Küchenzeile befinden sich ebenfalls in seinem Sichtfeld. Das Schlafzimmer kann er vom Bad nicht einsehen, doch um den Raum betreten zu können, muss man das minimalistisch eingerichtete Wohnzimmer durchqueren. Die Blickdichten Jalousien halten das Licht in den vier Wänden. Paranoia ist eine Berufskrankheit mit welcher er sich vor Jahren abgefunden hat. Wie das Wasser plätschert auch Musik vor sich hin. Gerade laut genug um einen angenehmen Klangteppich über den Raum zu legen, das Rauschen des Wassers zu überdecken; leise genug um Schritte auf dem Flur zu hören. Und das Schreien der Kinder neben an. Das streitende Ehepaar auf der anderen Seite des Gangs. Geräusche, die ihm die Illusion einer Emotion geben, die er lange nicht gehabt hat. Das Gefühl, zu Hause zu sein. Sicher, jemand mit seinem Gehaltsscheck könnte sich überall in Edge eine Wohnung leisten, vielleicht auch ein kleines Ferienhaus an der Costa del Sol. Aber wann nimmt er sich schon mal Urlaub? Und warum sollte er in einem der Luxusviertel der Stadt wohnen? Hier in diesem grauen Block, den die WRO nach Meteor hochgezogen hat, ist er ein Gesicht unter vielen. Geht in der Anonymität der Masse unter. Niemand fragt, womit er sein Geld verdient. Er zahlt pünktlich die Miete, sortiert seinen Müll, hilft der alten Dame, die für die Hausverwaltung verantwortlich ist. Little Wutai nennen sie dieses Viertel, und wie früher, wie damals, als noch die Platte über die Sektoren gezogen war, sammeln sich hier die Arbeiter; die Besitzer der kleinen Imbissläden; die Männer und Frauen, die nachts hinter den Kassen der 24/7 Supermärkte stehen. Menschen, die vor Jahren vor einem Krieg geflüchtet sind. Menschen, die wie er auf der Seite der Gewinner standen. Nach Meteor sind es noch mehr geworden. Edge braucht billige Arbeitskräfte. Er mag das Viertel. Niemand sieht ihn hier seltsam an, wenn er nach einem langen Tag im Büro seine Wohnungstür aufschließt. Niemand denkt sich etwas dabei, wenn er mitten in der Nacht verschwindet. Es ist die beste Tarnung für einen Wutainesischen Profikiller, der auf ShinRas Lohnliste steht. Ein letztes Mal dreht er den Wasserhahn komplett nach rechts, wäscht den Schaum unter dem eiskalten Strahl aus seinen Haaren. Die Kopfschmerzen bleiben. Pochend, ein dumpfes Dröhnen, das sich auch nicht mit den Schmerzmitteln bekämpfen lässt, von denen er schon zu viele geschluckt hat. Pillen, die seine Gedanken in Watte hüllen. Die jede Bewegung zähflüssig, träge werden lassen. Pillen, die ihm die Ärzte seit Jahren verschreiben. Medikamente, die er seit Jahren nicht nimmt. Nur in Nächten wie diesen, wenn er sich den Luxus des Nicht-denken-müssen erlauben will. Dann drückt er zu viele der weißen, rosa und blauen Tabletten aus den Blistern, und gießt ein Cocktail-Glas bis zur Oberkante mit Wodka voll. Die letzten Wassertropfen verschwinden gurgelnd im Abfluss. Tseng greift sich ein Handtuch, wickelt es um die schmalen Hüften und geht langsam zum Sofa. Bevor er sich auf die weiße Sitzfläche fallen lässt, wird das Glas noch einmal aufgefüllt. Die Flasche ist inzwischen fast leer. Die Lampen hat er ausgestellt, alleine durch die Spalten der Jalousien fallen schmale Streifen künstlichen Lichts in den Raum. Draußen, vor dem Fenster, leben die Menschen. Ausgeschlossen aus seiner Welt. Noch mehr Motten. Die ihre Kreise um die Häuser ziehen, angezogen von den schillernden Leuchtreklamen der Clubs und Bars. Es ist die Suche nach etwas exotischem, das sie hier her treibt. Raus aus ihrem Mittelstands-Leben an einen Ort, der mitten in Edge liegt und doch vollkommen fremd für sie ist. In den meisten Clubs können sie nicht einmal die Getränkekarte lesen. Und Morgen werden sie wieder von den Wuzzies sprechen, die ihnen die Arbeitsplätze weg nehmen. Arbeit, die eh keiner dieser Menschen machen will. Kurz huscht ein bitteres Lächeln über Tsengs Züge. Auch er hat nie die Drecksarbeit machen müssen, die den meisten Immigranten immerhin ein warmes Essen am Tag garantiert. Für ihn gab es seit Jahren keinen Hunger mehr. Er starrt auf die dünne Rauchsäule seiner Zigarette, die langsam in der stickigen Luft emporsteigt. Schluckt eine der weißen Pillen, spült sie mit Wodka herunter. Auf der anderen Seite der Tür streitet sich das Pärchen immer noch. Ein Wortgefecht, geführt in einer Sprache, die er lange nicht mehr gesprochen und dennoch immer verstanden hat. Jede einzelne Silbe. Eine Sprache, die Erinnerung weckt. An das Rauschen von Meer. An das Grün von Reisefeldern. An rote Pagodendächer. Erinnerung, die er nicht mehr haben will; die doch ständig wiederkommen. Er kann mit ihnen so sicher rechnen, wie mit den Kopfschmerzen, die nachher das Aufstehen erschweren werden. Der Wodka brennt in der Kehle. Billiger Fusel. Er gibt für geplante Abstürze wie diese nicht unnötig viel Geld aus.Der Alkohol gleitet in den Magen. Brennt dort weiter. Tseng sieht an sich herab. Im diffusen Zwielicht seines kleinen Apartment schimmert die Narbe, welche sich quer über seinen Unterbauch zieht, weiß. Aufgerissenes Gewebe knapp unter seinem Bauchnabel. Auf seinem Rücken - etwas schmaler - die Austrittswunde. Niemand überlebt so einen Angriff. Auch er nicht. Sie haben ihn zurück geholt. Und herum schwirrende Gedanken werden mit einem weiteren Schluck Wodka beruhigt. Er weiß, wie sich der Tod anfühlt. Es hindert ihn nicht daran, seinen Job zu machen. Der Tod trifft jeden irgendwann. Manche sterben alt und senil im Bett. Andere verrecken an einer Kugel im Kopf. Oder an einem Schwert, das in den Eingeweiden steckt. Noch mehr Wodka, noch eine Pille. Die Kopfschmerzen lassen die Musik unangenehm laut dröhnen, das Geschrei auf dem Flur wird zu einem hohlen Echo. Schlaf - würde es sich nicht jede Nacht einem weiteren Tod gleichkommen, würde er jetzt so gerne schlafen. Seit dem Tag im Tempel, seit dem Moment in welchem Sephiroth das Masamune in ihn gerammt hat, kann er nicht mehr ruhig schlafen. Die Albträume kommen jede Nacht. Kein schlechtes Gewissen, kein Bereuen. Nur der eigene Tod, der ihn immer wieder einholt. Tseng starrt in den letzten klaren Rest Flüssigkeit, der sich in dem Glas befindet. Es ist eine dieser Nächte, in denen auch der Alkohol keine kurzfristige Flucht ermöglicht. Wodka und Pillen - sie lassen die Gedanken tanzen, zerren an die Oberfläche was er tief in sich begraben hat. Klug wäre es jetzt, das Glas weg zu stellen. Klug wäre es, sich zum Schlaf zu zwingen. Manchmal gelingt es selbst Tseng die Ratio zum Schweigen zu bringen. Stattdessen füllt er das Glas ein weiteres Mal auf. Dunkle, graue Augen. Er sieht sie vor sich. Den letzten Blick, bevor er den Finger krümmt, den Abzug der Pistole durchzieht. Sie hat ihn erkannt. Seinen Namen geflüstert, bevor die Kugel in ihren Kopf schlug. Das Blut auf seinen Anzug spritzte. Der Anzug. Tseng zieht sich mühsam hoch. Zwingt sich zum Aufstehen. Greift die Plastiktüte, die er aus seinem Auto mitgenommen hat und geht wieder in das Badezimmer. Er muss nicht auf seine Finger achten, muss sich nicht auf das konzentrieren, was seine Hände tun. Eiskaltes Wasser läuft über sie. Viel zu oft schon haben sie Blut aus dem Stoff gewaschen. Er merkt nicht einmal, das er nicht das Licht eingeschaltet hat. Das es nur violette und grüne Fetzen der Leuchtreklamen sind, die in schmalen Streifen in den kleinen Raum dringen, die mit den Schatten spielen. Und in den Schatten sieht er in sein eigenes Spiegelbild. Graue Augen sehen ihn an, mustern kalt die Reflektion auf dem poliertem Glas. Nüchtern wird das verwertet, was diese Augen sehen: Ein eingefallenes Gesicht; wutainesische Züge; ein Bindi auf der Stirn; nasse schwarze Haare die wieder viel zu lang sind. Sein Gesicht. Irgendein Gesicht. Sie hatte die selbe Form der Wangenknochen. Die selbe Augenfarbe. Er beugt sich vor. Der Brechreiz kommt so plötzlich wie die Erinnerung an ein Lachen, an eine lispelnde Stimme, die ihn bittet, ihr doch den kaputten Reifen des Fahrrads zu reparieren. Es ist nicht mehr der panische, erkennende Blick, den er vor Augen hat. Der Moment des Todes wird überlagert von einem anderen Ausdruck, einer anderen Emotion. Er hat sie mit kleinen Dingen wie einem selbst gebasteltem Windrad zum Lachen bringen können. Und wieder rauscht Wasser. Tseng versucht den letzten bitteren Geschmack der Galle aus seinem Mund zu spülen. Es war ein Job. Nur ein Job wie jeder andere. Worte, die er einem Mantra gleich herunter betet. Sie seinem Spiegelbild entgegen wirft. Eine weitere Erinnerung. Nichts mehr. Seine sehnige Hand streicht die schwarzen Strähnen aus dem Gesicht. Die inzwischen fast trocken sind. Er war viel zu lange im Badezimmer. Und der Anzug muss nun wirklich in die Reinigung. Es ist nicht mehr alleine das Blut, das sich in den Stoff gesaugt hat. Angewidert kräuselt sich Tsengs Nase, als er zu bewusst den Gestank des Erbrochenen wahr nimmt. Aus dem Schrank unter dem Waschbecken zerrt er einen neutralen Plastikbeutel und stopft routiniert Jackett und Hose hinein. Der alte Mann, dem die kleine Reinigung im selben Apartmentblock gehört, hat noch nie irgendwelche Fragen gestellt, wenn Tseng ihm einen dieser Beutel übergab. Er wird auch morgen früh nicht fragen. Und sich über die enorme Summe Trinkgeld freuen, die Tseng jedes Mal hinterlässt. Es hilft Tseng, sich auf die Belanglosigkeiten des Alltags zu konzentrieren. Alles andere wird in weiche Watte gedrückt, die sich in seinem Kopf verteilt hat. Routine erinnert ihn daran, wie es sich anfühlt zu leben. Deshalb braucht er sie. Dringend. Damit er nicht Er ist betrunken. Ihm ist schlecht. Die Narben schmerzen. Jede einzelne. Und für einen Moment überlegt er, ob er sich nicht einfach für ein paar Minuten in seinem Elend suhlen sollte. Eine Überlegung, die schon nach wenigen Sekunden verworfen wird. Es gibt besseres, was er mit seiner Zeit anfangen kann. Ein weiteres Mal sitzt er auf seinem Sofa. Vor ihm schaltet der Laptop sich surrend ein. Tsengs Finger huschen schnell über die Tastatur. Geben Passwörter ein. Er hat den kompletten Zugriff auf ShinRas System. Immer noch. Die Abfragen der Sicherheitsstufen ziehen nur ein zynisches Grinsen auf seine Lippen. Und wieder ist sie da. Die Zeiteinteilung. Vor und Nach Meteor. Vor Meteor hätte sich niemand gefragt, weshalb ausgerechnet er die Daten abruft, die nun über den Bildschirm flackern. Nach Meteor bewegt er sich auf einem Gebiet, in dem er eigentlich nichts mehr verloren hat. Verloren haben dürfte, hätten ein paar SysAdmins ihren Job gemacht. Aber genau wie ShinRa erstickt auch die WRO in zu viel Bürokratie. Und jeder Turk lernt, diese Lücken aus zu nutzen. Man hinterfragt keine Aufträge. Tseng hat sich immer an diese Regel gehalten. Keine Fragen, keine Antworten. Doch diese Nacht ist es anders. Aufträge haben nicht persönlich zu sein. Entweder war es ein Fehler im System, oder ... An dieser Stelle will der Turk nicht weiter denken. Dieses simple oder macht alles komplizierter. Sein Blick verschwimmt, nur schwer kann er ihn auf das fokussieren, was da vor ihm auf dem PC-Bildschirm flackert. Namen, eine endlose Liste von Namen. Die Posten innerhalb ShinRas und der WRO zugeordnet sind. Vermutlich liegt es am Wodka, dass Tseng gerade keinen Sinn hinter den Listen entdecken kann, die er sich auf seinen Laptop herunter lädt. Er weiß nur, dass es eine Querverbindung gibt. Etwas, das mit den Namen, den nackten Statistiken zusammen hängt. Das Glas wird noch einmal bis an den Rand mit klarer Flüssigkeit gefüllt. Und sich die Schläfen massierend, versucht Tseng eine Bedeutung in den Namen zu finden. Versucht den Zusammenhang zu sehen. Er resigniert seufzend. Alkohol und Medikamente fordern ihren Tribut. Von draußen dringen lachende Stimmen herein. Menschen, die ein Leben haben, flanieren unten auf der Straße. Es ist Freitag Nacht. Es gibt mehr als nur Arbeit und Alltag. Tseng schreckt auf, als er das Klirren von splitterndem Glas hört - wahrscheinlich nur eine leere Bierflasche, fallen gelassen von einem Betrunkenen. Die laute Stimme, die er dann hört, korrigiert den Gedanken. "Ey Alta, was machst mich so an." Die Flasche wurde eher an der nächsten Wand zerschlagen. Die scharfen Kanten des Hals sind eine perfekte Waffe – kann man damit umgehen. Der Turk lauscht dem Gespräch, obwohl er schon jetzt sagen kann, wie es enden wird. "Ich ... ich habe doch gar nichts gemacht." Der zweite Sprecher ist sehr wahrscheinlich ein gut trainierter junger Mann, von Beruf Sohn. Einer der vielen Menschen, die hier im Ghetto ihre gesunde Dosis Nervenkitzel suchen. „Was has'e nich' gemacht?“ Die Bierflasche wird locker in der rechten Hand gehalten werden, die Finger der linken haben sich in der Gürtelschlaufe verhakt. Tseng muss nicht Zeuge der Szene sein, um sich den weiteren Verlauf aus zu malen. Die Überlegung Aufzustehen und dem Schauspiel ein Ende zu bereiten, huscht kurz durch seine vernebelten Gedanken. Doch es ist nicht seine Schicht. Er hat an diesem Abend frei. „Hey, weißt du nicht wer ich bin?“ will der junge Mann wissen. „Fehler.“ kommentiert Tseng im Stillen diese Frage. Aber woher soll ein Fremder auch wissen, dass Reno Namen und Gesichter egal sind. Knochen kann er jedem brechen. Ohne sich darum zu kümmern, ob sein Opfer ein Penner oder ein reicher Sohn ist. Eine weibliche Stimme mischt sich ein. „Lass es. Keinen Ärger.“ Ihr Tonfall verrät, dass sie die Freundin des Jungen ist. Und Tseng, der inzwischen fast amüsiert lauscht, hört wie sie leise hinter her setzt: „Das ist einer von den ShinRa-Freaks.“ „Nächster Fehler.“ murmelt Tseng. Die Antwort, mit der er eigentlich nicht gerechnet hat, ist ein Maunzen. Und neben dem Turk springt ein schwarzer Kater auf das Sofa. Er hat sich den Moment ausgesucht, in welchem sein Futterspender wieder etwas zugänglicher wird. Reibt seinen Kopf an dem nackten Arm und schnurrt zufrieden, als eine Hand sich kraulend hinter seine Ohren schiebt. „Freak? Wer is'n hier der Freak?“ fragt Reno draußen lauernd. Mensch und Tier in der Wohnung legen den Kopf schief. Alarmiert durch den Tonfall. Der Second in Command ist frustriert. Will diesen Frust abbauen. Das macht ihn berechenbar. Jedenfalls für Tseng. Er sieht zu dem Wodkaglass, leert es in einem Zug und schüttet wieder jeden besseren Wissens Alkohol nach. „Hey, ganz ruhig. Keiner will hier Stress.“ versucht die junge Frau vor dem Fenster zu vermitteln. Ihr Begleiter hält dagegen: „Ich lass mich doch nicht von so einem Punk anmach...“ Mitten im Wort bricht er ab, es folgt das Geräusch eines dumpfen Schlags. Dann ein spitzer Schrei. „Idiot! Warum vor meiner Haustür?“ Der schwere Kopf wird auf die Rückenlehne des Sofas gestützt. Der Chef des Departements ist weder wütend noch überrascht über diesen Ausbruch plötzlicher Gewalt. Das einzige Problem das er momentan sieht, besteht darin, dass einer von ihnen morgen einen Bericht schreiben darf. Unten auf der Straße, direkt vor der Haustür, versammelt sich eine Menschenmenge. Niemand wagt es, den jungen Mann im zerknittertem Anzug von seinem Opfer fort zu ziehen. Der Andere am Boden muss sich irgendetwas zu schulden kommen lassen, sonst würde ein Turk nicht auf ihn los gehen - gerade die Kinder der Highsociety leben glücklich in ihrer ignoranten Seifenblase. Als dann jedoch Reno das zweite, dritte Mal nach tritt, zerplatzt die Blase. Kommt Bewegung in die Masse der Schaulustigen. Niemand möchte als nächstes die Aufmerksamkeit des Turks auf sich ziehen. „Gibt nichts zum glotzen. Verpisst euch!“ ruft Reno laut den letzten Schaulustigen zu Er wird jetzt eine Zigarette rauchen, warten bis niemand mehr darauf achtet, welches Haus er betritt. Und nicht einen Finger rühren, um dem Mann zu helfen, den er gerade zusammen geschlagen hat. „Mein Vater meldet sich morgen!“ schluchzt die junge Frau, gut hörbar für Tseng. „Der ist Rechtsanwalt. Und mit Rufus Shinra befreundet.“ „Schön für dein' Paps.“ Der Turk ist von dieser Eröffnung alles andere als beeindruckt. Berichte... Tseng seufzt. Sollte es stimmen, was die Frau sagt, wartet morgen zusätzliche Papierarbeit auf ihn. Er steht auf, und greift sich ein frisches Hemd und eine Anzughose aus dem Kleiderschrank. Er besitzt nur diese schwarzen Hosen. Davon gleich zehn Stück. Die rauen Finger knöpfen gerade den Kragen zu, als sich ein Schlüssel kratzend in der Haustür dreht. Reno hat die Zigarette noch nicht ganz auf geraucht, sie baumelt von seinen Lippen und Asche fällt auf den Fußboden. Es wird im Schlafzimmer aus den Augenwinkeln bemerkt und mit einem scharfen Zischen kommentiert. „Ich weiß, ich weiß ... Aschenbecher inner Küche.“ Reno zuckt mit den Schultern, geht in die schmale Küchennische und holt ohne Zögern einen sauberen Aschenbecher aus einem Wandschrank. Begleitet von einem gezischten: „Arschloch!“ Wen er meint, wird nicht weiter erläutert. Es kann der Junge sein, den er gerade zusammengetreten hat. Er kann aber auch den Mann meinen, der sich in den Durchgang zwischen Schlaf- und Wohnzimmer lehnt. „Biste High?“ Reno stützt den schlaksigen Körper gegen den Küchentresen. Wirft einen Blick auf den Tisch vor dem Sofa, bevor er Tseng prüfend mustert. „Warum bist du hier?“ stellt dieser sofort die Gegenfrage, und umgeht so die Antwort. „Weil's dir scheiße geht, du besoffen und high auf den abgefuckten Pillen bist.“ Die Zigarettenschachtel wird aus der Hosentasche gezogen, Tseng zugeworfen. Er fängt sie unsicherer als üblich. „Du bist high.“ Reno löst sich von dem Tresen, schlendert mit dem Aschenbecher in der Hand langsam in das Wohnzimmer. „Die erste Flasche?“ Mit einer beiläufigen Bewegung deutet er auf den fast leeren Wodka. „Was interessiert es dich?