Liebe macht blind von peri (Die & Kaoru) ================================================================================ Kapitel 1: Genauer betrachtet. ------------------------------ Kommentar: Okay, ich hab eigentlich nicht viel vorab zu sagen, außer: Viel Spaß beim Lesen! Wenn der Tag anbricht, dann werde ich erwachen. Im selben Körper, in dem ich am Vorabend eingeschlafen bin. Ich kehre sicherlich hierhin zurück. An den einzigen Ausgang des Traumes. Der Morgen hängt noch müde über der Stadt, als ich die frische Luft von draußen in mein Hotelzimmer lasse. Ein heller Dunstschleier schwebt wie ein farbloses Seidentuch über den Gebäuden, schlängelt sich durch die Gassen. Ich kenne den Namen dieser Stadt nicht. Er wurde mir gesagt, doch ich habe vergessen wie man ihn ausspricht. Vom grellen Sonnenlicht geblendet, blinzele ich von meinem geöffneten Fenster aus hinunter über die Szenerie, die sich mir in dieser Frühe darbietet. Obwohl die Sonnenstrahlen jede einzelne Kontur der Gemäuer und Vegetation nachziehen wie die Linien eines wertvollen Gemäldes, so wirkt das Gesamtbild doch kahl und trostlos, trüb und düster. Wie eine obskure Welt... Genau hier, vor meinen noch schlaftrunkenen Augen, bemerke ich es zum allerersten Mal. Wenn er es wünscht, dann werden die Zeiger dieser verstaubten Uhr wieder zu ticken beginnen. Er kennt bestimmt alle Arten von Gefühlen... Auch meine kennt er. Er hat sie gesehen, ich hab sie ihm gezeigt. Nicht nur einmal, aber stets vergebens. Er schließt seine Augen und wendet sich ab. Ja, er kennt sie, doch erkennen kann er sie nicht. Und seine Lippen bleiben geschlossen, seine Kehle bringt kein Wort hervor und sein Herz bleibt auf ewig stumm. Mal scheint es, als würde er sein Herz aufschließen, jedoch nur, um mir kurz darauf wieder einmal die Tür vor der Nase zuzuschlagen und sich über mich lustig zu machen. Vielleicht ist das aber auch seine Weise damit umzugehen? Mit mir. Mich zu umgehen. Obwohl... aus dem Weg geht er mir nicht, es ist vielmehr seine verdammte Nähe, die mich langsam aber sicher um den Verstand bringt. Er ist überall, er umgibt mich. Ich kann ihm einfach nicht entkommen. Es ist ganz egal, wohin ich renne. Am Ende jeder Straße ist doch immer wieder er. Er zieht keine Grenze, aber macht sie dennoch unübersehbar klar. Bis hier hin und nicht weiter. Und genau das meine ich mit 'Tür'. Oh Mann, es ist noch viel zu früh, um seine Zeit wieder mit sinnlosem Nachdenken zu vergeuden. Erneut darüber zu brüten, in was ich mich bloß in meinem Leben hineinbucksiert habe. Meine wirren Gedankengänge versteht ohnehin gerade niemand, oder? Das Hirn zu betäuben wäre eine gute Lösung, doch auch für Alkohol ist es bei Weitem noch zu früh. Obwohl... Nein. Lieber nicht. Ich wollte doch weniger trinken. Okay, ich wollte auch schon seit Jahren aufhören zu rauchen und hab es dann doch nicht mal versucht, aber... Rede ich mich hier um Kopf und Kragen? Ist ja auch egal. Fakt ist, ich bin in aller Herrgottsfrühe aufgestanden und stehe nun an meinem sperrangelweit geöffneten Hotelfenster und starre nahezu Löcher in die Atmosphäre, weiß nicht recht, was ich mit mir anfangen soll. Wohl jeder kennt dieses Gefühl: Man wacht zu den bescheuertsten Zeiten einfach grundlos auf und kann partout kein Auge mehr zudrücken. Und dann ist es eigentlich auch schon viel zu spät, um sich noch mal schlafen zu legen, aber im Grunde auch viel zu früh, um schon auf den Beinen zu sein. Was macht man dann? Was Lesen, Videospiele spielen, Fernseh gucken. Auf nichts davon hab ich auch nur den leisten Funken an Lust. Auf Kuscheln hätte ich jetzt Lust. Aber nicht mit dem Kissen, das riecht nach ungewaschenen Haaren. Was anderes bietet sich aber leider nicht an. Ich könnte beim Zimmerservice anrufen und mich dann an das Zimmermädchen kleben, wenn es reinkommt. Vorausgesetzt sie ist hübsch. Hah, das ist doch mal die Idee! Ich wende mich vom Fensterbrett und dem milchigen Sonnenaufgang ab, tippel zum Bett und werfe mich mit dem Bauch zuerst auf die Matratze. Bauchklatscher! Aber es spritzt nicht, sondern das Lattenrost knatscht nur unter der Last meines Körpergewichts ächzend auf. Mit den Fingerspitzen angle ich das Telefon vom kleinen Nachttischschränkchen - beinahe wäre es mir noch runtergefallen - und die komische Karte, die daneben liegt, gleich mit. Mal schauen... Drücken Sie bitte die 1, wenn Sie ärztliche Hilfe brauchen. ...HAHA. Ich lach später. Drücken Sie bitte die 2, wenn Sie mit dem Zimmerservice verbunden werden wollen. Ja, genau, das will ich. ZWEI!! Mein Finger bohrt sich quasi in die wehrlose Taste hinein, dann halte ich schnell den Hörer an mein Ohr und lausche eine Weile dem unerhört nervtötenden Tuten. Geh ran, geh ran, geh ran, geh ran! Bin ich hyper? Bin ich hibbelig? Neeein, ich doch nicht. Ach Manno, warum geht da denn jetzt niemand ran? Ich mach jetzt Telefonterror. Irgendwann muss da doch mal jemand abnehmen. Hier in dem Heft steht 24-Stunden-Service. Ist wohl grad die 25. Stunde. Oh, es klackt und knistert auf der anderen Seite und das Gespräch wird angenommen. Ich freu mich! Gleich kommt mein Zimmermädchen! Was sag ich denn nur? 'Hallo Zimmerservice, einmal heißes Zimmermädchen zum hier Vernaschen, bitte. Hrhrhr.'? Seltsam, warum meldet sich denn keiner? Nur ein genervtes Brummen dringt aus dem Hörer. An irgendetwas erinnert mich das. "Hallo? Ist da der Zimmerservice?" "Nein. Ist da das Irrenhaus?" War das da gerade Kaorus Stimme? Ich träum doch noch, oder? Das ist doch im Grunde unmöglich. Was macht Kaoru beim Hotelpersonal? Gab es da Eiscreme umsonst? Hat der sich einen Nebenjob gesucht? Aber um die Zeit? Nee. Häh? Oh. Scheiße. Ich halte ja gar nicht das Hoteltelefon in meiner Hand. Wie zum Henker kommt denn mein Handy in meiner Finger?! Wo kommt das her?! Hilfe, mein Handy kann sich teleportieren. "Die...", faucht es mir nuschelnd vom anderen Ende der Leitung entgegen. "Wenn du nicht einen verdammt guten Grund hast... um mich mitten in der Nacht aus meinem wohlverdienten Schlaf zu reißen... kannst du was erleben...!" Selbst im Halbschlaf klingt diese Drohung furchteinflößend und mir gefriert das Blut buchstäblich in den Adern. Er denkt doch bestimmt, dies ist bloß ein Telefonstreich. Aber ich bin doch keine 16 mehr. Dass ich mich im Telefon vergriffen habe, glaubt der mir nie. "Sorry. Ich... ich hab mich verwählt." Der dicke, eklige Kloß in meinem Hals lässt sich nur mit Mühe herunterwürgen. Ein Röcheln kommt aus dem Hörer. Seine Stimme gleicht mehr und mehr der des Paten. "Mach das noch einmal... und du wachst mit einem Schlauch in der Nase wieder auf." Es klackt wieder, es tutet. Aufgelegt. Ja, ich verdiene den Award für Debilität. Jedes Jahr wieder aufs Neue. Aber... ich lebe noch! Vorsichtig lege ich das Handy wieder beiseite. Gerade noch mal Glück gehabt. Man sollte sich davor hüten, Kaoru morgens auf dem falschen Fuß zu erwischen. Blöd geweckt kann der einem den ganzen Morgen zu muffeln. Und einem grummeligen Kaoru will niemand wirklich über den Weg laufen. Es war aber wirklich nur ein Versehen, dass ich mit einem Mal ihn an der Strippe hatte. Ich war so besessen von dem Gedanken gleich jemanden zum Kuscheln zu kriegen. Naja, wo ich Kaoru schon mal am Apparat hatte, hätte ich ihn ja auch mal fragen können, ob ich zu ihm rüber und unter seine Decke schlüpfen darf, mit ihm in seiner Penntüte kuscheln, in die er sich nachts immer einrollt. Aber dann hätte ich jetzt wirklich einen Schlauch in der Nase. Ich seufze schwer. Ich mache alles falsch. So läuft das die ganze Zeit. Langsam frage ich mich wirklich, ob ich nicht vielleicht verflucht bin. Jedenfalls wäre das für alle meine Missgeschicke die logische Erklärung, die mir bis jetzt immer noch fehlt. Ich schnippe das Handy an. Es macht eine halbe Drehung auf der Bettdecke. Ich greife es wieder ganz, nehme es in die Hand und drücke wieder die Zwei. Kaorus Nummer ist dort eingespeichert. Was für ein Zufall. Warum er nur auf der Zwei ist? Nummer Eins ist bereits vergeben, da ist meine Mama. Meine Fingerkuppen streichen über das kalte Display, über die Lettern, seinen Namen. Kaoru. Ich seufze erneut. Seinetwegen bin ich zum Hyper-Emo mutiert. (Oder digitiert?) Ja, das ist alles nur seine Schuld! Soll bloß weggehen, der. Der macht mich noch mal ganz meschugge mit seinem abweisendem Verhalten. Es ist wirklich schwer zu übersehen, dass ich Hals über Kopf verliebt bin. Leider kann ich diese Gefühle nur schwer zurückhalten und sie in mir verstecken. Obwohl genau das angebracht wäre. Doch sie drängen immer wieder aus mir heraus, besonders, wenn ich unentwegt die kalte Schulter zu spüren kriege. Kaoru ist ein Stein. Ich beiße mir die Zähne an ihm aus. Ich will nicht sagen, dass er gefühlskalt ist - nein, das ist er ganz bestimmt nicht - aber er hat diese spezielle Art, die mich gnadenlos wissen lässt, dass ich keine Chance bei ihm hab. Selbst seine bitterbösen Bemerkungen sind nicht wirklich ernst gemeint, dienen nur seinem eigenen Schutz, so dass er nicht daran denken muss, was ich für ihn empfinde. Trotzdem tut es weh, wenn er mir diese abwertenden Bemerkungen ins Gesicht wirft. Auch wenn ich gelernt habe es hinzunehmen, wie es ist, habe ich noch nicht aufgegeben. Ich stürze oft, schlage mir die Knie auf, kriege blaue Flecken, manchmal Prellungen und Knochenbrüche, doch ich stehe immer wieder auf. Da sind Momente, da kann ich in seinen Augen lesen. Da sehe ich etwas, etwas das glitzert, wenn er mit mir redet, wenn wir alleine sind, gemeinsam lachen, seine Hand wie zufällig auf meiner Schulter landet. Es sind diese Sekunden in meinem Leben, in denen ich Hoffnung schöpfe, neue Kräfte mobilisiere, wieder weiß, warum ich noch nicht aufgegeben habe. Ich weiß, da ist etwas tief in ihm, das sagt 'Ja'. Es ist ein leises, kleines, unsichereres "Ja", das noch nicht so recht weiß, was es von sich selbst halten soll. Doch es ist da und ich will, dass es lauter wird, bis es schließlich frei von Zweifeln ist. Dass der Weg so lang und steinig sein würde, konnte ich nicht ahnen. Dass es so schwierig ist unter seine harte Schale zu blicken. Dass es so mühselig ist, bis er auftaut. Ich rolle mich auf die Seite und schließe die Augen. Wie lang geht das jetzt schon so? Zu lang. Habe mit angesehen, wie Freundinnen kamen und wieder gingen, wie Beziehungen anfingen und oftmals unter Tränen endeten, wie er sich aus Frust in kurze Unmöglichkeiten geflüchtet hat. Aber was zermatere ich mir hier schon wieder mein Gehirn? Ich muss versuchen noch ein wenig zu schlafen. Auf Tour zu sein ist stressig und Schlaf ist doch gerade an diesen Tagen so wichtig. Halbherzig ziehe ich die Decke über meinen Kopf. Mir egal, dass ich quer übers ganze Bett liege und meine nackten Füße in der Luft baumeln. Vor meinem Gesicht liegt noch immer das Handy. Wieder drücke ich die Taste. Soll ich ihn noch mal anrufen? Das Risiko ist zu groß, dass er dann wirklich sauer ist. Nur seine Stimme zu hören, würde mir schon genügen... Vielleicht rufe ich mir doch ein Zimmermädchen. Frust begraben. Oder ich lasse es lieber bleiben. Mal wieder. Dass ich jemand anderen liebe, heißt nicht, dass ich nicht auch Spaß haben darf. Ohne Sex, ohne Zärtlichkeiten kann ich gar nicht leben. Insofern ist es kein Betrug. Mich in andere Dinge zu stürzen, mich anderen hinzugeben, meine unerwiderten Gefühle auf eine andere Person zu lenken, zu projizieren, nur um zu vermeiden, dass ich irgendwann kaputt gehe von der Ablehnung, die ich erleide... das ist nicht wirklich ein Betrug, oder? Macht es mich unglaubwürdig? Der kühle Sommerwind weht durch das Fenster herein und kitzelt an meinen Zehen. Ich drücke die Anzeige weg und beiße ins Handy. Blödes Teil. Schmecken tut es auch nicht. ~*~*~ Ich muss tatsächlich noch einmal eingeschlafen sein, ziemlich fest sogar, denn plötzlich werde ich doch recht harsch aus dem Schlaf gerissen, als ein lautes Schrillen wie das einer Alarmglocke mein Gehör unter Strom setzt. Ich zucke hoch, purzel vor Schreck aus dem Bett und lande unsanft halb auf dem Boden, halb auf meinem Koffer. "Guten Morgen, Prinzessin." Kaum, dass ich die Augen aufgerissen habe, verdunkelt sich meine Sicht auch schon wieder. Nach Zigaretten riechender Stoff bedeckt meinen Kopf. Es is meine Jacke, die mir rücksichtslos ins Gesicht geschleudert wird. Murmelnd, gleichzeitig murrend, klaube ich das von meinem Kopf, was mein Haar noch mehr zerzaust als es ohnehin ist. Muss man mich eigentlich so unsanft wecken? Da steht der doch allen Ernstes um 8 Uhr vor meinem Bett und hält mir sein Handy mit dem Weckton auf voller Lautstärke ans Ohr. Krank?! Ein Wunder, dass ich jetzt nicht taub bin. Meine Hand grapscht nach seinem Hosenbein, erwischt die Jeans und schafft es sogar ihn näher zu ziehen und ihn ein bisschen ins Schwanken zu bringen. Viel rutscht seine Hose dabei aber leider nicht herunter. Er schnürrt sie immer so fest mit dem Gürtel zu. "Hey! Loslassen!" Unbarmherzig packt seine Hand meine und zerrt sie wieder weg, was ich glatt mit einem weiteren Murren quittiere. "Aufstehen jetzt oder willst du den ganzen Tag da auf dem Boden liegen?" Fiesling. Ich wünsche mir zwar oft, dass er das erste ist, was ich sehe, wenn ich aufwache, aber SO hab ich das doch nicht gemeint! Höchstwahrscheinlich ist das hier nun auch meine Strafe dafür, dass ich ihn vorhin aus purem Versehen aus dem Schlaf geklingelt hab. "Manno... Kaoru, es ist 8 Uhr! Unser Bus fährt erst in 'ner Stunde." Ich krabble zurück aufs Bett. Ist unbequem da unten. "Du musst aber noch dein Zeug einpacken und dich fertig machen. So dreckig, stinkig und ungeduscht kommst du mir nicht in den Tourbus." "Dann setz dich halt woanders hin." Unverschämtheit mich dreckig zu nennen. Nur meine Haare sehen leicht angeklatscht aus, aber ich war halt gestern nach dem Konzert einfach zu platt, um mir auch noch die Haare zu waschen und sie dann zu föhnen. "Aufs Dach kann ich mich schlecht setzen." Er scheint in meinem Zimmer auf und ab zu gehen, schließt nebenbei das Fenster. Sehen kann ich das nicht, weil ich meine Augenlider schon wieder an meine Wangen getackert habe. "Jetzt steh auf und geh duschen!" Versucht der gerade meine Füße zu kitzeln? "Nur, wenn du mitkommst!" "Friss Seife." "Dann geh ich nicht." Ein frustrierter und entnervter Seufzer dringt aus seinem Mund, während er am Bettende Platz nimmt. Das Bett senkt sich leicht und ich drehe mich herum, schlage die Augen wieder auf, weil er genau in dieser Sekunde etwas sagt, was meine Welt von innen nach außen krempelt. "Okay, Die. Ich geh mit dir duschen." Spinn ich jetzt? Dreh ich völlig ab? Schlaf ich immer noch? Bin ich auf Drogen? Oder schlimmer noch, meint er das ernst?! Ich huste, ersticke fast. Hab vergessen zu atmen. Mein Herz schlägt schief und versucht meinen Brustkorb zu zertrümmern, indem es immer wieder hart, heftig und schnell dagegen kracht. Ich weiß grad gar nicht, wohin mit mir und was ich zuerst denken soll, da steht er schon auf und grinst mich an mit einem der schönsten Grinsen, die ich je bei ihm gesehen habe. Ich träume. Ich muss träumen. "...warum hast du deine Klamotten noch an?" Weil ich mich heute in der Frühe wieder vollständig angekleidet hab?! dsa;hmsqnajk? "Gut, ich zähle jetzt bis 3 und dann bist du ausgezogen." Was zum Teufel? Wirklich jetzt? Im Ernst? Oh Gott. Ich kann mich nicht bewegen. Perplex. Paralysiert. Körper! Reagiere! Ausziehen! Entkleiden! Nackig machen! Das kannst du doch sonst so gut!! Klamotten von Leibern reißen in Weltrekordszeit. "Eins." Warum ist das gottverdammte T-Shirt so eng, dass es nicht über meine Schultern passt? "Zwei." Wo geht die dumme Hose auf?! "Drei." Warum klemmt der beknackte Reißverschluss?! Argh! "Tja, zu spät." Wie jetzt?! "Tut mir leid." Warum macht er jetzt kehrt? Wo geht er hin? Wo will er hin, verdammt! Ich häng hier doch noch so halb in der Hose zwar, aber ich... ich... kann auch so...! In die Dusche mein ich... Ich...! "Ich geh dann mal. Tschüss." "Kao...!" Doch er verschwindet aus dem Zimmer, verschwindet hinter der verschlossen Tür, die laut ins Schloss gekracht ist, und lässt mich taumelnd mit einem Bein in der Hose, einer halbherzig runtergezogenen Boxershorts einfach zurück. "...ru." Ich fühl mich blöd. Verarscht. Er hat mich reingelegt. Er hat mich tatsächlich aufs Korn genommen. Und ich habe es nicht mal gemerkt. Ich bin voll drauf reingefallen. So eine verfluchte...! Hnnn. Wütend schüttel ich die Jeans von meinem Fuß. In den Arsch könnte ich mir beißen. Dass ich auch noch so zurückgeblieben bin, so leichtgläubig, dass er wirklich mit mir duschen gehen würde, dass er einen so plötzlichen Sinneswandel hat. Bin ich eigentlich wirklich so hohl? Ja, verdammt. Schnaufend stapfe ich im Zimmer herum. Komme mir vor wie Falschgeld. Das ging eben alles so furchtbar schnell, so Schlag auf Schlag, dass es mir vollkommen surreal vorkommt. Keine Ahnung, warum ich überhaupt auf seine Worte reagiert habe. Sowas nennt man in Fachkreisen wohl Kurzschlussreaktion. Ausgelöst wohl von meinem ungestillten Drang nach Zuwendung. Nachdem ich zwanzigmal kreuz und quer durchs Zimmer gelatscht bin, mir dabei nur die nackten Füße am Teppich aufgescheuert habe, bleibe ich an der Wand stehen und schlage mir die Stirn daran ein. Hilft auch nicht das ungeschehen zu machen, was sich hier eben abgespielt hat. Toll, ganz toll. Ich hab mich zum Affen gemacht. Und Kaoru? Der lacht sich jetzt eins ins Fäustchen. Ja, alles wie immer. Er lehnt mich ab, spielt alles herunter, schubst mich immer wieder weg. So langsam hat er höchstwahrscheinlich Gefallen daran gefunden. Es ist ja auch einfach. Er macht es sich einfach, denn schließlich muss er ja nicht über richtig oder falsch entscheiden. Seiner Ansicht zufolge gibt es nicht mal die Frage, warum sollte es also ein Ja oder ein Nein geben? Ganz egal, ob ich genau eben dieses kleine "Ja" manchmal in seinen Augen sehen kann. Für ihn gibt es sie schlichtweg einfach nicht. Natürlich, um auf meine alter Leier zurückzukommen, setze ich keinen von uns unter Druck. Überzeugen will ich ihn nicht, ich möchte, dass er von allein zu mir kommt. Und vielleicht ist genau das der springende Punkt. Er kommt nicht von allein. Also mache ich Anspielungen. Was ich dann zurückkriege, ist eben das hier. Er lockt mich an und bamm, krieg ich wieder einen vor den Latz geknallt. Schon irgendwie ernüchternd. Voller Missmut schleppe ich mich eben wie immer allein unter die Dusche. Denke einfach nicht darüber nach, dass ich einmal mehr blindlings ins Fettnäpfchen gestolpert bin. Bin und bleibe eben ein blauäugiger Trottel. ~*~*~ Es ist kalt in der Lobby des Hotels. Die Eingangshalle ist gut klimatisiert. Das muss sie auch sein, denn es ist Hochsommer und so abartig heiß draußen, dass man glaubt zu verbrühen unter der sengenden Sonne. Hurra, Erderwärmung. Der Schweiß steht einem nach ein paar Sekunden schon auf der Stirn, man fühlt sich wie in der Sahara; und Gnade dem, der kein Deo hat. Oder dem, der neben einem im Tourbus sitzen muss, der kein Deo kennt. Trotzdem stört es mich zur Zeit, dass es hier so kühl ist. Frisch und zugig. Ich stehe auch viel zu dicht an der Tür, wo die Luftströme am schlimmsten sind. Warum warte ich mich hier jetzt dumm und dämlich? Da beeile ich mich schon so, dass ich fertig und gestriegelt bin und nur noch in den Bus hüpfen muss und dann passiert einfach nichts. Wie bestellt und nicht abgeholt stehe ich mir die Fußsohlen platt. Nicht mal die Haare hab ich mir geföhnt, weil mir sonst die Zeit davongelaufen wäre. Wehe, ich kriege jetzt für nichts und wieder nichts eine Erkältung. Die würde mir zu allem Überfluss gerade noch fehlen. Kyo trödelt natürlich mal wieder rum. Den interessiert es eh nicht, ob Kaoru wieder den Motzkeks raushängen lässt und sich erst mal minutenlang über Unpünktlichkeit auslässt und rummeckert wie eine angestochene Bergziege. Bin ja nur ich, der neben ihm sitzt. Beinahe hätte ich gesagt 'neben ihm sitzen muss', aber ich mag es ja gerne neben ihm zu sein. Und manchmal, wenn ich Glück habe und wir noch mitten in der Nacht unterwegs sind, da landet sein Kopf auch mal auf meiner Schulter. Leider brabbelt er dabei meistens nur irgendwas von Eiscreme, anstatt meinen Namen zu nuscheln. Dennoch kann ich mich dann nicht bewegen, bin nahezu erstarrt. Bis er wieder aufwacht, verschlafen dreinblickt und alles wieder so ist wie vorher. Als wäre nie was gewesen. Ich glaube, er kriegt das selber gar nicht mit, was er da eigentlich anstellt. Ich schweife schamlos ab. Während ich etwas verloren vor mich hindümple, frage ich mich, ob das heute noch mal was wird oder nicht. Meine Sachen befinden sich schon längst im Tourbus, so wie Toshiya und Shinya, die bereits vor mir nun endlos lang her erscheinenden Minuten ebenfalls in diesem verschwunden sind. Einzig und allein Kaoru habe ich seit dem brutalen Weckruf nicht mehr zu Gesicht bekommen. Erst dachte ich, er wäre schon im Bus, als ich meinen Koffer neben den seinen in den Stauraum des Fahrzeugs verfrachtet habe. Aber keine Spur von ihm. Zum Suchen bin ich doch viel zu faul und genau jetzt übermannt mich ein wenig die Müdigkeit, als ich etwas zu frösteln beginne. Ist wirklich recht frisch hier. Plötzlich höre ich jemanden meinen Namen rufen. Er schallt mehrmals laut durch die große Halle und reißt mich aus meinen ohnehin wirren Gedanken. Ich blicke auf und erspähe den verschollenen Kaoru an den Aufzügen wie er mit einer Hand seltsame winkende Bewegungen macht, die mir wohl signalisieren sollen, näher zu kommen. Seinen anderen Arm bewegt er überhaupt nicht. Heute Morgen, so hat mir Toshiya vorhin schon lang und breit erklärt, wäre Kaoru aufgewacht und konnte von der Schulter an seinen Arm nicht mehr spüren. Muss sich im Schlaf mal wieder völlig verknotet haben. Als er bei mir war, hat er sich jedoch nichts anmerken lassen. Oder vielleicht hab ich auch einfach nicht so sehr darauf geachtet, weil ich gerade etwas abgelenkt war. Wie auch immer. Weil ich ja brav bin, trotte ich rüber zu ihm. Hab eh nichts Besseres zu tun, insofern... "Was gibt's?", frage ich und schiebe die Hände tief in die Taschen meiner dunklen Jeans. "Trägst du meine Tasche?" "Eeh? Warum machst du's nicht selbst?" "Ich hab Angst, ich zerr mir was." Er sieht zu mir hoch. Die Spitze seines Schuhs wippt. Den Arm hält er immer noch komisch. Die Tätowierungen darauf sehen seltsam verschwommen aus. Oder sehe ich alles verschwommen? Liegt vielleicht an den Pollen. Scheiß Allergie. "Ich dachte, deinem Arm geht's soweit wieder gut." "Najaaa... aber sicher ist sicher." Schweigend betrachte ich ihn. Vielleicht hat er Recht. Ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Also kann ich meinen faulen Hintern theoretisch auch nach oben schleppen und ihm beim Tragen helfen, sonst dauert es wohl noch Tage bis wir abfahren. "Okay." "Danke." Das klingt, als hätte er es tatsächlich hervorwürgen müssen, weil es ihn so viel Überwindung gekostet hat mich um einen Gefallen zu bitten. Zur Zeit sind wir zwei nämlich eigentlich wieder auf Kriegspfad. Lange Geschichte und im Grunde macht es unsere ganze Situation auch nicht einfacher. Unser Gezanke ist vorgrundschulisch. Wir verhalten uns kindisch, das ist uns beiden klar. Aber diese Sticheleien lenken gut vom Wesentlichen ab, das nach wie vor immer noch wie eine dunkle Wolke über unseren Köpfen schwebt. Nachdem ich mit ihm in den Fahrstuhl eingestiegen bin und dort an den Etagenknöpfen auf die 5 gedrückt habe, lehne ich mich an die Wand und mustere ihn wieder. Diese hellen Jeans, die er heute wieder trägt, mochte ich schon immer sehr gern an ihm. Sie machen einen schönen Hintern. Aber leider wird der von dem viel zu großen Band T-shirt verdeckt, das er trägt. Die große Sonnenbrille klemmt am Halsausschnitt, seine Ketten fallen leicht darüber. Das dunkle Haar ist brav glatt gebürstet, umrahmt sein Gesicht sanft, glänzt dank seines Shampoos. Einen Schritt näher an ihn heran und ich könnte auch die Sorte anhand des süßen Duft bestimmen, der mir dann in die Nase steigen würde. Doch von hier aus rieche ich nur sein Aftershave. Aber auch das genügt bereits, um meine Sinne zu vernebeln. "Sag mal..." "Ja?" "Was hast du denn gestern noch nach dem Konzert so gemacht?" Es ist der verzweifelte Versuch eine Unterhaltung zu beginnen. Eine seiner Augenbrauen wandert in die Höhe, sein Blick streift mich nur flüchtig, während er mir halb zugewandt steht. "Bin sofort ins Bett." "Hmm." Natürlich nicht die Antwort, die ich hören wollte. Geschickt lässt er aus, dass er mindestens noch duschen war. Wie soll ich denn da was erfahren, wenn er mir nichts erzählt? Aber auch Pech, Kaoru, desto weniger du mir erzählst, desto mehr füllt meine Fantasie all die Lücken aus, die du mir lässt. Oder ist das etwa genau seine Absicht? Ich bin paranoid... Auf mehr Konversation legt er anscheinend weniger Wert. Und irgendwie bin ich mit meinen Gedanken auch immer noch ganz woanders. Doch werden sie glücklicherweise einmal mehr unterbrochen, als der Fahrstuhl kurz ruckelnd zum Stillstand kommt und sich die Türen mit einem klingenden Ton, der die Ankunft verkündet, öffnet. "Welches Zimmer ist deins?", frage ich knapp, während ich neben ihm herschreite, den Gang entlang. "57. Das da." Mit einem Finger deutet er auf die Tür am Ende des Korridors. Das ist ein ganzes Stück bis zum Fahrstuhl. So wie er sich seinen Arm hält, sieht es nicht danach aus, als ob er uns gleich die Tür aufmacht. Macht er dann aber doch. Endlich in Kaorus Hotelzimmer angelangt, schnappe ich mir gleich mal seine schwarze Reisetasche, die fertig gepackt neben dem Bett steht und darauf wartet abgeholt zu werden. Um nicht noch mehr Zeit zu vertrödeln, schwinge ich sie mir über meinen Arm und drohe direkt unter dem unerwarteten Gewicht zusammenzubrechen. "Scheiße, ist diese blöde Tasche schwer. Was hast du da drin? Steine?!" Nur mit Mühe schaffe ich es die Tür nach draußen wieder aufzustoßen, die Kaoru freundlicherweise wieder zugemacht hat und gerade keinen einzigen Finger mehr zu rühren scheint, und mich dann auch noch gleichzeitig hindurch zu quetschen mit der Horrortasche über meiner Schulter. Warum zum Teufel trag ich überhaupt Kaorus Klamotten? Bin ich ein Packesel? "Hättest mir ja wenigstens mal die Tür aufmachen können." "Oh Die, ich würde dir ja so gern helfen, aber ich hab grad wirklich überhaupt keine Lust." Da steht er und hält sich demonstrativ den Arm, nachdem er die Tür hinter uns ins Schloss hat fallen lassen. Ich hör wohl nicht recht! Wenigstens aus dem Weg gehen könnte er mir, wenn ich hier schon seinen Sklaven spiele. Ist ja schlimmer als sonst, wenn er sich wieder an mir rächen will, weil ich mich so dumm anstelle. Langsam beschleicht mich das Gefühl, dass er mich absichtlich provoziert. Kaoru marschiert vor mir her. Zum Glück hat er sich nicht eines seiner Stummelbeinchen gezerrt, sonst müsste ich ihn nun höchstwahrscheinlich ebenfalls tragen. Manno, ich will nicht hier sein und mir den Rücken kaputt machen, nur weil Kaoru mit Beton im Gepäck reisen muss. Viel lieber will ich jetzt mit ihm im Bus sitzen, ihm auf die Nerven gehen und mich noch mal entschuldigen für die Sache mit dem nächtlichen Anruf. Stattdessen spüre ich meine Muskeln, Sehnen und Knochen langsam absterben. Noch zwei Gänge, Die. Noch zwei. Gleich hast du es geschafft! Ächzend lasse ich die Tasche von meinem schmerzenden Schulterblatt vor mir auf den Boden gleiten. Ich bemerke seinen blöden Blick, der mich von der Seite her piekst. Gehässig oder schadenfroh oder einfach nur tierisch spöttisch. "Solltest vielleicht mal wieder ein bisschen Sport machen, hm?" Wie ein empörter Frosch plustere ich die Backen auf. "Waaas?" Doch zurück kommt nur ein Schulterzucken und dazu noch ein einseitiges Grinsen. Kampffussel im Klugscheißmodus. "Prahl halt mit deinen Wackelpudding-Oberarmen rum und drück ich dich nur vorm Tragen." Zu wummernd ist der Drang, als dass ich diese Worte runterschlucken könnte. Beinahe schon bissig verlassen sie meine Lippen. "Willst du etwa, dass ich mir die Schulter auskugel? Ich bin schließlich der Lead-Gitarrist." "Und was ist mit meiner Schulter? Ah ja, ich vergaß, es ist ja gar nicht so schlimm, wenn der Rhythmus-Gitarrist seinen Arm nicht mehr bewegen kann. Muss er ja nicht. Wozu auch?" "Hör auf mich anzugiften." "Ich gifte soviel rum wie ich will." "Ich hab dich um 'nen Gefallen gebeten und du hast eingewilligt zu helfen, also tu jetzt nicht so, als würde ich dich zu irgendwas zwingen." "Pff." "Selber pff." Wie die Grundschulkinder, sag ich doch. Innerhalb der nächsten Minute, in der wir uns per Aufzug nach unten befördern lassen, herrscht Stillschweigen. Nur Kaoru macht einen auf theatralisch, zupft an seinem Arm rum, hält ihn weiterhin so seltsam angewinkelt. Hat wohl Phantomschmerzen. Klingend öffnen sich wieder die Fahrstuhltüren, als wir im Erdgeschoss und im Lobbybereich ankommen. Ohne eine Sekunde verstreichen zu lassen, greift meine Hand wieder seine dämliche Tasche, schmeißt die Griffe zurück über meine Schulter. Mit unterschwelligem Missmut im Bauch stiefele ich hinaus. Schließlich bin ich kein Unmensch. Natürlich trage ich sie, selbst wenn ich dafür trotzdem noch 'nen hohlen Spruch reingedrückt bekomme. So ist das eben im kalten Krieg. Der Weg durch die Halle ist ebenfalls lang. Meine Schritte hallen von dem Marmor zurück in meine Ohren. Die Schnürsenkel meiner Chucks werden nur so hin und her geschleudert bei meinem flotten Tempo, von dem ich mir erhoffe ihn abzuhängen. Am Bus verbanne ich die Qual aus Stoff in den Stauraum, in dem es sich zur Zeit auch Kyo bequem gemacht hat. Keine Ahnung, ob der nun auf diese Weise mitreisen will. Mir auch egal. Ich wirrbel wieder herum, um meinen Hintern nun endlich in meinen gemütlichen Sitz in dem Bus zu pflanzen, der Gott sei Dank klimatisiert ist. Doch ich stoße mir meine Nase nur an der harten Stirn von Kaoru, der sich unbemerkt von hinten an mich rangeschlichen haben muss. Alte Schleichkatze. Ich hab mich beinahe zu Tode erschreckt. Was wird das? Genau die gleiche Frage stellt er im gleichen Moment auch mir. "Sag mal... Was wird das, wenn es fertig ist?" "Was?", werfe ich irritiert zurück, muss einen Schritt zurückweichen, damit meine Augen die seinen besser fixieren können. Hier draußen im grellen Licht der Morgensonne funkeln sie richtig. Er beugt sich zu mir. Wie ein Vater, der seinen Sohn verhört, der gerade etwas Schlimmes angestellt hat. "Hast du gestern die Geldbox im Tourbus offen gelassen?" Stück für Stück weiten sich meine Augen. "Was?" "Der ganze Bus meckert schon rum, weil die dumme Box heute Morgen offen stand. Wenn da jemand eingebrochen wäre, wäre jetzt unser ganzes Bargeld weg." Wovon redet er da so plötzlich? Irgendwie check ich's gerade total nicht. Da kommen Worte aus seinem Mund, aber ich versteh kein einziges von ihnen. "Warum... zum Teufel werde ich denn eigentlich immer verdächtigt, wenn hier irgendwas Bescheuertes passiert?" "Weil du es für gewöhnlich auch warst." "Na besten Dank auch für euer Vertrauen." "Die, ich will doch nur wissen, ob du gestern noch an der Box warst und vergessen hast sie wieder abzuschließen." "Was zum? Du beschuldigst mich doch hier bereits schon!" "Ja oder nein?" "..." Ich vergesse gerade, wo mir der Kopf steht. "Frag sie doch selbst!" Irgendwie bin ich heute leicht gereizt. "Oh, haha." Ich zerwühle mein Haar, damit meine Hände was zu tun haben und nicht rumhibbeln. Keine Ahnung, warum ich so aufgewühlt bin. Es muss an der Hitze liegen. Die Sonne knallt mir nur so auf den Schädel und macht mein Gehirn ganz matschig. "Hast du jetzt oder nicht?" Der Ton signalisiert mir, dass er mich nicht noch ein weiteres Mal so freundlich fragen wird. "Nein, verdammt noch mal. Für wie hohl haltet ihr mich eigentlich?!" "Für sehr hohl." "Ach, halt die Schnauze, Kyo." Der findet es wohl äußerst spannend da im offenen Laderaum des Busses zu sitzen und zu lauschen. Kaoru ignoriert es einfach gekonnt, dass unser Gespräch noch andere Zuhörer hat. "Okay. Dann war es wohl jemand anders." "Ich auf jeden Fall nicht. Ich war nicht mehr an der Box." "Na, wenn du das sagst...", muss Kyo wieder seinen Senf dazu geben. Ich werfe ihm einen grimmigen Blick zu. "Hast du eigentlich nichts Besseres zu tun?" Doch er schaut nur wieder weg, schaltet auf Durchzug, lässt die Frage unbeantwortet und ich lenke meine Aufmerksamkeit zurück auf Kaoru, der abermals an seiner Schulter und seinem Arm fummelt und nachdenklich wirkt. "Ist gut. Ich glaube dir. Wer auch immer es war, war bestimmt einfach nur komplett gedankenlos. Zum Glück ist ja nichts passiert." Geht es nur mir so oder ist diese Unterhaltung einfach nur belanglos? Und warum kann ich sein Verhalten im Moment überhaupt nicht deuten? Ist er jetzt immer noch böse auf mich oder gleichgültig oder in was für einer Stimmung? Warum hat er keine Anzeige auf der Stirn, wo drauf steht, wie er gerade drauf ist. Das wäre doch mal hilfreich. Die Erfindung überhaupt! "Nichtsdestotrotz, beeilt euch jetzt mal und ab in den Bus! Sonst fahren wir ohne euch los. Wir sind schon viel zu spät dran." Damit klatscht er in die Hände, so dass ich aufschrecke, und wendet sich ab. "Ah, Moment! Warte! Mir fällt da noch was ein. Ich hab mich vorhin so beeilt mit Fertigmachen und Duschen, dass ich gar nicht mehr daran gedacht habe. Ich muss noch mal kurz für kleine Tiger!" "Uuh..." Anzeige: Genervt. "Geh halt im Bus." Ich weiß, er findet es grässlich, wenn ich mich so pingelig anstelle und rumjammer, aber ich kann es nun mal nicht ändern. "Neiiin, ich geh da nicht so gern. Es ist so verdammt eng da drin und alles ruckelt so eklig während der Fahrt und dann muss ich mich doch wieder hinsetzen und darauf habe ich keine Lust, weil wenn ich mich nämlich nicht hinsetze, meckert mich Nora wieder an und ich hasse im Sitzen pinkeln, aber sie hält mir dann wieder stundenlange Vorträge über Hygiene und-" "Herr Gott nochmal, dann geh eben im Hotel. Aber leg 'nen Zahn zu, wir haben nicht ewig Zeit." ~*~*~ Ich mache wirklich so schnell wie ich kann. Weltmeister-Tempo, Sauseschritt. Selbst noch mit Händewaschsen lieg ich gut in der Zeit. Dass ich dabei alles - Spiegel, Ablage, Boden - mit Wasser vollgespritzt habe, interessiert ja hier keinen. Hände abtrocknen, Haare noch mal kurz checken - ja, sieht gut aus! - und dann wieder den ganzen langen Weg zurück. Jetzt aber Beine in die Hände genommen und lösgedüst mit Lichtgeschwindigkeit und Überschall! Ich flitze durch die hellen Gänge wie der Worldchampion im Sprint, schlittere durch die große Eingangshalle, sodass meine Schuhe sogar quietschten wie Kaorus Badespaß-Quietscheentchen, erreiche den Ausgang, stoße die schwere Tür nach draußen auf und... ... Wo ist der Bus? Zwei Schritte nach vorn an den Rand des Bürgersteigs. Ein Blick nach links die Straße herunter. Nichts. Ein Blick nach rechts Richtung Autobahn. Auch nichts. Kein Scheiß jetzt... WO IST DER VERDAMMTE ROTE BUS HIN, DER HIER NOCH VOR EINER GOTTVERDAMMTEN MINUTE STAND?! Sind die jetzt etwa ohne mich...? Fahren die einfach ohne Die los? Sind die nicht mehr ganz dicht? Haben die nicht mehr alle Gurken im Glas?! Das ist doch jetzt hier der falsche Film. Die können mich doch nicht einfach hier lassen! "Ich bin ja auch nur der verdammte Rhythmusgitarrist!!" ~*~*~ Kyo wandert durch den Bus. Die Straße ist schlecht und es ist wirklich abenteuerlich während der Fahrt herumzulaufen, doch der Durst treibt ihn zum Kühlschrank. Ein kühles Getränk an heißen Tagen ist wichtig. Cola soll es sein und so greift er direkt nach einer eisgekühlten Flasche aus der Minibar und schließt die Tür wieder. Während er sich zurück auf seinen Platz gegenüber von Kaoru setzt und den nun zischenden Schraubverschluss der eiskalten Flasche aufdreht, wandert eine seiner dunklen Augenbrauen in die Höhe und verschwindet unter dem blondierten Haar, das ihm ins Gesicht fällt. "Wo ist denn eigentlich Die?" Auch die zweite Augenbraue schraubt sich in die Höhe, als Kaoru urplötzlich zu husten beginnt und dabei die Augen auf die andere Seite rollt und sie irgendwo draußen an der vorbeifliegenden Landschaft festklebt. "Auf dem Klo." ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 2: Blaue Flecken. ------------------------- Kommentar: Um ganz ehrlich zu sein... so viele Nerven wie mich dieses Kapitel auch gekostet hat, ich mag es nicht besonders xD Ich glaube die Gedankengänge sind schwer nachvollziehbar, zu abgehackt und alles ist zu kuddelmuddelig, was es ja im Grunde auch sein soll, weil Die ja vollkommen durch den Wind ist, aber ach... ich weiß auch nicht. Was denkt ihr? Außerdem: Wer den Ursprung meines Lieblings-Witzes in diesem Kapitel herausfinden kann, der verdient meinen Respekt, ein Eis und 'nen Poké-Orden XD Ich weiß nicht, wie lange ich schon renne. Weiß nicht, wie weit ich bereits gelaufen bin, doch erscheint es mir meilenweit. Aber ich laufe weiter, obwohl ich schon längst nicht mehr kann, obwohl meine Füße mich schon längst nicht mehr tragen wollen, bei jedem Meter darauf hoffend irgendwo doch noch einen roten Bus zu erspähen, der gerade um irgendeine Ecke biegt oder an irgendeiner Ampel auf Grün wartet, oder auf irgendeinem Parkplatz auf mich wartet, die Türen schon für mich geöffnet und Kaoru steht davor, läuft auf mich zu, als er mich erkennt und empfängt mich mit Tränen in den Augen und sagt mir wie sehr er mich vermisst und sich Sorgen gemacht hat und... Okay, ich weiß. Hier wird's extrem unlogisch. Mein Herzschlag dröhnt laut in meinem surrenden Kopf, während meine Schritte immer schwankender werden. Ich kann nicht mehr, bin völlig am Ende. "Du solltest mehr Sport machen", spuken mir wieder diese elenden Worte im Gedächtnis rum. Gedanklich scheuche ich sie weg. Ich mache wahrlich genug Sport. Ich halte mich fit mit Sex, das muss reichen. Hat es schon immer. Trotzdem tut mir jedes Gefäß weh und das Blut sprudelt nur so durch meine Venen. Pudding-Beine verweigern ihren Dienst und ich breche endgültig entkräftet auf einer Bank zusammen, die glücklicherweise rein zufällig da ist und mich auffängt. Wenn nicht alles so schmerzen und meine verdammten Fußsohlen nicht so brennen würden, würde ich behaupten, ich wäre bereits tot. Kurz vorm Abnippeln trifft's aber wohl eher. Herzmassage wär jetzt was Feines. Einmal Wiederbelebung bitte, Herr Ober. Ich verliere meinen Verstand oder habe wohl einfach zu viel Humor. Meine Kehle brennt, dürstet nach einer kühlen Erfrischung. Und was ist eigentlich mit meiner Lunge los? Ach ja, zugeteert. In meiner Lunge ist eine Straße, haha. Uuuh... MANNOOOO. Ich will nach Hause in Dreigottesnamen. Wo zum Henker bin ich hier überhaupt? Erstmal das Gesicht vom Holz lösen, an dem es festgeklebt ist. Hechelnd von der Überanstrengung bei gefühlten +35°C im Schatten wie ein Irrer herumgelaufen zu sein, blinzele ich der grellen Vormittagssonne entgegen, schaue mich um, suche nach irgendwelchen Anhaltspunkten, die mir Auskunft geben könnten, wo ich mich befinde. Ausländische Schilder soll mal wer verstehen. Ich bin in mitten der Stadt und doch im Nirgendwo. Um mich herum überall Menschen und dennoch bin ich mutterseelenallein. Ich spüre das dringende Bedürfnis zu schreien. Aus Frust, aus Verzweiflung und Planlosigkeit. Wie man mich nur vergessen kann, ist mir immer noch schleierhaft. Es fällt doch auf, wenn ich fehle. Vermisst denn keiner eine quirlige Grinsekatze? Es will mir einfach nicht in den Schädel. Ich hab keine Lust mehr. Vielleicht bleibe ich jetzt einfach hier. Genau. Braucht mich anscheinend eh niemand, dann kann ich auch gleich bleiben, wo ich bin. Fange ein neues Leben an oder so. Aber ohne Kaoru kann ich nicht leben. Nicht mal daran denken will ich. Mit einem Ächzen rappel ich mich ganz von der Bank auf. Da ich hier, wie es scheint, warten kann, bis mich entweder die Sonne zu einem Häufchen Asche verbrannt hat oder irgendwann Geier über mir kreisen, beschließe ich eben das Einzige zu machen, was mir nun übrig bleibt. ~*~*~ Vier Stunden später. Völlig zerlumpt, durchgeschwitzt bis auf die Knochen und am Ende meiner körperlichen und geistigen Kräfte stehe ich vor unserer Crew vor unserem Hotel. Meine Nerven liegen blank, meine Finger zittern immer noch von der hellen Panik von vor einer Stunde und das Haar klebt mir im Gesicht, fühlt sich fettig und stumpf an, als ich es fortstreiche. Auch meine Stimme ist zittrig, klingt rau, raspelnd. Weinerlich blubbert nun alles aus meinem Mund hervor, während ich ein diabolisches Grinsen auf Kaorus Lippen erkennen kann, das mir jedoch ein Rätsel bleibt. "...und dann bin ich mit dem stickigen Linienbus... und dann hab ich mich verlaufen... und dann bin ich in die brechend volle S-Bahn und da haben mich dann irgendwelche Fans erkannt und dann... hab ich ein Taxi genommen und dann hab ich euch gesucht, aber nicht gefunden... dann bin ich getrampt, wurde beklaut, bin den Rest zu Fuß gerannt und... jetzt bin ich endlich hier..." "Warum hast du nicht einfach angerufen?" ". . ." ~*~*~ Ich habe mich kaum getraut, als Kaoru das gesagt hat, doch habe dennoch meine Hand vorsichtig in die enge Hosentasche geschoben, nur um mit den Fingerspitzen das warme Plastik zu berühren, das sich tatsächlich bereits den ganzen Tag dort befunden hat. Wozu hat man denn eigentlich ein Handy, wenn man es nicht benutzt?, frag ich mich selbst, würde mir am liebsten die Hand gegen die Stirn schlagen und will nur noch in dem Sitz der Bank versinken, während wir in dem Speisesaal unseres Hotels auf unser Mittagessen warten. Immerhin bin ich dazu noch rechtzeitig angekommen. Da der Bus im Stau feststeckte, bin ich sogar fast schneller gewesen, hätte ich mich nicht kurz vorher in