“ Tseng hört den defensiven Klang der eigenen Stimme, die verschleppten Vokale. „Ich habe gesagt, wir sehen uns morgen.“ „Tseng Tseng.“ Reno hebt einen der Pillenblister vom Tisch hoch, liest den Aufdruck „Es ist morgen.“ Mit einem Nicken über die Schulter weist er den Blick des anderen Turks zur Digitaluhr neben der Kaffeemaschine. Sie springt genau in diesem Moment auf 3 Uhr. „Wodka un' die Schmerzmittel. Du willst es echt wissen, oder?“ Sind sie alleine, macht Reno sich keine Mühe betont unkoordiniert zu wirken. Tseng weiß sowieso, das es nur ein Trick ist, auf den jeder erstaunlicher weise herein fällt. Und er ist wirklich high, kann dem schnelleren Mann nicht ausweichen, als dieser in einem langen Schritt bei ihm ist. Renos Hände schließen sich fest um die schmalen Schultern des zierlicheren Turks. „Ich dachte, wir hätten 'nen Deal, Tseng Tseng? Du erinnerst dich? So'n Schwachsinn wie Laut geben, wenn's einem Scheiße geht.“ Der Griff gibt Tseng keine Möglichkeit zur Flucht. Ein trockenes, zynisches Lachen frisst sich aus seiner Kehle. „Als nächstes kommst du mit Haus und Hund?“ „Kein Hund. Die Katze haben wir ja schon.“ ist Renos trockene Antwort. Bastard, der schwarze Kater, faucht. Von 9 bis 5 Uhr ist Reno der zweite Mann in der Kommandoliste der Turks. Und die restliche Zeit? Erinnern sich beide Männer daran, was es heißt zu leben. Tseng schmeckt Zigaretten, Kaffee, Bier. Der andere hat den effektivsten Weg gewählt, sich weitere zynische Kommentare zu ersparen. Gierige, bittere Küsse. Er ist wirklich high, betrunken. Sein Körper reagiert verzögert. Aber es reicht. Reicht immer, wenn Reno ihn aus dem Hemd schält, die Hose herunter zerrt. Sie schaffen es gerade bis zum Sofa. Noch einmal klirrt Glas. Dieses Mal ist es die Wodka-Flasche, die vom Tisch fällt. Ihr letzter Inhalt verteilt sich über das Laminat. Und in diesem Moment stört es Tseng nicht. Eine Stunde später rauscht wieder Wasser in der Dusche. Wieder wurde es auf kalt gestellt. Die Benommenheit ist einer fast angenehmen Erschöpfung gewichen. Mit einem kurzen Blich an seinem Körper herab, versichert Tseng sich, das verdächtige 'Reviermarkierungen' unter der Kleidung versteckt werden können. Reno kann es einfach nicht lassen, seine Besitzansprüche zu verdeutlichen. Egal wie sehr Tseng sich dagegen wehrt. Irgendwann ist es auch ihm immer gleichgültig. Ist es eine Beziehung? Tseng sieht durch den Wasserstrahl, durch das milchige Glas der Duschkabine zum Waschbecken. Zwei Zahnbürsten liegen auf der Ablage. Wie definiert sich Beziehung? Die nächste Frage auf welche Tseng keine wirkliche Antwort geben kann. Er ist der Boss, über den Reno sich regelmäßig bei Rude aufregt. Er ist der Mann, dem Reno die Ersatzschlüssel seiner Wohnung in die Hand gedrückt hat. Bevor Tseng eine Antwort finden kann, die ansatzweise befriedigend wäre, lenkt ihn ein lautes „Fuck!“ ab, das deutlich aus dem Wohnzimmer zu hören ist. Danach ein scharfer Pfiff. „Was?“ ruft Tseng durch die geöffnete Badezimmertür. Ein Schatten bewegt sich schnell, bleibt im Türrahmen stehen. „Dein Job heut'.“ Reno schiebt sich die Zigarette, die gerade noch hinter seinem Ohr klemmte, zwischen die Lippen, nuschelt: „Hab g'rad aufgeräumt und dabei auf deinen Rechner geguckt. Sorry, man.“ Das Feuerzeug flammt auf, während er auf Tsengs Wutausbruch wartet. Der ausbleibt. Das kalte, neutrale „Ja?“, welches ausgesprochen wird, während Tseng das Wasser ausstellt, ist viel demoralisierender. „Eh, Tseng ... ich weiß du checkst sonst nie die Gründe für die Order. Und wer wen warum fickt. Außer es is' wichtig.“ Reno verheddert sich in Erklärungen, muss selbst erst verdauen, was er gerade zufällig heraus gefunden hat. Tseng greift ruhig nach dem Handtuch, steigt aus der Dusche und mustert Reno. Stehen sie sich so dicht gegenüber, muss er den Kopf heben um direkt in die türkisfarbenen Augen blicken zu können. „Reno, komme zu dem Punkt, den du machen willst.“ Auch Tseng verklausuliert sich. Spricht jedes Wort betont sorgfältig aus. Er kennt die Antwort des anderen bereits. Aber bis jetzt hat keiner sie ausgesprochen. „Ich dacht' deine Schwester is' tot.“ murmelt Reno leise und zieht hektisch an seiner Zigarette. „Dachte ich auch.“ Tseng trocknet sich ab, schmeißt dann das Handtuch in den Wäschekorb. Er streckt die Hand aus und nimmt Reno die Zigarette ab. Der Rauch wird tief in seine Lunge inhaliert, bevor er ihn in mehreren perfekten Ringen wieder über die Lippen entweichen lässt. Die Antwort so noch ein paar Sekunden heraus zögert. Spricht er es aus, gibt er es zu. Ist es final. „Jetzt weiß ich es.“ stellt Tseng schließlich fest, reicht Reno die Zigarette zurück. „Sie ist wirklich tot.“ Das letzte, was die junge Wutainesin in ihrem Leben sagen konnte, bevor er ihr die Kugel in den Kopf jagte, war ein Wort. Ein Name. Tseng. Kapitel 3: Hinter dem Lächeln ----------------------------- Hinter dem Lächeln Sonnenlicht sticht durch die geschlossenen Jalousien. Kriecht langsam über den Boden, schiebt sich zögernd über zerwühlte Bettlaken. Die Strahlen brechen sich auf dem klaren Glas der leeren Wodkaflasche, die neben dem Bett steht. Bunte Farben streichen über das helle Laminat. Farbenspiel, das seit Minuten beobachtet wird. Tseng weiß, dass Reno wach ist. Dass er noch nicht aufstehen will. Dass er vorgibt zu schlafen. Er selbst hat die Augen halb geschlossen. Konzentriert seine Sinne auf das leise Atmen des anderen; auf warme Haut, die er unter seinen Fingern fühlt. Ein sehniger Arm ist eng um seine Hüfte gezogen, hält ihn fest. Sie haben es irgendwie, irgendwann ins Bett geschafft. Eine weitere Flasche geleert, geredet. An diesem Morgen wird es einen gemeinsamen Kaffee geben. Tseng hebt den Kopf leicht an, blinzelt. Fokussiert seinen Blick auf die offene Tür. Die Kaffeemaschine ist nah und doch viel zu weit entfernt in diesem Moment. „Du bist wach.“ stellt Reno leise fest, schläfrig grinsend. Seine linke Hand schiebt sich in Tsengs Nacken, die Fingerspitzen kraulen sachte den Haaransatz entlang. Eine simple Berührung die ein unbewusstes, wohliges Strecken provoziert. „Hm.“ Mit zwei unverfänglichen Konsonanten bestätigt Tseng den anderen. Weigert sich, die Augen ganz zu öffnen. „Kater?“ „Liegt neben mir.“ Zu spät fällt Tseng auf, dass Reno sicher nicht die schwarze Katze meint, die sich schnurrend auf dem Bett zusammengerollt hat. „Und Kopfschmerzen?“ Die Finger gleiten durch die Haare, ziehen vorsichtig Strähnen auseinander. „Hm Hm.“ Auch Tseng schnurrt fast, schmiegt sich enger an den wärme spendenden Körper. „War das 'nen 'Ja'?“ fragt Reno lachend und zieht Tseng ohne Mühe auf sich. Zu schläfrig um sich zu wehren, grummelt Tseng: „Glaube schon.“ Den dumpfen Schmerz hinter seinen Schläfen, der Protest des Körpers gegen den Positionswechsel ignoriert er. Renos Atem streift seinen Hals entlang. Und das Schnurren wird lauter. Es ist nicht die Katze. Reno macht ihm keine Vorwürfe. Hält ihm keinen Vortrag über die Kombination von Alkohol und Schmerzmitteln. Die Tabletten liegen immer noch im Wohnzimmer, neben dem leise surrenden Laptop. „Kaffee?“ wird Tseng ins Ohr geflüstert. „Ist ein Plan.“ Die Muskeln des Turks spannen sich an, ein Auge öffnet sich endlich vollständig. „Ich koche ihn.“ Ehe Reno protestieren kann, schlüpft Tseng aus dem Bett. Getrieben von einem Pflichtbewusstsein, das seit Jahren Teil seiner Persönlichkeit ist. Schlanke Finger greifen nach einem weißen Hemd. Es ist das falsche. Zerknittertes Leinen hängt lose an Tsengs Körper herab. Der Leiter des Departements ist kleiner als Reno und wiegt auch weniger. Eine Tatsache, die er vor den Augen der Öffentlichkeit gut verbirgt. Auf dem Weg in die Küchennische spürt er Renos Blick in seinem Rücken; weiß, das jeder Schritt beobachtet wird. „Ey, der Plan war nich', dass du aufstehst!“ wird ihm hinter her gerufen. „Dein Kaffee weckt mich nicht auf.“ kommt prompt die Antwort. Bettlaken rascheln, nackte Füße huschen über das Laminat. Dann steht Reno hinter ihm. Nur er wird so in Tsengs Rücken geduldet. Nur er kann es sich erlauben, die Arme um Tsengs Hüfte zu ziehen und das Gesicht in den offenen Haaren zu vergraben, die wieder viel zu lang über die Schultern fallen. „Was heißt, mein Kaffee weckt dich nicht auf?“ wird in sie genuschelt. „Das was ich gesagt habe.“ Das Grinsen versteckt Tseng hinter der Hand, versucht Kaffee auf zu setzen, während Reno ganz andere Dinge im Kopf hat. Die erste Koffein-Ration des Tages muss eine weitere Stunde warten. Solange bis Tseng erneut in der Küche steht; jetzt sein eigenes Hemd trägt, den perfekt sitzenden Anzug. Nur die Krawatte ist noch nicht gebunden, hängt lose um seinen Hals. Das PHS ist zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Er telefoniert, während er nun endlich den Kaffee aufsetzt. „Mir ist es vollkommen egal, ob ich gerade anderweitig beschäftigt gewesen bin oder nicht.“ zischt er leise, und doch deutlich hörbar für seinen Gesprächspartner. „Die Planung geht zuerst an mich.“ Gespräche dieser Art führt er bevorzugt am Morgen. Er, der ein Nachtmensch ist, hat dann die nötige Frustration aufgebaut. Und kann sie auch jeden spüren lassen, mit dem er spricht. Es spielt keine Rolle, ob es nun ein einfacher Büroangestellter ist, oder Rufus Shinra persönlich. „Es hat sich spontan ergeben.“ Der Präsident gähnt. Er ist von Tseng aus dem Schlaf geklingelt worden. Die Folgen der letzten Nacht lassen seine Stimme schleppend klingen. Tseng hebt eine fein geschwungene Augenbraue, sucht auf dem Küchentresen nach einer Zigarettenschachtel. „Spontan ergeben?“ Aus der rechten Jackett-Tasche zieht er ein billiges Plastikfeuerzeug. Nicht sein eigenes. „Spontan kann man auch keine SMS schicken?“ setzt er hinter her. „Tseng!“ Rufus muss unglaubliche Kopfschmerzen haben. Seine Stimme ist brüchiger als gewöhnlich. „Erinnere dich daran wer du bist.“ Es ist das Telefon zwischen ihnen. Die Verbindung, die über Kabel übertragen wird, welche verhindert, dass der Präsident das Lächeln sieht, welches über Tsengs Lippen gleitet. „Ich erinnere mich jeden Tag daran, Sir.“ Reno, der in diesem Augenblick aus dem Schlafzimmer in die Küchennische wankt, sich einen Kaffee eingießt, bemerkt das Zucken der Mundwinkel. Tseng hat die Zigarettenschachtel gefunden, hält eine Zigarette in die Flamme eines Feuerzeugs, dann den Rauch inhaliert und ausatmet, ehe er gelassen feststellt: „Ich wünsche Ihnen noch einen geruhsamen Tag, Sir.“ Mit diesen Worten wird das Telefonat beendet. Der Präsident hat keine Chance mehr zu antworten. „Dachte du has' heute frei?“ Reno mustert Tseng über den Rand der Kaffeetasse, fixiert den Blick auf das faltenfreie Jackett. Auch wenn Tseng keine große Variation an Kleidung besitzt, heißt seine jetzige Aufmachung 'Business'. „Habe ich auch.“ wird die Frage bestätigt. Der Leiter des Departments deutet mit einem Nicken auf den immer noch laufenden Laptop, der auf dem Wohnzimmertisch steht. „Ich will nur ein paar Antworten.“ „Oi. Soll ich mitkomm'n?“ Ausnahmsweise erinnert Reno sich an Regeln. Und eine, vielleicht die wichtigste lautet: Mache nie einen Job alleine! Die einzige Regel, die Tseng regelmäßig bricht. Er zögert kurz, mustert Reno und antwortet dann: „Nein. Nicht dein Turf.“ Es gibt keine Diskussion. Keine weiteren Fragen. Reno weiß, dass Tseng sich Freiheiten heraus nimmt, die bei keinem anderen Turk geduldet werden. Und er musste lernen, ihm zu vertrauen. Musste sich damit abfinden, dass die 'Turfs' nach Meteor neu gesteckt wurden. Es gibt Orte in Edge, an denen jemand wie Reno nichts verloren hat. Tseng nimmt das stille Einverständnis mit einem Nicken zur Kenntnis. Bindet sich seine Krawatte und stürzt danach den tiefschwarzen Kaffee aus seiner Tasse in einem gierigen Zug herunter. „Wir sehen uns heute Abend. Ich rufe dich an.“ Erst als er in seinem Auto sitzt, wird Tseng klar, das er Reno in seiner Wohnung zurück gelassen hat. Ihrer? Die Grenzen verwischen immer mehr, die Kreise überschneiden sich. Er greift in das Handschubfach des Wagens, schiebt all die Strafzettel zur Seite, die er in den letzten Monaten gesammelt hat, sucht unter dem Papier nach kühlem Stahl. Findet die zweite Pistole, die er immer im Wagen hat, lädt das Magazin und lässt die Waffe in das Halfter gleiten. Die Paranoia eines Turks. Dieses Mal muss er nicht weit fahren; nicht eine Stadt durchqueren, die auf Ruinen gebaut wurde. Sein Ziel liegt im selben Viertel. Nur vier Blocks von seinem Apartment entfernt. Er würde laufen, wäre der Schein nicht so wichtig. Die glänzende Fassade. Der schwarze Sportwagen ist mehr als nur ein einfaches Auto. Es ist jetzt ein Statussymbol, verdeutlicht den jungen Männern, die ihn aussteigen sehen, dass er es geschafft hat. In der Nahrungskette weit über ihnen steht. Und kurz, während er keine Überlegung daran verschwendet, dass er ein weiteres Mal im absoluten Halteverbot parkt, huscht der Gedanke durch Tsengs Kopf, dass er genau aus diesem Grund sein Auto so sehr liebt. Weil er selbst immer noch der Ghettojunge ist, der sich von glänzendem Chrom beeindrucken lässt. Andere Ghettojungen mustern ihn, als er aussteigt. Dann die Karosserie, ehe ihr Blick auf die Felgen gleitet. Und erst dann auf die Person, die aussteigt. Vier Ghettojungen in schlecht sitzenden Anzügen; ihre Jacketts sind offen, die Pistolen werden sichtbar getragen. Gelangweilt lungern sie vor dem Eingang des Clubs herum, der in den Nächten zu einer der begehrtesten Adressen der Stadt geworden ist. Im Licht des Tages jedoch unscheinbar wirkt. Ein Haus wie so viele andere. Die Fassade im selben grauen Beton hochgezogen, wie all die anderen Gebäude ringsum. Keine schillernde Reklame reflektiert sich in dreckigen Regenpfützen, keine Menschenschlangen reihen sich vor dem Eingang. Nur die vier Jungen sitzen an einem wackeligen Klapptisch, auf dem Kaffeetassen und Bierflaschen stehen. Dazwischen Spielkarten, Gil-Noten und ein Springmesser. Nach welchem eine Hand mit zu vielen Goldringen an den Fingern greift. Tsengs einzige Reaktion ist ein Schmunzeln. Gefolgt von einem beiläufigen Zurückschlagen des Jacketts. Die vier sehen das Halfter, sehen die Pistole. Nehmen die Gelassenheit der Bewegung wahr. Und ihr Instinkt sagt ihnen, dass sie besser die Füße still halten sollten. Dass doch einer von ihnen aufsteht, sich Tseng in den Weg stellt, gehört zu den Regeln; zu dem Spiel. Der abschätzende Blick des Jungen wird kühl erwidert, die Arme angehoben. Tseng hat den Vier seine Bewaffnung präsentiert, mehr hat er nicht am Körper versteckt. Und viel zu sehr Teil des Spiels beginnt der Junge, der gerade aufgestanden ist, ihn abzuklopfen. „Was willste?“ wird schließlich die Stille unterbrochen. Es sind nur zwei Worte, doch selbst diese klingen gebrochen. Der Junge ist zu tief in seiner Muttersprache verwurzelt. „Geht dich 'nen abgefuckten Scheißdreck an.“ Tseng hat ein abfälliges Lächeln um die Mundwinkel, als er auf Wutai antwortet. Die Jungen haben Mühe die Überraschung zu verbergen. Keiner von ihnen hat erwartet, dass Tseng den selben Dialekt wie sie spricht. Die selben Worte nutzt. Es passt nicht zu seinem Auftreten. Passt nicht zu dem sauberen, faltenfreien Anzug. Aus dem Schatten des Hauseingangs löst sich ein fünfter Mann, der bisher schweigend die Szene beobachtet hat. „Lasst ihn. Er ist sauber. Und Onkel Han will ihn sehen.“ Sofort ändert sich die Haltung der Jungen. Sie treten einen Schritt zurück. Geben Tseng den Weg frei. Der fünfte, etwas älter als die anderen, hält Tseng in einer entschuldigenden Geste die Tür auf. „Sie wissen nicht wer du bist.“ „Wüssten sie es, hätten sie versucht mich umzubringen.“ Der Turk schiebt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und betritt schulterzuckend eine andere Welt. Eine Welt, die ihm so vertraut und doch über all die Jahre vollkommen fremd geworden ist. Durch bunte Fenster an der Ostfront dringen Sonnenstrahlen in den großen Raum. Nachts, wenn sich schwitzende Leiber auf der Tanzfläche drängen, werden die seltsamen Figuren im Glas von Scheinwerfern beleuchtet, unterstreichen die Exotik des Clubs. Jetzt, an diesem frühen Morgen tanzt Staub träge im Licht, Zigarettenrauch hängt in der Luft. Das leise Klacken von Mahjonggsteinen begleitet leise gemurmelte Unterhaltungen. Noch mehr Männer in schlecht sitzenden Anzügen sitzen in den vielen kleinen Separees. Warten auf Befehle. Darauf, etwas zu tun. Ein paar Köpfe heben sich, als Tseng eintritt. Einige Augenpaare bleiben an dem Turk hängen, als er mit langen Schritten die Distanz von der Eingangstür zu dem Tisch im Zentrum des Raums überbrückt. Wenige wissen wer er ist. Und diejenigen, die ihn erkennen sehen Shinras Schoßhund. Tseng lässt sie in dem Glauben. Es reicht, dass er und der ältere Mann, der ihm gerade zunickt, die Wahrheit kennen. Onkel Han steht nicht auf, doch bietet er dem Jüngeren mit einer Handgeste einen Platz neben sich an dem Tisch an. Dann widmet er sich weiter seinem Mahjongg-Spiel. Tseng setzt sich, wartet, lehnt dankend den Tee ab, den ihm eine junge Kellnerin anbietet. Raucht schweigend seine Zigarette. Han wird das Gespräch beginnen. Es ist nicht einmal ein Jahr her, dass Onkel Han ihn zum ersten Mal zum Essen einlud. In Midgar wäre es undenkbar gewesen, dass Tseng auch nur eine Minute darüber nachgedacht hätte, die Einladung anzunehmen. Doch Edge ist nicht Midgar. Und der Krieg lange vorbei. Niemand macht sich Gedanken darüber, wenn ein respektiertes Mitglied der wutainesischen Gemeinde einen ranghohen Mitarbeiter der ShinRa Company zu einem Dinner einlädt. Erst recht nicht, wenn dieser Mitarbeiter ebenfalls Wutainese ist. Die pikanten Details sind den wenigsten geläufig. Han leitet nicht nur ein Großhandelsunternehmen. Gehört nicht nur zu den wenigen Menschen, die durch die Zerstörung Midgars zu sehr viel Geld gekommen sind. Tseng kennt Hans Akte. Wusste, worauf er sich einließ als er jenem Winterabend die luxuriöse Villa am Stadtrand betrat. Für ihn eine Reise zurück in die eigene Vergangenheit. Zurück in ein anderes Land. Für Han mehr als nur freundliche Kontaktpflege. Es blieb nicht bei diesem einen Essen. Während Tseng wartet, bemerkt er, wie die leise gemurmelten Gespräche sich verändern. Die Themen gewechselt werden. Es geht nicht mehr um Prostitution, um Drogen und Waffenschmuggel. Die Männer reden jetzt über Sport, über ihre Frauen und Geliebten. Unverfängliche Sachgebiete. Tsengs Anwesenheit beginnt, die ersten nervös werden zu lassen. „Eine ungewohnte Zeit für dich.“ Han hat sein Spiel beendet, lässt sich von einem seiner Lakaien eine Zigarette anzünden, während ein anderer Mann aufsteht, sich verbeugt und dann leise vom Tisch entfernt. „Nicht so ungewohnt. Normalerweise kümmere ich mich jetzt um Akten.“ antwortet Tseng im neutralen Tonfall. Der Kopf ist gesenkt, der Blick nicht. So sieht er auch das amüsierte Funkeln in den Augen des Älteren. Sieht einen sympathischer Mann, mit weißen, schütteren Haaren und Lachfältchen um den Mundwinkeln. Sieht jemanden, der seinen Enkeln Ballons zum Geburtstag schenkt. Und Ponys. Ihre Blicke treffen sich, unbemerkt von Hans Männern. Nach außen bleibt die Etikette gewahrt. Ist es Tseng, der dem Älteren den Respekt zollt, der ihm zusteht. Keiner der Anwesenden kommt auf den Gedanken, dass die Rollen vertauscht sind. Dass Han Angst vor dem Turk hat. Vor dem jüngeren Mann, dessen unbewegte Mimik er nicht lesen kann. Dessen sauber manikürten Finger eine Zigarette mit der gleichen Selbstverständlichkeit halten, mit denen sie sich auch um den Trigger einer Pistole legen. Han kennt seine Position. Weiß, dass er so frei agieren kann, weil Tseng es zulässt. Weil der sich nicht auf die WRO verlassen will. Jemand wie Tseng ist nicht für den Frieden gemacht und erst recht nicht für Weltrestauration. Han leitet ein Verbrecher-Syndikat, Tseng die Turks. Offiziell stehen sie auf verschiedenen Seiten, nutzen aber beide die selben Methoden. Mit einem Unterschied: Die Turks sind effizienter. Deshalb darf Han sein Geld mit Drogen, Nutten und Waffen verdienen. Geld, dass auch in ShinRas Kassen fließt. Unbemerkt von Idealisten wie Tuesti. „Was hält dich dann von der Arbeit ab? Der Tee kann es ja nicht sein.“ Lächelnd deutete Han auf die leere Tasse, welche vor Tseng steht. „Ich bin – und werde es auch immer bleiben – Kaffeetrinker.“ Wie üblich folgt vor dem Geschäftlichen seichte Unterhaltung. „Eine Schande. Die Stadt hat dich verdorben.“ Das Lächeln hängt weiterhin auf Hans Lippen. Tseng hat immer noch den Kopf gesengt, fragt leise: „Die Stadt?“ In den Ohren anderer klingt es schüchtern, beeindruckt. Für den Älteren ist es eine deutliche Warnung. Kein Wort über ShinRa, kein Satz über Loyalität. Tseng ist nicht hier, um dieses Thema zu diskutieren. Er greift in sein Jackett, zieht aus der Innentasche ein Foto und schiebt es mit der bedruckten Seite unten liegend Han langsam zu. Dieser hebt eine Ecke an, mustert kurz das Bild, lässt es aber so auf dem Tisch liegen, wie es ihm überreicht wurde. „Kennst du diesen Mann?“ Es ist eine einzige feine Nuance in Tsengs Tonfall, welche sich ändert. Die Höflichkeiten sind vorbei. Nun geht es ums Geschäft. „Kannte ist wohl die bessere Formulierung.“ Han nippt an seinem Tee. Serviert in fast durchsichtigem Porzellan. Tseng ignoriert die diskrete Demonstration von Reichtum. Ihn interessiert das Zittern der Hand mehr. „Kannte?“ Diese Frage ist scharf formuliert, ohne dass er lauter wird. „Ihm ist gestern Nacht ein bedauerlicher Unfall passiert.“ antwortet Han, seine Worte sorgsam abwägend. „Ein paar Straßenjungen sind in seine Wohnung eingebrochen und haben ihn hingerichtet.“ Es gibt Neuigkeiten, die sich schnell verbreiten. Kaum jemand weiß dies besser, als ein Mitglied der Turks. Den Fluss der Informationen zu kontrollieren gehörte auch einmal zu ihrem Aufgabenbereich. Dass sich allerdings diese Neuigkeit so schnell verbreitet, lässt Tseng stutzen. Doch er braucht nicht einmal die Dauer eines Augenblinzelns, um sich wider zu fassen. „Kein schöner Tod.“ Eine leere Floskel, die Teil der Inszenierung ist. Tseng unterscheidet nicht zwischen 'schönem' und 'unschönem' Ableben. „Tatsächlich bedauerlich.“ setzt er hinter her, ehe sein Feuerzeug aufschnappt und er sich die nächste Zigarette anzündet. „Was meine Frage aber nicht beantwortet. Kanntest du ihn?“ In einer Geste, die ihm nicht vollkommen bewusst ist, lockert Han den Knoten seiner Krawatte. Tseng bemerkt sie und es provoziert ein Lächeln. Weiße Zähne blitzen kurz auf. „Sein Name ist ... war Marvin Ho.“ Han hat das Lächeln bemerkt, deutet es richtig. Der Mann, der ihm gegenüber sitzt, möchte Antworten. Und ist in der Position sie zu verlangen. „Seine Mutter stammte aus Wutai, der Vater aus Junon. Hat unter Tuesti für ShinRa gearbeitet. Ist dann mit ihm zur WRO gewechselt.“ „Wie die meisten Mitarbeiter von Reeve“ denkt Tseng sich seinen Teil dazu. Was Han ihm erzählt, sind Fakten, die ihm seit gestern Nacht bekannt sind. „Weiter?“ fragt er lauernd. Seine Ausbildung in Verhörmethoden lässt ihn spüren, dass Han längst nicht alles gesagt hat. „Tseng.“ Die laute Nennung des Namens lässt einige der Anwesenden aufschrecken. Jetzt weiß auch der letzte, dass es nicht irgendein ShinRa-Mitarbeiter ist, der unter ihnen weilt, „Es gibt schlafende Hunde, die sollte man einfach weiter in Ruhe lassen.“ Der väterliche Tonfall, den Han anschlägt, ist genau der falsche. Damit kann er den Turk weder beruhigen noch ablenken. „Lass mich entscheiden, welche Hunde ich wecke.“ Tseng drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. Hebt dabei nicht den Kopf. „Was weißt du noch über Ho?“ „Nicht viel.“ versucht Han seiner Frage auszuweichen. „Onkel Han.“ Die höfliche, respektvolle Anrede ist viel zu explizit betont. Der Mann, dem der Club gehört, der den größten Teil des Glücksspiels auf Edges Straßen kontrolliert, der die Preise für Drogen festlegt, windet sich auf seinem Stuhl. Greift sich immer wieder an die Krawatte. Ihm gegenüber sitzt Tseng, scheinbar devot allen Respekt gegenüber einem Älteren auf bringend. Und strahlt gerade in dieser Zurückhaltung absolute Autorität aus. Rings um sie zucken die ersten Hände unter die Jacketts. „Er hat in Wutai als Dolmetscher gearbeitet. Während des Kriegs.“ Zögernd gibt Han mehr Details preis. „Und äh ... hat dort wohl ein paar Dinge heraus gefunden.“ Nun kommen sie zum interessanten Teil. Tsengs Blick ist eine stumme Aufforderung an Han, weiter zu sprechen, während er sich selbst die nächste Zigarette anzündet. Dabei die Haltung auf dem Stuhl verändert. Es ist eine minimale Bewegung, doch reicht sie, um das Halfter frei zu legen, dass er trägt. Die Älteren verstehen die unausgesprochene Warnung. Sehen die Pistole, die im Halfter steckt. Ahnen, dass der Turk schneller ist. „Ich weiß nicht was. Er wollte Beweise. Die er jetzt wohl bekommen hat. Und dann damit an die Öffentlichkeit.“ Auch Hans Blick fixiert sich kurz auf den Pistolengriff. Tseng zieht an seiner Zigarette, beobachtet den aufsteigenden Rauch. „Beweise?“ „Ja, ich weiß nur nicht was, oder wofür.“ Der Ältere redet inzwischen hastig und schnell. Sagt aber dieses Mal die Wahrheit. Tseng atmet tief ein. Überlegt, ob er die nächste Frage stellen soll. Wägt kurz die Konsequenzen ab. „Die Frau, die bei ihm war. Kennst du sie auch?“ Hans Augen weiten sich. Sein Verdacht wurde gerade bestätigt. Aber es kann ihm keine Befriedigung geben. Dem Turk lässt sich nichts nachweisen. „Ja.“ Dieses Mal ist Han schneller als sein Handlanger, zündet sich selbst eine Zigarette an. „Ihr Name ist Mei-Li.“ „Li-Mei“ korrigiert Tseng ihn still. Und in einem dunklen Teil seiner Gedanken will er die kleine Schwester dafür zurecht weisen, wie plump sie versucht hat, die Identität zu wechseln. „Adresse?“ bringt er stattdessen trocken über die Lippen. Han zuckt mit den Schultern. „Mir nicht bekannt. Ich glaube sie hat in einem Hotel gewohnt.“ Er wird jetzt wieder vorsichtiger; fragt sich, wie viel er sagen kann. Die Frage der Loyalität, die sie vor wenigen Minuten übergangen haben, nagt an ihm. Dabei ist die Antwort so erschreckend simpel. Für Tseng stehen die Turks immer an erster Stelle. Dann kommt ShinRa, personifiziert durch ein blondes Kind. Und irgendwann, weit auf den hinteren Plätzen Wutai. Aber Tseng bohrt hier nicht weiter. Die Kontakte, die er sich im letzten Jahr aufgebaut hat, sind zu wertvoll, um sie für eine private Angelegenheit zu opfern. Und es gibt andere Möglichkeiten an die Informationen zu gelangen. Immer noch. Die WRO hat ihnen nicht alle Zähne gezogen, auch wenn Tuesti es gerne glauben würde. Der Turk steht auf, zieht das faltenfreie Jackett zurecht. Verbeugt sich vor Han. Respektvoll, der Etikette folgend. „Danke für den Tee.“ murmelt er leise, wart die Form. Und Onkel Han findet wieder in die Rolle, die ihm zusteht. Nickt nur kurz. „Keine Ursache, mein Junge. Jederzeit gerne.“ Bereits an der Tür nimmt Tseng die Bewegung aus den Augenwinkeln wahr, sieht wie einer der Männer hinter seinen Rücken greift. Für jemanden wie diesen Gangster ist es die einfachste, sauberste Lösung. Sein Denken reicht nur bis zur nächsten Straßenecke. Er glaubt, dass der Tod eines Turks sein Leben einfacher werden lässt. Deshalb kommt jemand wie dieser Gangster auch nie weiter; wird niemals seinen Block verlassen. Und in diesem Augenblick ist jede falsche Form der Höflichkeit vergessen. Tseng denkt nicht nach, spürt das beruhigende Gewicht seiner Pistole in der Hand, krümmt den Finger. Der erste Schuss trifft. Direkt in den Kopf. Die zweite Patrone, die den Lauf verlässt, ist nur zur Absicherung. Stille. „Onkel Han.“ Tseng spricht zuerst, hinein in die Stille, welche sich über den Saal gelegt hat. Nutzt die korrekte Form der Anrede für den Älteren. „Sorge dafür, dass du deine Leute unter Kontrolle hast.“ Das Oder sonst ... bleibt unausgesprochen im Raum stehen. Tseng steckt die Pistole wieder in das Halfter. Kümmert sich nicht weiter darum, was mit dem Toten passiert. Sie lassen ihn gehen. Senken die Blicke. Weichen ihm aus. Vierzig Minuten später steht Tseng in Elenas Büro. Tritt zwischen Zimmerpflanzen und Aktenstapeln von einem Fuß auf den anderen. Die junge Frau weicht ihm nicht mit Blicken aus, nagelt ihn stattdessen regelrecht fest. „Wenn du mir noch einmal sagst, dass ich einfach nur meinen Job machen soll, überlege ich mir das mit Reeves Angebot ganz genau.“ ätzt sie ihm entgegen, fokussiert dann die Aufmerksamkeit wieder auf den flackernden Bildschirm ihres Rechners. „Welches Angebot?“ Tseng lehnt sich gegen den überladenen Schreibtisch. „Die Einladung zum Dinner, was nur ein charmant verpacktes 'Mach die Beine breit und lass dich vögeln' war, oder sein Angebot, dich als überbezahlte Privatsekretärin einzustellen?“ Elena schnaubt, greift nach dem nächstliegenden Stift und wirft ihn in Tsengs Richtung. Er macht sich nicht die Mühe auszuweichen. „Heute mal wieder richtig im Arschlochmodus?“ Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, redet sie mit ihm. Aus der Schwärmerei am Anfang ihrer Karriere ist inzwischen eine solide Freundschaft geworden. Sie ist Tsengs Partnerin, seine Rückendeckung. Und sich dessen vollkommen bewusst. „Hat das was mit dem Job zu tun?“ kontert er gereizt. Die Antwort ist ein leises Lachen. „Anscheinend schon, Tseng. Da ich heute bereits mit Reno telefoniert habe, weiß ich das seine Nacht ganz angenehm gewesen sein muss. Im Gegensatz zu meiner. Ich war die Idiotin, die Rufus ins Bett bringen durfte.“ „Elena.“ „Tseng.“ äfft sie seinen Tonfall nach und zieht die Beine an, drückt sie gegen die Schreibtischplatte. Ihr Kinn legt sie auf die Knie. Die Haare fallen über ihre Augen, doch Tseng weiß, dass sie ihn beobachtet, während sie beide warten. In aller Stille an der Technik verzweifeln, die ihnen Antworten geben soll. „Du schuldest mir ein Essen. Mindestens eins.“ murmelt Elena nach mehreren Minuten gemeinsamen Schweigens. „Für meinen heldenhaften Einsatz. Und die Rettung des Sushis.“ „Ich weiß. Ich krieche auch in fast ewiger Dankbarkeit vor dir auf dem Boden.“ Tseng zieht aus der linken Tasche des Jacketts seine Zigarettenschachtel und sucht mit Blicken erfolglos nach einem Aschenbecher. „Den Tag, an dem das passiert, markiere ich mit lauter rosa Herzchen in meinem Kalender.“ Elena öffnet eine Schublade ihres Schreibtisches und stellt das gesuchte Objekt auf einen Stapel Aktenordner. Ihre Unterhaltung wird durch piepsende Töne des Computers unterbrochen. „Hat was gefunden.“ kommentiert Elena das technische Geräusch unnötigerweise, setzt sich wieder gerade auf ihren Stuhl und lässt den Drucker die Ergebnisse ihrer Suche auf Papier bringen. Gleichzeitig liest sie laut vor, was sie auf dem Bildschirm stehen hat: „Mei-Li Wu, geboren in Wutai. 27 Jahre alt. Keine Einträge wegen irgendwelcher Verbrechen, nur ein paar Strafzettel wegen Falsch Parken und zu schnellem Fahren.“ Es folgt ein abfälliges Schnauben. „Ziemlich billige falsche Identität. Mir fallen spontan zwei Fehler im Lebenslauf auf.“ grummelt Elena, während sie ein weiteres Mal die Daten überprüft, die sie vor sich hat. „Hmhm.“ murmelt Tseng leise, nimmt sich die Papiere aus dem Drucker und verbirgt hinter den Blättern sein Grinsen. Er hat nicht danach gefragt, ob die Identität der Frau echt oder gefälscht ist. Elena erledigt wieder einmal viel zu viel. Das einzige, was ihn interessiert ist ihre letzte Adresse. Der letzte Aufenthaltsort seiner Schwester. Kurz krampft sich ihm der Magen erneut zusammen. Dann hat er wieder die nötige Distanz zu den Ereignissen. Li-Mei ist vor achtzehn Jahren gestorben. Am selben Tag an dem die SOLDIER das Dorf stürmten, in dem er aufgewachsen ist. Er hat gesehen, wie einer von ShinRas Männern sie mit schleifte, runter zum Strand. Und niemand kehrte von diesem Strand zurück. Am Abend färbte nicht nur die untergehende Sonne das Wasser rot. „Tseng!“ Elenas Hand hat kraftvoll ausgeholt. Ihre Fingernägel hinterlassen Kratzer auf seiner Wange. „Elena an Tseng!“ Erst jetzt setzt der brennende Schmerz ein. Er sieht sie verdattert an. „Was?“ rutscht ihm über die Lippen. Es ist sicherlich nicht die intelligenteste Frage, die man in dieser Situation stellen kann. Elena seufzt leise. „Du hattest wieder deine Sephiroth-Gedenk-Minute.“ Sie nennt es so, geht so respektlos mit den Momenten der totalen Abwesenheit um, die Tseng manchmal überkommen. Es macht es einfacher für sie. Für Rude. Für Reno. Macht man sich über etwas lustig, wird es erträglicher. Er bringt ein schiefes Grinsen zustande, murmelt eine leise Entschuldigung. Sie zuckt mit den Schultern. Die letzten verbliebenen Turks haben gelernt damit umzugehen. Genauso wie sie gelernt haben, Elenas regelmäßigen Heulkrämpfe nach zu viel Wodka zu akzeptieren. Oder Renos Aussetzer in den Bars. Oder Rudes Schweigen. „Was ich dir sagen wollte, bevor du in irgendeine ganz weit entfernte Sphäre abgedriftet bist,“ überspielt Elena das gerade geschehene mit einem Lächeln, „Ich habe die Adresse der Dame. Und jetzt rufe ich Rude an und sag ihm das geplante Dinner ab.“ Sie greift sich ihr Jackett. „Ein Dinner, welches wirklich nur ein schlecht getarnter Grund ist, um mich flach zu legen.“ Sie lässt Tseng keine Zeit ein schlechtes Gewissen zu kultivieren, setzt mit dem selben strahlenden Lächeln hinter her: „Und morgen rechne ich die Überstunden aus.“ Kapitel 4: Ambivalenz --------------------- Ambivalenz Sie sitzen in Tsengs Auto, nippen beide gleichzeitig an lauwarmen Kaffee, den sie sich erst vor ein paar Minuten geholt haben. Dicke Regentropfen schlagen auf die Frontscheibe des Wagens. Ein Feuerzeug flammt auf. „Du rauchst zu viel.“ stellt Elena nüchtern fest. „Wann hast du wieder angefangen?“ „Nach der Sache im Krater.“ antwortet Tseng und zündet die Zigarette an. Die 'Sache im Krater' wird zwischen ihnen nicht diskutiert. Sie waren beide dort. Haben beide Dinge gesehen, über die sie nicht sprechen wollen. Auch nicht miteinander. „Immer noch Schlafstörungen?“ fragt Elena schließlich, überbrückt so das seltsame Schweigen dass sich zwischen ihnen ausgebreitet hat. Tseng nickt langsam. „Und du?“ „Frag Rude. Habe ihn letztens beinahe aus Versehen kastriert, als ich aus einem Albtraum hoch gefahren bin.“ Sie kichert. Ein Laut nahe am Rande der Hysterie. „Ich lasse es besser mit dem Fragen.“ Tseng seufzt leise und sieht aus dem Autofenster auf die gegenüberliegende Straßenseite. Der Grund für die ungeplante Pause steht dort. Ein Wagen mit WRO-Kennzeichen. Direkt vor dem Eingang des schäbigen Hotels, dessen Adresse Elena heraus gefunden hat. Aber kurz ist er mit den Gedanken ganz woanders. Wieder in einem Krater. Und wieder frisst sich kalte Angst durch seine Adern. „Themawechsel.“ holt Elena ihn gerade rechtzeitig zurück. „Hast du inzwischen einen Plan?“ Noch sind sich die beiden Turks nicht einig, wie sie weiter vorgehen sollen. Würden sie jetzt das Hotel betreten, käme selbst die Innenrevison der WRO auf die Verbindung zum Ho-Fall. Tseng seufzt leise. „Frage in zwei Minuten noch einmal.“ „Sie haben gute Leute.“ grummelt seine Partnerin, nippt an ihrem Kaffee und greift nach der Zigarettenschachtel. Ihre Nasenspitze kräuselt sich, als die inzwischen kalte Flüssigkeit ihre Kehle herab rinnt. „Ich weiß.