der Straße geirrt. Erstmal eine rauchen jetzt. Ich hab arges Lungenbedürfnis nach den Stunden voller Entzug, weil ich die Packung, die ich mithatte schon nach einer Stunde aufgeraucht hatte. Neben mir auf der Eckbank sitzt Kyo, gegenüber Shinya, der seinen ganzen Stapel Lernbücher mitgeschleppt hat. Im Bus stolpere ich ständig über seinen Kram. Ja, es sind so viele Bücher. Zumindest sitzt er nicht wie dort mit Kopfhörern am Tisch und lauscht den Stimmen, die ihm auf Englisch irgendetwas vorsagen und er brabbelt es dann nachher nach. Scheint wohl sein einziger Weg zu sein, Ruhe vor dem ganzen Kindergartentheater zu haben. Kermit lernt Englisch. Ich lach später. Bin anderweitig beschäftigt - mit Rauchen und Zuhören. Kyo erzählt mir irgendwas von Kino und Star Wars und ich penn gleich weg. Vielleicht landet mein Gesicht ja gleich in der Vorspeise, weil mein Hals den Kopf vor lauter Überanstrengung nicht mehr halten kann. Sonst schlafe ich doch immer nur bei Kaorus Geblubber ein, wenn er sich mal wieder inhaltlich verliert, aber der ganze Tag fing schon so bescheuert an und ist nicht mal halb vorbei und... ich weiß gar nicht wie ich es heute Abend noch schaffen soll überhaupt meine Gitarre zu halten, geschweigedenn darauf zu spielen. Kaoru kann es sich erlauben auf der Bühne zu schlafen, aber ich... das geht nicht! Mir merkt man das doch sofort an, wenn ich geistig abwesend bin. Hätte ich bloß Geld gehabt, um die letzten paar Kilometer mit dem Taxi zu fahren, aber man musste mich ja mitten in der Stadt beklauen. Meine Füße fühlen sich so eklig taub an und sind das da an meinen Hacken etwa Blasen, die gegen den Schuh drücken? Ich drücke die Zigarette aus, die viel zu schnell zu Asche wurde, und knabber stattdessen an einem Stück trockenem Brot herum, höre Kyo nur mit halbem Ohr zu, was mir im Moment auch irgendwie leid tut, weil er so extatisch wirkt und ich nur nicke und hin und wieder monoton antworten kann. Auf die andere Seite des Tisches schielend erspähe ich Kaoru, der an seinem Getränk nippt und mit Nora redet. Keine Ahnung über was, mein Gehirn vernimmt in dem ganzen Gebrabbel um mich herum nur noch die Stimme, die mir grad was von Laserschwertern und Imperatoren erzählt. Mein Leben in diesen Augenblicken ist wie zu lang gebratenes Fleisch: Unglaublich zäh. Die Vorspeise kommt und trotz meines im Grunde gewaltigen Hungers stochere ich nur im Essen herum. Ich hätte gute Lust mich mit der Gabel zu erstechen. Aber ich will den anderen nicht den Appetit verderben. Ausgequetscht über meine abenteuerliche Reise haben sie mich noch nicht wirklich und es ist wohl eben genau das, was mich noch mehr wurmt als alles andere, dass sie diese Dreistigkeit besitzen und es einfach totschweigen, stattdessen über andere Belanglosigkeiten faseln. Ich werfe die Gabel in das Salatschüsselchen, stemme mich aus meiner halb liegenden Sitzposition zwischen den Bankwänden hoch und pfeffere es - meinen Missmut, meine Enttäuschung und Fassungslosigkeit - über die mangelnde Emphatie meiner sogenannten Freunde und Arbeitskollegen, einfach in die Runde, in der es schon beim Wurf meines Besteckes ganz still wird. "Hat mich denn keiner von euch vermisst?!" Betretenes Schweigen. Mehr nicht. Nur abgestandene Luft und zugeklebte Münder. "Ihr verfluchten Bastarde..." Kyos Hand landet auf meiner Schulter. "Die... Das war doch nur'n Versehen." "Kommt vor", zwitschert Toshiya und bröselt mit dem Brot alles auf dem Tisch voll. "Ja, kommt in den bestorganisiertesten Bands vor", spricht Kyo weiter. "Und letztlich biste ja auch wieder bei uns angekommen." "Aber mir hätte wer weiß was passieren können!" "Wenn du dein Handy benutzt hättest, nicht." Aua. Warum muss Kaoru das jetzt schon wieder einwerfen, dass es mich wie ein Stein an der Schläfe trifft? Jetzt hab ich keinen Bock mehr. Diskutiere lieber gar nicht erst, nehme es einfach so hin wie es ist. Ende gut, alles gut, oder wie oder was? Warum hat mich eigentlich keiner angerufen? DAS ist doch mal die Frage. Oder haben die es bis zum Schluss nicht gemerkt, dass ich fehle? Und die wollen treue Freunde sein? Für diesen Freundschaftsdienst bedanke ich mich recht herzlich. Pah. Ich durchbohre den Salat mit der Gabel, die ich wieder in den Händen halte und stopfe mir das Grünzeug in den Mund. Obwohl es nur aus Cellulose und Wasser besteht und nicht mal Vitamine enthält und man theoretischerweise auch Klopapier fressen könnte, das wohl ebenso viel Nährwert besitzt und vielleicht sogar noch besser schmeckt. Keinen Schimmer warum ich gerade daran denken muss. Die haben mich nicht mal in den Bus einsteigen sehen und sind trotzdem ohne mich losgefahren. "Jetzt stell dich nicht an wie in kleines Mädchen", hör ich Toshiyas Lachen von schräg gegenüber. "Wenn du nur endlich mal lernen würdest, wie man mit einem Mobilfunkgerät umgeht." Quatsch Kaoru halt noch nach dem Maul. Schleimer. "Och, Die. Jetzt zieh die Mundwinkel doch mal wieder nach oben!" Ich schlage seine Finger weg, die mir quer über den Tisch ins Gesicht grabbeln wollen. "Ach, setz dich doch auf'n Besen und zisch ab." Irgendwann ist auch mal gut. Auf 'ner toten Sau prügelt man nicht noch herum. Toshiya begreift das nicht. Stichelt öfters einfach weiter dazwischen. Der Hauptgang wird serviert und ich beginne zu stopfen. Kann das Essen nicht schnell vorbei sein? Ich will hier weg. Will ins Bett oder von mir aus auch 'ne Stadtrundfahrt machen, aber ich mag nicht länger mit der Crew, der Band auf einem engen Raum zusammen sein. Ich fühl mich unter ihren Blicken wie eine Spinne unterm Glas. Ja, hier sitzt der Volltrottel, schaut mal alle her. Bloß Kaoru straft mich mit Nichtachtung. Für etwas, an dem ich ganz offensichtlich nicht Schuld bin. Oder was weiß ich eigentlich welcher Schuh ihn heute schon wieder drückt. Kann ich denn in seinen Kopf gucken? Aber das hätte er wohl gern, dass ich jetzt den ganzen Tag mit herunterhängenden Mundwinkeln herumlaufe und mich von der Ungehobeltheit fertigmachen lasse, griesgrämig bleibe und somit nicht in Topform bin für meinen Job, damit er dann nach dem Konzert genau über das wieder motzen kann. Aber nichts da! Die Gedanken wurden augenblicklich aus meinem Gedächtnis gelöscht. Sie waren bösartig, könnten vielleicht mein System zum Zusammenbruch bringen. Zu gefährlich sie auf der Festplatte zu speichern. Ich schiebe das ganz einfach weit weg, die gesamten Geschehnisse dieses Tages, und mache Kaoru einen Strich durch die Rechnung, in dem ich auf den Knopf in meinem Kopf drücke, auf dem Don't worry, be happy steht. Ein großer Schluck vom Bier und ich schalte von verwundbar auf 'Ist mir doch egal, da steh ich drüber'-Modus um. Ja, ich kann das. Schutzschilde aktiviert. ~*~*~ Ich gebe zu, mein Hirn hat sich verabschiedet. Nein, ich will nichts hören, ich weiß ganz genau, dass ich kurz vor der Einlieferung in die Klapsmühle stehe. Deswegen habe ich mich, nachdem ich dem Mittagessen entkommen konnte, anders als sonst auch in meine Schlafkoje im Bus zurückgezogen, weil es direkt nach dem Essen auch schon zur Halle ging. Nichts mit duschen und so. Nach ein, zwei Stunden Schlaf sieht die Welt jetzt wieder ganz anders aus und ich kann wieder frei atmen, ohne paranoid zu werden oder mich von den Vorfällen am Morgen und Mittag verfolgen zu lassen. Da sich niemand dafür interessiert, ziehe ich mit dem einfach gleich. Alles ist normal, alles ist so wie immer, den Rest bilde ich mir ein. Mehr als eine Entschuldigung bekomme ich eben nicht. Immerhin etwas, ich gebe mich damit zufrieden. Wichtiger ist, dass ich fröhlich bin. Der späte Soundcheck, der folgt, tut mir gut. Es ist herrlich meine Gitarre aus den Verstärkern dröhnen zu hören. Es bringt mein Blut in Vorfreude auf die Show heute Abend zum Kochen. Ich spüre wie diese positive Energie mich durchflutet und mich mit einem Strahlen von der Bühne spazieren lässt, dass man heute Morgen noch im Keim erstickte. Obwohl ich immer noch leicht angematscht bin, bin ich guter Dinge. Nach dem Konzert werden sie mich zwar in den Bus tragen müssen, weil ich dann nicht mehr gehen kann vor Erschöpfung, aber was soll's? Hauptsache Spaß und den werde ich haben und mir nicht mehr nehmen lassen. Nicht mehr allzu lange bis zum Auftritt. Wie kriege ich die Zeit nun rum? Die Aufregung und nach all den Jahren auch immer noch das Lampenfieber treiben mich stets nach draußen, um mich abzulenken. Aber meine Kraft brauch ich für später. Im Kopf schwirren mir alle Melodien und Akkorde herum, die beim Abstellen der Gitarre nicht aus der Welt sind und begleiten mich, während ich mir die Bühne noch mal von unten, also aus Fansicht, anschaue. Schließlich will ich wissen, in was für einem Winkel man mich später beäugen wird. Die Halle hier gefällt mir, sie hat eine schnuckelige, kleine Bar im hinteren Teil, die sogar ganze Sitzecken mit sich bringt. Wirklich bequem sehen die Sofas jedoch nicht aus. Ich schau mich um. Ein paar Roadies sind hinter mir immer noch am Werkeln, Toshiya macht sich in dieser Sekunde mit unserem Übersetzter auf den Weg in die Innenstadt und so watschel ich mal hinüber zur Bar, um mir eine Erfrischung zu holen. Dabei fällt mein Augenmerk auf Kaoru, der seit dem Mittagessen kein weiteres Wort mit mir gewechselt hat. Sitzt da recht einsam in der gemütlichen Ecke an einem Tisch, die Ellenbogen auf die Holzplatte gestützt, schiebt mit einer Hand rastlos den Aschenbecher vor sich her, führt die Finger der andere Hand immer wieder zu den Lippen zurück, raucht geistesabwesend und starrt beinahe beschwörend sein Handy an, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Bereits von hier aus kann ich seine Nachdenklichkeit fast greifen. Schwer liegt sie in der Luft. Und die Falten, die sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet haben, springen mich schon durch den halben Raum an. Ich runzle meine sonst so glatte Stirn und blicke ihn für eine Weile nur an. Dieser Blick kommt mir bekannt vor... und doch ist er mir fremd. Sieht so aus, als könnte da jemand Ablenkung und Gesellschaft brauchen. Gut, dass genau jetzt der Barkeeper auf den Plan tritt und mich, wie ich hier an der Bar lehne, natürlich fragt, was ich denn haben möchte. Auf Englisch ordere ich zwei Flaschen Bier, lege ihm das Geld auf den Tresen und schreite hinüber zu Kaoru, der immer noch genauso finster dreinblickt. Braucht wohl wirklich ein bisschen Aufpeppelung, dabei bin ich doch eigentlich derjenige, den man hier peppeln müsste. Naja... Mit einem meiner schönsten und breitesten Lächeln pflanze ich mich gegenüber von dem alten Stinkstiefel und schiebe ihm eine Flasche vor die Nase. "Sag hallo zu den Bierflaschen~!" "Die sind doch nicht lebendig..." "Du auch nicht, aber wir reden jeden Tag." Oh Gott, seine Mundwinkel hängen ja noch tiefer als die Hosen von Kyo. Und meine Präsenz scheint das auch nicht gerade zu bessern. Doch ich lächel unablässig weiter, jedoch vorsichtshalber mit runtergeschraubter Leuchtkraft. "Was'n los?", frag ich erst einmal vorsichtig an. "Nichts." "Nichts sieht aber irgendwie anders aus." "Es ist aber wirklich nichts", murrt er nur und gibt seinem Glimmstängel den Gnadenstoß im Kippenfriedhof des Aschenbechers. Sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass ihn etwas ganz gehörig beschäftigt. Veralbern kann ich mich alleine. Aber wenn er meint... Ich nippe an meinem Bier und deute auf das, das ich ihm mitgebracht habe. "Probier mal. Ist eisgekühlt." "Mmmh." Ich höre das jetzt einfach mal als Danke, wenn er die Zähne schon nicht auseinander kriegt. Das Gesicht zu ihm gewandt, sehe ich ihm dabei zu, wie seine schmalen Finger das dunkle Glas der Flasche umfassen, es hochheben und zu seinem Mund führen. Warum meine Augen nun verfolgen wie er trinkt, weiß ich nicht. Auch nicht, warum mir plötzlich ganz anders wird, als ich ihn beobachte, wie er das kalte Bier hinunterschluckt und seine Kehle, sein Adamsapfel, sich dabei nahezu graziös bewegt. Er blinzelt mich an. Mist, er hat meinen Blick bemerkt. Noch offensichtlicher geht es auch gar nicht mehr, bin ich denn übergeschnappt? Warum beim Jupiter werd ich jetzt auch noch rot? Ist es schon so weit mit mir, dass ich nicht einmal mehr zusehen kann, wie er was trinkt? Reif für die Männer in den weißen Kitteln bin ich, sag ich doch! Mmmh, wie wohl Kaoru in nichts außer einem weißen Arztkittel aussehen würde...? NEIN. Schluss! Aus jetzt! Böse! Ganz böse, Die. Ab auf die stille Treppe mit dir! Für heute ist mein Pensum an Fettnäpfchen bereits bestens erfüllt; noch mehr Peinlichkeiten wären von fatalem Ausmaß. Ich quäle das Lächeln zurück auf mein Gesicht, doch es wirkt alles andere als überzeugend. Kaorus Mund verzieht sich, seine Stirn kräuselt sich gefährlich. Doch wider all meinen Erwartungen bleibt der fiese Spruch, mit dem ich so felsenfest gerechnet hatte, aus. Eigenartig. Irgendetwas stimmt doch wirklich nicht mit ihm. Aber seine dunklen Augen geben wenig Aufschluss darüber, was in seinem Kopf vorgeht. Ganz im Gegenteil, ein Blick in sie und das Verwirrungs-Labyrinth, in dem ich herumirre, wurde wieder um weitere tausend Quadratmeter erweitert. Hastig nippe ich an meinem Bier, habe den Blick von seinem fortgerissen. Vielleicht wäre es besser, ich lenke schnell ab. "Sag mal..." "Hm?" "Habt ihr mich denn wirklich nicht vermisst?" Ja, verdammt, ich komm einfach nicht über das Thema hinweg, obwohl ich das noch vorhin behauptet habe. Ich schaue wieder auf. Kaoru hat sich zurückgelehnt, schiebt unruhig wieder alle Gegenstände auf dem Tisch vor sich her. Etwas fragend erwidert er mein Blinzeln, obwohl er weiß, was ich meine. "Na, als ihr ohne mich losgefahren seid." "Beschäftigt dich, ne?" "Ja." "Sollte es aber nicht." "Tut es aber." Ein undefinierbares Seufzen verlässt seine Lippen und er stubst den Plastikaschenbecher mit dem Finger weg. Ich murmle vor mich hin, kann einfach nicht verbergen, dass es mir sehr wohl etwas ausmacht und ich mich nach wie vor fühle wie der Depp vom Dienst. Mal ganz zu schweigen von der Enttäuschung, die in mir wuchert wie Unkraut. "Ich weiß, ich bin nicht immer ganz einfach, aber ihr... ihr lasst mich einfach sitzen! Und herumirren wie eine verlorene Seele..." "Hey..." Kaorus Stimme hört sich merkwürdig einfühlsam an. Es kommt mir falsch vor. "Ich weiß wie du dich jetzt fühlst." "Woher willst du denn bitteschön wissen, wie ich mich fühle?!" Gott, das klang jetzt bitterer als es sollte. So wollte ich nicht klingen. Ich kann es richtig in seinem Gesicht sehen. Wie das Fünkchen Mitleid, was dort noch bis eben war, so grob ausgetreten wird von meinen Worten. "Richtig... Bis dann." Groß wie Teller werden meine Augen, als er plötzlich seinen Kram packt. Beinahe mit den Händen fassen, kann ich seine Laune, seine kalte Schulter, die mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagt. Und innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde ist sein Platz gegenüber von mir leer und er ist weg, raus aus der Halle. Was bleibt, ist nur noch seine Bierflasche vor mir. Aber so einfach kommt der mir nicht davon! Dieses Mal ist meine Reaktion schneller als die einer Schildkröte. Ich springe auf, reiße noch fast die Flaschen mit herunter, stürme aus der Halle und ihm nach. Am Ende des Ganges sehe ich ihn, wie er just in diesem Moment um die Ecke biegen will. "Hey!" Meine Stimme hallt laut von den posterbehangenen Wänden wider, meine profillosen Schuhe finden auf dem glatten Boden kaum Halt, beinahe wäre ich gegen den Pappaufsteller geknallt, der sich mir kampfeslustig in den Weg stellt. Glücklicherweise kriege ich die Kurve noch und schlittere daran vorbei. "Tut mir leid! Ich meinte das nicht so!" "Doch, du meintest es genau so", blafft er ohne sich umzudrehen oder anzuhalten. Also dackel ich weiter hinter ihm her. "Nein. Es... es ist mir nur so rausgerutscht." "Aha." "Ich hab halt 'nen total beschissenen Tag, da sag ich sowas Doofes schon mal. Es tut mir leid. Kaoru. Jetzt bleib doch mal stehen." "Ich hab keine Zeit." "Das stimmt doch gar nicht!" "Ja, aber ich würde jetzt gerne so tun, als ob." "Was ist das denn bitteschön für eine Logik?" "Meine Logik geht dich nichts an." "Geht sie sehr wohl! Ich mach mir schließlich Sorgen." "Oh Gott. Sorgen sollte man sich eher über alle machen, die was mit dir zu tun haben." "Hey!" "..." "Warte.... Da gehörst du doch auch zu!" "Ach, verdammt." "Kaoru!" "WAS?" Das Wort schallt laut durch die Gänge und klingelt noch in meinem Kopf nach. "...jetzt hör auf mich anzupflaumen und vor mir wegzurennen!" "Ich renn doch gar nicht weg!" "Nein, du spazierst nur in einem für dich äußerst ungewöhnlich schnellen Tempo durch irgendwelche seltsamen Flure in diesem Gebäude, in die wir weder hingehören noch hineindürfen." "..." "Kaoru, verdammt noch mal." Ich kann nichts dafür, dass ich so weinerlich klinge. "Ich bin eben so dumm. Es tut mir leid. Es ist aber auch so viel auf einmal. Mein Kopf ist so klein." Endlich bleibt er stehen. Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt. "Weißt du was?" "Was denn?" "Bei Ausredenplätzchen kannst du 'ne richtige Naschkatze sein." Ich plustere mich auf. "Waaas?" Das ist ja wohl die Härte! Da er wieder herumgewirbelt ist und erneut versucht abschwirren, setzte ich meine Verfolgung fort. Das lasse ich nicht auf mir sitzen! "Willst du damit etwa behauptet, ich würde mich rausreden?!" "Nein, wie könnte ich." "Ich rede mich nicht raus!" "Nie." "Das ist wirklich so!" "Natürlich." "Hör auf mich zu verspotten!" "Tut mir leid, ist angeboren." "Was zum?!" "Is' noch was?" Langsam bin ich es satt nur auf seinen Rücken und die schmalen Schultern zu starren, hinter ihm herzurennen mit meinen Blasen an den Füßen, während er unbeirrt einfach weiterstolziert und keine Anstalten macht mal anzuhalten. Hundertprozentig hat er sich eh schon längst verlaufen. "Ja. Könntest du vielleicht mal anhalten?" Ich stolpere ein paar Treppen hoch, lasse ihn nicht aus den Augen, als er eine Tür aufstößt. "Kein Anschluss unter dieser Nummer." "Das ist nicht lustig. Es tut mir wirklich leid." "Der gewünschte Gesprächspartner ist zur Zeit nicht erreichbar." "Es tut mir leeeheeeiiid! Soll ich es dir vielleicht noch aufschreiben und per Brieftaube zukommen lassen oder soll ich es dir vielleicht vortanzen?" "Ja, ja, ja. Ist gut jetzt. Ich hab's ja verstanden." "Das sagst du nur, weil hier 'ne Sackgasse ist." In der Tat endet der Weg genau hier, da wir mittlerweile auf dem Dach stehen und Kaoru an dem Geländer lehnt, nach dem alles nur noch bergab geht. Er dreht den Kopf, blickt über die Schulter, hinunter in die Tiefe, dann sieht er mich wieder an, hat ein Bein angewinkelt als würde er es jede Sekunde über das Geländer schwingen. Ich glotze ihn ungläubig an, als es in seinen Augen eigenartig zu blitzen beginnt und sein Haar so wild vom Wind zerzaust wird. "...das wagst du nicht." "Zwing mich nicht dazu." "Bist du jetzt völlig durchgeknallt?!" "...nein, ich wollte nur deine Reaktion und deinen belämmerten Gesichtsausdruck sehen." Mit zwei Schritten steht er vor mir und lächelt als wäre was in seinem Bier gewesen. Ich glotze nur weiter. "Jetzt guck nicht so, ich hab nur Spaß gemacht", sagt er achselzuckend und schnippst mir gegen die Stirn. "Außerdem... vergebe ich dir. War ja nichts. Musst dich nicht entschuldigen." "Und warum zum Teufel bist du dann weggerannt?" "Brauchte frische Luft." Als ob er gewusst hätte, wohin der Weg führt. Sein Verhalten ergibt keinen Sinn und das weiß er auch ganz genau. Benimmt sich so seltsam, dass mir vor lauter Verwirrung bald noch der Kopf platzt. Während ich noch versuche zu kapieren, was in seinem kranken Schädel vor sich geht, da lehnt er bereits wieder über dem Geländer und blickt hinab. Wo ich schon mal hier oben bin, tu ich es ihm einfach gleich, stelle mich neben ihn und atme tief durch. "Ist die Sache damit jetzt gegessen?" "Mmmh", brummt er und nickt, sieht nicht zu mir, sondern über die Gebäude. Von der Seite her mustere ich ihn, doch sein Blick bleibt unbeirrt überall nur nicht auf mich gerichtet. Ich ziehe die stickige, dünne Luft, die Kaoru als frisch bezeichnet, tief in meine Lungen ein. Es ist so schwül hier draußen. Mein Kopf sinkt auf meine Brust und ich hänge mich mit dem Oberkörper über das Geländer. So weit oben sind wir im Grunde dann doch nicht. Kaum drei, vier Stockwerke über dem Boden. Dennoch weht hier eine laue Brise die unser Haar in alle Richtungen verweht und die Sonne hat immer noch genug Strahlkraft, um auf der Haut zu brennen. Unter uns stehen sich die Fans die Beine in den Bauch. Man hört das Lachen und die gute Laune, die unten in der Schlange herrscht; sie steht widersprüchlich zu unser gedrückten Stimmung. Das erinnert mich wieder an den Auftritt, den ich in der Hektik vom Kaoru-Hinterherlaufen verdrängt habe. Warum lassen mich all die Gedanken bloß nicht mehr los? Es reicht