“ antwortet Tseng ruhig und ignoriert den angewiderten Gesichtsausdruck. Neben ihm schnaubt Elena ein weiteres Mal. Es sind unausgesprochene Zwischentöne, die in dem begrenzten Raum des Wageninnern hängen. Beide teilen sie die Bedenken, dass ihnen wichtige Hinweise direkt vor der Nase weg geschnappt werden. Elenas schlanke Hand streckt sich nach dem Feuerzeug. Noch trägt sie keine Handschuhe, noch kann Tseng den Dreck unter ihren Fingernägeln sehen. Es waren einmal die Hände einer jungen Frau, die sich perfekt in die Gesellschaft oberhalb der Platte eingefügt hätte. Jetzt sind es die Hände einer Turk. Rau, vernarbt. Sie bemerkt seinen Blick. Wirft ihm ein warmes, fast schüchternes Lächeln zu. „Du bist schuld.“ Er weiß, was sie meint und auch die eigenen Mundwinkel zucken kurz. „Daran habe ich mich gewöhnt.“ Sie ziehen beide an den Zigaretten, saugen gierig den beißenden Rauch in die Lungen. Es ist tatsächlich Tsengs Schuld, dass Elena nur noch selten Gedanken an Schuhe verschwendet, oder an teure Kleider. Sie hat viel zu viel Zeit mit ihm verbracht. Wartend in Autos; herumstehend auf langweiligen Empfängen. Aus dem kleinen pummeligen Mädchen mit Zöpfen ist längst eine Frau geworden, die sich nicht mehr am Ideal ihrer Schwester misst. Elena ist sich sicher, wer sie selbst ist und was sie kann. Genauso wie sie ihre Grenzen kennt. Darum beneidet Tseng sie immer wieder. „Und jetzt?“ Die zwei Minuten sind verstrichen. Elena pustet einen Rauchring über ihre Lippen. Tsengs Grinsen wird breiter. „Improvisieren wir.“ Lachend verschluckt Elena sich an dem Qualm. „Und der Moment, in dem ich Panik bekomme, ist da.“ Er klopft ihr auf den Rücken und holt sein PHS aus der Jackett-Tasche. Jede Welt hat ihre Regeln. Und auch Onkel Han muss sich diesen beugen. Es wird dem alten Mann nicht schmecken, dass er Tseng einige Gefallen schuldet für den Zwischenfall am Morgen. Gefallen, die der Turk sich lieber für einen anderen Zeitpunkt aufgespart hätte. Als er das Gespräch beendet hat, sieht er das zynische Grinsen seiner Partnerin aus den Augenwinkeln. Sie hat nicht alles verstanden; ihr Wutai ist dafür nicht gut genug. Das Wutai, welches inzwischen in den Schulen gelehrt wird. Was auch die kleine Göre spricht, die mit Strife und den anderen immer im 7th Heaven zu finden ist. Aber es reicht, um Elena fest stellen zu lassen: „Interessante Form der Improvisation.“ Tseng zuckt mit seinen Schultern, steckt das PHS wieder in die Tasche. Improvisation muss man als Turk beherrschen. Man muss sich an neue Situationen schnell und flexibel anpassen. Veld hat es ihm so beigebracht. Sie warten. Trinken den letzten Rest kalten Kaffee, rauchen noch mehr Zigaretten. Die Monotonie wird erst durchbrochen, als ein altes, rostiges Auto hinter dem WRO-Wagen parkt. Fünf junge Männer steigen aus. In zu greller Kleidung, mit zu viel Schmuck behangen, die Augen hinter billigen Sonnenbrillen versteckt. Elena beobachtet sie argwöhnisch, studiert ihren breiten Gang, das Gehabe mit dem sie den Bürgersteig zu ihrem Territorium erklären. „Sie sind überall gleich.“ Erfolglos versucht sie die Haare hinter das Ohr zu streichen. „Es spielt keine Rolle ob es nun Sektor Sieben oder die Docks von Wutai sind.“ Tseng hat sich auf seinem Sitz zurück gelehnt, die Augen geschlossen und nickt wortlos. Seine volle Konzentration kehrt erst in dem Moment zurück, in welchem er Elenas Hand auf seinem Arm spürt. „Geht los.“ informiert sie ihn. Er zieht sich auf dem Autositz wieder höher, sieht jetzt auch auf die andere Straßenseite. Die WRO-Mitarbeiter haben das Hotel verlassen, wollen in ihren Wagen steigen. Und werden von den Männern umringt. Die beiden grauen Uniform-Träger wissen nicht, was hier geschieht. Wissen nicht, weshalb einer der Fremden sie plötzlich laut beleidigt. Doch spüren sie, dass sie mit unerwarteten Problemen konfrontiert werden. In dem Sportwagen können die Turks nicht hören, was gesprochen wird. Es ist auch irrelevant für sie. Was zählen wird, ist das Resultat. Tseng beobachtet das Vorspiel. Beobachtet wie Worte immer gereizter gewechselt werden. „Autsch, das war nicht nett.“ kommentiert Elena den ersten Schlag, der einen der WRO-Mitarbeiter direkt in den Unterleib trifft. Tseng hebt nur eine Augenbraue. Sieht weiter unbeteiligt zu, wie ein anderer Wutainese zu tritt. Dann werden Messer gezogen. Improvisation. Zu wissen an welcher Stelle Fäden zu ziehen sind, ist ebenfalls Teil des Jobs. Die beiden Turks können die Drecksarbeit nicht selbst erledigen. Nicht jetzt, nicht an diesem Ort. Sie haben jemanden gefunden, der es für sie übernimmt. Den WRO-Mitarbeitern wird niemand helfen. Obwohl sie genau darum schreien, flehen. In diesem Viertel gilt Hans Wort vor dem der WRO. Kein vorbeifahrendes Auto hält an, Passanten wechseln die Straßenseite, die Köpfe betreten gesenkt. Tseng und Elena bleiben weiter unbeteiligte Zuschauer. Sie warten, bis Blut den regennassen Asphalt rot färbt. Bis die geschundenen Körper die letzten Zuckungen der Nerven durchfahren haben. Die fünf Männer sind schon längst wieder verschwunden. „Tuesti wird tierisch angepisst sein.“ Elenas Feststellung ist genauso lakonisch wie Tsengs Antwort: „Interessiert es uns?“ Sie schüttelt den Kopf und versucht ein letztes Mal ihre Haare unter Kontrolle zu bekommen, bevor sie aus dem Auto steigt. Mit schnellen Schritten überqueren die beiden Turks die Straße. Immer noch interessiert sich niemand für die toten WRO-Leute. Und es wird noch bewusster weg gesehen, als der Mann und die Frau im Anzug offen in Erscheinung treten. Die meisten von ihnen verbinden irgendeine Erinnerung mit den Anzügen, egal ob sie nun schwarz oder blau sind. Fast jeder weiß, dass ein einzelner Turk mehr Ärger bedeutet als Zehn von Hans Gangstern. Manche Dinge ändern sich einfach nicht. Nominell hat ShinRa keine Befugnis mehr, auf Edges Straßen als Sicherungsorgan aufzutreten. So wurde es auf dem Papier vereinbart. In der Praxis haben die Menschen mehr Respekt, mehr Angst vor den Anzügen als vor grauen Uniformen. WRO-Beamte schießen nicht, wird sich ihnen widersetzt. Elena und Tseng tragen inzwischen beide ihre Handschuhe. Durchsuchen schnell und routiniert die leblosen Körper. Tseng nimmt einen braunen Ordner an sich, der mit Blutspritzern überzogen ist. Elena die Kameras. Danach werden die Mobiltelefone aus den Taschen gezogen, die SIM-Karten heraus genommen. Gespeicherte Nachrichten werden mit wenigen Tastenkombinationen auf die eigenen PHS' überspielt. Und während der ganzen Leichenfledderei, die weniger als drei Minuten in Anspruch nimmt, wechseln die zwei Turks kein Wort. Sie sind ein eingespieltes Team. Das, was sie gesichert haben, bringt Elena schließlich zu Tsengs Auto. Verstaut es unter dem Beifahrersitz. Als sie endlich das Foyer des Hotels betreten, empfängt sie kalte, abgestandene Luft. Tsengs Blick streift schnell über die abgewetzten Sessel, den klapprigen Tisch auf dem eine zerlesene Loveless-Ausgabe über Porno-Heften liegt. Vergilbte Braun-Töne dominieren und eine verkümmerte Pflanze lässt die ganze Szenerie noch trostloser wirken. Zimmer werden hier meist nur stundenweise gemietet. In einem kleinen, verqualmten Raum, gesichert durch eine Panzerglasscheibe, die den Raum vom Rest der Lobby trennt, sitzt ein alter Mann, der er so verbraucht ist wie die Möbel; so abgewetzt, wie der faserige Teppich, der die Schritte der Turks dämpft, die auf ihn zu gehen. „In welchem Zimmer wohnte Mei-Li?“ Tseng hält sich nicht mit unnötigen Höflichkeiten auf. Doch der Alte sieht ihn nur fragend an. Er versteht den gängigen Dialekt Edges nicht. Oder will es nicht. Mit gereiztem Unterton, das Jackett etwas zur Seite schiebend und das Holster der Waffe freilegend, wiederholt Tseng seine Frage auf Wutai. Elena steht neben ihm. Lächelt zuckersüß und kratzt mit einem Wurfmesser den Dreck unter ihren Fingernägeln hervor. „Nummer 52.“ antwortet der Alte hastig, nun begreifend, dass es für ihn besser ist, zu kooperieren. Elena ist schon an der Tür; bereit sie aufzutreten und den Käfig aus Glas zu betreten, der nur die Illusion von Schutz bietet. „Schlüssel.“ fordert Tseng kühl. Der Alte erhebt sich ächzend. Hinkt in einen schlecht ausgeleuchteten Teil seines Käfigs. Die Hände der Turks haben sich fest um ihre Waffen geschlossen. Sie hören metallisches Klimpern, gefolgt von leisem Fluchen. Endlich hat der Alte den Schlüssel gefunden, hinkt zurück und schiebt ihn durch einen schmalen Spalt im Glas Tseng zu. Sie lassen den Mann hinter seinem Tresen stehen. Lassen ihn weiter abgegriffene Pornohefte durch blättern. Er wird ihnen keine Schwierigkeiten machen. Die Treppenstufen knarren, das Geländer wackelt unter Elenas prüfendem Griff. „Drecksladen.“ flucht sie leise hinter Tseng. Das Zimmer, das sie ein paar Sekunden später betreten, entspricht genau dieser Aussage. Ein Bett, auf dem eine mit Flecken übersäte Decke liegt, daneben eine kleine wurmstichige Kommode, eine alte Lampe auf ihr. Ein blinder Spiegel über einem verdreckten Waschbecken in der linken Ecke des Raums, ein billiger Kunstdruck an der Wand. Das Quietschen des Betts im Nebenzimmer ist deutlich zu hören. Begleitet vom rhythmischen Stöhnen. „Gemütlich. Genau der Standard, den ShinRa uns üblicherweise gönnt.“ Elena hat in den Jahren viel dazu gelernt, nur Schweigen ist immer noch nicht ihre Stärke. Tseng ist die Kommentare seiner Partnerin gewöhnt, beachtet sie nicht weiter. Er würde etwas vermissen, hätte er nicht ihre Stimme im Ohr. Die Schublade der Kommode klemmt. Er muss mehr Kraft als geplant aufbringen, um sie öffnen zu können. Ihr Inhalt wurde bereits gründlich durchsucht. Doch man braucht den Blick für Details um es zu bemerken. Staub ist aufgewirbelt worden; der Inhalt liegt nicht mehr an der selben Stelle. Auch wenn die WRO-Beamten sich tatsächlich Mühe gemacht haben, ihre Durchsuchung subtil zu halten. In der Schublade, die sich endlich knarrend geöffnet hat, finden sich Fotos. Alte, verblichene Fotos, aufgenommen mit einer billigen Kamera. Tseng zieht sie heraus, will schnell über sie fliegen und bleibt dann doch mit den Augen auf ihnen hängen. Auf jedem einzelnem Bild. Zu lange. Elena bemerkt sein Zögern. Sieht die Überraschung in seinem Gesicht. „Was?“ fragt sie und tritt mit einem lautlosem Schritt neben ihn. Tseng ist zu geschockt, seine Reaktion verzögert sich. Kostbare Sekunden werden verschwendet. Zeit, die Elena genügt. Sie sieht die Reisfelder. Sieht das kleine Mädchen mit den widerspenstigen Zöpfen, die von dem Jungen mit Zahnlücke auf den Schultern getragen wird. Sieht, wie die beiden in die Kamera lachen. Und hebt nur eine Augenbraue. Sich nicht bewusst seiend, dass sie den Mann neben sich gerade perfekt imitiert. „Ich habe mir schon gedacht, dass du ein richtig süßes Kerlchen gewesen bist.“ Tseng bringt nur ein trockenes Schnauben über die Lippen, geht die Fotos weiter durch. Noch mehr Familienbilder. Er hat geglaubt, sie wären alle verbrannt. War sich sicher, das keine Dokumente mehr existierten. Bis jetzt. Ein Mann, an dessen Gesicht er sich nur noch vage erinnert. Eine Frau, die zusammen mit dem Mädchen in die Kamera schaut. Es muss seine Mutter sein. Vielleicht auch eine Tante? Dann Bilder von einem Strand. Er weiß, er hat an diesem Strand gespielt. Hat dort Schwimmen gelernt. Tauchen. Ein anderer Mann, der viel mehr Vater für ihn ist, als der Fremde auf den Fotos, hat sich sogar einmal zu einem Lob über seine Schwimmkünste herab gelassen – ein Gedanke, der kurz durch Tsengs Geist huscht. Eine unbewusste Schutzmaßnahme, die das Gehirn gnädigerweise kurz von dem ablenkt, was sonst noch auf dem Foto zu sehen ist, welches er gerade in den Händen hält. Verrenkte Körper. Blut. Und zwischen all dem toten Fleisch eine zu vertraute Uniform. Schwarze Hose, schwarzer Pullover. Ein Schwert in der einen Hand. Ein abgeschlagener Kopf in der anderen. Und auf dem Gesicht des SOLDIERS ein irres Lächeln. Elena zieht Tseng das Foto behutsam aus der Hand, nimmt es an sich. Er lässt es zu. Lässt es zu, dass sie die gesamten Fotos greift, in einen Umschlag steckt. Ihm dann den Arm um die Hüfte legt und langsam aus dem Hotelzimmer dirigiert. Der schwarze Wagen steht in irgendeiner Seitenstraße, irgendwo in Edge. Elena sitzt in ihm, telefoniert mit Rude. Tseng hat die rechte Hand an die nächste graue Betonmauer gepresst, würgt die letzten Reste Kaffee und noch viel mehr Galle hoch. Er kann sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal innerhalb von 24 Stunden zwei Mal übergeben hat. Selbst wenn er zu viel trinkt, hat er immer noch so viel Selbstkontrolle, den Brechreiz zurück zu drängen. Elena ist er dankbar. Dafür, dass sie im Auto geblieben ist. Dafür, dass sie so ruhig wirkt. Nicht besorgt um ihn herum flattert. Es wäre das letzte was er in diesem Moment gebrauchen könnte. Das einzige was sie tut, als er sich wieder auf den Fahrersitz schiebt, ist ihm schweigend eine Packung Kaugummi zu reichen. Der Pfefferminz-Geschmack kommt kaum gegen die bitteren Magensäfte an. „Was nun?“ fragt sie ihn schließlich, nachdem das Zittern abgeklungen ist, Tseng sich wieder unter Kontrolle hat. „Die Daten auswerten.“ Er klingt so ruhig und beherrscht wie sie es von ihm gewohnt ist. „Dann mit Tuesti sprechen." „Reeve Tuesti?“ Elena lässt fast ihre Zigarette fallen. Tseng lehnt den Kopf zurück, seufzt leise. „Ist wohl nötig. Das Material kann ShinRa das Genick brechen, kommt es an die Öffentlichkeit.“ Er greift nach der Zigarettenschachtel und hofft, dass Elena die Unsicherheit in der Bewegung nicht bemerkt. Ihm entgeht dabei nicht das ungläubige Aufblitzen in den braunen Augen seiner Partnerin. Und er kann es verstehen. Sie ist ein Turk wie er, sie ist ShinRa gegenüber loyal. Aber sie hat ihre Grenzen. Für sie, dass Mädchen, das über der Platte aufgewachsen ist, gibt es immer noch eine Familie jenseits des kleinen Kreises, jenseits der Turks. Eine Familie, mit der sie sich zwar zerstritten hat, die sie aber doch an den Feiertagen besucht. Eine Familie, mit der sie gemeinsam am leeren Grab der so perfekten Schwester trauert. Tsengs Prioritäten sind für sie kaum nach zu vollziehen. Turks, ShinRa. Alles private folgt auf den letzten Plätzen, weit abgeschlagen hinter den beiden ersten Punkten. Auch jetzt denkt er nur daran, welche Komplikationen die gefundenen Fotos verursachen können. Verdrängt den Bezug, den er zu ihnen haben sollte. Fragt, um vom Thema abzulenken: „Soll ich dich bei Rude absetzen?“ Mit einer Selbstverständlichkeit, die nur er aufbringen kann. Die Veränderung kam schleichend. Niemand kann den Finger auf ein bestimmtes Datum legen. Zuerst änderte sich etwas in ihrem Umgangston. Nicht dass dieser freundlicher wurde. Reno brüllt weiterhin „Rude, du Schlampe!“ über den Flur; Tsengs Fluchen ist mit 'Fuck!' durchzogen. Aber irgendwann, es muss kurz nach Meteor gewesen sein, haben sie tatsächlich begonnen, miteinander zu reden. Haben herausgefunden, welche Musik sie gerne hören, welches Essen sie mögen. Fanden heraus, dass sie menschlich sind. Das sie Angst vor der Zukunft hatten. Das sie nicht wussten, wie es weitergehen sollte. Das es weitergehen musste. Zu viert. Dass es ihre Verantwortung ist, die Ideale aufrecht zu halten, mit denen sie aufgewachsen sind, für welche sie sich entschieden haben. Das sie Turks sind. Dann kehrte Sephiroth zurück. Und mit ihm kam das Wissen, dass sie viel zu menschlich waren ... sind. Sich viel zu nahe gekommen waren. Regeln gebrochen hatten, die für Turks als ungeschriebene Gesetze galten. Fick, wen und wann du willst. Bleibe nie zum Frühstück. Sie sind alle beim Frühstück hängen geblieben. „Wenn es kein Umweg für dich ist.“ antwortet Elena auf Tsengs Frage und holt ihn so aus seinen Gedanken, die wieder einmal viel zu brütend sind. Ein einfaches 'Es ist, wie es ist!' hat er nie als Antwort akzeptieren können. Ein müdes Grinsen huscht über seine Lippen. „Würde ich es dir sonst anbieten?“ Elena erwidert das Grinsen, gibt in diesem Moment einfach ihrer Intuition nach und beugt sich zu ihm. Kurz streifen ihre Lippen sich in einem flüchtigen Kuss. Missverständlich für alle, die sie nicht kennen. Zu oft hat diese Form der Vertrautheit bereits dafür gesorgt, dass sich im Büro die Sekretärinnen in wilden Fantasien verloren. Seine Partnerin murmelt nur ein „Danke.“ gegen seine spröden Lippen. Tseng zuckt wieder einmal mit den Schultern. Sie weiß, das es ein Umweg für ihn ist, selbst wenn er noch zur WRO-Zentrale fährt. Es spielt keine Rolle. Nicht an diesem Tag. Dreißig Minuten später stehen sie vor Rudes Wohnungstür. Genau wie die anderen drei hat sich der schweigsame Turk ein eigenes Apartment in Edge gesucht, in nötiger Distanz zum ShinRa-Gebäude. Wie die drei anderen wohnt auch er in einem anonymen Block, in dem es niemanden interessiert, was der Nachbar tut. Und Tseng wundert es überhaupt nicht mehr, dass Elena fluchend ihre Taschen abklopft, nach dem Türschlüssel sucht. Was ihn wundert, ist das laute: „Oi, sie ham den Weg doch noch gefunden!“, das ihm entgegen schalt, als sie endlich die Tür öffnet. Reno steht in der Küchentür, hebt zur Begrüßung eine Bierdose, während Elena und Tseng sich in den Flur schieben. Eine Begrüßung, die mit einem Kräuseln der Nasenspitze beantwortet wird. Tseng hat Elenas Einladung auf ein Bier angenommen. Ein paar Minuten Zeit, die er sich erkaufen kann. Dankbare Ablenkung einer Freundin. Hat er geglaubt. War davon überzeugt, dass Rude und Elena etwas besseres mit ihrer Zeit anfangen könnten, als sich mit seinen Problemen herum zu schlagen. „Hab' dir doch gesagt, dass sie beide auftauchen. Auf Laney ist halt Verlass.