doch, dass ich Kaorus Wort regelmäßig auf die Goldwaage legen muss, was höchstwahrscheinlich auch ein Grund meines geistigen Bankrottes ist... Es ist völlig aus dem Stehgreif gegriffen, aber je länger ich ihn von der Seite betrachte, umso mehr will ich ihn berühren. Sein Haar oder seine Wange streicheln. Einfach nur seine Hand greifen und sie fest halten... Eine so simple Berührung, die trotzdem wundervoll sein kann. Sie drückt Zusammengehörigkeit, Verbundenheit aus, wird oft als viel zu selbstverständlich hingenommen. Wie viel bedeutet ein flüchtiges Streifen von Haut an Haut? Oh Mann, ich werd kitschig. Unterdrückte Gefühle sind scheiße. "Uuuuh." Meine Hände halten sich an dem Stahl fest und ich lehne mich mit gespannten Armen nach hinten. Den Kopf in den Nacken gelegt starre ich in den blauen Himmel. Kaoru gibt einen fragenden Ton von sich und sieht zu mir. "Kopfweh", stöhne ich, lasse dabei den Kopf kreisen und weiß, dass das nur die halbe Wahrheit ist. "Lass uns wieder rein. Vielleicht besser so." Gib doch ruhig zu, dass es dir hier draußen zu stickig ist und du wirklich nur geflohen bist, denk ich und kaue auf meiner Lippe rum. Ich löse die Hände vom Geländer und folge ihm ohne weitere Einwände in Richtung Tür und Treppen. ~*~*~ Innerhalb weniger Zeit befinden wir uns in der Halle selbst. Um genauer zu sein hinter der Bühne. Nachdem ich mir eine Zigarette angezündet, in den Auftrittsklamotten gewühlt, und mich dann wieder an Kaorus Seite geklebt habe, taucht auch Kyo auf, der wohl bis gerade eben mit dem Ohr seine Matratze im Tourbus abgehorcht hat. "Gut geschlafen?", frage ich, als ich ihn sehe, beuge mich nach hinten und grinse zur Begrüßung. "Danke. Ausgezeichnet." "Schöne Träume gehabt?" Sieht ganz so aus, als würde ihm genau jetzt bei dieser Frage ein Schauer über den Rücken laufen. "Nein, ganz und gar nicht. Albträume. Ich habe davon geträumt, mir würde irgendwas Widerliches mein komplettes Gesicht abschlabbern und mir anschließend noch die Zunge in den Hals stecken." "Das hast du nicht geträumt. Das war bestimmt Die." "...was?!" Entsetzt starre ich Kaoru an, der sich gerade einen abgackert. "Blödmann." "Ich dachte, du stehst drauf." "Was?! Worauf?" "Auf Kerle." "Was? Ja. Nein. Irgendwie. Zur Hälfte. Ja. Ich mein NEIN. Doch nicht auf Kyo! Pfui Teufel!" "...danke gleichfalls." "Sorry, ist nicht persönlich gemeint." "Schon gut", winkt Kyo ab und gibt uns den 'Wie in der Anstalt hier'-Blick. Kaorus Gesicht wird derweil von einem fetten Grinsen nahezu gespalten. "Behaupten kannst du ja viel, aber kannst du auch beweisen, dass du es nicht doch warst?" Ich kann nur die Augen zurück in den Kopf rollen. "Ich war die ganze Zeit bei dir, du Pfosten." "Und davor?" "Du willst also Beweise, hm? Ich küsse nicht wie eine verdammte Bulldogge. Und wenn du mir das nicht glaubst, dann kann ich es dir ja mal gerne vorführen. Na, wie wär's?" "Nein danke, mir ist schon schlecht." War ja klar, dass das kommt. Ich hör gar nicht mehr hin. Lieber rauche ich meine Kippe auf und zerre dann das T-shirt, dass ich mir vorhin gekrallt habe, vom Bügel. Das alte Shirt muss weichen, fliegt auf den Wäscheberg zurück, das saubere, neue wird über meinen Kopf gestülpt und legt sich weich an meine Haut. So mag ich das. Unterdessen hat Kyo sich gesetzt, wippt vor mir auf dem Stuhl, kaut auf einer Kullihülle rum und malt den Leuten in dem Musikmagazin in seiner Hand Schnurrbärte, Narben und schwarze Zähne. Kaoru wiederum flattert mit unserer heutigen Setlist in den Finger herum, an deren Erstellung er dieses Mal nicht beteiligt war, da er durch Abwesenheit glänzte, die sonst eigentlich immer mir zuteil kommt. Wiederholt überfliegen seine Augen die gedruckten Linien, wie eine letzte Kontrolle. Seine hochgezogene Augenbraue spricht für sich. "Zugegeben", erhebt er seine Stimme wichtigtuerisch, während er bedeutungsvoll nichtssagend mit dem Blatt Papier vor meinem Gesicht rumfuchtelt. "Als ich von der Auswahl der Songs erfahren habe, hielt ich diese erst für Unfug, doch jetzt, wo ich darüber nachdacht habe, hat sich meine Meinung geändert..." Nun schrauben sich auch meine Brauen in die Höhe. "Ah ja, du hast also darüber nachgedacht." "Ja, würde ich mal mehr über dich nachdenken, würde ich jetzt nicht hier neben dir stehen." Ich verdrehe die Augen. "Ich weiß Bescheid, Kaoru. Ich verstehe jetzt!" "Das ist schön." Das Papier wandert etwas zerknittert vom Durchschütteln zurück an die Pinnwand, in die er Heftzwecken bohrt. Danach streicht er es glatt und wendet sich ab. "Willst du denn gar nicht wissen, was ich verstehe?" "Nein. Hauptsache, du verstehst überhaupt was. Das reicht mir schon." Ringrichter, Tiefschlag! Tiefschlag!! Doch da ist der Gong. Aus! Aus durch K.O. in der vierten Runde! Ich sehe ihm nach, wie er gemütlich davon dackelt, murmle dabei missmutig: "So ein Idiot." Hinter mir raschelt Kyo mit dem Magazin und spricht mit dem Plastik im Mund. "Naja. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich." "Ach, halt die Klappe." ~*~*~ Ekstase. Ich spiele mir die Seele aus dem Leib. Nicht ohne Grund nennt man Gitaristen auch Seitenquäler. Harte, schnelle Bässe, laut, wummernd. Dröhnende Gitarren, markdurchzitternd, diabolisch, mal sanft, mal kreischend, trommelfellzerfetztend. Schriller, herzzerfetzender Gesang, sehnsüchtig, hassdurchflutet, fragend. Hundertzwanzig Prozent von Anfang an. Wasser durchflutet mein Haar, sprenkelt mein Gesicht in einer kurzen Pause zwischen den Songs. Die einzelnen Tropfen laufen an meiner aufgeheizten Haut herunter. Ich glühe wie ein Ofen. Aus der zweiten Flasche nehme ich einen Schluck und werfe sie dann ins Publikum. Tief durchatmen und weiter geht's. Wie ein Schnellzug ohne Bremsen spiele ich hingebungsvoll, trotz meiner brennenden Knochen, die nur zusammenbrechen und meinen schlappen Körper zu Boden zwingen wollen. Doch ich erlaube es ihm nicht, zwinge mich selber über meine Grenze, nach der es nur noch steiler nach oben geht und nur noch mehr Adrenalin durch mich pumpt. Für die nächsten Minuten, in denen Rock durch meine Adern strömt. ~*~*~ Kaoru strahlt vor Freude. Hinter der Bühne, während der Pause ist sein Lächeln mitunter am Unantastbarsten. Er sprüht vor Energie. Wie wir alle. Wir sind high, gierig auf mehr, obwohl wir uns schon jetzt die Innereien aus dem Leib schwitzen und erste Anzeichen von Erschöpfung sich breit machen. Besonders, wenn sich eine Tour dem Höhepunkt zuneigt. Ich mag sein Lächeln. Es ist ein schüchterndes, herzerwärmendes Aufgehen einer Sonne, die mich zum leisen Schmelzen bringt. Und wenn ich neben ihm stehe, dann kann ich seine Ausstrahlung beinahe mit meinen Fingern berühren. Konzerte steigern sein Selbstbewusstsein ins Unermessliche. All die Fans, die ihm ihre Hände entgegenstrecken, sie lassen ihn zu Bestform auflaufen. Ihre gute Stimmung hebt ihn in höhere Sphäre, er thront über ihnen, spielt seine Spielchen, gibt sich präsent, doch unerreichbar. Er ist der König, sie liegen ihm zu Füßen. Nur für ein Fünkchen Aufmerksamkeit, einen Blick, ein kleines, flüchtig über seine Lippen huschendes Lächeln. Auf meiner Seite kriege ich das kaum mit. Blicke in seine Richtung zu werfen, dafür finde ich selten Zeit. Schließlich spielt sich bei mir im Prinzip genau das Gleiche ab und auf der Bühne muss ich arbeiten und den Teil meines Hirns mal für einen Moment abschalten, der immerzu an ihn denkt. Einen gelegentlichen Gang herüber zu ihm lasse ich mir dennoch nicht nehmen. Und in der Ekstase, im Rausch der Musik ist so einiges erlaubt - dort fühle ich mich ihm auf abstruse Weise nah. Ich habe mich schon immer gefragt, warum ich ausgerechnet für ihn so stark empfinde. Was macht ihn so besonders? Warum ist er anders als all die anderen? Es gibt so viele Menschen auf diesem Planeten und ich muss ausgerechnet dem Mann verfallen, der am entferntesten von allen ist. Dennoch scheint er so zum Greifen nah, als müsste ich nur meine Hand nach ihm ausstrecken. Doch ich greife durch ihn hindurch. Er ist so wenig zu fassen wie der Wind. Ich stehe an der Absperrung, er auf der Bühne. Ich bin nicht wie er. Er ist nicht wie ich. Und trotzdem sind wir uns in manchen Dingen so gleich, oft auch erschreckend ähnlich. Sind wie zwei Magneten, die sich anziehen und sich doch immer wieder abstoßen. Wir leben aneinander vorbei. Ich hasse es wie sehr ich ihn liebe. Ich hasse und liebe es, wenn mir jedes kleine, nette Wort, jeder liebe Blick, jedes noch so schmale, süße Lächeln Hoffnungen macht und mir letztlich nur vor Augen führt, wie sehr sich meine zerbrechlichen Glieder schon in seinem Spinnennetz verheddert haben. Kaoru tritt mit kleinen Schritten neben mich, zieht an seiner Pausenzigarette und bläst den Rauch durch gekräuselte Lippen wieder heraus. "Na, alles klar soweit?" Strahlende Schönheit, aah, ich bin geblendet von deinem Lächeln! Was für einen Scheiß denke ich hier eigentlich? "Jep, alles bestens. Und bei dir? Wie ist deine erste Reihe so?" "Vorzüglich." "Vorzüglich?" "Jaaa, deliziös", nickt er gespielt ernst und nimmt einen tiefen Zug. "Hochfein. Durchaus sehr delikat." Nun bringt er mich aber zum Lachen und ich verschlucke mich fast am Rauch meiner eigenen Zigarette. "Hast du etwa schon probiert?" "Mmh, später vielleicht. Und deine?" Um ehrlich zu sein, habe ich überhaupt nicht wirklich darauf geachtet. Man sieht wen an und eigentlich doch durch ihn durch, weil man mit den Gedanken so weit weg ist. Bei der Sache schon, aufs Spielen konzentriert, aber das war's auch schon. "Ausgesprochen gut heute Abend," erwidere ich breit lächelnd. Ich bin ein erbärmlicher Lügner. Das ist doppeldeutig. Ich kann schlecht lügen und ich bin grässlich, weil ich ihm so offen ins Gesicht lüge. Als ob es ihn jemals eifersüchtig machen würde, würde ich von jemand anderem schwärmen. Als ob er sich schlecht fühlen würde, weil ich glücklicher wirke als er. Oder lüge ich, weil ich nicht offen vor ihm zugeben kann, dass alles, woran ich denken kann, nur er ist? "Cool. Und sonst alles okay? Hältst du es noch durch oder bist du schon erschöpft?" Kaoru redet mit mir so normal, dass es mich stutzig macht. Hatte ich erwähnt, dass der Mann mich in den Wahnsinn treibt? Man weiß nie woran man in der nächsten Sekunde ist. "Noch ist alles relativ okay. Bin ein bisschen neben der Spur, aber the show must go on, nicht wahr?" "Richtige Einstellung!", nickt er bekräftigend mit der Kippe zwischen die Lippen geklemmt und klopft auf meine Schulter, so dass das Bier in meiner Flasche leicht zu schwappen beginnt. Gott, ich zieh mir lieber hundert doofe Sprüche rein, als eine solch widerliche Freundschaftsgeste. Kumpel, das drückt sie aus. Ich will mich ihr entziehen, doch ich verstecke meinen Ekel, damit ich ihn nicht wieder vor den Kopf stoße. Und ich verdränge, spiele sogar mit, indem ich ihn anlächle, das Klopfen mit einem Klaps auf seinen Rücken erwidere. Ich lüge nicht nur ihn, sondern auch mich selbst an. "Kommste dann? Ich glaub es geht schon weiter", sage ich, nehme die Kippe aus meinem Mund, deute auf Toshiya, der bester Laune an mir vorbei schreitet, zurück auf die Bühne. "Oh! Ja. Ich hab gepennt", gluckst Kaoru, greift den Aschenbecher und hält ihn danach auch mir hin. "Na dann! Auf geht's!" "Yo! Let's rock." Damit wende ich mich ab und trete mit dem Bier in meiner Hand auch den Rückweg auf die Bühne an, kehre an meinen Platz zurück. Jetzt werden meine Fans erstmal eine Extraportion Aufmerksamkeit von mir kriegen! Mein schönstes Lächeln werde ich ihnen schenken. Heute Nacht werde ich glänzen und strahlen, wundervoll, voller Leidenschaft sein für sie. Werde mir ihre Gesichter gut einprägen, damit ich selig einschlafen kann nach der Show und süße Träume von ihnen habe. Jaa... ...manchmal lieben wir jemanden so sehr, dass wir das Gefühl betäuben müssen, weil wir, wenn wir es zuließen, daran ersticken würden. ~*~*~ Regenschwere Wolken ziehen am Horizont auf. Kein gutes Zeichen... Aber ich bin nicht abergläubisch. Es ruckelt und rackelt im Bus auf dem Platz auf dem ich sitze. Leises Brummen und unverständliche Stimmen dringen an meine Ohren wie von weit her, wie durch Watte. Grell scheinen mir die letzten Strahlen der versinkenden Abendsonne in mein Gesicht, blenden meine vor Erschöpfung brennenden Augen. Ich blinzele schwach und ausgelaugt ins Licht, lasse meine Lider langsam zugleiten. Mein Kopf, zu schwer ihn aufrecht zu halten, fällt auf die Seite. Er fällt ganz sanft. Der warme, angenehme Duft von leicht verflogenem Aftershave kitzelt in meiner Nase, reizt meine langsam erlahmenden Sinne. Eine Schwere zerrt meine Augenlider weiter in die Tiefe, klebt sie fest zu. Mein Geist wird so träge und versinkt in dem Gefühl von Wärme und Müdigkeit durchströmt, überwältigt zu werden. Ich schlafe ein. Bei ihm. Bei Kaoru. Zum ersten Mal... Unschuldig und doch schuldig. So schuldig... Er drückt mich nicht weg. »If loving you is wrong... ...I don't want to be right.« ____________ To be (or not to be) continued? Kapitel 3: Wahnsinn für Anfänger. --------------------------------- Kommentar: Vor Kurzem sah ich eine Sketch-Show auf Comedy Central, in der ein Mann zum Arzt ging und um Hilfe bat. Egal, was er sagte, er wiederholte ständig seine Worte, nur eben in anderen Worten. (Als Beispiel: 'Dieser Raum ist so hell, sonnendurchflutet, blendend, strahlend.') Der Arzt stellte also fest: "Ja, Sie haben die äußerst gefährliche Thesaurus-Krankheit!" Und jetzt, liebe Kinder, wissen wir auch endlich woran die gute Peri leidet XDDDD So, was gibt's Wichtiges zu sagen? Eigentlich sollten Kapitel 3, 4 und 5 ursprünglich mal ein einziges werden. Irgendwie ist das jedoch mächtig in die Hose gegangen wie man sieht XD Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum es mit dem Update so lange gedauert hat. Ein weiterer ist, dass ich eine Zeit lang kein Internet hatte. Kapitel 3 bildet vielleicht auch eines der Schlüsselkapitel. Vor wenigen Sekunden bin ich aufgewacht. Mein Kopf fühlt sich immer noch schwer an und mein Nacken tut weh. Als ich die Augen öffne, blicke ich in einen dunklen Bus. Nur wenige Lichter brennen um mich herum. Kleine Lampen, versteckt im Mobiliar, spenden schwaches Licht. Dieser wundervolle Geruch, den ich roch, bevor ich ins Land der Träume hinab sank, liegt mir wieder sanft in der Nase. In meine Stirn ist dunkles Haar gefallen, das nicht meines ist. Gegen meinen Kopf lehnt ein anderer, liegt ruhend da. Zwischen das leise Brummen des Busses mischt sich flacher, regelmäßiger Atem. Kaoru... Nicht einen Zentimeter wage ich mich zu bewegen. Doch das Herz schlägt mir bis zum Hals, so sehr, dass ich glaube mein Brustkorb müsste doch zerspringen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Eine Hitze durchströmt mich von Kopf bis zu den Zehen. Meine Sicht ist ziemlich beschränkt und die Welt hängt schief. Die Plätze gegenüber sind leer, um uns kann ich niemanden sehen, aus dem hinteren Teil des Tourbusses dringt nur leises Schnarchen. Mein Herz beginnt noch schneller zu pochen. Gegen ihn gelehnt sitze ich hier und niemand ist da. Alleine. Ich rieche Kaorus Nähe, seine Wärme, wie sie in mich überfließt. Die Luft ist voll von ihm. Würde ich meinen Kopf nur ein bisschen drehen, würden meine Lippen sicherlich seinen Hals berühren. Ich traue mich nicht. Zittrig bewegt sich meine Hand wie von allein. Ich weiß nicht, was sie da macht. Ich hab die Beherrschung über meinen eigenen Körper verloren. Langsam, vorsichtig legt sie sich auf seinen Oberschenkel neben meinem. Ich kann die warme Haut durch den Stoff seiner Jeans fühlen. Mein Kopf glüht, mein Gehirn dreht sich im Kreis und was ist bloß mit dem Klumpen in meiner Brust los? Ich kann nicht mehr klar denken. Kaorus Nähe lähmt meine Zurückhaltung. Die Fingerspitzen beginnen sich selbstständig zu machen, krabbeln ein wenig höher, streicheln sacht und behutsam über sein Bein. Und dann... Ein Seufzen, kaum hörbar. Ein leises Brummen, unabstreitbar Kaorus Kehle entsprungen. Ich weiß nicht mehr wohin mit mir selbst. Das Bedürfnis ihn berühren zu wollen, ist so stark, meine Seele schreit förmlich danach. Hart beiße ich auf meine Unterlippe, die sich bereits die reinsten Märchen ausmalt welche Gegenden sie endlich besuchen könnte, würde ich dem schlummernden Ungeheuer in mir nachgeben. Auf meiner Zunge schmecke ich Blut; ich merke den Schmerz nicht mal. Oh Gott, ich kann das nicht. Er schläft, ist mir praktisch ausgeliefert, ich müsste nur... und dann... Hastig, aber vorsichtig, so dass ich ihn nicht aufwecke, ziehe ich meinen Kopf weg, befreie ich mich aus dieser Position in einem fast panischen Anfall. Mein Atem geht so schnell wie nach einem Tausend-Meter Sprint. Ich rassele wie Hui Buh. ...ganz schlechter Zeitpunkt für Kalauer, Die. Den Rücken gegen das Fenster gedrückt, versuche ich mich so klein wie möglich zu machen. Am liebsten möchte ich über ihn hinweg hüpfen. Geht aber nicht. Warum muss ich auch immer so auf meinen Fensterplatz bestehen?! Irgendwann musste mir das zum Verhängnis werden. Ganz offensichtlich wollen mir meine Finger nicht mehr gehorchen, denn sie zittern schon wieder gefährlich, weil ich mich so zurückhalten muss. Der Verlust seiner Wärme schmerzt. Nackt und leer fühlt sich mein Dasein an. Ich kann meine Augen nicht mehr von ihm abwenden... Von seinem leicht geöffneten Mund und den blassrosafarbenen Lippen, die im Schlaf noch verführerischer erscheinen. Wenn er schläft, sieht er so friedlich aus, ganz sanft, wenn sein Oberkörper sich stetig hebt und senkt. Und es fällt einem wirklich schwer sich nicht sofort an ihn kuscheln zu wollen. Was würde ich dafür geben mich wieder an ihn zu schmiegen... Im schwachen Licht glänzt sein dunkles Haar leicht. Nichts täte ich lieber, als meine Finger darin zu vergraben. Nichts täte ich lieber, als ihn zu berühren, näher zu rücken. Doch er würde mir die Hände abhaken, würde er es merken. Oder anschließend in Sagrotan baden. Die Frage bleibt, wie ich bei ihm einschlafen konnte. Und aus welchem Grund er es mir erlaubt hat. Haben wir irgendwas verändert? Irgendwas getan? Es sieht noch alles aus wie gestern und fühlt sich dennoch ganz anders an. Ich habe nicht bemerkt wie sich meine Hand an seine warme Wange gelegt hat. Doch plötzlich ist sie dort und die Fingerrücken streichen liebevoll über seine Haut. Er sollte sich nicht so gut anfühlen. Und um seine Lippen kräuselt sich ein verträumtes, schlafdurchsogenes Lächeln. Vielleicht bilde ich es mir nur ein... Bevor ich noch meine falschen Gedanken in die Tat umsetze, wende ich mich lieber ab und kehre ihm den Rücken zu. Kalt fühlt sich das Fenster an, als ich meine Stirn dagegen presse. Oder mein Kopf hat schlichtweg zu sehr geglüht. Schwer seufzend starre ich mein eigenes Spiegelbild an und müde Augen starren zurück. Zu wissen, dass Kaoru nur eine Handlänge von mir entfernt ist, versetzt mir Stiche. Diese Gedanken lassen mich nicht los. Besessenheit ist ein schleimiges Schwert. Es ist ein guter Diener, aber auch ein schlechter Herr. Ich fühle mich zerrissen. Zwischen Wunsch und Realität. Nichts ist ohne Risiko, doch heute bleibe ich feige. Draußen ziehen bunte Lichter von Autos an mir vorbei. Die dunkle Straße wirkt wie tiefes Wasser. Grelle Leuchtreklame in einer fremden Sprache beißt in meinen Augen, als der Bus langsam von der Autobahn auf eine Tankstelle fährt und schließlich an einer Tanksäule zum Stehen kommt. Es ruckelt. Ich reibe meine Nasenspitze an der Fensterscheibe. Vielleicht sollte ich aussteigen. Vorsichtig klettere ich über den schlafenden Kaoru, stehe dann im Gang und folge unverzüglich dem Busfahrer nach draußen. Die frische Luft erschlägt mich fast. So ganz anders als bei Tag - angenehm kühl und überhaupt nicht dünn. Immer wieder atme ich tief ein und aus, und spaziere vorm Bus herum, während ich unseren Fahrer beim Auftanken beobachte. Nebenbei wühle ich in meiner Hose nach meiner Packung Glimmstängel, zünde mir eine Zigarette an und genieße es mir mal etwas die Beine vertreten zu können, die mir so schwach erscheinen. Kein Wunder eigentlich, doch es erstaunt mich trotzdem. Schon etwas zugig hier draußen, aber die Abkühlung tut gut, bringt mich wenigstens auf andere Gedanken. Neben mir erscheint Kuroo, mein Roadie, der gerade aus dem Bus gestiegen ist. Ich war wohl doch nicht der Einzige, der wach war... Naja. Unsere Blicke treffen sich, während er auf mich zu kommt, sich neben mich stellt. "Alles klar? Siehst betrübt aus." Bin ich auch, aber das kann ich nicht sagen. "Bin nur etwas... kaputt." Wow, es gibt wahrlich kein Wort, das meinen Zustand besser beschreibt. Mit mehr als nur einer Bedeutung. "Hah, bin ich auch, aber mich fragt ja keiner." "Ich bin ja auch schließlich der Rockstar und nicht du!", lach ich und stoß ihm neckend mit dem Ellenbogen in die Seite. Das Kinn vorschiebend straft er mich mit einem finsteren