“ dröhnt Rudes Stimme aus der Küche. Aus der auch der Geruch von Essen weht; von scharfen Gewürzen. Nicht nur ein Bier ist für diesen Abend geplant. Elena dreht sich Tseng zu und lächelt entschuldigend. „Wir wollten nicht, dass du dich in Arbeit verkriechst.“ Sie könnte auch sagen: 'Alleine verkriechst.' Es würde auf das selbe hinaus laufen. Reno sieht über seine Schulter. „Hab' ich auch nie bezweifelt.“ ruft er im tiefsten Sub-Plate Slang zurück in die Küche. „Hörte sich mal ganz anders an, Schätzchen.“ Elena wirft den Schlüssel auf einen Beistelltisch, drängt sich an Reno vorbei in die Küche. „Ich erinnere mich da an eine Aussage, die mich und deinen Alkoholkonsum betraf.“ „Laney, es is' das Glitzern in deinen Augen, dass jeden Mann sofort nüchtern werden lässt.“ wird sofort gekontert. Tseng steht immer noch nahe des Eingangs, beobachtet schweigend die vertrauten, verspielten Beleidigungen. Elena lacht, gibt Reno einen Klapps auf den Hintern. „Ich liebe dich auch, Idiot.“ Schlägt dann die Küchentür hinter sich zu. Die beiden Männer stehen nun alleine auf dem Flur. Es gibt kein Fenster in dem schmalen Gang, das einzige Licht fällt unter geschlossenen Türen hindurch auf den Boden. Ein paar schmale Streifen Helligkeit. Gerade genug, um Tseng die Bewegung des anderen wahr nehmen zu lassen. Noch hat sein Blick sich nicht an die plötzliche Dunkelheit gewöhnt. Und in jeder anderen Situation würde er jetzt nach seiner Pistole greifen. Eine sehnige Hand legt sich auf seinen Arm, verhindert sanft den Reflex. „Arschloch.“ Dieses Mal meint Reno ohne Zweifel Tseng. Die andere Hand schiebt sich unter das so akkurat sitzende Jackett. Die Fingerspitzen streichen langsam über den Rücken und einzig das perfekt gebügelte Hemd ist zwischen den rauen Fingerkuppen und Tsengs Rückgrat. Über welches ein angenehmes Kribbeln gleitet. Viel zu angenehm für seinen Geschmack. Er fühlt die Gänsehaut, die langsam bis zu seinem Nacken herauf kriecht. „Nicht hier.“ bringt er heiser über die Lippen, versteift sich in dem Bemühen die Kontrolle zu behalten. „Warum nich'?“ flüstert Reno gegen seinen Hals. Tseng riecht den Alkohol und Zigarettenrauch, darunter einen letzten flüchtigen Hauch von Shampoo und Deo. Und weiß, dass er den anderen gar nicht sehen muss. Dass alleine dieser Geruch reicht, um sicher zu sein, dass Reno in seiner Nähe ist. „Weil...“ beginnt er, sucht nach Argumenten. „Laney und Rude vögeln jetzt inner Küche. Die würden wir nur stören.“ wird Tseng unterbrochen. „Danke. Details, die ich gar nicht wissen wollte.“ Er redet. Ablenkung, auf die Reno nicht eingeht. „Rudes Hausflur ist ein vollkommen unangemessener Ort, um ...“ Bedenken, die ignoriert werden. Ein Kuss hindert Tseng daran, den Satz zu vollenden. Noch ist er angespannt, versucht sich aus dem festen Griff zu winden, in welchem er inzwischen gehalten wird. Doch je stärker er sich widersetzt, desto mehr Aufmerksamkeit investiert Reno in seine Berührungen. Reno, der den ganz persönlichen Kick daraus zieht, Stück für Stück die schützenden Mauern ein zu reißen, die Tseng so sorgsam um sich aufgebaut hat. Reno, der seinen ganz persönlichen Triumph daraus zieht, ihm ein leises Keuchen zu entlocken, ihn dazu zu bringen, die Luft scharf ein zu atmen. Und wieder einmal fragt Tseng sich, was den anderen mehr reizt. Ein schneller Fick oder das Wissen, dass es sein Boss ist, den er dazu bringt, leise zu schnurren? Der Bastard weiß genau was er tun muss. Wie er Tseng dazu bringt, den Kopf gegen seine Schulter zu lehnen. „Nicht ... hier.“ wird in das zerknitterte Hemd genuschelt. Nicht mehr ganz so fest, nicht mehr ganz so sicher in der Stimme. „Du wirst dich nie ändern, Tseng Tseng.“ Renos Hände haben weißen, faltenfreien Stoff vollständig aus der Hose gezerrt. Streicheln nun über nackte Haut. Gleiten langsam unter den Gürtel. Ein leises Fauchen und gleichzeitig das Verlangen nach mehr Körperkontakt ist Tsengs Antwort. Ambivalent. Er weiß es selbst. Kennt sich selbst zu gut. Will nicht nachgeben, und tut es dennoch. In der Dunkelheit des Flurs kann er Renos Grinsen nur erahnen. Ein weiterer Triumph des anderen. Der Gedanke, dass Reno es nicht als Sieg sieht; dass er in diesem Moment nicht an sich denkt, wird weit von sich geschoben. Es ist so viel einfacher, es herunter zu brechen auf ein Spiel, eine ständige Herausforderung der Kontrolle. Die gebrochen wird. Er lässt sich hier ficken. Lässt sich hier an die Wand pressen. Lässt es hier, in diesem Flur, zu, dass ein paar weitere Minuten Kontrolle abgegeben werden. Im Schutz der Dunkelheit hofft er, dass Reno nicht merkt, wie sehr er gerade diese Nähe braucht. Wenige Minuten später ist es vorbei. Tseng zieht seine Hose hoch, richtet die Krawatte. „Meinst du Elena und Rude sind jetzt auch fertig?“ fragt er, vollkommen neutral. Und nur sanfte Küsse, die über seinen Nacken gezogen werden, gäben einem unbeteiligtem Zuschauer den Hinweis, dass die beiden Männer im Flur mehr sind als bloße Arbeitskollegen. „Denk' schon, Tseng Tseng.“ Er fühlt die sehnigen Arme. Spürt, wie sie sich fest um seine Taille ziehen und lehnt sich fast dankbar zurück. Gegen eine knochige Schulter. Renos Finger gleiten durch seine verschwitzten Haare. In die ein weiteres „Arschloch!“ gewispert wird. Wofür das auch jetzt immer sein mag. „Essen!“ schallt Elenas Stimme warnend durch die geschlossene Tür. „Ihr habt eine Minute um mir Details zu ersparen, die ich zwar sehen will, aber nicht sehen darf. Wenn es nach Rude gehen würde.“ Reno lacht laut, ehrlich. „Laney, heb' dir das für deine feuchten Träume auf.“ ruft er über den Flur und presst einen letzten Kuss auf Tsengs Nacken. Eine Stunde später sitzen sie vor leeren Tellern. Während des Essens wurde nur über Belanglosigkeiten geredet. Klatsch, den Elena zu gerne in die Runde wirft. Sie ist bestens darüber informiert, wen Rufus angeblich nächsten Monat heiraten wird; plaudert über Gerüchte, die sie auf den Fluren auffängt. Rude füllt währenddessen immer wieder die Weingläser. Bis Reno sich räuspert. „Jungs. Und Mädel...“ Er nickt Elena zu. „Lasst uns mal zurück zur Arbeit kommen.“ Er greift nach einer Zigarette, klemmt sie sich zwischen die Lippen und dreht den Kopf in Tsengs Richtung. „Gibt da so'n Job, der nich' so gelaufen is', wie er sollte.“ Die Blicke der beiden anderen fixieren sich auf Tseng. Reno redet weiter: „Und es is' so 'ne abgefuckte Scheiße, wenn unserem Boss ans Bein gepisst wird.“ Plötzlich ist es nicht mehr nur Tsengs Angelegenheit. Sein Stellvertreter hat genau die richtigen Worte gefunden, um der ganzen verfahrenen Situation die all zu persönliche Note zu nehmen. Worte, die Tseng dazu bringen, Elena ein knappes Nicken zu zuwerfen. Sie steht auf, ist schon unsicher auf den Füßen. Auch sie hat zu viel Wein getrunken. Doch findet sie innerhalb weniger Sekunden den Umschlag, in welchem die Fotos stecken. „Um das noch mal klar zu stellen, Rude – jemand hat uns absolut gefickt.“ Sie wirft die Bilder auf den Tisch. „Jemand?“ Rude fehlt seine Sonnenbrille. Die er nie in seiner Wohnung trägt. Und so kann er sie in diesem Augenblick nicht von der Nase nehmen und ausgiebig polieren. Stattdessen hebt er die Fotos auf, blättert sie schnell und konzentriert durch. Hebt mehrmals kurz den Kopf, mustert Tseng ehe er seine Aufmerksamkeit erneut auf die Bilder konzentriert. Um ihn herum schweigen die anderen Turks. Warten. Bis auf Tseng regungslos. Der sonst so ruhige Leiter des Departments leert die nächste Weinflasche in sein Glas. „Es ist absoluter Shit ...“ „Kannste laut sagen.“ grummelt Rude. „Danke für deine Zustimmung, Dude.“ Reno klopft ihm auf die Schulter. Seinem Partner. Seinem besten Freund. Tseng zieht eine Zigarette aus Renos Schachtel. „Es ist nicht akzeptabel für ShinRa, dass diese Bilder publiziert werden.“ wirft er in die Runde. Elena schnaubt gereizt. „Das haben wir verstanden, Tseng. Und du weißt, dass wir alles tun werden, um es zu verhindern.“ Reno und Rude nicken. Unterstreichen damit wortlos Elenas Aussage. Kapitel 5: Veritas ------------------ Veritas Vor einer Stunde wurde Tseng versichert, dass sie hinter ihm stehen würden. Das sie alles tun würden. Tseng fragt sich, was dieses 'alles' bedeutet. Für ihn heißt es zu verhindern, dass ShinRas Ruf leidet. Ein Ruf, der sich nur langsam restauriert. Dank Spenden, dank des strahlenden Lächeln des Präsidenten. Für Tseng ist ShinRa alles. Elena interpretiert dieses Wort anders, bringt es in einen für ihn nur schwer zu verstehenden Kontext. Alles ist für sie, Rude und Reno das was sie tun werden, um ihrem Boss zu helfen. Der sich nur schwer mit diesem Gedanken anfreunden kann. Sich damit abmüht, zu akzeptieren, das Freier Wille sie dazu gebracht hat. Vielleicht auch zwei Flaschen Wein. Es ist so einfach, es auf den Alkohol zu schieben. Gibt Tseng eine plausible Erklärung. „Du denkst wieder zu viel.“ Reno sitzt neben ihm im Auto, hat sich eine Zigarette angezündet und pustet den Rauch durch den schmalen Spalt des geöffneten Fensters. Draußen huschen die Lichter der Stadt an ihnen vorbei, werfen tanzende Schatten auf das hohlwangige Gesicht, lassen es noch schmaler wirken. Die roten Tätowierungen auf den Wangen stechen grell hervor und erinnern Tseng daran, dass Reno selten etwas aus Gutherzigkeit und noch seltener aus Nächstenliebe tut. Keiner im Ghetto kann es sich diesen Luxus erlauben, will er überleben. „Denken, Reno, ist mein Job.“ antwortet Tseng kühl. Streckt die Hand aus und die selbst gedrehte Zigarette wird ihm gereicht. Mit einem Grinsen, das nichts und viel zu viel sagt. „Deiner?“ Reno stellt die Gegenfrage leise, während Tseng tief den Rauch inhaliert, den Geschmack von Gras auf der Zunge hat. „Oder seiner, Tseng Tseng?“ „Wer leitet das Department?“ Die Zigarette wird zurück gereicht. Und mit einem Schulterzucken angenommen. „Du.“ beantwortet Reno die eher rhetorische Frage. „Meistens. Wenn nich' ein Geist aus der Vergangenheit über deine Schulter glotzt.“ Tseng faucht leise und gibt damit zu verstehen, dass dieses Thema heute Nacht nicht weiter vertieft wird. Es sind bereits zu viele Geister geweckt worden. Wieder hat der Regen eingesetzt. Prasselt in dünnen, beständigen Tropfen auf das Dach des Wagens, rinnt die Scheiben herab. Die Wischblätter quietschen monoton über das Glas. Nach Minuten des Schweigens hält Reno die Stille nicht länger aus, stellt das Radio an und belanglose Musik plätschert aus den Boxen. Ein harmloser Pop-Song. Simple Melodien über welche eine Mädchenstimme in einfachen Versen von unerfüllter Liebe singt. Tseng weiß, dass Reno die Geräusche braucht, die Laute um sich herum. Immer und ständig. „Ich hör sonst meine eigen 'n abgefuckten Gedanken zu laut, Tseng Tseng.“ Damals, als ihm zum ersten Mal diese Erklärung entgegen geschrien wurde, verstand Tseng sie nicht. Er, der die Ruhe braucht. Die Stille, in welcher er sich sammeln kann. Inzwischen ahnt er, was Reno meint. Lässt ihn mit der Musik die Schreie übertönen, die in seinem Kopf wieder hallen. Musik, die auch den Lärm der Explosionen überdeckt. Abgefuckte Gedanken, welche immer in Renos Kopf herum spuken, egal wie oft Tseng wiederholt, dass es sein Befehl gewesen war, die Platte über Sektor Sieben zu sprengen. Reno, der neben ihm sitzt, mit der Hand im Takt der Melodie auf das Armaturenbrett trommelt. Der nicht hier sein sollte. Es ist kein Job, keine Mission die Rufus an sie weitergeleitet hat. Und doch ist er hier. Direkt neben Tseng. Zündet sich die nächste Zigarette an. Dieses Mal eine mit Filter. Sie haben noch etwas zu erledigen. Etwas, für das ein klarer Kopf benötigt wird. Ein Grinsen lag auf seinem Gesicht, als Tseng sich von Rudes Küchentisch erhob, die Krawatte wieder einmal zurecht rückte. Das Grinsen blieb auf seinen Lippen, während sein Boss sich höflich für das Essen bedankte und sagte, dass er sich melden würde, sobald er mit Tuesti gesprochen hätte. Dann wollte Tseng gehen und Reno stand auf. Elena und Rude wechselten kurze Blicke mit ihm. Dann lachte Elena. „Tseng, wenn du es nicht machst, wird Reno durch rufen.“ Sie hob ihr Weinglas, blinzelte verschwörerisch über dessen Rand den beiden Männern zu. „Und wie immer wird er das im absolut unpassendem Moment tun.“ „Laney!“ Reno versuchte sie vorwurfsvoll zu mustern. „Ich mach' das echt nich' mit Absicht. Aber Rude is' so unberechenbar.“ „Raus, Reno!“ Sein Partner deutete auf die Tür. „Und merk dir einfach, dass du mir besser nicht in den nächsten zwei Stunden auf die Eier gehst.“ Das Lachen von drei Turks hallte über den Hausflur. Jetzt sitzt Reno auf dem Beifahrersitz, pustet das Nikotin aus. Weiß, dass Elena, Rude und er es geschafft haben. Dass Tseng keine andere Wahl hatte. Vielleicht grinst er deshalb so konstant. Tsengs Hände schließen sich fester um das Lenkrad. So fest, dass die Knöchel weiß unter der Haut hervor stechen. Seine Kieferknochen mahlen knirschend. Und nur mit Mühe kann er dem plötzlichem Drang widerstehen, den Fuß fest auf die Bremse zu pressen. Er will hier, mitten auf dem Highway, auf den Seitenstreifen fahren, sich Reno zuwenden und ihm das selbstsichere, so von sich überzeugte Grinsen aus dem Gesicht prügeln. Ein Grinsen, dass ihn immer schon irritiert hat, ihn immer schon in den Wahnsinn treiben konnte. Seit dem Moment, in dem er sich zum ersten Mal mit ihm konfrontiert sah. Er tritt nicht auf die Bremse, lässt stattdessen die Tachonadel nahe am Maximum der Motorleistung kratzen. Reno jappst überrascht nach Luft, als ihn die plötzliche Beschleunigung tiefer in den Sitz presst. Tsengs Lippen verziehen sich zu der Andeutung eines Grinsen. Geschwindigkeitsbegrenzungen sind irrelevant für ihn. Strafzettel sammeln sich nur in seinem Handschubfach. Und während er mit knapp 250 Stundenkilometern seinen Wagen sicher an anderen Autos vorbei lenkt, holen ihn noch mehr Geister der Vergangenheit ein. "Ey, Wuzzi - du nimmst mir meine Atemluft weg! Verpiss dich!" Die ersten Worte, die ein schlaksiger Junge an Tseng verschwendete. In der Kantine des ShinRa-HQ, als er sich vor ihn drängelte. Mit diesem selbstsicheren, nichts zu erschütternden Grinsen auf den kleineren, wesentlich schmächtigeren Jungen herab sah. „Haste mich nich' gehört? Gewinn Land. Jetzt!“ „Fick dich.“ Tseng ignorierte die Tatsache, dass er aufsehen musste, dass gut 20 Zentimeter Größenunterschied zwischen ihm und dem anderen standen. Zwischen dem unterentwickeltem, vom Hunger gezeichnetem wutainesischem Jungen und dem lauten Ganger, den Veld aus irgendeiner Hintergasse in Midgar gezogen hatte. „Was haste gesagt?“ Der Junge hätte auf der Straße nicht überlebt, würde er sich von jemanden wie Tseng auf dem ersten Blick beeindrucken lassen. "Fick! Dich!" wurden die Worte wiederholt. Jede Silbe sorgsam betont. Ein Ring von Schaulustigen begann sich schon jetzt um sie zusammen zu ziehen. Die ersten Wetten machten die Runde. „Wenn, dann fick ich irgend so 'ne Perle. Handarbeit hab' ich nich' nötig.“ Die Hände des Jungen gruben sich lässig in die Taschen der nicht gebügelten Anzughose. „Dich lässt eine Perle ran? Wie viele Drinks hast du ihr vorher ausgegeben?“ Zu vertrautes Terrain. Auf dem Tseng sich sicherer bewegte, als in all den Protokollen, die ihm der 'Alte' vorgab. „Ey, die wollen von mir gefickt werden. Ich hab' 'ne Warteliste.“ Sie starrten sich an. Ein Duell der Blicke, das Abstecken der Territorien. Keiner von ihnen war bereit, auch nur einen Schritt zurück zu weichen. Rückzug bedeutete Schwäche in der Welt, aus der sie beide kamen. „Und ein ziemlich blankes Konto.“ stellte Tseng schnaubend fest. „Und du nimmst dein Maul ziemlich voll. Für so 'ne halbe Portion WUZZIE.“ In der Hosentasche ballte sich die Faust des Jungen. Die Faust im Blick behaltend, fauchte Tseng: „Nenne mich noch einmal Wuzzi und ich bring dich um.“ So leise, dass Reno sich vorbeugen musste, um ihn verstehen zu können. Der Augenblick, den Tseng nutzte. Der Moment, in welchem er mit seinem Fuß fest gegen Renos Bein, gezielt gegen die Hand in der Tasche trat. Fluchend wurden die gebrochenen Finger heraus gezogen, das Klappmesser fallen gelassen. Beide hatten sie auf der Straße gelernt. Beide kannten sie die miesen Tricks. Beide hatten sie keine natürliche Hemmschwelle. So traf Renos andere Hand, die vorschnellende geballte Faust, den zierlicheren Jungen auch direkt in die Magengrube, nahm Tseng die Luft zum Atmen. Das Gegröhle um sie herum, die Wetten die inzwischen gebrüllt wurden, hörten sie nicht. Es ging auch nicht mehr um ein Schimpfwort, oder das Vordrängeln in der Essens-Schlange. Die beiden Jungen prügelten sich, weil sie nichts anderes kannten. Weil sie aus einer Welt kamen, in der die Position in der Nahrungskette nur so bestimmt werden konnte. Vielleicht hätten sie sich auch gegenseitig umgebracht. Es waren vier Senior-Turks nötig, um sie voneinander zu trennen, sie davon abzuhalten sich gegenseitig wieder an die Gurgel zu springen. „Tseng Tseng!“ Ein Arm, der sich unerwartet um seine Schulter schiebt, holt ihn wieder in den Augenblick zurück. „Du denkst echt zu viel. Und das hat nichts mit dem Job zu tun.“ Reno kann normal reden, wenn er will. Den Subplate-Slang fast vollständig aus seinem Wortschatz verbannen. Tsengs Lippen kräuseln sich zu einem angedeuteten Lächeln. „Nein, absolut nichts mit einem Job.“ erklärt er spröde. Nimmt den Fuß etwas vom Gas und dreht den Kopf gerade so weit, dass ein flüchtiger Kuss auf Renos Schläfe gedrückt werden kann. Das Grinsen auf Renos Gesicht, dass Tseng vor wenigen Sekunden noch so gestört hat, weicht perplexer Überraschung. „Verstehe einer mal euch Wuzzies...