Blick. "Werd ja nicht überheblich. Ohne mich wär nicht mal deine Gitarre gestimmt, geschweigedenn dein Zeug auf der Bühne." "Jaaa, weiß ich doch." "Und warum fragste mich nicht mal, wie es mir geht?" "Okay, okay." Ich ziehe an meiner Zigarette. "Wie geht es dir?" "Das geht dich nichts an." Ich schüttle den Kopf und lache. In diesem Moment bin ich dankbar für diesen Aufmunterungsversuch. Kuroos trockener Humor sorgt einmal mehr dafür, dass ich wenigstens für einen Moment von meinem Trübsal abgelenkt werde. "So, und jetzt hör auf so betrübt dreinzublicken. Morgen ist immerhin das letzte Konzert vor der Pause." Damit verpasst er mir einen Klaps auf den Hinterkopf und drückt ihn nach vorn. "Danach kannst du dann ausspannen. Darauf solltest du dich eigentlich freuen." "Tu ich auch!" "Tust du nicht. Du denkst schon wieder an tausend andere Sachen, nur nicht an das Schöne." "Mein Gehirn ist zu tot, um überhaupt irgendetwas zu denken." "Jaaah, das sagte Kaoru vor ein paar Stunden auch schon." "Verdammter Mistkerl." Reicht dem wohl nicht mir Gemeinheiten von Angesicht zu Angesicht ins Gesicht zu schmeißen. Nein, der liebe Herr muss es auch noch hinten rum tun. ...okay, das hörte sich jetzt wirklich zweideutig an. Ich pfeffere meine Kippe auf den Asphalt und trete sie aus. Und für alle, die nun meckern wollen, dass der Die an Tankstellen raucht, obwohl man das nicht darf, weil sonst was explodieren könnte: Unsinn, weder Benzin noch Autos können explodieren. Schön, wenn man solchen Schwachsinn aus Filmen dann auch noch glaubt. Mann, bin ich ein Streber und Besserwisser. Als unser Busfahrer dann zurückkommt und außerdem ein Schwarm hungriger Mücken beginnt seine Kreise um mich zu ziehen, beschließe ich zusammen mit Kuroo in den Tourbus zu flüchten, bevor mich noch eins von den Biestern sticht. Vielleicht auch noch mitten ins Gesicht, was noch die Härte wäre, denn dann müsste ich mit Maske den letzten Live spielen. Baah, ich will nicht dran denken. Ich gehör doch nicht zu Slipknot... HIRN. LEBE. Bitte. ~*~*~ Als ich an meinen Platz zurückgekehrt bin, klettere ich nicht wieder über Kaoru, um mich hinzusetzen. Sicher, ist sicher und so belege ich vorsichtshalber einen von den freien Sitzen gegenüber. Ich rücke ganz ans Fenster und bin relativ froh darüber, dass jetzt ein Tisch zwischen uns ist. Kuroo habe ich vorne neben dem Busfahrer gelassen, von hier aus kann ich ihn auch sehen, beziehungsweise im Auge behalten. Wer weiß, was der vorhin alles gesehen hat. Der Bus bewegt sich, wir fahren weiter. Ist jetzt ganz schön ungewohnt vorwärts zu fahren, wo ich doch sonst auf meinem Platz immer rückwärts fahre. Und wenn ich jetzt noch mal fahren sage, dann sind das ganz schön viele fahren in einem Absatz. Während mein Hauptrechner erneut einen Absturz erleidet, bleibt mein Blick auf dem tief schlummernden Kaoru hängen und lässt sich nicht mehr abwenden. Sein ganzer Körper wirkt so entspannt, er sieht aus wie ein Kater... Ich komme nicht drumherum mich zu fragen, was er wohl träumt. Sicher nicht von mir. Es sei denn, er hätte einen Albtraum. Aber dafür sieht er viel zu friedlich aus. Auf dem Tisch vor mir beginnt Kaorus Handy zu tanzen. Es vibriert leise, bewegt sich kaum merklich hin und her auf der Tischplatte und blinkt dabei unablässig in vielen verschiedenen Farben auf. Auf dem Display erscheint eine Anzeige. Eine neue Nachricht. Wer schreibt ihm um diese Uhrzeit noch eine SMS? Das ist wohl die Frage aller Fragen. Sie zu lösen wäre einfach. Nein, an so einen Unsinn sollte ich nicht einmal denken. Es gehört sich nicht Nachrichten von anderen Leuten zu lesen. Nicht auszudenken, was für fürchterliche Konsequenzen es nach sich ziehen würde. Das hilft mir natürlich auch nicht im Geringsten weiter. Und das Handy blinkt mich nur hämisch an. Wäre ich bloß nicht so verdammt neugierig. Aber ich wüsste wirklich gern... NEIN. Schluss jetzt. Kommt gar nicht in die Tüte. Toller Freund wäre ich, würde ich in Kaorus Privatleben rumrühren. Sowas macht man einfach nicht - außer vielleicht in einer Notsituation. In der wir uns aber augenmerklich nicht befinden. Ich hab's langsam satt. Ich plag und schlag mich hier mit meinen nicht kontrollierbaren Gedankengängen rum und schlittere dabei ständig am Abgrund entlang, während Meister Brummbart hier die Penntüte spielt. Ach, ich hasse das alles. Und warum bin ich jetzt schon wieder so weinerig mies gelaunt und neben der Spur? Bevor ich meinem Kopf erneut selbstständiges Denken erlaube, lehne ich ihn lieber wieder gegen das Fenster, klebe meine Augen zu und versuche mich gedanklich selbst in den Schlaf zu singen. Es ist wohl besser so. ~*~*~ Bei unserer späten Ankunft am Hotel in einer anderen Stadt gießt es in Strömen. Fast wäre ich aus dem Bus gestolpert, so rutschig sind die Stufen, nachdem schon so einige Schuhe über sie getrampelt sind und es leider auch bis in den Bus hinein regnet. Fluchend wage ich mich vor die Tür, meine kleine Tasche über die Schulter geworfen. Eiskalter Regen klatscht mir erbarmungslos ins Gesicht. Irgendwie ist das nicht fair. Als hätte sich das gesamte Universum gegen mich verschworen. Dabei hab ich doch wirklich kein Unrecht begangen oder war ein böser Junge. Regenschirme scheint es keine zugeben. Zumindest nicht zu der Zeit, wenn man sie braucht, denn Nora kommt erst dann mit einem an, als ich meinen Koffer bereits aus dem Stauraum des Busses gehievt habe und der Regen mich von Kopf bis zu den Zehen durchweicht hat. In der Empfangshalle schüttele ich mich und fröstele. Neben mir steht Toshiya, wippt unruhig mit seinem Fuß. Shinya sitzt auf seinem Koffer, ist im Halbschlaf. An dem Empfangstresen gibt es anscheinend Probleme, denn unser Übersetzter-Team diskutiert heftig mit dem Hotelpersonal. Nur Brocken von ihrem Englisch kommen bei mir an. No more check-ins. Too late. Nicht auch noch das. Seufzend lege ich den Kopf schief, sehe rüber zu unserer Crew, den Roadies, die nun ihre eigenen Sachen ins Hotel schleppen. Kyo hängt auf einem Stuhl, schart mit der Schuhspitze über den Boden. Kaoru, der neben ihm sitzt, tippt irgendwelche Nachrichten in sein Handy, wirkt dabei seltsam angespannt. Ich bin müde, klitschnass und kann nicht mehr stehen. Und ich weiß, dass es jedem meiner Bandmitglieder genauso geht. Umso erleichterter bin ich, als nach Minuten, die mir endlos vorkamen, schließlich alles geklärt ist, wir Schlüssel für unsere Hotelzimmer in die Hände gedrückt kriegen, mit einem Gute Nacht verabschiedet und entlassen werden. Nora blubbert irgendetwas davon, dass wir durch unsere Verspätung, verursacht durch Staus auf der Autobahn, nicht rechtzeitig hier waren, um unsere Reservierungen anzunehmen. Nun haben wir wohl umgebucht und kriegen andere Zimmer als vorgesehen. Es kann aber auch durchaus sein, dass ich das alles falsch verstanden habe, denn ich befinde mich ebenfalls bereits im Halbschlaf und kriege nur am Rande mit, wie alle wie Ameisen in andere Richtungen zu strömen scheinen. Wie auch immer. Der begossene Pudel kehrt nun in seine heutige Hundehütte ein. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Ich niese. Grummelnd ziehe ich meine so widerlich kribbelnde Nase hoch, bevor ich sie an meinem Handrücken abwische. ...was denn? Ich bin ein Mann, ich darf das. Die Schnürsenkel meiner durchnässten Schuhe aufbindend streife ich sie mir von den Füßen. Auch mein plitschnasses T-shirt muss weichen. Wieder muss ich niesen. Wenn ich jetzt auch noch krank werde, verzweifle ich. Voller Unlust schleppe ich mich tropfend ins Bad, pfeffere den Rest meiner nassen Klamotten einfach irgendwo auf den Boden, hinterlasse dabei bestimmt zahlreiche Pfützen, und schlurfe unter die Dusche. Bringen wir das schnell hinter uns. Sonst schlafe ich gleich noch im Stehen ein. Nass bin ich eigentlich schon genug, aber was soll's? Ein Schnelldurchlauf und ich bin fertig und dann darf ich in mein wohlverdientes Bettchen und vielleicht träume ich heute Nacht endlich mal nicht von Kaoru, so wie ich es mir vorgenommen hatte. ~*~*~ Mit einem lauten Schnarcher wache ich auf. Mal wieder eine Minute, bevor mein Wecker geschrillt hätte. Meine innere Uhr funktioniert zu gut. Ich wälze mich im Bett herum und wühle die Decke weg. An das, was ich geträumt habe, kann ich mich nicht erinnern, dafür aber an andere Dinge, die ich lieber wieder vergessen würde. Gibt es denn keine Maschine mit der man einfach alle Erinnerungen auslöschen kann? Ob es vielleicht möglich ist mich zu blitzdingsen? Mmh, ich frage mich, ob ich mich, wenn ich an Amnesie leiden würde, wieder in Kaoru verlieben würde. Und ich frage mich, ob das wirklich Fragen sind, die man sich schon vor dem Frühstück stellen sollte. Apropos Frühstück: Mir hängt der Magen bis in die Kniekehlen. Ich brauche schleunigst Brennstoff für meine müden Zellen. Also pelle ich mich aus dem Bett, ziehe mich an, wandere ins Bad und mache mich für den Tag so einigermaßen zurecht, bevor ich dann mein Hotelzimmer verlasse. Vielleicht könnte ich Kaoru abholen und mit ihm zusammen in den Frühstücksraum gehen? Klingt nach einer guten Idee. Zwei Gänge weiter vor seiner Tür angekommen, hebe ich die Hand, um bei ihm anzuklopfen, da läuft just in diesem Moment wie aus dem Nichts eine junge Frau in mich hinein, rammt mich quasi oder möglicherweise ist es auch schon ein Überrennen. Ich wanke, überrascht von dem Aufprall. Sie stößt so einige wie Flüche klingende Wörter aus, die ich nicht verstehe, während sie beinahe wehleidig das Gesicht verzieht und zu Boden starrt, auf dem nun einige abgerissene bunte Blütenblätter liegen. Meine Augenbraue schraubt sich in die Höhe und mein Blick fällt prompt auf den Blumenstrauß, den sie in der Hand hält und der unseren Zusammenprall abgefedert haben muss. "Sorry", sage ich und will mich gerade bücken, um die Blätter aufzuheben, da sprudelt es plötzlich aus ihrem Mund wie aus einem Wasserfall, der mich nur noch blöd gaffen lässt, anstatt ein Lächeln aufzulegen, um sie zu beschwichtigen; und nur den Bruchteil einer Sekunde später drückt sie mir den Strauß gegen die Brust, in die Hände, wedelt mit der eigenen Hand, lächelt seltsam und wirbelt dann schneller als ich blinzeln kann schon wieder herum. Ich verstehe nur noch Bahnhof, will ihren Arm packen, um sie aufzuhalten, doch kriege ich nicht mal mehr den Stoff ihrer blauen Bluse zufassen. "Nein, Stopp. Mo-Moment mal! Hey!" Doch sie dreht sich nicht mal mehr um, flitzt einfach auf und davon und verschwindet im Aufzug. Verdattert und verdutzt starre ich auf die Blumenpracht in meinen Händen, dann wieder auf die verschlossenen Aufzugtüren und letztlich auf die Zimmertür neben mir. Verdammtes ausländisches Hotelpersonal. Und was sollte diese ganze Aktion jetzt? Ich hab keine Blumen bestellt. Kaoru etwa? Was zum Teufel. Eher tätowiert sich Kyo das Wort "niedlich" auf die Stirn. Na, wie geil. Nun steh ich hier wie doof mit dem Blumenstrauß in der Hand. Mann, seh ich vielleicht bescheuert aus. Ich brauche nur noch eine grüne Schürze, dann sehe ich aus wie ein schwuler Florist. Weder das eine noch das andere bin ich. In diesem Augenblick kommt Kaoru frisch gestriegelt und in eine Duftwolke aus Aftershave gehüllt aus seinem Hotelzimmer stolziert und glotzt mich an wie einen überfahrenden Waschkessel. Umso mehr, als er das erblickt, was ich in meinen Händen halte. Erst dann bildet sich auf seinem Gesicht dieses typische Grinsen. "Das ist wirklich ein wunderschöner Blumenstrauß, Die. Den würde ich von jedem, außer dir, mit Freuden entgegen nehmen." "Haha, der ist nicht für dich", erwidere ich trocken und rolle mit den Augen, da mir sein Spott so früh am Morgen tierisch gegen den Strich geht. Sein Finger, sowie die rechte Augenbraue heben sich. "Und warum stehst du dann mit dem Unkraut vor meinem Zimmer?" "Erstens kann ich stehen, wo immer ich will, und zweitens ist das ist kein Unkraut, sondern ein mit Liebe gebundener Strauß mit wunderschönen weißen Gerbera und roten Rosen, also hör auf so herablassend über meinen Blumenstrauß zu sprechen." Ich schlage seine Finger weg, die gerade auf dem Weg waren der einen Rose die Blätter auszureißen. "Oh wow... du hörst dich fast an wie ein schwuler Florist." "Ach, hau doch ab." "Hast gute Laune, ich seh schon." "Ich sagte, hau ab." Ein langes Gesicht ziehend drücke ich ihn etwas weg. Doch er grinst nur weiter. Allen Anschein nach ist er heute gut drauf. "Na gut. Aber wäre es nicht viel besser, wir würde stattdessen zusammen zum Frühstück gehen?" Anschein bestätigt. Und ich kann nicht nein sagen. Wie könnte ich? Wenn er schon mal Gedanken lesen kann und nett ist. Doch, was mache ich jetzt mit den Blumen? Ich schaue den Gang entlang und als ich niemanden weit und breit erspähen kann, lege ich den Strauß einfach kurzerhand auf einem dieser edel wirkenden Tische ab, die immer in Gängen von teuren Hotels stehen. Als ob sich jemals irgendwer auf einen dieser dazugehörigen Stühle setzen würde, um dort Zeitung zu lesen. "Ja, wäre es!" Ich kann mir mein verräterisches Lächeln nicht verkneifen, während ich neben ihm her zum Aufzug schlendere, mein hohles Geblubber leider auch nicht. "Zumal ich mich, glaube ich, auf dem Weg zu deinem Zimmer ohnehin verlaufen habe." "Dann bin ich jetzt also quasi dein Reiseführer?" "Ja, so quasi." Verdammt, er hat mich doch nur gefragt, ob ich mit ihm zum Frühstück gehe und lächelt dabei ein bisschen, warum macht mein Herz so eine große Sache daraus und warum kann ich nicht mal das Strahlen auf meinem Gesicht unterdrücken? Ich mache mich noch lächerlich vor ihm, wenn ich weiter so fröhlich vor mich hin glitzere, als hätte er mich gefragt, ob ich ihn heiraten will. "Und? Hast du gut geschlafen?", frage ich und drücke auf den Knopf vom Aufzug. "Oh, ja. Bestens." Sein Lächeln ist so wunderschön. Ich wünschte, er würde es öfter zeigen. "Und du? War ja doch nicht mehr so viel Zeit zum Ausruhen, wenn ich mal drüber nachdenke." "Naja, ich hab im Bus schon mal etwas vorgepennt. Insofern... hat es mir dann doch irgendwie gereicht. Heh. Und morgen können wir ja wieder ausschlafen, ne?" "Das stimmt. Ich freu mich schon drauf." "Schon irgendwelche Pläne?" "Maaah, so dies und das halt." Wir steigen in den ankommenden Aufzug. Hinter uns schließen sich die Türen wieder. Ich setze gerade an unsere heitere Unterhaltung weiterzuführen, da sehe ich aus dem Augenwinkel ein buntes Farbengewirr rhythmisch aufblinken, das seinen Ursprung in der Brusttasche von Karous Hemd zu haben scheint und welches mich für einen Moment aus dem Konzept bringt. "Hey", sage ich und deute auf seinen Oberkörper. "Dein Handy leuchtet." "Oh!" Beinahe fiebrig vor Freude grabbelt er das kleine Ding aus der Tasche und drückt ein paar Tasten. Schweigend beobachte ich ihn und wie das freudige Lächeln auf seinen Lippen sich urplötzlich um 180Grad dreht. Es geschieht so schnell. Seine eben noch so positive Ausstrahlung verfinstert sich binnen Sekundenbruchteilen vollkommen. Allein der Anblick, wie seine Miene erfriert, jagt mir einen Schauer über den Rücken und ich schlucke schwer. "Alles okay?" Meine Frage kommt mir dumm vor, wenn ich ihn so betrachte und er im Moment augenscheinlich alles andere als okay ist. "Was? Ich... Nein. Alles in Ordnung." Die Art und Weise wie er den Kopf schüttelt, mich nur flüchtig ansieht und kurz darauf ein gezwungenes Lächeln über seine Lippen huscht, bereitet mir Sorgen. Sein Verhalten passt nicht in das Muster, dass er seit einigen Monaten strikt einhält und vor allem nicht zu seiner bis eben noch guten Laune. Er sieht besorgt aus. Ich könnte jetzt anfangen zu bohren und aus ihm rauszuquetschen, was los ist, aber damit würde ich ihm absolut keinen Gefallen tun. Kaoru redet für sein Leben gerne und über alles und jeden, gefragt und ungefragt. Ja, über alles, nur nicht über seine Gefühle. Okay, es gab mal eine Zeit, da haben wir über einander Probleme gesprochen und auch, wenn es hart auf hart kam, über Gefühle. Aber das ist Jahre her. Unsere Verbindung zu einander hat sich verändert. Wir waren nicht immer so zu einander. So eklig und aggressiv geladen. Wir waren mal richtig gute Freunde. Naja, sind wir immer noch - wäre da nicht diese Sache, versteht sich. Mein Kopf sagt mir, dass ich jetzt einfach meine Klappe halten sollte, doch ihn anzusehen tut so weh. Und weil ich es nicht ertragen kann ihn still leiden zu sehen, mache ich ganz einfach genau das, was er gestern auch getan hat: Ich klopfe ihm auf die Schulter. Es ist ein aufmunterndes 'Kopf-hoch'-Klopfen von Kumpel zu Kumpel. "Wenn du drüber reden willst", füge ich hinzu, bevor sich die Türen des Aufzugs dann öffnen. "...du weißt ja. Ich hör dir zu." Er erwidert mein schwaches Lächeln nur zaghaft, nickt aber. Und ich weiß nicht inwiefern ich eine Hilfe bin. Aber ganz egal wie er zur Zeit zu mir steht, ich sorge mich um ihn. Auch, wenn es beiweilen schwer ist zwischen den vielen garstigen Bemerkungen diesen Mann nicht zu verabscheuen. Doch Momente wie vor dem Blinken seines Handys sind eindeutig Indiz dafür, dass er im Grunde seines Herzens warmherzig ist, sanft, und er auch nett zu mir sein kann. Jetzt jedoch ist er wieder kühl und verhalten. Und wieder ganz der Kaoru, den ich nicht mag, der mir Kummer bereitet. ~*~*~ Was auch immer es ist, was Kaoru beschäftigt und ihm die Nerven raubt, es muss etwas Schlimmes sein. Oder zumindest etwas von ausgesprochener Wichtigkeit. Ich komme nicht dahinter. Selbst, dass ich ihn während des gesamten Frühstücks beschatte, bringt mir keine neuen Erkenntnisse. Er sitzt nicht in Gesprächsreichweite, wirkt immer noch unterkühlt. Alles, was ich weiß, ist, dass es irgendwas mit seinem Handy zu tun haben muss. Nahezu im Minutentakt missbraucht er das arme Stück nun und hakt hektisch Tastenkombinationen in es hinein. Nur wem schickt er all diese Nachrichten? Und weshalb? Ich kaue auf dem Löffel herum und drücke meine Handfläche gegen mein Kinn. Von der Seite werde auch ich beobachtet. Ist wohl doch so, dass Kyo ein Auge auf mich geworfen hat als wäre er meine Kindergärtnerin. "Das Schwein kann nichts dafür, dass sein Hals kürzer ist als der der Giraffe." "Häh?" Kyos Finger deutet in Richtung dicke Backen machenden Kaoru. "Das Schwein kann nichts dafür, dass sein Hals kürzer ist als der der Giraffe." Da ich mit beiden Beinen fest auf dem Schlauch stehe und nicht mal ansatzweise checke, was er mir damit sagen will, glotzte ich ihn einfach nur verstört an. Ein leicht genervter Ton fließt über Kyos Lippen. "Kaoru kann nichts dafür, dass er so ist, wie er ist. Vielleicht solltest du aufgeben." "Wie kommst du jetzt darauf? Ich versteh deinen Gedankengang nicht." "Du musst es nicht verstehen. Vertrau mir einfach. Es ist besser, du gibst auf." Stumm schaue ich ihn an. Kyo nippt an seinem gesüßten Kaffee. "Ganz schön viel verlangt. Einfach so aufgeben. Du bist lustig." Ich nehme den Löffel aus meinem Mund und lasse ihn zurück in meine kaum angerührte Kelloggsschale sinken - habe keinen Appetit. "Und das heißt nicht, dass ich dir nicht vertraue. Ich... zweifle nur an, was du da von mir verlangst." "Ich verlange nicht. Es ist nur ein Rat." "Und was veranlasst dich dazu mir Ratschläge zu erteilen?" "Ich dachte, es wäre vielleicht besser dich zu warnen." "Warnen? Wovor?" "Du musst nicht alles wissen. Sei nur gewarnt für den nächsten Wolkenzusammenbruch, der sich dort hinten bereits zusammenbraut." Mit einem Nicken lenkt er meinen Blick auf Kaoru, dessen Stirn sich im Moment besorgniserregend kräuselt. "Siehst du die bedrohlichen dunklen Wolken, wie sie sich immer höher türmen? Uuuww." "Hör auf mit dem Schwachsinn." Kyo hebt die Schultern und seufzt. "Glaub's mir oder glaub's mir nicht, Die. Ich erkenne ein Gewitter, wenn ich eins sehe." ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 4: Verschwörung des Universums. --------------------------------------- Kommentar: Ich merkte wieder einmal, wie sehr ich es verabscheue Dialoge mit mehr als drei Personen zu schreiben. Besonders, wenn es dann auch noch lustig sein soll. Beschreibungssätze bringen den Schlagabtausch ja bekanntlich auch schnell zum Erlahmen. Es ist wirklich sehr schwer. Nächstes Kapitel wird auch wieder besser, versprochen ;w; Und je mehr ich an dieser Fanfic schreibe, umso mehr bin ich dazu geneigt sie in 'Liebe macht doof' umzubetiteln XD Zugegeben, Kyos Voraussage hat mich nachdenklich gestimmt und auch für den Rest des Morgens habe ich seine Worte nicht mehr aus dem Kopf gekriegt. Genauso wenig wie Kaorus Gesichtsausdrücke, wann immer er eine Nachricht erhalten oder verschickt hat. Erst im Bus ist mir dann aufgefallen, an wen er mich erinnert. An einen Hund. Am Anfang hat er lautlos gewinselt, war geknickt und scheinbar verletzt. Dann fing er an zu knurren, fühlte sich wohl bedroht. Was auch immer in den Nachrichten stand, es kann nichts Erfreuliches gewesen sein. Viel mehr etwas, was ihn zutiefst kränkt und ihn dort angreift, wo es wirklich schmerzt. Dass Bellen und Zähnefletschen noch folgen wird, hat mir Kyo dann von der Seite zugenuschelt und mich beschlich das böse Gefühl, dass er damit Recht behalten sollte. Jetzt bei Soundcheck und Probe sind meine Gedanken immer noch ganz woanders. Es macht mich wahnsinnig nicht zu wissen, was da vor sich geht. Ich spüre unterschwellige Wut in Kaoru brodeln. Oder bilde ich mir das nur ein? Meinen Gedanken nachhängend spiele ich ein paar Akkorde auf meiner Gitarre und spüre, wie meine Augen immer wieder wie von selbst rüber zu Kaoru am anderen Ende der Bühne huschen. Unterschwellige Wut - ganz eindeutig. Er quält sein Instrument nahezu. Und damit meine ich nicht die Art, wie er die Töne aus seiner Gitarre rausholt, sondern wie brutal seine Finger über die Saiten schreddern. Da brodelt wirklich was in ihm, ich bin mir sicher. Leider habe ich keine Zeit, um weiter darüber nachzudenken, denn plötzlich herrscht Aufruhr in der Halle. Licht und Ton sind doch bereits perfekt eingestellt - was also soll das Durcheinander und warum hör ich dort hinten eben was von Zeitplanänderung? Ich dachte alles läuft soweit hervorragend. Leicht verwirrt beuge ich mich herüber zu Shinya, da er mir am nächsten ist. "Was is'n plötzlich los?" "Ich glaube, sie haben sich mit der Planung des Meet-and-Greets für heute vertan." "Ach, ist das heute?" Da sieht man mal wieder, dass ich eben doch nichts mitkriege, wenn ich ständig den Kopf woanders habe. Shinya nickt nur und wir beide sehen zu, wie unsere Roadies einer nach dem anderen hastig die Bühne verlässt, um noch irgendwelche längst überfälligen Vorbereitungen für besagtes Meet-and-Greet zu machen. Letzten Endes bleiben wir fast ganz alleine hier zurück. Nur noch die Band und der ausländische Mann da vorn, dessen Beruf und Tätigkeit mir gerade entfallen sind. Sogar die Leute, die unseren Merch managen und verkaufen, sind nirgends mehr zu sehen. "Naja, egal", höre ich Kaorus Stimme sich von rechts melden und Papier rascheln. "Spielen wir doch so lange schon mal ein paar Songs. Wir fangen nach Plan an mit... Repetition of hatred." Ich trete ein paar Schritte vom Drumkit weg und mache mich bereit, weil Shinya diesen Song auch gerne mal wie aus heiterem Himmel auf uns loslässt. Oder mein Gehör ist von der ständigen Beschallung einfach schon Matsch und ich höre das Einzählen nicht mehr. Egal. Es macht ba-dumm! und es geht los. Wie gut, dass dieser Song diesen Warm-up-Effekt hat und mich immer sofort in die Musik abtauchen lässt. Dann kann ich auch direkt Abgehen. Ohne Publikum macht das allerdings nur halb so viel Spaß. Wir sind bereits über die Hälfte des Songs hinaus und ich freue mich, denn gleich kommt meine Lieblingsstelle. Doch was ist denn nun los? Meine Gitarre... Der Ton verklingt auf einmal, schmiert lauthals kreischend ab. Hört sich fast an als würde man ihn abstechen. Mit einem letzten schrillen Röcheln, das mir in den Ohren wehtut, erstickt er vollkommen und nichts kommt mehr aus meinem Lautsprecher. Für den Bruchteil einer Sekunde starre ich meine Gitarre bloß an, habe keinen blassen Schimmer, was passiert ist. Durch das ohrenbetäubende schrille Geräusch aufgeweckt, hören auch die anderen auf zu spielen. Von der Seite glotzt Kaoru zu mir her. Reichlich genervt. "Was ist los? Spielst du jetzt nur noch halbe Songs, oder was?" "Sorry... Mir's kurzfristig das Talent ausgegangen", brumme ich im gleichen patzigen Ton zurück, habe mich bereits umgedreht und fummle an meinem Verstärker rum. Doch ich spüre seinen Blick immer noch in meinem Nacken kleben, wie er mich mit skeptischer Miene beäugt. Und schließlich steht er dann auch hinter mir, um sich dem Problem persönlich anzunehmen. Aber mit was für einem Gesicht dabei... "Okay, was ist passiert?", will er wissen und stemmt die Hände in die Hüften. Was seine brummbärtige Weise an dieser Stelle schon wieder zu bedeuten hat, steht jedoch in den Sternen. "Mein Verstärker hat sich grad verabschiedet", erkläre ich und hebe die Schultern. "Gerade eben?" "Jaah." "Zu viel Saft drauf?" "Weiß nicht. So wie immer eigentlich." "Seltsam." Mit diesem einen Wort signalisiert er mir, dass es ihn alles andere interessiert, denn da schreitet er auch schon von dannen. Und während er das tut, frage ich mich, ob - und wenn ja, dann was - ihn heute wieder gestochen hat oder ob dieses Ellenbogenverhalten schlichtweg etwas mit seinem Handygetippe zu tun hat. Aus ihm wird doch keiner mehr schlau. Meinen linken Arm hätte ich darauf verwettet, dass er nicht wieder zurückkommt, doch er hat nur seine Gitarre wegelegt und steht erneut neben mir, dreht entschlossen an ein paar Knöpfen. "Was genau ist denn passiert?" "Ich weiß nicht. Das Ding ist einfach ausgegangen. Bumm. Zacka. Tot." "Hast du dran rumgespielt?" "Nein." "Sicher?" "Jaaaha." Ich kann nichts dafür. Seine Art wie er mit mir redet und umspringt, veranlasst mich immer wieder dazu mit gleicher Münze zurückzuzahlen und das hört man an meiner genervten Stimme. Pflaumt er mich an, pflaum ich zurück. Ich hab da keine Hemmungen. Die Anwesenheit der Anderen stört mich nicht im Geringsten. Ich kann es nicht leiden, wenn er sich wie ein Gockel aufführt oder mich behandelt als wäre ich total beschränkt. "Aber trotzdem ist er jetzt kaputt?" "Hey, ich hab ihn nicht kaputt gemacht!" "War er denn richtig eingestellt?" "Alles so wie immer, hab ich doch eben schon gesagt." "Aber Verstärker geben nicht so einfach den Geist auf." "Ja, was weiß ich! Ich bin kein Verstärkerfachangestellter." "So ein Wort gibt es nicht." "Mir doch egal." "Wohl so egal wie dein Verstärker, den du jetzt geschrottet hast." "Boah, was soll das denn jetzt bitte heißen! Ich hab ihn nicht geschrottet!" "Dann hat ihn wohl der Sensenmann geholt." Ich rolle die Augen so sehr, dass es in meinen Augenhöhlen zu schmerzen beginnt und ich spüre bereits die Ader gefährlich an meiner Stirn zucken. "Oder vielleicht bist du ja auch einfach zu dumm, um deinen Verstärker richtig zu bedienen, wenn Kuroo ihn nicht für dich einstellt." "Was zum Teufel noch mal. Zu dumm?!" "Ja, zu dumm." "Du nennst mich dumm?" "Ja, ich nenne dich dumm. Einen dummen Idioten." "Du wagst es mich dumm zu nennen?!" "Ja, denn augenscheinlich bist du dumm." "Sag das noch mal!" "Dumm. Du bist dumm, dumm, dumm, dumm. DUMM." "...hey, wer von euch findet noch, dass das 'ne coole Melodie für 'nen neuen Song wäre?" "Halt die Schnauze, Toshiya!", blaffen Kaoru und ich zeitgleich und wirbeln sogar beinahe synchron herum, um ihn für sein Zwischengequatsche mit einem giftigen Blick zu strafen. Toshiya erwidert das Ganze nur mit einem beschwichtigenden Heben der Hände und grinst sich dabei eins. "Schon gut, schon gut." Ich schnaube wie ein Pferd und wende mich mit verschränkten Armen wieder Kaoru zu. "Ich bin nicht dumm", werf ich ihm an den Kopf wie ein Schimpfwort. "Meine Fans sagen, ich soll mir das nicht immer einreden lassen!" "Ja, aber die sind auch dumm", schallt es voller Hohn und mit einem halben selbstgefälligen Lachen wieder aus dem Wald heraus. Wütend meine Lippen auf einander pressend will ich zum vernichtenden Gegenschlag ausholen. Doch kann ich mich so eben noch selbst zurückhalten, bevor ich mich vergesse, schlucke meine eigne Gift und Galle wie einen harten Kieselstein wieder herunter und schnaube erneut, um der aufgestauten Wut zumindest somit Luft zu verschaffen. "Ach, geh doch weg." Ich hab keine Lust mehr mir diese behämmerten Sprüche reinzuziehen. Mich mit zwei Schritten abwendend packe ich meine kühle Wasserflasche und nehme erst mal einen großen Schluck, um meinen Kopf wieder abzukühlen. Jetzt im Augenblick ist es mir auch reichlich Laterne, ob man von mir denkt, ich wäre nun beleidigt oder eingeschnappt. Es ist nur zu Kaorus Besten, wenn ich einfach den Schnabel halte. Ich bin heute nicht in der Stimmung für Egokrieg. Und überhaupt kann ich dieses ganze Gezanke nicht mehr leiden. Warum ist Harmonie für uns eigentlich solch ein Fremdwort? Heute morgen war doch alles noch okay. Derweil nimmt Kaoru meinen Verstärker aufs Neue unter die Lupe; das sehe ich aus dem Augenwinkel, denn ansehen tu ich ihn jetzt nicht mehr. Zu gleichen Teilen grimmig sowie niedergeschlagen lehne ich an einem Lautsprecher und nuckel an der Flasche. "Na, das hast du ja wieder toll hingekriegt, Kaoru", stöhnt Kyo neben mir und lässt fassungslos seinen Kopf auf die Brust fallen. Kaoru jedoch zieht bloß die Nase hoch und dreht unbeirrt weiter an irgendwelchen Reglern. "Ich fühle mich nicht schuldig. Ich hab den Verstärker nicht kaputt gemacht." "Ich bezweifle, dass er den Verstärker meinte...", nuschelt Shinya hinterm Drumkit. "Pff, Die ist mir auch egal. Vielleicht sollte er sich endlich mal auf die Suche nach seinem verlorenen Verstand begeben." "He, das hab ich gehört!" Ich mag mich zwar abgewendet haben, und manchmal hör ich auch das Einzählen nicht, aber schwerhörig bin ich deswegen noch lange nicht. Ungewollt verspritze ich Wasser aus der Flasche, als ich meine Arme verschränke und damit beginne empört Löcher in die Luft zu starren. Neben mir wippt Kyo mit der Spitze seines Schuhs. "Wollt ihr euch jetzt wieder den ganzen Tag lang ignorieren oder nur biestige Sprüche an den Kopf werfen?" Es kommt kein Mucks, keine Antwort. Nur langes, klebriges Schweigen. "Urgh, mit euch hält man's nicht aus." "Das nenn mal einer gutes Arbeitsklima!", schmeißt Toshiya sein völlig unangebrachtes Scherzchen in die negativ geladene Runde und gluckst. "Was denn?", meckert Kaoru sofort. "Unser Arbeitsklima ist ausgezeichnet." Auf Kyos Gesicht macht sich langsam aber sicher die pure missmutige Verzweiflung breit. "Und ich fliege nachts auf 'nem Besen durch die Lüfte. Haha. Sei nicht so schnippisch. Es wäre vielleicht mal schön, wenn ihr zwei eure Sache ausbügeln könntet." "Ich hasse bügeln." Kaoru zieht eine Flunsch wie sieben Tage Regenwetter. "Ich bügel hier gar nichts aus", werfe ich mit Bestimmtheit ein und zeige auf den Waldschrat. "Ich muss mich nicht von diesem aufgeblasenen Gockel beleidigen lassen." Mittlerweile am Boden hockend schüttelt Toshiya den Kopf. "Oh Mann... Du hättest ihn echt nicht dumm nennen sollen." "Warum das denn? Das ist wie wenn man sagt der Himmel ist blau." Gleich. Gleich reicht es mir. In meinen Fingern juckt es gefährlich. Dieser Drang ihm die Gurgel umzudrehen. Aber auf der anderen Seite habe ich mich nicht so lange durch diese Woche gebissen, nur um am letzten Tag doch noch den Verstand zu verlieren, nur weil Kaoru wieder sonst was über die Leber gelaufen ist. Und überhaupt. Warum mache ich mich eigentlich ständig von seinen Stimmungsschwankungen abhängig? Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich einfach zu leicht reizbar oder verliere zu schnell das Gleichgewicht. Beinahe nervös spiele ich an meinen Haaren rum, kaue auf meiner Zunge, hantiere mit der Wasserflasche. So ungeschickt wie ich heute bin, schaffe ich es dann auch gleich diese aus meinen Händen flutschen zu lassen, so dass sie hinter den Lautsprecher plumpst. Zum Glück ist sie aus Plastik und hat einen dieser Twist-Off-Verschlüsse. Ich umrunde die Box und knie mich hin, um mir mein Wasser zurückzuangeln, da fällt mein Augenmerk plötzlich auf eine Horde in einander verschlungener Verlängerungskabel direkt vor mir. Und etwas ist seltsam. "He! Ich glaub, ich hab was gefunden!" "Deinen Verstand?!" Bei Kaorus Worten verziehe ich das Gesicht zu einer Grimasse. "...nein. Ich habe das rausgezogene Kabel von meinem Verstärker gefunden." Fassungslos schlägt Kyo die Hände vor den Kopf. "Oh Gott. Jetzt sag nicht, dass dem Ding die ganze Zeit nur der bekloppte Strom gefehlt hat. Sag's nicht!" "Dem Ding hat die ganze Zeit nur der Strom gefehlt", bestätigt Toshiya, der sich hinter mich gestohlen hat, nickend nach einem Luschern über meine Schulter. "Uuuh", ist der einzige Ton, der noch von Kyo kommt. "Muss wohl jemand vom hektisch rumlaufenden Staff drüber gestolpert sein", stelle ich fest und stecke den Stecker zurück in seine zugehörige Dose, bevor ich wieder hervorkrieche. Einmal ordentlich über meine Gitarre geschrebbelt, kann ich mir somit auch gleich das Checken des Verstärkers sparen. "Jep, geht wieder." "Na super. Können wir dann endlich weiterproben?" Als ich aufsehe, blicke ich direkt in Kaorus dunkle Augen, die mich mit einer Ungeduld anstieren, die ich beim besten Willen nicht nachvollziehen kann. Und außerdem... "Hm. Willst du dich nicht vorher bei mir entschuldigen?" "Es tut mir leid." Klingt eher gequält als sonderlich überzeugend. Aber man nimmt, was man kriegen kann. Ich bohre meinen Finger in seine Brust. "Ich hoffe für dich, dass du es auch so meinst." ~*~*~ Wir proben weiter, ohne anderweitige Unterbrechungen. Die Zeit vergeht schnell, Staff und alle anderen Leute kehren zu uns zurück, Normalität kehrt ein. Kaoru hat sich wieder einigermaßen beruhigt. Für's Erste. Macht sogar einen ganz ausgeglichenen Eindruck. Nur mir geht er aus dem Weg. Hier laufen inzwischenzeit wieder über 20 Leute herum und er meidet nur mich. Was auch immer. Ist mir doch egal. Soll er halt wegbleiben. Hab ich auch kein Problem mit. Wenn er meint. Ich brauche ihn nicht. Beim besten Willen, nein. Während einer kurzen Pause spiele ich frustriert irgendwas auf meiner Gitarre. Immer noch spielen meine Gedanken verrückt. Zu gern würde ich mir einfach mal mit nem Hammer gegen den Kopf zimmern. Vielleicht würde das ja irgendwas bringen. Schmerzen auf jeden Fall. Aber ich mag keine Schmerzen. Ich bin kein Masochist. Also 'ne schlechte Idee. Mein Handgelenk fühlt sich ganz locker an. Ich geb mir nicht mal Mühe wirklich irgendwelche Töne zu treffen. Ich schrebbel nur rum und erzeuge ziemlich viel unmelodischen Krach dabei. Wieder einmal kleben meine Augen auf Kaoru. Ich wünschte, er würde mal hersehen. Aber er hat mir den Rücken zugewandt und redet mit dem Soundmann, beachtet mich nicht. Naja, immerhin kann ich von hieraus seinen Hintern gut sehen. Wie war das? Immer das Positive sehen. Und wenn dieser wohlgeformte Po nicht wahrlich was Positives ist, dann weiß ich auch nicht. So beschäftigt mit den Händen am Rumfuchteln, bemerke ich fast gar nicht, wie mir mein Plek aus den Fingern glitscht und zu Boden fällt. Da Kaoru es ohnehin nicht für nötig befindet mir irgendwelche Beachtung zu schenken, bücke ich mich kurzerhand, um es mir zurückzuangeln. Doch wie es aussieht, hat sich dieses kleine, biestige Stück Plastik unter diesen Verstärker gestohlen und ich komme nicht dran, wenn ich meine Finger von hier aus unter ihn schiebe. Von meiner gebückten Haltung will ich mich nur vernünftig hinsetzen, mache dabei eine unüberlegte, falsche Bewegung und... Für den Bruchteil eine Sekunde bleibt mein Herz stehen. Dieses abartige Ratsch-Geräusch kam doch nicht etwa von mir... oder? Nein, kam es nicht. Kam es nicht, kam es nicht, kam es nicht, kam es nicht. Okay, mir das einzureden hilft auch nicht im Geringsten, denn abstreiten lässt sich die Tatsache nicht, dass mir gerade ganz offensichtlich die Hose gerissen ist. Scharf ziehe ich die Luft durch die Zähne ein, springe zurück auf die Beine und stolpere einen Schritt zurück. Mist. Was nun? Panisch lehne ich mit dem Rücken an meinem Verstärker. Neben mir, um mich herum: Leute, Techniker, Staff, Manager, Bandkollegen und nicht zu vergessen - direkt vor mir - eine Horde Fans, die dieses Meet-and-Greet-mal-einen-Blick-hinter-die-Kulissen-werfen-Dingenskirchen gewonnen haben und gerade jetzt in diesem Augenblick die Halle betreten, um uns zuzusehen. Und mir passiert das hier. Ausgerechnet heute. Das Universum hasst mich. Aber selbst Schuld, denke ich und fummle nervös an meinen Haaren rum. Warum bin ich auch so gehirnamputiert und bücke mich nach einem heruntergefallenen Plektrum, wo doch an meinem Mikroständer 30 weitere hängen?! "Scheiße." Vorsichtig und so tuend, als wäre alles bestens, damit niemand bemerkt wie blöd ich mich hier gerade anstelle, taste ich mit einer Hand den Riss in meiner Jeans ab. Er zieht sich von meinem Steißbein ziemlich weit herunter. Wenn ich gehe, könnte ich Gefahr laufen, dass man sieht welche Unterwäsche ich heute trage. Nämlich gar keine. "Verfluchte Scheiße noch mal!" Ich krieg Schweißausbrüche. Hilflos schnellt mein Augenpaar hin und her, sucht verzweifelt nach etwas oder jemandem, der mich rettet. Und da steht er dann, nur knappe 3 Meter von mir entfernt. Zufällig fällt auch ganz genau in dieser Sekunde das helle Licht eines Scheinwerfers auf seinen Körper und lässt ihn erstrahlen, und erscheinen wie eine helle Lichtgestalt. Oh, welch beißende Ironie des Wahnsinns...! Okay, vergessen wir, was ich noch vor einer Minute über Kaoru gesagt habe. Ich brauche ihn doch. Sehr sogar. Und ja, ich weiß, dass ich mir des Öfteren widerspreche. Aber wen zum Teufel interessiert das denn jetzt schon?! Ich habe eine gerissene Hose, verdammt, und mir wird langsam kalt am Allerwertesten! "Kaoru", zische ich und winke wie gestört mit der einen Hand. Er sieht mich genau an, genau in meine Augen. Für zwei Sekunden bohrt sich sein Blick durchdringend, fast peinigend in meinen Schädel. Dann schaut er einfach wieder stur wie ein Auerochse nach vorne. "Okay, was habe ich jetzt schon wieder getan und warum ignorierst du mich?" Keine Antwort. "Kaoru, Herr Gott nochmal. Was auch immer los ist, komm doch mal bitte her!" Es grenzt nahezu an ein Wunder, dass er sich wirklich dazu herablässt wenigstens wieder zu mir herüber zu schauen. Vom Fleck bewegt er sich dennoch keinen einzigen Mikromillimeter. Hat doch gerade eh nichts Besseres zu tun, der Soundmann hat sich doch längst wieder verdünnisiert und er steht alleine da. Also warum kommt er nicht einfach?! "Du musst schon herkommen." Unter schwerem, genervtem Stöhnen schreitet er endlich zu mir, so dass ich in einer angebrachten Lautstärke sprechen kann und nicht gleich die ganze Halle mitkriegt, dass mir die Hose gerissen ist. Jetzt, wo er aus dem grellen Licht getreten ist, erkenne ich auch, warum er nicht sofort zu mir gekommen ist. Während er näher tritt, schiebt er sein noch leuchtendes Handy in die hintere Hosentasche. Als er dann vor mir steht, verschränkt er die Arme. "Was'n?" "Kaoru... Hilfst du mir mal mit meiner Hose?" Ein Moment verstreicht, während seine Augenbraue unter dem dunklem Pony verschwindet. "...ich glaube, das gehört nicht zu meinem Arbeitsgebiet." Giftig fauche ich ihn an, greife nach seinem Shirt, zerre daran und schüttel ihn durch. "Das ist nicht lustig. Mir ist die verdammte Hose gerissen." Auf sein eben noch so versteinertes Gesicht stiehlt sich mit einem Mal ein hämisches Grinsen, das seine Gesichtszüge immer mehr zu einer fiesen, schadenfrohen Fratze verzieht. "Hör auf damit!", zische ich wieder, dieses mal leicht aggressiv wie auch verzweifelt. "Du musst mir helfen." "Muss ich? Ertrag's wie'n Mann. Wo's'n das Problem?" "Das Problem ist", sage ich und schnaufe wie eine Kuh, mit ebenso geweiteten hervortretenden Augäpfeln, "dass unter meiner Hose nichts ist." "Na, das is' doch nix Neues. Weiß doch jeder, dassu keinen Hintern hast." Ich weiß nicht, was mich im Augenblick mehr nervt: Dass er mich verspottet, unkooperativ ist oder dass seine Sprache absolut flöten gegangen zu sein scheint. "Es geht hier aber nicht um meinen Hintern. Ich trage nichts drunter. Verstanden?" Doch er hebt nur leicht angewidert die Schultern. "Selbst Schuld, würd ich da ma' sagen." "Das hilft mir auch nicht weiter." Ich zapple vor ihm rum. Immer noch kralle ich meine Finger tief in sein Shirt, aus Angst vielleicht, er könnte die Flucht ergreifen und mich hier zurücklassen. Schließlich stehe ich nicht nur sprichwörtlich mit dem Rücken zur Wand. "Jetzt hilf mir doch! Ich komme mir auch so schon unheimlich blöd vor. Ich brauch keine Predigten oder sonst was. Erspar mir das einfach und hilf mir. Bitte." "Und was hab ich davon?" "Ich kauf dir 'n Eis." "Netter Versuch." "Ich mach einen Monat lang deine Hausaufgaben." "Hm." "Mensch, Kaoru!" Mittlerweile wütend zerre ich an seinem T-Shirt. "Jetzt sei nicht so verbohrt und hilf mir endlich, oder...!" "Oder was?" Ich ziehe ihn zu mir und stiere ihn an. "...oder ich küsse dich hier in aller Öffentlichkeit vor deinen Fans." "...okay, was soll ich machen?" Die Augen rollend denke ich Geht doch. und sage dann: "Im Bus... da liegt ein großer, langer Pulli in meiner Schlafkoje. Könntest du mir den bringen?" "Warum hole ich dir nicht einfach eine Hose?" "Soll ich mich hier etwa auf der Bühne umziehen, du Leuchte?!" "Mmh, hast auch wieder Recht." Damit löse ich meinen Klammergriff um den Stoff wieder, um mit dem Finger auf ihn zu deuten, sehe dabei aber nicht besonders bedrohlich aus. "Aber wehe, du kommst nicht wieder! Ich verlass mich auf dich." "Maaaah." "Kaoru!" "Ja, ja." Ich seufze und