“ grummelt er kopfschüttelnd. Irritiert, dass Tseng sich zu so einer spontanen Geste der Zuneigung hinreißen lässt. Und er ist immer noch verwirrt, als der schwarze Sportwagen auf einen fast leeren Parkplatz fährt, als Tseng jedes Schild ignoriert, das auf Mitarbeiter-Stellplätze in der Nähe des Haupteingangs hinweist. Doch ist er zu klug jetzt Fragen zu stellen, den Moment zu verderben, den Tseng direkt nach dem Aussteigen aus dem Auto nutzt, um kurz unter ein faltiges Jackett zu schlüpfen, die Arme fest um die Hüfte des Stellvertreters zu ziehen. Der immer noch größer als Tseng ist. Auch wenn die gekrümmte Körperhaltung, die er bevorzugt, etwas anderes vermuten lässt. „Tseng Tseng, es ist nur Reeve. Nur ein Idiot, der Roboter vor schickt, ehe er sich selbst in irgendwelchen Stress wagt.“ „Stimmt.“ wird in den Stoff eines Hemds genuschelt, das niemals in irgendeiner Reinigung gewesen ist. „Nur irgendein Wichser, der gerne mit Robotern spielt.“ Und mit diesen Worten schiebt Tseng wieder einmal die Tatsache von sich, dass ihm jener Mann beigebracht hat, den eigenen Namen zu schreiben. Hinter sauber poliertem Glas spiegelt sich ein wolkenverhangener Nachthimmel. Es sind genau diese Wolken, welche die Lichter der Stadt reflektieren. Grün, Lila, Blau. Midgar – Edge ... es spielt keine Rolle ob es Mako-Reaktoren gibt oder nicht. Die Farben sind die selben geblieben. Reeve Tuesti steht hinter seinem Schreibtisch. Seine Umrisse werden von den Lichtern umspielt. Die kalten Farben lassen ihn älter aussehen, als er eigentlich ist. Vor ihm stapeln sich Akten im organisierten Chaos. Zwei Kaffeetassen sind die Überbleibsel eines langen Tages. Neben einer der Tassen steht ein überquellender Aschenbecher. Er lässt den Blick über seine Arbeit gleiten – über Geld, Leben; Hoffnung die zwischen den Papieren stecken. Viel zu viel Hoffnung, viel zu wenig Geld. Seine Augen kratzen an der Schreibtischkante entlang, streichen über den grauen Teppich. Tseng folgt ruhig diesem Blick. Bemerkt, dass er an seinen Schuhspitzen hängen bleibt. Teure Lederschuhe. Nicht zu aufdringlich im Design. Elegant. Hand gefertigt. Perfekt poliert. Der Turk legt Wert auf die kleinen Details im Leben. Details, für die Tuesti keine Muse mehr hat. Seine Haare sind ungekämmt, der Bart scheint seit Tagen nicht mehr gestutzt worden zu sein. Früher hat er sich nicht so gehen lassen, wird von Tseng mental festgehalten. Früher, als Reeve Tuesti noch für ShinRa gearbeitet hat. „Tseng, warum in Gaias Namen bist du hier?“ Die Hände, geballt zu Fäusten, werden auf die Schreibtischplatte gepresst. „Rufus hat dich nicht geschickt.“ Der letzte Satz wird dem Chef der Turks regelrecht ins Gesicht gespuckt. „Rufus ist nicht involviert.“ erwidert dieser leise. „Ey, mach dich locker, Tuesti.“ Reno lungert im Hintergrund, lehnt sich lässig gegen die Wand neben der Tür, lässt die Asche seiner Zigarette in den Topf der Zimmerpflanze fallen. Alles Teil der Inszenierung. Alles Teil des Schauspiels, dessen Rollen ihnen aufgedrückt wurden, ohne dass jemand es für nötig hielt, sie zu fragen. Die Turks haben vor wenigen Minuten die WRO-Zentrale betreten. Nur ihre Ausweise gezückt, als sie zielstrebig auf den Fahrstuhl zu halten. Reeve ist genauso ein Workaholic wie Tseng. Und der ist sich sicher, dass Tuesti auch an einem Samstag bis spät in die Nacht arbeitet. Er hat Recht. Die Sekretärin, die einzige die sie aufhalten will, bestätigt es durch ihr gestammeltes: „Mr. Tuesti hat gerade keine Zeit für Sie. Er hat noch sehr viel zu tun.“ Sie wird von den beiden ignoriert. Reeve durch ein kurzes Klopfen an seine Tür gewarnt, bevor sie sich in sein Büro schieben. Dessen Blick sich nun von Tsengs Schuhspitzen löst, zu dem Turk an der Wand herüber huscht. „Ich bin locker, Reno. Ich will nur wissen, was ihr hier wollt?“ „Antworten, Sir.“ Es ist eine gefühlte Ewigkeit her, seit Reeve dieses betonte 'Sir' aus Tsengs Mund gehört hat. Und der Leiter der WRO ist nicht dumm. Er versteht die versteckte Andeutung, den Hauch der Drohung in dem Satz. Seine Augen huschen sofort zurück zu dem Chef des Departments of Administrative Research - der Titel, den Tsengs Abteilung offiziell immer noch trägt. Der Turk steht vor dem Schreibtisch, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, mustert Reeve kühl ohne seine eigenen Gedanken zu offenbaren. Es hat einmal eine Zeit gegeben, in welcher der Jüngere zu ihm aufgesehen hat, ihm vertraute. Vielleicht sogar so etwas wie einen Ersatzvater in ihm sah. Eine Zeit, in der Reeve ihm die seltsamen Zeichen lehrte, die es ihm ermöglichten Bücher zu lesen. Es war Reeve gewesen, der seine Hand führte, als er zum ersten Mal in ungelenken Buchstaben Tseng auf ein Blatt Papier kritzelte. Aber diese Zeit ist vorbei. Abgelaufen seit jenem Tag, als Rufus Shinra ihm die Leitung der Turks übertrug. Im Schach, einem Spiel das Veld einem Jungen direkt bei brachte, nach dem dieser in den Anzug geschlüpft war, nennt man so einen Zug eine Rochade. Der König bringt sich in vorläufige Sicherheit. Es ist das Überleben des Königs, welches zählt. An ihm hängt das ganze Spiel. Hinter der Maske der Selbstbeherrschung muss Tseng sich zwingen, Reeve weiter direkt in das Gesicht zu sehen. Nicht den Blick zu senken. Hasst Reeve in diesem Moment mit einer Intensivität, die er selbst nicht mehr für möglich gehalten hat. Eigentlich sollte er über diesen Gefühlen stehen. Sollte die Ruhe in Person sein. Es ist Reeve, der ihn immer wieder aus der Fassung bringen kann. „Oi, Sir. Hast gehört was wir wollen.“ Reno löst sich von der Wand. Braucht nur wenige Schritte bis er direkt vor Tuestis Schreibtisch steht. „Antworten is' das abgefuckte Stichwort.“ Er drückt seine Zigarette in Reeves Aschenbecher aus. Nimmt Tseng betont lässig den braunen Papierumschlag ab, um den sich dessen schlanke Finger im festen Griff klammern. Er kennt ihn viel zu gut, kann die minimalen Zeichen der Anspannung richtig deuten. „Antworten auf diesen Scheiß!“, als wäre das ganze immer noch nur ein Spiel, wirft Reno den Umschlag auf Reeves Schreibtisch. "Guck dir den Shit einfach' mal durch. Und dann sach uns, was dir dazu einfällt." Er klingt so abgeklärt. So vollkommen ruhig. Reeve nimmt den Umschlag auf, blättert durch die Fotos. Im kalten Licht wird er bleich, fast weiß im Gesicht. „Was ...“ beginnt er den Satz, lässt sich zurück auf seinen Stuhl fallen. „Was ist das?“ "Sicherlich keine Set-Fotos von der x-ten Loveless-Schnulze.“ Reno schiebt sich eine weitere Zigarette zwischen die Lippen. „Ham eigentlich gehofft, dass du uns 'nen bisschen aufklären kannst. Und spar' dir den Teil mit den Bienchen und Blümchen. Den ham wir schon gecheckt.“ Es ist Absicht, dass er in den tiefsten Subplate-Dialekt zurück gleitet. Er lässt sich auf einen der Stühle fallen, die vor Reeves Schreibtisch stehen. Die Finger seiner rechten Hand verhaken sich in der Gürtelschlaufe der Hose, mit der linken hält er die Zigarette. Reno, der eigentlich Rechtshänder ist. Der Saum der Hose verrutscht, das Jackett ist nach hinten geschlagen und gibt den Blick auf seinen Schlagstock frei. Posen. Die Erinnerung für Reeve woher er kommt. Was er ist. Winzige Details, die Tseng wahr nimmt. „Reeve, du weißt, was es für Fotos sind.“ bringt er spröde über seine Lippen. „Und du kennst“ Er verbessert sich selber: „Kanntest die Quelle.“ Die Fotos im Umschlag sind sortiert. Zuerst die Bilder, die vor Jahren in Wutai aufgenommen wurden. Dann die Fotos, die Elena und Tseng den beiden WRO-Mitarbeitern abgenommen haben. Die sie im Hotelzimmer gemacht haben. Tuestis Augen fressen sich genau in diese drei Abzüge. „Ihr ...“ Er greift nach seinen Zigaretten. „Ja, wir waren im Hotel.“ gibt Tseng offen zu, bevor Reeve wieder das Wort erhebt. Der Turk steht immer noch in der selben Haltung, die Hände ein weiteres Mal hinter dem Rücken verschränkt, die Schultern absolut gerade. Wissend, dass Reeve ihm diesen Mord nicht anhängen kann. Nicht, will er vermeiden tiefer in den Sumpf hinein gezogen zu werden, durch den sie jetzt schon waten. Der Leiter der WRO sieht von den Fotos auf, blickt direkt in das unbewegte Gesicht Tsengs. Sucht in dessen Augen nach irgendetwas. Vielleicht Bedauern, vielleicht Selbstüberschätzung. Und findet nichts. „Er wäre verdammt stolz auf dich, Tseng. Du bist noch skrupelloser als er es jemals war.“ kann er nur leise feststellen. „Das spielt hier wohl keine Rolle.“ wischt Tseng die Anspielung auf Veld hastig zur Seite. Zu schnell. Reno dreht leicht den Kopf, mustert ihn prüfend. Er weiß, das Reeve die wunden Punkte kennt; die Roten Knöpfe auf die er drücken muss. Doch Tseng fängt sich innerhalb eines Augenblinzelns wieder. „Es war nicht Rufus Anordnung, nicht wahr?“ bemerkt er mit zynischem Unterton, und scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen fest. Beide Turks registrieren das Zucken, das durch Reeves Körper fährt. „Peinlich, dass die WRO auf uns, die Turks, zurück greifen muss, um Probleme zu beseitigen.“ Damit hat Tseng das Gespräch gedreht, die Kontrolle wieder an sich gerissen. Wenn Reno über den plötzlichen Richtungswechsel im Verlauf des Gesprächs irritiert ist, versteckt er es perfekt hinter der Maske aus lässiger Langeweile. „Selbst wenn es nicht Rufus alleinige Order war,“ Reeve ringt um seine Fassung, holt die Erfahrungen die er als Mitglied des ShinRa-Vorstands gemacht hat, aus den Tiefen seiner Erinnerung, „Es gibt Dinge, die dich nichts angehen, Tseng. Du bist Turk.“ Er spricht das Nur in seiner Rechtfertigung nicht laut aus. Provoziert dennoch ein schmales zynisches Grinsen. „Richtig, Sir. Ich bin Turk. Sie sollten es wissen.“ Tsengs Hand fährt in die Jackett-Tasche und er zieht ebenfalls eine Zigarette heraus, die ihm von Reno sofort angezündet wird. Noch nie hat Tseng in Reeves Büro geraucht. „Und meine oberste Priorität ist es, die Integrität des Präsidenten der ShinRa-Company zu sichern.“ Dieses Mal wird Reeves Blick direkt stand gehalten, ohne das Zucken einer Wimper. Solange bis sein Gegenüber den Kopf senkt, ein weiteres Mal die Fotos durch sieht. „Der Aufruhr, der verursacht würde, kämen diese Bilder an die Öffentlichkeit“, sucht Reeve nach Worten, „Würde weder ShinRa noch der WRO gelegen kommen. Die Menschen reagieren auf so etwas sehr sensibel.“ Tseng inhaliert den Rauch der Zigarette, hebt eine Augenbraue. Wäre nur ShinRa betroffen, würde Reeve Tuesti nicht zögern, die Fotos den richtigen Leuten zu zuspielen. Doch es ist nicht nur ShinRa. Tuesti hat damals die Abteilung für 'Urbane Entwicklung' geleitet. War bis in alle Details über die Fortschritte in Wutai informiert. „Wer ist noch über diese Ereignisse informiert?“ schneidet Tsengs Stimme schließlich durch die lähmende Stille, die sich über den Raum gelegt hat. „Rufus, ich, der Abteilungsleiter unserer Sicherheit.“ antwortet Reeve ihm zögernd. Überlegt. Reno beginnt auf dem Stuhl herum zu rutschen. Tseng fragt trocken: „Seit wann?“ „Seit einer Woche.“ Ein Fluch wird herunter geschluckt, die Wut zurück gedrängt. Rationales Denken ist in dieser Situation gefordert. „Ich hätte darüber informiert werden müssen.“ stellt der Chef der Turks sachlich fest. „Tseng.“ Reeve hebt eines der Fotos hoch, welche den Strand zeigen. „Du weißt, wir konnten dich nicht informieren. Keine persönlichen Verbindungen zu einem Job. Das hat dir Veld auch beigebracht.“ Seine Stimme hat plötzlich einen väterlichen Unterton. „Du warst da. Es ist dein Heimatdorf.“ Die Worte dringen gedämpft zu Tseng durch. Er sieht ein weiteres Mal auf das Foto, welches Reeve immer noch hoch hält. Starrt auf den SOLDIER, der lachend zwischen Leichen steht. Sie kamen im Morgengrauen. Eine lange Karawane aus Jeeps und Lastwagen, die sich die schmale, schlammige Straße entlang wälzte. Zwischen den Reisfeldern hindurch auf das Dorf zu. Die Motorengeräusche schreckten die Dorfbewohner aus dem Schlaf. Trieben sie auf den Platz zwischen den einfachen Hütten. Zum Teil Neugierig, zum Teil Ängstlich richteten sich ihre Blicke auf die heran rückenden Truppen. Vom Krieg hatte jeder bereits gehört. Aber bis zu diesem Morgen war er weit weg gewesen, ging sie nichts an. Was ahnten einfache Reisbauern schon von der großen Politik, was wussten sie über dieses seltsame Mako, das ShinRa haben wollte. Tseng und Li-Mei standen hinter den Beinen ihrer Mutter, fühlten sich sicher und gut versteckt, und konnten trotzdem alles beobachten. Ihr Vater sprach mit einem Mann in einer seltsamen Uniform. Es waren nur Wortfetzen welche die beiden Kinder verstanden. 'Truppenverpflegung', 'Vorräte', 'Keine Pflicht gegenüber ShinRa'. Der Uniformierte wurde immer lauter. Seine Stimme immer drängender. Tsengs Vater schüttelte nur den Kopf, versuchte ruhig zu bleiben. „Mama, was wollen die Männer hier?“ lispelte Li-Mei, die kleine Hand fest in den bunten Kleiderstoff ihrer Mutter gekrallt. „Sie wollen unseren Reis, damit ihre Soldaten etwas zu essen haben.“ beantwortete ihre Mutter ruhig die Frage, biss sich dann aber fest auf die Unterlippe. Die Ernte war dieses Jahr schlecht ausgefallen. Es gab kaum genug, um die Dorfbevölkerung zu ernähren. Gaben sie den wenigen Reis ab, den sie hatten, würde im Winter der Hunger kommen. Tseng wusste es, hatte die besorgten Gespräche der Alten gehört. Seine Hand legte sich auf die Schulter der kleinen Schwester. „Lass uns dahinten hin gehen.“ Er deutete mit einem verschwörerischen Grinsen auf eine der Hütten. Das Lieblingsversteck der Dorfkinder. Man konnte zwischen die Bohlen kriechen, welche das Fundament bildeten; zwischen Termitenhügeln und herum streunenden Katzen beobachten, was die Erwachsenen wichtiges zu bereden hatten. Ihre Mutter ließ sie laufen. Erleichtert, dass die Kinder sich dem Blick der Soldaten entzogen. Soldaten, die immer gereizter wurden. Li-Mei hielt es für ein Spiel, folgte dem großen Bruder. Wie immer. Verkroch sich mit ihm zwischen dem morschen, faulen Holzbalken. Die beiden waren nicht die einzigen Kinder, die unter der Hütte Zuflucht suchten. Etliche Paare weit geöffneter Augen verfolgten das ungewohnte Schauspiel. Beobachteten, wie sich die Stimmung immer weiter aufheizte. „Tseng, was wollen die Kerle?“ Rong stieß den schmächtigeren Jungen mit den Ellenbogen in die Rippen. Und bekam als Antwort ein leises Fauchen und einen strafenden Blick. Der wie immer reichte, um seinen besten Freund ruhig zu stellen. Doch war der stämmige Rong nicht der einzige, der eine Erklärung von ihm verlangte. Keines der Kinder verstand die seltsame Sprache der Männer in Uniformen. Was sie aber verstanden, waren die plötzlichen Gesten. Dann das Losstürmen der Soldaten. Türen wurden eingetreten, die Männer drangen in die Häuser ein. Tante Hu, zu alt um zu laufen, seit Jahren schon blind, wurde aus ihrer Hütte auf den Platz gezerrt. Andere Kinder, welche das Versteck unter der Hütte nicht kannten, klammerten sich an die Beine ihrer Mütter. Dann fanden die Soldaten die ersten Reissäcke. Und einer der Soldaten schrie laut. Rief andere zu sich. Die Kinder unter der Hütte verkrochen sich tiefer in ihr Versteck. Tseng zischte leise: „Bleibt still.“ Er war weder der Älteste, noch der Stärkste. Aber die anderen hörten auf den zierlichen Jungen. Schließlich hatte Leviathan ihn gezeichnet. Und er hatte die selbe Autorität wie sein Vater. Dazu unterstrich auch Rong seine Worte mit einem Knacken der Knochen in den Fingern. Dann kam ein Soldat aus einer der schmucklosen Behausungen und warf ein Bündel Schwerter auf den Boden. Li-Mei flüsterte fassungslos: „Das können sie nicht machen. Tseng, sag ihnen, dass sie das nicht machen können. Das sind doch die Waffen der Ahnen.“ Die SOLDIER' hatten keine Ahnung von der Bedeutung der Schwerter. Wussten nicht, dass keiner der Männer im Dorf jemals mit ihnen kämpfen würde. Auch die gestammelte Erklärung der Erwachsenen im brüchigen Midgar-Dialekt nahmen sie nicht zur Kenntnis. Für sie war die Situation eindeutig. Sie hatten Waffen gefunden. Und die Versorgung ihres Trupps wurde ihnen verweigert. Der Wortführer der Soldaten brüllte erneut auf Tsengs Vater ein; so schnell, dass der Übersetzer nicht mehr mitkam. Unter der Hütte, eng auf den Boden gepresst, den Arm um Li-Mei gelegt, spürte Tseng einen kalten Klumpen in seinem Magen. Angst. Angst vor den großen Männern mit den lauten Stimmen. Einer von ihnen schubste seinen Vater in die Mitte des Platzes. Schlug ihm mit der flachen Seite seines Schwertes in die Kniekehlen. Und ächzend brach sein Vater - der stolze Mann, zu dem Tseng immer aufgesehen hatte - zusammen. Wieder redete der SOLDIER auf ihn ein. Wieder bekam er nur ein Kopfschütteln als Antwort. Der Übersetzer brüllte laut: „Wenn die Widerstandskämpfer jetzt vortreten passiert eurem Dorfsprecher nichts!“ Die Mine seiner Mutter verhärtete sich. Feine Blutstropfen sammelten sich unter ihren Zähnen, dort wo sie sich fest auf die Unterlippe biss. Niemand trat vor. Es gab keine Widerstandskämpfer in ihrem Dorf. Nur Reisbauern und Fischer. „Ein letzes Mal!“ schrie der Übersetzer. „Jeder, der sich ShinRa widersetzt hat, soll jetzt vor treten. Ihr werdet ein faires Gerichtsverfahren erhalten, wenn ihr euch freiwillig meldet.“ Die Blicke der Dorfbewohner huschten verängstigt umher. Jeder hoffte, dass sich ein anderer melden würde. Die Schuld für etwas, dass er nicht getan hatte, auf sich nahm. Sie zögerten zulange. Der SOLDIER hielt plötzlich sein Schwert in den Händen. Und für Tseng blieb die Zeit stehen. Floss fast so langsam wie zäher Honig. Er sah, wie der Mann die Klinge hob. Glaubte Bedauern in dem Blick zu finden. Dann senkte die Klinge sich. Ein hässliches Knirschen war zu hören. Blut spritzte in einer großen Fontäne aus dem Hals seines Vaters. Sein Kopf fiel mit einem dumpfen Pochen in den Schlamm. Die Augen ungläubig aufgerissen. Er hatte es selbst im Moment seines Todes nicht fassen können, dass die SOLDIER' so weit gehen würden. Tsengs Hand presste sich fest auf Li-Meis Mund. Er spürte nicht den Schmerz, als sie zubiss. Hielt sie neben sich auf den Boden gepresst, als abrupt Bewegung in die restlichen Soldaten kam. Männer, die Frauen mit sich zerrten. Soldaten, die mit ihren Schwertern und Gewehren die Menschen zusammen trieben. Egal ob es nun Kinder oder Erwachsene waren. Noch war Tseng zu jung, noch nur ein Junge, dessen Horizont sich bis zum Strand, bis zum Rand der Reisfelder erstreckte. Noch wusste er nicht, dass er gerade Zeuge eines Phänomens wurde, über das er später an einem anderen Ort stapelweise Bücher lesen würde. Die Frustration eines Krieges, der zu lange dauerte,entlud sich hier an diesem Ort. Ein Krieg, in welchem die meisten der jungen Männer, die hier kämpfen mussten, keinen Sinn erkennen konnten. Die Angst vor den Guerilla-Taktiken des wutainesischen Widerstands hatte die Soldaten mürbe gemacht. Sie erwarteten auch hier, in diesem Dorf, dass sie aus dem Hinterhalt angegriffen werden würden. Und ehe das passierte, musste ein Exempel statuiert werden. Es hätte jedes Dorf sein können. Eine Verkettung unglücklicher Umstände ließ es Tsengs Heimatdorf sein. Laute Schreie schreckten die Krähen in den Feldern auf. Gefolgt von Schüssen. Schon bald stiegen dicke Rauchschwaden in die Luft, fraßen sich Flammen in die schlichten Dächer der Häuser. Immer noch hielt Tseng seine kleine Schwester eng an sich gepresst. Zu verängstigt, zu geschockt um sich selbst bewegen zu können. Drei Gefreite hatten ihre Mutter weg gezerrt, Soldaten trampelten über den Leichnam seines Vaters. Trugen die Nahrungsmittel, die sie in dem Inferno noch retten konnten, in die wartenden Transporter. Erst ein Geräusch, zu schrill für einen menschlichen Laut, brachte wieder Leben in den schmächtigen Körper des Jungen. Ein Soldat richtete seine Waffe auf eine kleine Katze, schoss ihr in den Magen. Es war der Moment, in dem Tseng begriff was Krieg bedeutete. Er ließ Li-Mei los, schob sich aus dem sicheren Versteck. Stürmte zu dem Soldaten. Kinderfäuste schlugen auf den uniformierten Mann ein. „Meine Katze! Du hast meine Katze umgebracht!“ Immer und immer wieder brüllte Tseng es dem Soldaten entgegen. Eine Katze, ihr Tod, ließ ihn alles andere vergessen. Der Tod einer Katze bewahrte die geistige Stabilität eines Kindes. Der Schutzmechanismus, der sich vor die anderen Schrecken schob. Und das Entsetzen eines jungen Gefreiten, der höchsten sechs Jahre älter als jenes Kind war, welches Tseng das Leben rettete. Ein Soldat, der sich in diesem Moment bewusst wurde, was er hier eigentlich tat. Ein Soldat, der mit dem Kolben des Gewehrs gegen den Kopf des Jungen schlug. Nicht den Trigger durch zog. Es reichte, um Tseng das Bewusstsein zu rauben, ihn zusammen brechen zu lassen. Als er wieder zu sich kam, lag Tseng unter leblosen Körpern. Der Gestank von verbranntem Holz kroch ihm in die Nase. Und etwas anderes, dass er noch nie zuvor gerochen hatte. Nicht so intensiv. Ein Geruch, der ihm die Galle in die Kehle trieb. Es kostete ihn fast seine ganze Kraft sich unter dem Haufen hervor zu kämpfen. Leichen. Tote, dessen Namen er kannte. Von jedem einzelnen. Wusste, dass die Soldaten geglaubt hatten, auch er wäre eine dieser Leichen. Körper, die am Strand lagen. Deren Blut sich in den Sand saugte. Der von den Wellen fort gespült wurde. Das Wasser rot färbte. Zitternd zog er sich auf die Beine. Hörte das Rauschen der Wellen. Das Knurren von Hunden. Für die Tiere war es nur Fleisch. Nahrung. Das Blut, das sie geleckt hatten, machte sie aggressiv. In dem sich bewegenden Körper sahen sie nicht mehr als einen Konkurrenten um das saftigste Stück. Tseng war zu schwach, um sich gegen eine Rotte der streunenden Tiere zu Wehr setzen zu können. Der Überlebensinstinkt trieb ihn vom Strand weg, den schmalen Weg zwischen den Dünen hinauf zurück zum Dorf. Von dem nichts mehr übrig war. Nur noch ein paar vor sich hin glimmende Ruinen erinnerten an die Häuser, die am Morgen hier gestanden hatten. „Mama?“ Die Stimme des Jungen war gerade mal ein schwaches Piepsen. „Li-Mei?“ Niemand antwortete ihm. „MAMA?“ schrie er lauter in die Stille. Drehte sich panisch um die eigene Achse. Begann in den Ruinen nach seiner Mutter, nach seiner Schwester zu suchen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis aus den vor sich hin glimmenden Überresten eine Gestalt auf ihn zu wankte. Und es war nur das bunte Blumenmuster des zerrissenen Stoffs, den sie um sich gezogen hatte, welches Tseng auf den ersten Blick erkennen ließ, dass es seine Mutter war. Das Gesicht der ehemals so hübschen Frau war angeschwollen, die Lippen aufgerissen. Ihre Augen blutunterlaufen. Aber sie lebte. Bewegte sich so wie er. Glaubte er, hoffte er. Und rannte auf sie zu. Die seltsamen Zeichen, die ihr mit einem Messer in den Brustkorb geschnitten waren, konnte er nicht lesen. Wusste auch noch nicht, was Hure bedeutete. Was diese Wort mit seiner Mutter zu tun haben sollte. Für den Moment fühlte er sich einfach geborgen in den Armen, die sich fest um ihn zogen. Es war das letzte Mal, dass sie ihn umarmen würde. Das letzte Mal, dass sie leise seinen Namen flüsterte. Drei Wochen später starb sie in einem der Flüchtlingslager an den Folgen der Vergewaltigung. An dem Thypus und der Syphillis, die ihren Körper auffraßen. Tseng reißt den Blick mühsam von dem Foto. „Obwohl diese Sache mich persönlich involviert, hätte ich informiert werden müssen.“ presst er leise über die Lippen. Ignoriert den Gestank von Leichen, der sich plötzlich in seine Nase ätzt. Ein Geruch, der sich ihm für immer ins Hirn gebrannt hat. Spricht als Chef jener Abteilung, die genau über solche Ereignisse in Kenntnis gesetzt werden muss. „Es geht hier nicht um mich.“ Die Zigarette wird ausgedrückt. Seine Stimme ist wieder fest. „Sondern um die Sicherheit der ShinRa-Company. Und das ist mein Job, Reeve.“ „Tseng, wenn ich dir einen Ratschlag geben darf - halte dich aus der Sache heraus.“ Nun hat Tuesti den drohenden Unterton. „Jeder hat gedacht, es gäbe keine Überlebenden.“ Reno kippelt mit seinem Stuhl, lässt dessen Beine laut auf den Boden knallen. „Erstens, Tuesti, glaub ich, wir können selbst entscheiden, in was wir uns einmischen und in was nicht.“ Er zieht sich hoch, geht zur Tür und schnippt seine Zigarettenkippe in den Blumentopf. Als seine Hand schon auf der Türklinke liegt, dreht er sich noch einmal zu Reeve um. „Zweitens: Wir sind Turks, Tuesti. Wir spielen nach unser'n Regeln. Das solltest'e doch wissen.“ Ein kaltes Lächeln gleitet über Tsengs Lippen. „Du hast meinen Second in Command gehört, Reeve. Wir sind Turks.“ Auch er geht zur Tür, die Reno ihm aufhält. Das letzte was der Leiter der WRO in dieser Nacht von Tseng sieht, ist der gehobene Mittelfinger der linken Hand. „Ich mache nur meinen Job, Sir!“ hallt die tiefe Stimme des Turks noch etwas länger über den Flur. Kapitel 6: Vakuum ----------------- Vakuum Im Fahrstuhl bildet sich ein leerer Raum um die beiden Turks. Die wenigen Menschen, die zu dieser späten Stunde noch im WRO-Gebäude unterwegs sind, weichen unbewusst einen Schritt vor ihnen zurück. Tseng und Reno kommt die Distanz gelegen. Es ist nicht nur ihr Job, der sie Menschenmassen meiden lässt. Sie hängen jeder den eigenen Gedanken nach. Wobei Tseng nicht sagen kann, was gerade durch den Kopf des anderen spukt. Er selbst fühlt sich wie in Watte gepackt, seltsam entrückt von all den Ereignissen der vergangenen 48 Stunden. Die Fahrstuhltüren öffnen sich im Foyer. Und einer Flucht gleich, drängen sich die WRO-Mitarbeiter vor ihnen aus der Kabine. Die Turks warten. Bis sie die beiden letzten im Fahrstuhl sind. Erst dann tritt Reno in das Foyer, gefolgt von Tseng. Es ist Gewohnheit, dass ihre Blicke zuerst nach oben gleiten, die luftige Konstruktion des Atrium absuchen. Obwohl es in dieser Nacht unwahrscheinlich ist, dass sich Scharfschützen im Schutz der Dunkelheit verbergen. Doch die vergangenen Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Paranoia ist längst eine Berufskrankheit. Die Schritte der zwei sind auf dem weißen Linoleum kaum zu hören, als sie das Foyer durchqueren. Plastik mit schwarz-weißem Marmor-Muster statt Stein unter ihren Schuhen. Gesparte Gil die in den Wiederaufbau einer Stadt, eines Dorfes geflossen sind. Reeve Tuesti war immer schon konsequent. Warum Luxus in der WRO-Zentrale, wenn das wenige Geld anderswo dringender benötigt wird. Die wachsamen Blicke der Sicherheitsbeamten bohren sich in ihre Rücken, verfolgen ihren Weg zum Ausgang. Sie würden die beiden Turks gerne wegen den Waffen festhalten, die sich unter ihren schwarzen Jacketts abzeichnen. Viele von ihnen sind ehemalige ShinRa-Mitarbeiter. Männer und Frauen mit Idealen. Die an eine bessere Welt glauben. Eine Welt, in der die Turks keinen Platz mehr haben. Demokratie ist so ein simples Schlagwort. Reno und Tseng laufen an ihnen vorbei, ignorieren ihre Blicke. Auch wenn die Zeit sich geändert hat; noch gibt es Regeln, die kein Turk befolgen muss. Draußen, auf dem Parkplatz, umhüllt sie die feuchte Luft einer schwülen Sommernacht. Endlich hat es aufgehört zu regnen. Und unter dem grellen Licht der Laternen tanzen Insekten; ihr summender Flügelschlag, das Brummen der Lampen und das Zirpen von Grillen vermischen sich zu einem angenehm monotonem Hintergrundgeräusch. Tseng kräuselt die Nase. Atmet tief den Geruch des erhitzten Asphalts ein. Den Gestank der Stadt. Der auch nicht von dem Duft blühender Magnolien überdeckt werden kann. Einen Moment hält er inne, schließt die Augen. Meint das Rauschen des Meeres zu hören. Weit entfernt und dennoch viel zu nah. Aber es ist nur sein eigener Puls. Sie haben jetzt die Zeit, den Luxus, in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Das Farbenspiel am Himmel zu beobachten. Reno deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Ruinen, die sich dunkel gegen den Horizont abzeichnen. „Die werden immer hier stehen bleiben.“ Tseng folgt seinem Blick. Die Überreste des ShinRa-Towers sind ein hässliches Gerippe, welches Edge überragt. Eine Stadt, die Tseng in einer Hass-Liebe gefangen hält. Zu der er einen ganz anderen Bezug hat, als zu Midgar. In Midgar, egal ob nun über oder unter der Platte, war er immer fremd. Immer das exotische Element. Das Teilchen, das nirgendwo eingefügt werden konnte. In Edge ist er ein Flüchtling unter Flüchtlingen. Wieder einmal. „Tseng Tseng, wir fahren zu mir.“ bestimmt Reno plötzlich neben ihm. „Und halten vorher noch an 'nem 24/7-Supermarkt. Ich hab nämlich nichts mehr zu futtern. Und auch nichts mehr zum trinken.“ „Hast du nicht mehr?“ Träge dreht Tseng den Kopf. Unter halb geschlossenen Lidern gleiten seine Augen über den schlaksigen Mann, der sich an sein Auto lehnt. „Ich nehme an, du redest nicht von Cola oder ähnlichem?“ Reno lacht leise. Vergräbt die Hände tief in den Taschen der zerknitterten Hose. „Keine Sorge, Tseng Tseng. Deinen Kaffee bekommst du nachher.“ Das seltsame Gefühl im Bauch, dieses Kribbeln, das plötzlich da ist, kann Tseng sich nicht erklären. Er hat es öfters in Renos Nähe. Besonders dann, wenn der andere Turk einfach nur er selbst ist. „Hoffe ich doch.“ Jetzt muss auch Tseng lächeln. „Ich hasse mich ja selbst, wenn ich morgens nicht meine Koffein-Ration bekomme.“ „Weiß ich. Dafür kenn' ich dich schon zu lange, und bin zu oft im selben Bett wie du aufgewacht.“ Reno zieht eine Hand aus der Hosentasche, legt den Arm locker um Tsengs Schultern. „Nich' das es mich stören würde.“ Ein Grinsen gleitet über sein hageres Gesicht. Und dieses Mal ist es ein Grinsen, das Tseng beruhigt. Gerade weil es so schmutzig ist, gerade weil er weiß was die vorhergegangene Aussage impliziert. Und dieses Mal stört es ihn überhaupt nicht; ertappt er sich dabei, wie er sich kurz gegen Renos Körper lehnt. Ein Moment, der so flüchtig ist, wie der Flügelschlag der Motte, die in das helle Licht fliegt. Und mit leisem Knistern verbrennt. Tseng riecht die Magnolien, den Asphalt. Spürt die schwüle Luft auf der Haut. Und löst sich hastig von Reno. Die Schlösser seines Wagens öffnen sich mit einem 'Kwitch Kwitch' als er auf den Schlüssel drückt. Ein Laut, der über den gesamten Parkplatz hallt. Eines der Geräusche, die ihn immer noch zusammen zucken lassen. Obwohl es sein eigener Wagen ist. Verdammter Luxus - Tseng verflucht in diesem Moment tatsächlich seine Herkunft, seine Erziehung. So wie jedes Mal, wenn er sich auf den Ledersitz gleiten lässt. Wenn er den Schlüssel einsteckt, wenn sich seine Hände um das Lenkrad legen. Luxus, an dem Blut klebt. Luxus, den er sich gönnen will. Er stellt ja sonst kaum Ansprüche. Das teure Auto ist der Ausbruch aus dem engen Gefängnis, das sein Vater, das Veld, das er selbst um sich gebaut hat. Ein Gefängnis, dessen Mauern gerade bröckeln. In einem anderen Leben, in einer anderen Welt hatte niemand so ein Auto, wie er es jetzt fährt. In einem anderen Leben machte man sich Sorgen über den Regen, über die Stunden in welchen die Sonne schien, über den Pegel des Wassers auf den Reisfeldern. Ein anderes Leben das er vergessen hatte. Ein Leben, das gerade droht, ihn wieder einzuholen. Die Gangschaltung des Wagens kreischt protestierend, als Tseng zu schnell hoch schaltet. Er ignoriert die rote Ampel an der nächsten Kreuzung. Die Straßen sind eh wie leer gefegt. Fast können sie glauben, sie wären die einzigen Menschen auf dem Planeten. Reno verschwendet ebenfalls keinen weiteren Gedanken an die rote Ampel, er ist diese Fahrweise gewöhnt. Was ihn viel mehr interessiert, sind die Konsequenzen ihres Tuns. Die Folgen, die ihre Unterredung mit Reeve nach sich ziehen wird. Hier im Auto, nur alleine mit Tseng, lässt er seine Masken fallen. Ist nicht länger der dumme Clown, für den die Leute ihn halten. „Reeve wird Rufus anrufen. Wenn er's nich' schon gemacht hat.“ murmelt er leise, hält sein Feuerzeug an die nächste selbst gedrehte Zigarette. Sofort liegt der Geruch von Gras in der Luft. Tseng schnaubt. „Kannst du deinen Arsch drauf verwetten.“ Er nimmt den Joint an, dem Reno ihm entgegen hält. „Vergiss es. Meinen Arsch kriegt Blondie nicht.“ wird neben ihm wütend gezischt. „Aber in deinen wird Rufus kriechen. Und dir die Eingeweide aus der Nase heraus prügeln.“ „Wird er.“ antwortet Tseng nüchtern. „Und ich werde damit klar kommen.“ „Sicher. Wie immer.“ Reno nimmt ihm wieder den Joint ab, zieht an ihm und inhaliert den Rauch tief in die Lungen. „Frage, Tseng Tseng. Was nun?“ „Wir machen unseren Job, Reno. Wir finden heraus, wer etwas über diese Fotos weiß, wir halten jeden Schaden von ShinRa fern.“ Es ist die Antwort, die er – der Leiter des Departments – geben muss. „Tseng!“ „Anwesend.“ Neben ihm verdreht Reno die Augen. „Dir entgeht gerade vollkommen, weshalb dich jeder aus der Scheiße raus halten will, oder?“ Tsengs Brauen ziehen sich zusammen. „Bitte, fange du nicht auch noch damit an.“ grummelt er gereizt. „Es gibt den Job. Und dann gibt es das Privatleben.“ „Oh Fuck!“ Reno zieht sich auf dem Sitz hoch, starrt einen Moment aus dem Fenster auf die Gebäude, die an ihnen vorbei ziehen. „Verdammte Scheiße!“ flucht er noch lauter. „Wenn einer diesen Scheiß weiß, dann bin ich das. Damit muss ich seit ein paar Jahren zurecht kommen. Unser scheiß Privatleben und unser scheiß Job.“ Er hebt die Hand, unterbindet mit einem kühlen Blick Tsengs Erwiderung. „Wir arbeiten zusammen. Viel zu lange. Und du bist als Boss eine echte Pest. Ein überpenibles Arschloch. Das ist der Job. Und nur ein paar Stunden später ficke ich dich. Und nichts kann mich mehr anmachen, als die Art und Weise wie du meinen Namen sagst. Das ist unser Privatleben.“ Es gibt niemanden, der diese Unterhaltung belauschen kann. Nur sie beide. Und nur deshalb zuckt Tseng zusammen. „Das is' nicht nur ShinRa-Shit, Tseng. Hier geht es nich' nur darum den Ruf der Company blütenweiß zu halten.“ Renos Stimme ist inzwischen eindringlich, regelrecht bittend. „Es geht hier um dich. Es geht darum, dass du in ziemlich globalen Shit getrieben worden bist. Niemand, nicht einmal ein Turk, sollte dazu gezwungen werden, die eigene Schwester umzubringen.“ „Sie wussten nicht, dass sie da sein würde.“ versucht Tseng schwach, eine Verteidigung einzuwerfen. Eine Verteidigung, die Reno dazu bringt mit der rechten Hand kräftig auf das Plastik des Armaturenbretts zu schlagen. „Das ist so abgefuckte Scheiße, Tseng! Komm mir nie wieder mit dieser Entschuldigung!“ Er zieht heftig an dem Joint, hustet als der Rauch sich unerwartet stark in seine Lungen frisst. „Du würdest uns den Arsch für die schlechte Recherche aufreißen!“ grummelt er, nachdem der Hustenreiz abgeklungen ist. „Bieg hier ab. Ich will ein gutes Bier.“ Reno will nicht nur ein Bier trinken. Er will auch für ein paar Minuten vergessen, was er ist. Warum er das ausgerechnet im Seventh Heaven kann, wird Tseng ein ewiges Rätsel bleiben. Als sie die Tür öffnen, empfängt sie der typische Geruch einer Bar. Die Ausdünstungen des Alkohol; kalter Zigarettenrauch, der sich im Verlauf der Zeit an alles gehaftet hat. Gläser klirren, Flaschen werden aneinander gestoßen. Und nur kurz sehen die Gäste auf, widmen sich dann wieder ihren Getränken. An den Anblick der Turks hat man sich hier inzwischen gewöhnt. Kaum jemand zuckt zusammen, nur zwei Männer stehen hastig auf; lassen ihr Bier stehen und werfen ein paar Scheine auf den Tisch, ehe sie hastig die Bar verlassen. Sie werden nicht aufgehalten. Reno hält direkt auf die Theke zu. „Zwei Bier, Süße!