sehe ihn von der Bühne dackeln. Hinter einer Ecke verschwindet er schließlich. Langsam wandert mein Blick in der Halle umher. Ob die Fans da vorne auf den Rängen etwas von meinem peinlichen Missgeschick mitbekommen haben? Sie sehen im Augenblick genau in meine Richtung. Für sie quäle ich ein Lächeln auf meine Lippen und versuche nicht allzu auffällig hier herumzustehen. Sind das da etwa Digital-Kameras, die sie hochhalten und auf uns auf der Bühne richten? Vielleicht haben sie ja auch Fotos davon gemacht wie mir die Hose gerissen ist? Oh mein Gott. Das... Nein. Daran will ich gar nicht denken. Da kommt meine allseits bekannte Paranoia wieder hoch. Ich will nicht heute Nacht hinter meinem Rücken in irgendwelchen Fan-Blogs besprochen, belächelt und verspottet werden! Nein. Nein! Nicht auszudenken, was für Gerüchte das nach sich ziehen würde. Obwohl es vielleicht auch etwas Gutes hätte, denn man würde mir nach dem Betrachten meines blanken Hinterns vielleicht endlich mal neue Unterwäsche schicken, die ich, nur so nebenbei bemerkt, auch wirklich gebrauchen könnte... Nach dem heutigen Tag werde ich mir ohnehin sicherheitsweise immer gleich zwei Paar anziehen, soviel sei mal klargestellt. Ich schweife ab. Eigentlich wollte ich doch nochmal über Kaorus Benehmen nachdenken. Vielleicht auch besser jetzt, wenn ich mich damit ablenke und nicht mehr an die jungen Mädchen da oben denken muss, die mich beäugen wie eine Zirkusattraktion. Diese Zeit, in der Kaoru nun weg ist, gibt mir natürlich auf der anderen Seite auch wieder viel zu viel Gelegenheit zum Denken. Das ist nicht gut. Aber trotzdem. Mir drängt sich die Frage auf, was los ist zwischen uns. Streiten wir schon wieder oder immer noch? Warum artet immer jedes Gespräch in gegenseitiges Anpflaumen aus? Machen wir uns denn wirklich gegenseitig so krank und verrückt? Und das sind nur die drei Fragen, die am fetzigsten Rambazamba in meinem Kopf tanzen. Ja, da ist ein dunkler Fleck auf unserer Sonne, doch ich komme mir immer mehr so vor, als stünde ich im tiefsten Wald und wüsste trotz der ganzen Bäume nicht recht, wo ich mich gerade befinde. Kaoru benimmt sich jeden Tag anders. Wie ein heimtückisches Virus formiert er sich ständig neu, wird schneller resistent gegen meinen Impfstoff, als ich neuen entwickeln kann. Stets ist er mir zwei Schachzüge voraus. Hinzu kommt, dass mir meine eigene Unsicherheit stets ein Bein zustellen pflegt. Außerdem fällt es mir schwer mein Temperament unter Kontrolle zu halten, wenn man so widerborstig ist wie er. Wahrscheinlich gehört das hier alles zu dem verdammten Gewitter von dem Kyo sich den Bart fusselig geredet hat. Vielleicht hat auch dieses Ganze wenigstens etwas Gutes: Nach einem heftigen Wolkenbruch folgt bekanntlich strahlender Sonnenschein. Es wäre mir aber wesentlich lieber, würde zuerst Sicherheit für meinen Po folgen. Diese Fans stieren mich nach wie vor an als wäre ich Frischfleisch. Normalerweise gefallen mir diese Blicke - heute sind sie mir mehr als nur unheimlich in Anbetracht der Tatsachen. Es vergehen einige Minuten, die mir schier endlos erscheinen und in denen ich bange nicht aufzufallen. Zwischendurch zupfe ich ein wenig an den Saiten und drücke mich wieder näher an meinen Verstärker. Dann, endlich, taucht Kaoru auf. Noch froher als ich es sonst immer bin, bin ich nun über sein Erscheinen. Sofort stelle ich mein Instrument beiseite, als er auf mich zukommt und dann neben mir steht. "Da." Achtlos wirft er mir den großen, schwarzen Pulli über den Kopf und wendet sich ab. "Danke", nuschel ich durch den dicken Stoff, der mein Gesicht nun bedeckt; dann zerre ich ihn runter und suche nach dem Schildchen, damit ich ihn auch ja richtig rum anziehe. Während ich den Pullover überstreife und zufrieden feststelle, dass er meinen Po wirklich komplett bedeckt, beobachte ich Kaoru aus dem Augenwinkel. Den Kopf etwas gesenkt, steht er nah neben mir, das dunkle Haar fällt ihm leicht kraus ins Gesicht, wobei seine Finger das Handy, in das er unablässig Worte tippt, vor seinen Brustkorb halten. Der helle Schein des erleuchteten Displays erzeugt Glanz auf seinen Haarsträhnen. Selbst, wenn er so wie jetzt unruhig an seiner Unterlippe kaut, sieht er dennoch wunderschön aus. Das Gefühl in meiner Brust lässt sich nicht mit bloßen Worten beschreiben. Sie scheinen mir zu schwach, um auszudrücken, was in mir vorgeht, wenn ich ihn betrachte. Etwas ist falsch. Etwas fühlt sich so unglaublich falsch an, dass es das Blut in meinen Venen verstopft. Ich weiß nicht was. Und doch kann ich es in der Luft um uns herum schmecken, so deutlich, ich könnte es fast greifen, mit den Fingerspitzen berühren. "Kaoru...?" "Hm?" Durch das Haar vor seinen Augen späht er flüchtig zu mir herüber. "Wem schreibst du?" "Familienangelegenheit." Als hätte ich wirklich geglaubt, die Antwort würde nun über seine Lippen fließen und all das Befremdliche dieser Empfindung in mir fortwaschen. Was versuche ich mir hier nur immer wieder vorzugaukeln? Familienangelegenheit - das kann doch wirklich alles mögliche bedeuten. Ich will nicht weiterbohren. Das liegt mir nicht und ich will ihn auch nicht belästigen. Das eine Wort hat schon ausgereicht, um mir unmissverständlich klar zu machen, dass es mich einen feuchten Kehricht angeht. Knapp, kurz, sachlich. Steck deine Nase woanders rein. Selbst in diesem dicken Pulli wird mir plötzlich unsagbar kalt, es fröstelt mich am ganzen Körper. Doch ich habe nicht die Zeit dazu zu frieren, denn nach nur wenigen Augenblicken ist unsere Pause bereits wieder vorbei. Mit einem Gesicht wie Blaubart persönlich schaltet Kaoru sein Handy aus und steckt es weg. Danach wirft er einen Blick zu mir und dann zu seinem Roadie, der soeben angedackelt kommt und ihm seine Gitarre in die Hände drücken will. Da Kuroo gerade zu beschäftigt damit ist mit unseren Roadie-Damen rumzuschäkern, greife ich mir meine vorhin abgelegte Gitarre selbst. Ohne ein weiteres Wort verkrümmelt sich Kaoru zurück auf seine Seite der Bühne. Lässt mich mal wieder einfach so stehen. Naja, was soll's? Wie war das noch? Es wird selten besser, aber je öfter es passiert, desto weniger tut es weh. Genau... Ohne einen weiteren Gedanken an ihn, gehe auch ich wieder in Position und warte, bis alles soweit ist und Shinya den nächsten Song einzählt. ~*~*~ Der Rest der Probe geht relativ einwandfrei über die Bühne, alle Songs meisterte ich fast fehlerlos, und es gibt keine weiteren Vorkommnisse, so dass ich mich nun getrost zurückziehen kann. Ich schleppe mich trotzdem irgendwie gebeutelt rüber in den Backstage-Bereich. Ich brauche schleunigstens etwas, das den Inhalt meines Schädels reanimiert. Kaffeeblut, ja genau. Aber selbst diese verfluchte Kaffeemaschine will mir heute nicht gehorchen und sprüht mir erstmal die heiße Flüßigkeit quer über meine unersetzbaren Finger. Aufjaulend ziehe ich meine Hand zurück und lecke mit schmerzverzogenem Gesicht über die Stellen auf meiner Hand, die ich mir verbrannt habe. So ein verdammter Mist aber auch. Scheint fast so, als wolle mir das Universum etwas sagen. Ein Wink mit dem Zaunpfahl. Doch ich komme einfach nicht drauf. Mir klebt ein Brett vor dem Kopf. Oder vielleicht auch gleich der komplette Zaun...? Ergibt das, was ich sage überhaupt irgendeinen tieferen Sinn oder ist das, was aus meinem Mund sprudelt wie ein reißender Wasserfall vielleicht nur sinnlos aneinander gereihte Worte, die nur vorgeben letztlich irgendetwas Bewegendes ergeben zu wollen, was im Grunde jedoch auch nichts Weiteres ist, als der verzweifelte Versuch eines vereinsamten Individuums sich davon abzulenken, dass es langsam, aber totsicher seinen Verstand verliert? Ungefähr so wie ich jetzt denke, muss es in Kaorus Kopf aussehen. Es läuft mir eiskalt den Rücken runter. Beim zweiten Versuch schaffe ich es dann doch Kaffee in den kleinen Pappbecher laufen zu lassen. Vorsichtig nippe ich daran und merke beim ersten Schluck wie es meinen Geist belebt. Ah, das hab ich jetzt gebraucht. "Du hast wirklich hässliche Sachen zu ihm gesagt." "Na und? Es musste ja auch schließlich zu ihm passen." Vom Flur her höre ich Toshiyas und Kaorus Stimmen an meine Ohren dringen. Ich blicke auf und horche, trete dabei näher zur Tür, um einen Blick hinaus zu werfen. Allerdings komme ich nicht sonderlich weit, denn plötzlich erstarre ich noch mitten in der Bewegung zur Salzsäule. "Mich persönlich interessiert es auch nicht, wo er seinen Schwanz hinsteckt, solange er nicht in mir ist und er seine Gitarre nicht damit spielt." Toll, jetzt hab ich mir vor lauter Schreck auch noch die Schnute am heißen Kaffee verbrüht. Und nicht nur das. Wie ein heißer Blitz treffen mich diese harten Worte, schlagen grausam und brennend in mein Gehirn ein. Meint er mich? Meint Kaoru mich?! Er kann nur mich meinen, es gibt keinen anderen Gitarristen neben mir. Aber wie kommt er darauf so etwas zu sagen? Die werden doch wohl nicht... Lästern die da etwa über mich? Den Rücken gegen die Wand neben der Tür gepresst, das Herz aufgeregt bis zum Hals schlagend, spitze ich die Ohren. Lauschend steh ich einfach nur da. Das ist doch nun ein Scherz, oder? Ich weiß, wie Kaoru über die Sache mit uns denkt, aber dass er sowas von sich geben muss, hinter meinem Rücken... Doch sie reden nicht mehr weiter oder zumindest höre ich sie nicht mehr, bis mir auffällt, dass die Kaffeemaschine neben mir so laut brodelt und kocht, dass ich kein Wort mehr verstehen kann. Hart beiße ich mir auf die Unterlippe. Wenn er wirklich mich damit meint... Aber hinter meinem Rücken? Es ist immer noch Kaoru. Kaoru macht sowas nicht. Nein. Hilfe, ich will nicht, dass meine Gedanken sich wieder selbstständig machen. Das ist nicht fair. Verdammt. Mir fällt dieses blöde Sprichwort wieder ein. Der Lauscher an der Wand hört seine eig'ne Schand. Aber... Er meint nicht mich. Ich bin mir sicher. Er kann nicht mich damit meinen. Weil... weil... DARUM HALT. Eins und eins ist zwei und Kaoru lästert nicht. Das ist eben so. Ist es doch, oder...? ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 5: Das Gegenteil von gut, ist gut gemeint. -------------------------------------------------- Kommentar: Diesesmal fällt der Kommentar etwas länger aus. Zu viele Gedanken in meinem Kopf. Zu allererst: Herzlich Willkommen zu meinem Out Of Character Kapitel! XD Oder so ähnlich. Mäh, ich mag es nicht Beschreibungssätze in fetzige Dialoge einbauen zu müssen. Erwähnte ich das nicht bereits im vorherigen Kapitel? Egal. Ich mag es nicht. Also hab ich es mir dieses Mal bei einigen Stellen gespart. Sinn ergibt es immer noch, denk ich. ...hoffe ich XD; Und dann muss ich sagen, dass Kapitel 5 und 6 im Grunde als ein Kapitel geplant waren, aber es dehnt sich immer alles so in die Lääängeee. Was noch? Ach ja. Es belustigt mich ungemein irgendwie... ich hatte viele Dinge für dieses Kapitel schon vor Monaten vorgeschrieben und auch einige der Dinge aufgeschrieben, die ich für die nächsten Kapitel vorgesehen habe. Für dieses eben ein Meet-and-Greet für die Fans und was machten Dir en grey nun auf ihrer Tour durch Nordamerika? Richtig, sie machten Meet-and-Greets. Ich kann hellsehen. Ich wusste es schon immer. Dieses Mal bin ich übrigens auch sehr zufrieden mit mir selbst! Was lässt sich nun aber wirklich über #5 sagen? Es ist ein seltsames Kapitel mit einem Die, der langsam, aber sicher und zurecht, komplett seinen Verstand verliert. Das reicht als Zusammenfassung. In diesem Sinne viel Spaß beim Lesen! ; Es gibt Tage, da steht man einfach mit dem völlig falschen Fuß auf. Wirklich alles scheint komplett schiefzugehen und jede noch so kleine Kleinigkeit kann zu dem schweren Tropfen werden, der das Fass zum Überlaufen bringt. Heute scheint einer dieser Tage zu sein. Nach dem ganzen Dilemma bei den Proben heute Mit- und Nachmittag, folgt nun das von den Fans lang ersehnte Meet-and-Greet. Auch ich freue mich schon darauf. Es ist ein kleiner Lichtblick. Ein gewisser Jemand neben mir jedoch sehnt sich bereits, bevor es angefangen hat, nach dem Ende und schmiedet leise Fluchtpläne vor sich hin. Doch es gibt heute kein Entkommen für Kyo, denn wir sind vertraglich gebunden und das hier ist Pflichtprogramm für uns. Für mich eher weniger, denn wie erwähnt, fiebere ich dem Ganzen entgegen. Mein mit Füßen getretenes Ego braucht einen Putsch und das hier kommt mir sehr gelegen. Noch jemand scheint heute partout keine Nerven für Händeschütteln, Sachen signieren, Fotos machen und Dauergrinsen zu haben: Kaoru natürlich. Während ich mir einen Doughnut mit roter Glasur und bunten Streuseln in den Mund stopfe, verfolge ich ganz genau jeden seiner Schritt. Nebenbei schlürfe ich meinen Kaffee, an dem ich mich erst vor ein paar Minuten unglücklich verbrannt habe. Die kurze Pause um etwas zu essen und zu trinken, ist beinahe vorbei, langsam werden wir uns bereit machen müssen, um in den für das Meet-and-Greet vorgesehenen Raum zu wechseln. Ich beäuge Kaoru nachdenklich von der Seite. Unruhig bewegen sich seine Finger auf seinen tätowierten Armen, die er vor der Brust verschränkt hat, fast so, als würden sie einer Melodie folgen, die nur er hören kann. Plagen tut mich die Frage, ob ich es hier mit einem Lästergockel zu tun habe, der sich über mich auslässt, sobald ich nicht körperlich anwesend bin oder ob ich mich mit meinen Gedanken auf dem Holzweg befinde. Ein tiefer Seufzer entweicht mir und ich schüttle das Haar in meine Stirn, verdecke mein Gesicht damit. Ich muss nachdenken. Dafür habe ich aber keine Zeit. Das Tourleben nagt auch an mir, das kann ich nicht abstreiten. Heute spielen wir hier, morgen da. Allein das ist manchmal so viel Stress, das mir die ganze Sache mehr als nur ungelegen kommt. Um 180 Grad hat er meinen Kopf verdreht. Selten kann ich klare Gedanken fassen. Ich kann mich selbst nicht mehr ausstehen. Und ich werde wieder undankbar. Ja, ich sollte dankbar dafür sein, dass ich überhaupt auf der Bühne stehen darf, dass ich dieses Leben führen darf, das ich immer führen wollte. Und ich sollte dankbar sein, überhaupt in Kaorus Nahe sein zu dürfen. Ein paar Zentimeter von ihm entfernt. Das Positive sehen... Manchmal fällt es mir so schwer. Ich betrachte diesen Mann neben mir und es scheint mir mal wieder so, als müsste ich nur meine Finger ausstrecken, um ihn zu berühren, doch klafft zwischen uns nicht nur ein tiefer Abgrund. Weh tut es mir auch, wenn er kühl bleibt. Die Kühle schmerzt mehr, als jeder dumme Spruch. Okay, mir den Kopf zu zerbrechen, bringt genauso wenig wie ein Buch anzustarren und darauf zu warten, dass es sich selbst vorliest. Letztlich entschließe ich mich nun dazu ihn direkt zu fragen. Gerade heraus ist manchmal die beste Lösung. Trotzdem bleibt eine gewisse Unsicherheit an mir heften, als ich die Stimme erhebe. "Kaoru...?" Mit den eigenen Gedanken anscheinend bis eben auch ganz woanders, schaut er langsam zu mir herüber, legt den Kopf schief. "Mh?" "Kann ich dich mal was fragen?" "Ich weiß nicht, ob du das kannst." "Ja oder nein?" "Schieß los." "Also okay... Sag mal, lästerst du eigentlich über mich?" Eine von seinen dunklen Augenbrauen verschwindet gänzlich unter dem dichten Haar seines Ponys. "Natürlich", schnieft er und hebt die Schultern. "Ist das... dein Ernst?" "Ja?" "Und... über was lästerst du so?" Mann, bin ich selten dämlich. "Darüber, dass du mich nervst. Und mir lauter unsinnige Fragen stellst." Ich verziehe das Gesicht. "Und über was sonst noch?" "Nichts sonst." "Auch nicht darüber, dass..." Ich muss nach den richtigen Worten suchen. "Über meine außerbändlichen Aktivitäten?" "Wassen das für 'ne Frage?" Mit den Achseln zuckend gucke ich ihn an. "Lästern ist eine völlig menschliche Eigenschaft. Eklig wird's erst dann, wenn man es abstreitet." "Also spielen wir mit offenen Karten?" "Wir spielen mit offenen Karten." "Und wann... hast du das letzte Mal über mich gelästert?" "Als du dir deine Schnauze am Kaffee verbrannt hast, als ich sagte, dass es mich nicht interessiert, wo du deinen Schwanz hinsteckst." Autsch, der ging schon wieder unter die Gürtellinie. "Du wusstest, dass ich da war?" "Ich bitte dich, ich rieche dein Parfüm drei Meilen gegen den Wind. Natürlich wusste ich, dass du da warst." Kaoru ist unverschämt, aber zumindest ist er ehrlich. Natürlich kann ich mir davon auch nichts kaufen. Außer Gewissheit. Mit den Augen rollend stiere die Decke an, vergrabe die Hände in den Taschen meiner kaputten Hose und schmolle vor mich hin. "Na besten Dank auch." Kaoru hebt nur die Schultern. Aus dem Augenwinkel sehe ich wie er seine Sonnenbrille hervorkramt und sie aufsetzt, bevor er sich wieder in sich selbst zurückzieht. Er macht es sich einfach, nicht wahr? Immer auf Distanz gehen, immer ungehobelt, direkt sein. Nun gut, was komme ich auch mit so behämmerten Fragen um die Ecke? Im Grunde genommen, könnte ich mir auch gleich eine Zielscheibe auf die Stirn malen. Angriffsfläche scheine ich so oder so genug zu bilden. Egal jetzt. Weg mit dem Thema. Ich muss gleich arbeiten, Geld verdienen. Und ich eigne mir jetzt einfach wieder positives Denken an, zwinge mich dazu hyper zu werden. Ja, genau. Und ach ja, da war sowieso noch etwas, was ich unbedingt vor dem Treffen mit den Fans erledigen muss. Erstmal muss ich noch mal für kleine Dies und dann muss ich mir natürlich auch die Hände waschen. Nein, das war es nicht, was ich machen wollte. Ahhh... Eeeh... Hose, genau. Leise die letzten Doughnut-Reste aus meinen Zähnen schmatzend, mit dem letzten Schluck Kaffee nachspülend, verlasse ich Kaorus Seite, wandere rüber zum Buffet, stelle die Tasse weg und wende mich dann mit einem halben Lächeln an jemanden von unserem Staff und bitte ihn höflich mir eine neue Hose aus dem Tourbus zu holen. Mit dem kaputten Ding hier kann ich unmöglich weiter rumlaufen. Außerdem ist es viel zu warm draußen und mit dem Pulli schwitzte ich mich noch tot. ~*~*~ Knappe zehn Minuten später treten wir in den provisorisch vorbereiteten Raum der Konzerthalle. Noch ist niemand hier. Nur ein paar bullige Securitymänner und neben mir wuselt Nora geschäftig herum. Sie drückt mir einen schwarzen Stift in die Hand, mit dem ich gleich meine hübsche Unterschrift auf Papier und CDs oder was auch immer kritzeln darf. Ich rücke meine Sonnenbrille zurecht und fummle etwas aufgeregt an meinem Haar. Gegenüber der Türen wurden Tische aneinander gerückt und Stühle stehen mit den Lehnen einen halben Meter von der Wand entfernt dahinter. Weitere Stifte und Papier liegen bereit und an jedem der fünf Plätze steht ein Getränk. Quer durch den Raum ist so etwas wie eine Absperrung aufgebaut, die wohl Warteschlange von Ausweg trennen soll. Fotografieren ist erlaubt, lässt ein selbstgemaltes Schild im Eingangsbereich wissen. Man geleitet uns zu unseren Sitzplätzen und ich strahle mit neugewonnener Zuversicht vor mich hin, als ich mich neben Kaoru setzen darf. Allerdings erstirbt mein Grinsen auch gleich wieder, als ich mich zu ihm rüber beuge und ihn anlächlen will und er mir nur einen gewitterbösen Blick an den Kopf wirft, der wohl so viel heißen soll wie Zu nah, Daisuke. Na schön. Wenn er meint. Klebe ich halt nicht so nah an seinem Gesicht und halte ihm meine Beißerchen in die Netzhaut. Aber die positive Einstellung werde ich mir mit Sicherheit nicht mehr von ihm verderben lassen. Ich bleibe hart! Ich bleibe standhaft! Und das Positive ist: Er hat mich an der Backe. Oh, und vielleicht kann ich ihn durch meine bloße strahlende Präsenz auch etwas erheitern, so wie ich mich auch selbst erheitert habe, so dass er nicht mehr so grimmig dreinstarrt wie Drölfzigbillonarden Tage Regenwetter. Ich grinse freudig weiter. Kaoru rückt nur etwas mit dem Stuhl weg. Seufzend wirble ich mal in die andere Richtung, doch der nicht minder schlecht gelaunte Kyo hält mir nur die Hand vor die Nase. "Denk nicht mal dran." "Was ist bloß mit euch allen los? Heute ist ein schöner Tag!" "Seit wann das denn? Warum hab ich davon noch nichts mitbekommen?" "Weil du dich hinter deiner düsteren Fliegenbrille versteckst, Kaoru." "Aha." "Kaoru kriegt keinen Sonnenschein mehr mit, weil die Gewitterwolke über seinem Kopf zu gewaltig ist", meint Kyo und kritzelt ein Blatt mit wirren Linien voll. "Und dabei scheint die Sonne doch so schööön!" Kaoru hängt halb über dem Tisch und spießt mich mit seinen finsteren Augen auf, die vor Wolkenbruch und Sturm nur so schreien. "Falls das nun eine dumme Metapher war, mit der du dich selbst umschreiben wolltest..." "Wollte ich nicht!" "Auch gut so." "Hm." Ich beuge mich zu ihm runter und schiebe pseudo-grüblerisch eine Augenbraue hoch. "Aber was wenn doch?" "Denk nicht mal dran." Kyo wirft den Stift in sein Glas. "Ich habe ein Déjà-vu." "..." Nachdem wir beide Kyo gekonnt ignorieren, rücke ich Kaoru noch ein weiteres Stückchen näher auf die Pelle. Böse treten diese mandelförmigen Augen vor mir aus ihren Höhlen, verengen sich dann zu düsteren Schlitzen, als meine Nasenspitze mit der von ihm Bekanntschaft macht. "Zu nah. Daisuke." Eine Kopfnuss und ein Aufjaulen später, zische ich: "Nenn mich nicht Daisuke in aller Öffentlichkeit." "Und warum? Hast du Angst, deine wahre Identität könnte auffliegen?" Spott-Kaoru ist wieder da. "Nein, das hört sich so... distanziert an." "Na, dann stimmt's ja so." Mittlerweile hat Kyo seinen Stift wieder aus dem Wasser gezogen, welches sich nun schwarz gefärbt hat. "Ich finde... es hört sich eher sehr vertraut an." "Soll es aber nicht." "Diese Unterhaltung ist so sinnlos, ich liebe es." Meine Augen beginnen zu funkeln und glänzen. "Dann passt sie ja zu dir." "Du kannst mir meine gute Laune nicht verderben. Du kannst mir meine gute Laune nicht verderben. Du kannst mir meine gute Laune nicht verderben. Du kannst mir-" Nur schwach bemerke ich Kyos teils besorgten, teils verschreckten Gesichtsausdruck. "Was zum Henker ist eigentlich plötzlich mit ihm los?!" "Ich nehme an, da war was in seinem Doughnut. Einfach ignorieren." "Hmm, Zuckerrausch bestimmt." "Scheißegal. Ich sehe viele aufgeregte Fans...!" Und da habe ich Recht. Draußen drücken und drängeln die Massen bereits durch eine Tür. Wartend fummle ich immer nervöser an meinem Haar herum, während ich das Drauf und Drüber beobachte. Ich sollte nicht so starren. Gibt denen nur den falschen Eindruck. Was für einen kann ich auch nicht sagen. Panik sieht nun mal bescheuert aus. "Oh nein. Ich will nach Hause", nuschelt Kyo und vergräbt das Gesicht in den Händen. Ich will mich in tröstenden Worten versuchen, aber herauskommt nur: "Ach, jetzt stell dich nicht so an." "Sagt ja grad der Richtige." "Wolltest du mich nicht ignorieren?" "Ich hab's ja versucht, aber es ist so verdammt schwer deine schrille Stimme zu überhören." Kaoru zieht eine unansehnliche Grimasse. "Meine Stimme ist nicht schrill." "Was auch immer." Ich ziehe eine Schmolllippe wie ein Kamel. "Du bist nur so pissig, weil... weil..." "Na? Weil?" "Weil... weil halt!" "Ach so. Na dann." "Ach, geh doch weg, du. Ich sehe Fans und ich bin ganz kribblig. Heute ist ein schöner Tag." "Redest du dir das nur ein oder bist du wirklich so bescheuert?" "Ist das 'ne Fangfrage?", wirft Kyo ein. "Jetzt hört doch mal auf mich von zwei Seiten anzugiften. Gründet doch 'nen Klub, wenn ihr mich so schrecklich findet." "Anti-Die Klub." "Der Wir-HASSEN-Die-Zirkel." "Oh jaaa." "Ihr seid widerlich. Besonders du, Kyo. Gerade von dir hätte ich ein bisschen mehr Rückendeckung erwartet." Nur die Schultern hebend bei meiner Bemerkung, faltet er einen Papierflieger. "Du nervst nun mal. Soll ich etwa lügen, oder wie?" "Ja." "Oooh, Daaaai. Du könntest mich wirklich niiiiemaaals nerven! ...und jetzt halt die Klappe." "Amen." "Ihr seid nur neidisch." Beinahe verschluckt Kaoru sich an seinem Wasser und verspritzt es über den gesamten Tisch. "Worauf?" "Dass mein Horoskop für heute besser aussieht als eures!" "Was stand denn drin? 