“ ruft er und bekommt einen nassen Wischlappen über den Kopf gezogen. Die Frau hinter der Theke lacht. „Unverbesserlich.“ Sie zapft die Getränke und stellt sie vor Renos Nase. Nickt dann knapp Tseng zu. „Hallo.“ Tseng erwidert den Gruß genauso knapp. „Lockheart.“ Sie kennen sich seit Jahren. Liefen sich immer wieder über den Weg. Doch die Distanz zwischen Tseng und Tifa ist geblieben. Sie weiß, dass er den Befehl für die Sprengung der tragenden Säule über Sektor 7 gegeben hat. Vielleicht weiß sie auch, warum seine Beziehung zu Aeris so kompliziert war. Aber ist sie jetzt überrascht, dass er mit Reno hier her gekommen ist, lässt sie es sich nicht anmerken. Reno schiebt ihm eines der Gläser zu. „Feierabend.“ stellt er lakonisch fest, hebt sein eigenes Bier an und wartet auf den Anstoß. Tseng tut ihm den Gefallen. Minutenlang sitzen sie schweigend nebeneinander, trinken ihr Bier. Bis Tifa einen Moment Ruhe findet, sich mit den Ellenbogen auf der Theke aufstützt und Reno mustert. „Und?“ fragt sie. „Und Scheiße wie üblich.“ antwortet Reno ihr. Ein Dialog, dem Tseng nicht folgen kann. Nicht versteht, weshalb Tifa seufzt. „Also wie immer.“ „Du sagst es.“ Reno verzieht die Mundwinkel zu einem schmalen Grinsen. „Wie ist es bei dir?“ Tifa wischt mit dem Lappen über die Theke, leert einen Aschenbecher. „Es läuft.“ antwortet sie schließlich lakonisch. „Die Leute trinken, egal ob sie nun unter einer Platte leben,“ Ihr Blick streift Tseng kurz, „oder in einem Betonblock.“ „Mädchen, dein Lover färbt auf dich ab.“ Reno fischt die nächste Zigarette aus seiner Schachtel. „Du hörst dich schon so depressiv an wie er. Wo is’ er überhaupt?“ „Dich zu fragen, ob du nach der ganzen Scheiße nicht auch depressiv werden würdest, ist sinnlos.“ Ungefragt werden die ausgetrunkenen Bierflaschen gegen zwei neue getauscht. „Und Cloud ist unterwegs, arbeiten. Es gibt momentan genug für ihn zu tun. Letzte Woche war er mit Cid und Yuffie in Wutai; momentan ist er in Kalm.“ Tseng nippt an der Bierflasche, lässt Reno und Tifa miteinander reden. Er scheint dem Gespräch keine Aufmerksamkeit zu widmen, konzentriert sich lieber auf die Zigarette und darauf, unauffällig die Gäste zu beobachten. Neben ihm stellt Reno die Frage, welche gestellt werden muss: „Wutai? Was treibt Cloud nach Wutai?“ Noch immer klingt es nach harmlosen Smalltalk. „Er sollte irgendwelche Dokumente für Reeve abholen. War dann doch etwas komplizierter.“ gibt Tifa ahnungslos Auskunft. „Deshalb hat er dann auch Yuffie mitgenommen. Cloud brauchte jemand, der für ihn übersetzt.“ Renos Antwort ist ein dreckiges Lachen. „Kann ich voll versteh’n. Wutai is’ so ne Sache für sich.“ Am anderen Ende der Theke gröhlt jemand lautstark nach einem Whiskey. Tifa greift die Flasche, widmet sich den anderen Gästen. Die beiden Turks tauschen kurze Blicke aus. Cloud Strifes Ausflug nach Wutai passt zu gut in den Verlauf der Ereignisse. Tseng trinkt sein zweites Bier schweigend aus, steht auf und legt zuviel Geld auf die Theke. Reno nimmt seine Flasche mit und nickt Tifa im Rausgehen zu. „Wir sehen uns Süße.“ ruft er ihr laut als Verabschiedung zu. Sie lassen Tsengs Wagen in der Nähe der Bar stehen und laufen. Renos Apartment liegt nur ein paar Blocks vom Seventh Heaven entfernt. Auf dem Weg dorthin stoppen sie noch an einem der vielen kleinen Supermärkte, die 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche geöffnet haben. Reno wartet vor dem Eingang, raucht und versucht Rude zu erreichen. Ihm und Elena schulden sie eine kurze Zusammenfassung. Tseng streift durch die engen Gänge zwischen vollgepackten Regalen. Verfolgt vom skeptischen Blick des Kassierers, der eigentlich viel zu jung für die Nachtschicht ist. Den Alkohol und die Tiefkühlgerichte findet der Turk schnell. Balanciert zwei Flaschen Wodka und zwei Pizzen auf den Armen. „Kaffee?“ ruft er fragend in Richtung des Jungen. Zulange kennt er schon Reno und sein Chaos, hat keine Lust heute Nacht noch einmal los zu müssen, weil der andere merkt, dass er doch keinen Kaffee mehr im Haus hat. „Regal. Dort hinten. Drittes Regal. Dort Kaffee.“ wird ihm betont langsam, überdeutlich geantwortet. Tseng stoppt in der Bewegung. Atmet tief ein. Es ist nicht das erste Mal, das jemand so mit ihm spricht. Es ist nicht das letzte Mal. Doch in dieser Nacht trifft der fremde Junge einen offen liegenden Nerv. Der Kaffee wird aus dem Regal genommen. Noch einmal atmet Tseng tief ein. Dann steht er an der Kasse, der Junge deutet auf den Betrag, der in grünen Zahlen zu lesen ist. Zeigt ihn mit den Fingern zusätzlich an. „Hälst du mich für total bescheuert?“ faucht Tseng wütend. Er wartet erst gar nicht auf das Wechselgeld, greift sich seinen Einkauf und lässt den Jungen stehen. Nur der Gedanke an zusätzliche Papierarbeit hält den Turk davon ab, ihn zu erschießen. Draußen, vor dem Supermarkt, schnippt Reno seine Zigarette in eine Pfütze. „Gruß von Rude und Elena.“ Tseng verdreht die Augen. „Sie sind informiert?“ „Sind sie. Und nur ein ganz bisschen angepisst wegen dem Timing. Und du bist auch angefressen.“ „Abgefucktes rassistisches Arschloch hinter der Kasse.“ Selten regt Tseng sich so deutlich über einen Zwischenfall wie diesen auf. Er drückt Reno die Tüte in die Hand, zündet eine Zigarette an und läuft schweigend voran. Die Wohnungen der beiden Turks sind immer noch am jeweils entgegen gesetzten Ende der Stadt. Das neue ShinRa-Hauptquartier, die WRO-Zentrale liegen in der Mitte dieser Achse. Es ist die Macht der Gewohnheit, ein Überbleibsel aus jener Zeit, in der niemand etwas von ihrem Verhältnis ahnen durfte. Zeiten ändern sich schneller als Gewohnheiten. Wie üblich ist der Fahrstuhl kaputt, flackert die Beleuchtung im stinkenden Treppenhaus. Genau wie Tseng bevorzugt auch Reno das Leben in einem anonymen Wohnblock, einem Ort an dem die Gesichter so auswechselbar sind, wie die Plakate auf den großen Billboards vor den Fenstern. Das Haustürschloss klemmt. Mit der Schulter stemmt Reno sich gegen billiges grünes Sperrholz, flucht als sich das Schloss mit einem leisen Klicken öffnet, er vor Tseng in sein unaufgeräumtes Apartment stolpert. Selbst sein hastiges Zusammensuchen dreckiger Kleidung, der schnelle Griff nach leeren Pizza-Schachteln; der Boxen in welchen man wutainesisches Essen geliefert bekommt, ändert nichts daran, dass sich das Chaos auf den 43m² ausgebreitet hat. Tseng ist es nicht anders gewöhnt. Es würde ihn mehr irritieren, herrschte strahlende Sauberkeit. Er stellt die Tüte mit dem Alkohol und Essen auf den klapprigen Küchentisch, ignoriert das dreckige Geschirr in der Spüle und sucht nach zwei sauberen Gläsern. Es ist der einzige Ort in ganz Midgar, an dem er Unordnung nicht nur akzeptiert, sondern sich sogar in ihr wohl fühlt. Was auch mit dem Mann zu tun hat, der gerade die letzten Pappboxen in einen vollkommen überfüllten Mülleimer stopft. „Zu viel Arbeit in den letzten Tagen. War kaum hier.“ Das Dauergrinsen hat nun etwas entschuldigendes. „Man riecht es.“ kontert Tseng und drückt Reno ein bis an die Oberkante gefülltes Wodka-Glas in die Hand. Er selbst streift sein Jackett ab, legte es ordentlich gefaltete über die Lehne des Klappstuhls. Das Halfter, in dem sich seine Waffe befindet, wird auf den Tisch gelegt. Erst danach öffnet er das Küchenfenster. „Willste reden?“ Reno lehnt sich gegen den Tresen der Spüle. „Worüber?“ Tseng dreht sich zu ihm herum, greift sich sein Glas. „Es gibt nicht viel zu erzählen.“ „Zum Beispiel über deine Schwester?“ Renos Schutzbrille, die er immer und ständig trägt, die sein Markenzeichen ist, landet neben dem Pistolen-Halfter auf dem Küchentisch. Eine eigentlich so simple Bewegung, welche Tseng schmunzeln lässt, verrät sie doch viel zu viel über die Koordination des anderen Turks. Ehe er wieder einmal länger darüber nachdenkt, wie perfekt Reno seine Umwelt täuschen kann, beginnt er mit gedämpfter Stimme zu erzählen: „Sie war drei Jahre jünger. Hat ständig gelacht. Mich immer vorgeschoben, wenn sie Ärger verursacht hat.“ Er gibt selten Einblicke in solche privaten Erinnerungen. Noch seltener lässt er seine Sprache so schleifen. „Meine Mutter hat seltsamer Weise ständig gewusst, wer für was verantwortlich war.“ „Lästige Angewohnheit von Müttern.“ Reno lacht leise, trinkt dann einen großen Schluck Wodka. „Is' das erste Mal, dass du überhaupt die Worte 'Meine Mutter' in den Mund nimmst, Tseng Tseng.“ Er streckt die Hand aus, seine Finger bekommen die schwarze Krawatte zu fassen und lässig zieht er Tseng an dieser zu sich, der sich nicht wehrt, leise murmelt: „Ich bin nicht aus irgendeinem Ei geschlüpft.“ „Was is' mit deiner Ma passiert?“ Das Glas wird auf den Tresen abgestellt, der Windsorknoten gelöst. Nur wenige Sekunden später liegt auch die Krawatte über der Stuhllehne. „Ist in einem Flüchtlingslager verreckt.“ „Und mit deinem Pa?“ „Wurde während des Massakers von dem die Fotos stammen, geköpft.“ „Sicher?“ Renos Finger öffnen die ersten drei Knöpfe des weißen Hemds. „Ganz sicher. Ich habe es gesehen.“ „Shit!“ „Passiert...“ Tseng leistet keinerlei Widerstand. Noch hält er sein Glas in der Hand, leert es mit einem einzigen Schluck bis auf die Hälfte. „Und mit dir?“ Eine raue Hand schiebt sich unter den Kragen. Die Fingerspitzen streicheln sachte über das Schlüsselbein. „Was is’ mit dir passiert?“ „Ich bin Direktor des Departments of Administrative Research geworden.“ Jetzt grinst auch Tseng. „Bastard.“ Renos Lippen legen sich auf seine, minutenlang stehen sie in der Küche und küssen sich. Und das Thema ist damit abgehakt. Fragen nach der Vergangenheit sind eigentlich tabu, werden nicht gestellt. Jeder von ihnen hatte ein Leben vor den Turks. Aber das haben sie hinter sich gelassen, es ist irrelevant wie die Nachnamen, die sie einmal gehabt haben. Höchstens Fetzen, Bruchstücke werden in Unterhaltung wie diesen erwähnt. Auch Tseng, obwohl er die Abteilung leitet, weiß nicht viel über Renos Vorleben. Veld hat ihn in aus irgendeinem Hinterhof in Midgar gezogen, ihn vor Don Corneos Schlägern gerettet. Ab und zu redet Reno über seine Mutter, eine der Nutten die für den Don gearbeitet haben. Redet darüber, wie es war in einem Puff unter lauter Frauen aufzuwachsen, die sich alle um ihn gekümmert haben. Den Vater kennt er gar nicht. Es kann ein Schläger aus der Gang des Dons sein. Oder ein ShinRa-Angestellter. Reno ist es egal. Das Bedürfnis zu atmen, den Wodka zu trinken, unterbricht den Kuss. Die beiden Turks leeren ihre Gläser. Tseng sieht an sich herab, hat nicht gemerkt, wie die Knöpfe des Hemds komplett geöffnet worden sind. Der Stoff wird beiläufig von den schmalen Schultern gestreift, genauso ordentlich wie das Jackett zuvor über die Stuhllehne gelegt. Tseng bekommt dafür die Zeit. Reno unterbricht ihn nicht. Weiß wie wichtig diese schon ritualisierte Handlung für ihn ist. Keinen der beiden stört es weiter, dass man vom Nachbarhaus in die hell erleuchtete Küche blicken kann. Was sieht man schon, außer zwei Männer, die gegenseitige Nähe suchen? Noch ein Grund, weshalb sie ständig Schutz in der anonymen Masse fliehen. „Bett?“ schlägt Reno vor, während seine Hand Tsengs Gürtel vorsichtig aus der Schnalle zieht. Dieses Mal haben sie es nicht eilig. Tseng nickt, greift mit einer Hand nach der geöffneten Wodkaflasche, hat die andere längst unter Renos Hemd geschoben, fühlt unter seinen Fingerkuppen jeden einzelnen spitzen Wirbel des Rückrats. Irgendwo auf dem Weg in Richtung des Schlafzimmers öffnet sich sein Gürtel vollständig. Die Flasche wird gerade noch rechtzeitig neben dem breiten Bett abgestellt, ehe Reno ihn an den Schultern fest auf die Matratze drückt. Tseng braucht Momente wie diese. Momente, die er nicht kontrolliert. In dem er jede Verantwortung von sich weisen kann. Er liegt einfach nur still, lässt Reno handeln. Viel später pressen sich zwei schweißnasse Körper aneinander. Der schwere Atem wird übertönt von Sirenen auf der Straße, dem Surren eines Helikopter-Rotors. Lärm, der wie die schwüle Hitze der Sommernacht durch das geöffnete Fenster kriecht. Renos Hand streichelt durch schwarze Haare. Tseng schnurrt leise und kann für diesen Augenblick alles vergessen. Träge und entspannt schmiegt er sich enger an den anderen. In der Küche, sicher in der Innentasche des Jacketts verstaut, beginnt ein PHS zu surren. Pflichtbewusst wie immer, will Tseng aufstehen, das Telefonat annehmen. Doch ein sehniger Arm, der sich über seine Brust schiebt, hindert ihn daran. „Es is' vier Uhr Morgens. An einem Sonntag. Auch du darfst ma' pennen.“ nuschelt Reno schläfrig. Aber nicht so müde, dass die Kraft in seinem Griff fehlt. „Ich muss...“ erwidert Tseng halbherzig. „Du musst gar nichts, Tseng Tseng.“ Reno rollt sich halb auf ihn, hält ihn weiter auf das Bett gepresst. Seufzend gibt Tseng nach. Wenn der andere etwas will, hat er ihm eh nicht viel entgegen zu setzen. Muskelkraft bestimmt nicht. Das hat er schnell lernen müssen. Damals, als sie beide noch Junior-Turks gewesen waren. Als Reno sich darauf fixierte, den Wuzzi in den Wahnsinn zu treiben. Nach der Schlägerei in der Kantine hatte er es auf Tseng abgesehen. Machte ihm das Leben zur Hölle. Und war körperlich stärker als der unterernährte Junge. Tseng blieben nur die Tricks, die er in Wutai gelernt hatte. Unten am Fluss, zwischen all dem Dreck, den der Krieg angespült hatte. Dabei war alles was Reno wollte, eine Reaktion provozieren. Mehr als nur einen abwertenden, kalten Blick; einen zynischen Kommentar. Es sollte Jahre dauern, bis er das bekam, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Tseng grinst plötzlich. „Ich ignoriere das Telefon, aber eine Wasserflasche darf ich trotzdem holen?“ „Du wirst das scheiß Teil nich' ignorieren.“ Reno gähnt, hebt seinen Arm. „Aber denk' ja nich’ daran, jemanden anzurufen.“ Er rollt sich auf die Seite, sucht neben dem Bett nach einer kleinen Metallbox. Tseng ignoriert diese Suche, geht in die Küche. Im Dunklem greift er nach seinem Jackett, zieht das PHS heraus. Rufus Nummer blinkt auf dem Display. Genau die Nummer, mit welcher er gerechnet hat. Einen Moment zögert Tseng, liegt sein Daumen auf der Rückruf-Taste. Im Schlafzimmer ist Reno eh damit beschäftigt, sich einen Joint zu drehen. „Vergiss es!“ dröhnt es prompt im tiefsten Sub Plate-Slang aus dem Raum. „Beweg deinen Arsch wieder ins Bett. Rufus wird sich auch alleine ficken können!“ „Bezweifle ich.“ antwortet Tseng ohne nach zu denken. „Der Präsident steht nicht so auf Handarbeit.“ Er greift sich die Wasserflasche aus dem Kühlschrank, zieht scharf die Luft ein, als er Renos Antwort hört: „Stimmt, du musst es ja wissen.“ Der bittere Unterton in der Stimme schneidet tief in das letzte bisschen, was von Tsengs Gewissen noch vorhanden ist. Wieder im Schlafzimmer ist es dieses Mal er, der beruhigend über erhitzte Haut streichelt. Und obwohl das Licht aus ist, spürt er Renos Blick, der sich in ihn brennt. Nur die Glut des Joints wirft einen schwachen Schimmer auf das hagere Gesicht. Über den Wangenknochen stechen die Tätowierungen heraus. „Hey, du musst dich nich’ rechtfertigen.“ unterbricht Reno schließlich als erster die unangenehme Stille, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hat. Tseng seufzt leise. „Ich rechtfertige mich nicht.“ „Stimmt. Nich’ mit Worten.“ Der Joint wird Tseng gereicht. „Du wirst nur jedes Mal so total handzahm, wenn es um Rufus geht und um ...“ „Uns?“ Das Wort steht im Raum. So sachlich festgestellt, wie es nur ein Turk kann, der in diversen Verhörmethoden geschult ist. Reno greift nach Tsengs Hand, die auf seinem Brustkorb liegt. Hält sie fast schmerzhaft fest umklammert. „Unser Privatleben, um dich zu zitieren.“ „Hmhm.“ Tseng inhaliert tief den Rauch des Joints. Er kifft eher selten, die Droge zeigt schnell ihre Wirkung und lässt den Körper angenehm schwer werden. „Der SOLDIER auf dem Foto,“ kommt er schließlich auf ein Thema, das absolut nicht mit Rufus zu tun hat, „kanntest du ihn?“ „War das nich' der Freak, der ständig diesen Schundroman zitiert hat?“ Reno überlegt einen Moment. „Das tiefgründigste Geheimnis ist das Geschenk der Göttin und um dieses Geschenk zu erlangen, gehen wir auf eine Reise und beginnen zu fliegen. Es erscheint hoffnungslos zu sein, einfach dazustehen und sich treiben zu lassen wie plätscherndes Wasser auf der Oberfläche unseres Herzens.“ murmelt er schließlich leise. Es überrascht Tseng nicht in geringster Weise, das Reno Passagen aus Loveless aufsagen kann. „Genau der.“ antwortet er, begleitet von einem langen Gähnen. „Nee, nich' gut. Kanntest du ihn?“ Reno nimmt ihm wieder den Joint ab. Tseng schüttelte den Kopf. „Auch nicht gut. Und damals, als wir ihn gesucht haben, war sein Gesicht nur eine seltsame Erinnerung. Er hat so ein abgefucktes Glück, dass er tot ist.“ Tseng und SOLDIER. Es ist eines der wenigen Themen, die ihm wirklich eine Emotion entlocken können. Es ist nicht nur die Konkurrenz, die früher zwischen den Abteilungen existiert hat. „Und er bleibt es auch besser. Denn wäre er es nicht, und ich bekäme ihn in die Finger würde er irgendwann darum betteln, dass nicht einmal seine Eltern geboren worden wären.“ Tseng greift nach der Wodkaflasche, ertränkt Wut, Hass und Angst in einem langen Schluck. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)