'Der Riss einer Hose führt Sie zurück auf ein nie da gewesenes Stimmungshoch', oder was?" "Die ist die Hose gerissen?!" "Was auch immeeeer. Das interessiert hier doch keinen." "Doch, das will ich hören." "Zu spät. Da vorne kommt bereits die erste Gruppe." Wir alle folgen Shinyas Finger, der just in diesem Moment genau auf eine Horde junger Mädchen zeigt. "Hurra!" "Ich will nach Hause..." "Ich will, dass ihr eure Klappen haltet." ~*~*~ Hach ja. Fans. Freude kommt auf. Irgendwie verschwindet diese Freude dann aber nach der hundertsten Person. Meine Hand fühlt sich abgestorben an und ich hab fürs Erste genug von Kontakt mit wildfremden Menschen. Außerdem spüre ich meine Mundwinkel vom Dauergrinsen nicht mehr. Mein Gesicht ist ganz taub. Und dann auch noch das hier. Ich glaub's hackt. Mit Bestimmtheit drücke ich Toshiya beiseite, der sich wie aus heiterem Himmel aus seiner Ecke und von seinem Platz gestohlen hat, um sich dreist wie er ist, zwischen mich und Kaoru zu drängeln. "Was zur Hölle wird das denn bitte, wenn es fertig ist?", nuschel ich ihm brummend von der Seite zu, als er sein Hinterteil mit auf meinen Stuhl quetscht. "Neben Kyo hat man keine Chance zur Geltung zu kommen." "Das ist mir egal. Pflanz dich woanders hin, das hier ist mein Sitzplatz." "Jetzt jammer nicht so rum. Kaoru guckt eh nicht zu dir." "Was soll das denn bitte heißen?!" Im Augenblick fällt es mir schwer meine Stimme leise und gedämpft und dazu noch in einem freundlichen Ton zu halten, bin ich doch eher entsetzt über dieses hundsmiese Verhalten. Wäre aber eher weniger prickelnd, wenn die Fans Wind davon bekommen würden, dass ich mich hier mit Toshiya käbbel. Nachher denkt noch wer, ich will was von dem. Igitt. Ich steh nicht auf Bassisten. Und auf Sänger auch nicht!! Aber das sei hier nur mal so am Rande erwähnt... Wo war ich? Ach ja, Mr. Zahnspange. "Gehst du wohl weg!" Jetzt klaut der mir schon meine Fans. Ich komm nicht mal mehr zum Händeschütteln. Drei sind einer zu viel und außerdem stinkt Toshiya nach Nivea-Creme. Ich will wieder das schöne, scharfe Aftershave von meinem Kaoru riechen. Och manno! Von hinten drücken immer mehr Fans nach, halten bei Shinya an, kommen rüber zu Kaoru, landen dann bei der Flachpfeife hier neben mir und stürmen dann direkt weiter zu Kyo. Und was ist mit mir? Ich hab auch Gefühle! Hey, ich bin sogar der Einzige, der diesen Kram hier wirklich gerne macht. Also was zum-?! Auffällig unauffällig versuche ich den ungebetenen Gast mit dem Po wegzudrücken. Doch Toshiya ist einfach ein stures Biest und Kaoru neben ihm verdreht auch schon merklich die Augen, während die Fans vor uns tuscheln und kichern, bei meiner aussichtslosen Aktion. Da hilft nur eines. Meine Geheimwaffe! Ich lege mein allerschönstes Strahlen auf und kann einige der Mädchen und sogar ein paar Kerle abwerben, in dem ich ganz einfach beginne vor Energie, Freude und Liebe nur so zu sprühen und zu glitzern und die Fans auf Englisch anzuquatschen. HA, da guckste, ne! Moment, hat Toshiya da eben die Hand von dem einen Mädchen da gestreichelt und ein Herzchen auf die Autogrammkarte gekrakelt?! Die Ader an meiner Stirn zuckt gefährlich, als ich meine Empörung kund tun will, weil der ganz offensichtlich mit miesen Tricks arbeitet, um mich auszustechen. Aber Kyo kommt mir zuvor und schneidet mir meine höchstwahrscheinlich sowieso unzusammenhängenden Worte ab, ehe sie meine Lippen verlassen können. "Ein Wettstreit zwischen Idioten kann keinen Gewinner hervor bringen." "Na besten Dank auch!", motzt Toshiya, grinst dabei aber wie ein Gummihuhn und drückt sich an Kaoru, als gerade eben von einem Fan ein Foto geschossen wird. Das hätte meines sein können! "Do you want a picture with me and Kaoru too?" Mann, bin ich heute abgebrüht. Nichtmal Nein sagen kann Kaoru da, sonst ist er wieder der böse, griesgrämige Kerl, der Fans Gefallen abschlägt. "Oh yes! Please!!" Und so eben habe ich ein Fanherz aufblühen lassen, als ich mich vom Stuhl erhebe, neben Kaoru quetsche, mich Wange an Wange an ihn drücke und dabei dämlich fröhlich in die Kamera grinse. Selbst er kann sich irgendwie ein Lächeln abringen und das Mädchen scheint ihr Glück noch gar nicht fassen zu können. Im gleichen Augenblick kann ich mein Unglück nicht fassen, denn als ich aufstand, hat Toshiya doch wirklich allen Ernstes meinen Stuhl vollkommen beschlagnahmt! "Hey!" "Tja, Wegegangen, Platz vergangen." "Wir sind hier doch nicht im Kindergarten. Da saß ich!" "Tja." Boah, hab ich grad Lust unseriös zu sein und ihn mit unfairen Mitteln wegzuekeln. Aber ich bin 34 und keine 13, und außerdem auf einem Meet-and-Greet und darf mich nicht lächerlich machen und auch nicht das Management verärgern. Was ist bloß aus dem guten, alten Rock'n'Roll Business geworden? Bis jetzt hab ich meinen Tonfall immer freundlich gehalten und stets das Lächeln auf meine Lippen gemeißelt, so dass uns auch ja niemand, der nicht Japanisch kann, anmerkt, was hier abgeht. "Toshiya, bitte. Du sitzt neben Kyo und ich neben Kaoru, das ist so vorgesehen und hatte sicherlich auch wichtige PR-Gründe. Der schüchternde, lieb guckende Drummer am Anfang, die beiden gut aussehenden, coolen Gitarristen neben einander, dann der lebenswichtige Sänger und zum Schluss... der Bassist eben. Und jetzt geh weg!" "Ihr könnt euch gleich beide vom Acker machen, wenn ihr nicht endlich aufhört, euch um ein dummes Stück Holz mit Beinen zu streiten." Kaoru nickt einem männlichen Fan zu und signiert schwungvoll seine CD. "Ich will aber nicht am Ende sitzen. Da geh ich völlig unter." "Aber ich, oder was? Ich bin der Bandschönling, ich muss neben dem coolen Kerl sitzen!" "Seit wann bist du der Bandschönling?!" "Boah. Himmel, Arsch und Zwirn. Mach'n Abgang. Spielt Verstecken und findet euch nicht." So wild wie Kaoru mit dem Stift rumfuchtelt, malt er mir auch erstmal schön eine lange schwarze Linie auf meinen Arm - gerade in dem Moment, als ich in eine Handykamera lächele. "Ach Kaoru!" Ich wende mich zu ihm und sehe ihn beinahe flehend, dabei aber auch schmollend an, lege meinen Hündchenblick auf. "Jetzt komm schon! Was gibt es schöneres als neben mir zu sitzen?" "Mit einer Nagelpfeile in deinem Herzen rumzustochern." Zu dumm, dass ich genau jetzt total geistig umnachtet ausschauen muss, als diese Worte seinen Mund verlassen, denn schon wieder blitzt es und ich werde fotografiert. Toll. Heute ist ein schöner Tag. Ironie Ende. "Schön. Dann geh ich eben, wenn du mich nicht bei dir haben willst." Reden und gleichzeitig meinen Namen schreiben ist kompliziert. Obwohl er nur drei Buchstaben hat... Ahem. Bewaffnet mit dem Stift in meiner Hand ziehe ich von Dannen, um mich ans Ende der Nahrungskette zu verkrümmeln. Wenigstens sitzt hier jemand auf den ich mich verlassen kann, jemand, der mich auch mag! "Was willst du denn hier?" "Auch schön dich zu sehen, Kyo." Und so verbringe ich die nächste volle Stunde auf dem letzten Platz, lächle, schüttel jede Hand, die mir zu nahe kommt, halte Pläuschchen mit Fans, kriege ein paar schöne Geschenke und sehe einfach nur gut aus für die Kameras. Kaoru kann mich mal. ~*~*~ Heute ist ein Auf und Ab Tag. Meine Stimmungsschwankungen sind gruseliger als die einer Schwangeren. Moment, ich bin doch wohl nicht... Nein, geht ja nicht. Bin ja ein Mann. Was zum Geier-?! Ich werde jetzt nicht wieder davon anfangen, dass ich nur Unsinn denke, weil ich dann zwangsweise nur noch mehr Unsinn denke. Wirklich, obwohl ich nun sehr geschlaucht bin und leichte bis mittelschwere Hirnüberladung habe von den vielen Eindrücken, hat mir das sehr gut getan. Und allzu lang ist es nun auch nicht mehr hin, bis zum Konzert, bei dem ich meine Seele wieder baumeln lassen kann. Auf das freue ich mich erst recht. Das Highlight meines sonst eher turbulenten Tages. Ich kann es gar nicht mehr erwarten auf der Bühne zu stehen. Ginge es nach mir, könnte es jetzt sofort losgehen. Und dann würde ich auch mal wieder zu Kaorus Seite schlendern, um ihn noch mehr zu nerven, als ich es heute eh schon getan habe. Man möge es kranke Rache nennen, vielleicht bin ich aber auch einfach nur zu blöde. Nun hab ich aber Durst. Diesen Backstage-Bereich mag ich nicht; die Wände sind so vollgemalt mit wirren Zeichnungen, dass mir davon ganz schwindlig und schlecht wird. Ich besorge mir eine Flasche Wasser und während ich so daran nippe, verfolge ich das Herumwuseln unserer Vorband, die sich zur Zeit auf ihren Auftritt in einer halben Stunde vorbereitet. In einem Spiegel beäuge ich mein Gesicht, zupfe das lange Haar zurecht. An meine Ohren dringen Fetzen eines Gespräches und amüsiertes Lachen, und als ich mich in den Nachbarraum bewege, finde ich den Bassisten der Vorband, unseren Übersetzer und Kaoru vor. Lässig lehne ich mich an den Türrahmen und lausche; in der Hoffnung vielleicht ein bisschen Englisch aus Kaorus Mund aufschnappen zu können. Seine Aussprache finde ich mehr als nur bezaubernd. Er sollte mal mit mir zusammen üben, dann könnte er bestimmt mehr als nur drei Sätze. Und wenn ich schon mal dabei bin, könnte ich auch gleich noch ein wenig mit meinen Französischkenntnissen prahlen. Okay, ich weiß. Kalauer. Ich höre auf. "Sänk yuu sooo matsch!" Jetzt ist erstmal der Tagespunkt an der Reihe, der besagt: zu einer wertlosen Pfütze dahin schmelzen. Da geht mir das kleine Herzchen auf, ich fange an rumzuseufzen wie ein Schulmädchen und beim Klang seiner Stimme die Augen zu schließen. Selbst dafür bleibt keine Zeit. In der Sekunde strömen bereits alle drei Personen aus dem Zimmer heraus und ich muss mich noch beeilen meinen Lieblingsgitarristen am Ärmel seines dunklen T-Shirts zu packen zu kriegen. "Aaw Kaoru, dein Englisch ist so zuckersüß, dass es kaum auszuhalten ist", klatsche ich ihm meine Kitschstimmung an den Latz und er guckt nur total verdattert, als hätte ich ihm gerade gesagt, dass ich beim MIB arbeite. "Was?!" "Dein-" "Ich hab's gehört." "Warum fragst du dann?" "Ist doch egal." "Warum plötzlich so knatschig?" Verwundert dreinblickend löse ich den Griff um den Stoff seines Shirts, aber lasse ihn dennoch nicht an mir vorbei. "Ich- Was? Ich bin nicht knatschig." "Hab ich etwa was Falsches gesagt?" War er nicht noch vor einer Sekunde gut gelaunt? Warum wirkt er jetzt komplett überfordert und als würde er gleich einen Schweißausbruch kriegen? "Ich... ich werd' gefährlich, wenn ich es will!" Muss ich nun Angst haben oder darf ich laut los lachen? Ich steh auf dem Schlauch und muss jetzt wirklich lachen. "Ich hab doch nur gesagt, dass ich dein Englisch zuckersüß finde." Scharf zieht er die Luft durch die Zähne ein und als ich ihn auf den Arm tätscheln will, glotzt er mich schon wieder so bitterböse an, dass sich meine Nackenhaare vor Schreck aufstellen. Da mache ich lieber achselzuckend Platz. "See you at the show, Kaoru!", rufe ich aber doch noch grinsend hinterher und schlürfe was von meinem Getränk. "Was auch immer, Die, was auch immer." Und dann ist er verschwunden. Eigenartiger Kaoru ist eigenartig. Aber ich lasse mir von ihm nicht meine positive Haltung verderben! Somit schlendere ich, von seinem Verhalten nicht im geringsten beeindruckt, herüber zu meinen Bandgefährten. Mich neben Toshiya an die Wand drückend, klopfe im dem Gitarristen der Vorband kurz auf die Schulter, als ich mich zurücklehne, um der netten Unterhaltung hier beizuwohnen. Nora sieht nur kurz zu mir herüber, übersetzt gleichzeitig etwas für Kyo. Ich halte nach einer Uhr Ausschau und überlege, ob ich nicht vielleicht noch mal kurz nach draußen gehen sollte, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Eigentlich habe ich dazu nicht wirklich so große Lust, weil ich dafür zuerst jemanden finden müsste, der mit mir geht, aber die stickige Luft in den engen Gängen des Backstage-Bereiches macht mich noch ganz plem-plem. Es könnte auch an der Hitze liegen. Das hier ist bereits meine fünfte Flasche, die ich in wenigen Stunden geleert habe. Mein Körper schreit nur so nach Flüssigkeit, wenn es draußen so schwül und heiß ist. "Sorry wegen vorhin, übrigens", dringt es von der Seite an meine Ohren und ich riskiere einen Blick. "Hm? Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, oder?" "Schon irgendwie. Ich hab mich kindisch benommen." "Wow, Toshiya. Gratulation." "Jetzt fang du nicht auch schon so an!" Ich blinzele. "Wie fange ich denn an?" "Na, wie Kaoru." "Was zum? Hör ich mich etwa-" "Ja." "Jetzt hör aber auf. Ich bin nicht so eklig sarkastisch wie Kaoru." "Stimmt, du bist viel schlimmer." "Also bitte, ja. Sowas muss ich mir von jemandem mit nur 3 Gehirnzellen mehr als 'ne Scheibe Toast nicht sagen lassen." "Da!" "Was?!" "Du bist sarkastisch." "Ach, mach 'n Abgan-" Der Rest meines Satzes bleibt mir schmerzvoll in der Kehle hängen. Meine Zunge war zur falschen Zeit am falschen Ort und meine Zähne raspeln hart über sie. Aber das ist mir gerade sowas von egal, denn: Heilige Scheiße! Ich bin wirklich genauso wie Kaoru! Wahre Bände muss mein Gesicht in dieser Sekunde sprechen, denn Toshiya sieht mich nur mit einem 'Ich habs dir doch gesagt'-Stieren an und verzieht seine Lippen zu einer schmalen Linie. "Sein Verhalten färbt halt ab", protestiere ich. Was für ein erbärmlicher Versuch der Selbstverteidigung. "Du warst schon immer so." Während ich noch scharf die Luft durch die Zähne ziehe und händeringend nach Worten suche, rempelt mich Kyo an. ...was wohl einen weiteren blauen Fleck auf meiner makellos-Haut geben wird. "Huch. 'tschuldigung. Was'n hier schon wieder los?" "Ich habe Die eben gesagt, dass er auch keinen Deut besser ist als sein verhasster Kaoru." "Was heißt denn hier bitteschön verhasst? Geht's eigentlich noch?" Von beiden Seiten werde ich bestarrt, so dass es mir eklig kalt den Rücken runter läuft. "Jaaa. Schon gut! Dann bin ich eben wie Kaoru. Ist mir doch auch Schnuppe! Ich lass mir nicht die gute Laune verderben. Hier, seht ihr?" Mit dem Zeigefinger deute ich auf das strahlende Supernova-Lächeln in meinem Gesicht. "Eure blöden Sticheleien können mir gar nichts, denn heute ist ein schöner Tag!" "Ich weiß wirklich nicht, was er nimmt, aber er nimmt eindeutig zu viel davon." Das Kyo es vorzieht mich nicht ernst zu nehmen, ist auch keine Neuigkeit mehr. Mir aber Schnurz, denn ich habe beschlossen, dass alles gut wird, solange ich nur optimistisch denke und mir meine Sonnenscheineinstellung bewahre. Toshiya zuckt nur mit den Achseln, wobei seine Augen beiläufig verfolgen wie unsere Gesprächsrunde von zwei Leuten verlassen wird. Als sie wieder auf mir ruhen, zieht er eine Schnute. "Schöner Tag also? Na, dann erzähl doch mal was. Du erzählst doch sonst immer so viel." Grinsend boxt er mir in den Oberarm. Sofort muss ich auch anfangen zu glucksen, denn mir fällt wirklich auf die Schnelle eine lustige Geschichte ein. "Ha, dann sperrt mal eure Lauscher auf! Denn was ihr jetzt hört, ist ulkig. Ihr werdet es mir nicht glauben. Heute Morgen ist so eine komische Hotelfrau vor Kaorus Zimmer in mich hinein gerannt. Keine Ahnung, ob die zu ihm wollte. Jedenfalls hatte sie einen Strauß Blumen mit, den sie mir dann aus irgendeinem unerdenklichen Grund auch gleich in die Hände gedrückt hat. Das war schon wirklich ulkig. Was soll Kaoru denn schon mit Blumen, nicht wahr?" Dümmlich lache ich vor mich hin. Doch dann bleibt es mir regelrecht im Halse stecken. "Waren bestimmt für Kaorus Freundin." "Was?" Jetzt hätte ich mir doch haarscharf den Nacken gezerrt, so heftig reiße ich meinen Kopf herum, damit sich meine Augen tief in die eines Roadies bohren können, der wie aus dem Nichts aufgetaucht auf einmal neben uns steht, mich angafft wie ein Auto und dabei grinst wie komplett geistig verstört. Allerdings nicht mehr, als Kyo ihm erbarmungslos den Ellenbogen in die Seite rammt. Danach verlässt nur ein Winseln seinen Mund. Begriffen scheint er trotzallem nichts zu haben. "Na, die Blumen." "Was? Nein. Moment." Eine Sekunde, in der mir fast mein Herz aus dem Hosenbein kullert, verstreicht qualvoll langsam dahin, und ich versuche Wörter hochzuwürgen, die mir quer in der Kehle hängen geblieben sind. "Was... was für eine Freundin?" "Na, seine Geliebte halt. Oder... wie war das noch? Sein 'Zuckermäuschen'." Ein zweiter fieser Haken zwischen die Rippen gibt ihm schließlich unmissverständlich zu verstehen, dass er jetzt endlich seine Klappe zu halten hat. Und bevor er noch einen weiteren kassiert, flüchtet er lieber leise fluchend vor Kyo. Nur am Rande nehme ich das wahr, schlucke schwer. "Freundin..." Kyo und Toshiya sind plötzlich ganz still geworden. Zugenähte Münder und betretene Blicke, die die meinen scheuen. Ziellos wandert mein Augenpaar im Raum umher. Drohe Orientierung und Gleichgewichtssinn zu verlieren; mir ist ganz schwummrig. "Freundin...", krächze ich nur wieder als würde ich eine Zauberformel murmeln. Dabei erreicht das Wort nichtmals mein Hirn. Die Gehirnströme zucken nur, sprühen kleine leuchtende Funken. Dann, endlich, erwache ich aus meinem Trance ähnlichen Zustand. Zum Leidwesen von Kyo und Toshiya und ihren dazugehörigen Ohren. "Kaoru hat eine Freundin?!", platzt es aus mir heraus. Mein Herz, wie ein Vulkan vor dem Ausbruch, beginnt zu zittern. Und ich wünschte wirklich sehr, ich könnte meine Stimme kontrollieren. Wenigstens nur ein bisschen. Doch ich kann mich einfach nicht beherrschen. Wie automatisch werde ich laut. Als hätte man einen Schalter in meinem Kopf umgelegt. Wie als hätte man einen Knopf gedrückt. Den Selbstzerstörungsknopf. Am liebsten würde ich laut losbrüllen, meine Lungen wund schreien, so sehr ist es in mir am brodeln und kochen. Regelrecht in Flammen gehe ich auf. In mir staut sich Gewaltiges auf, türmt sich hoch und immer höher. "Ähm, ja", erwidert Toshiya. Kyo schweigt bloß. "Was zum? Und wann zum Henker hattet ihr vor mir das zu sagen?!" Meine Wut brennt sich lodernd durch meine Venen. Mit jedem Lidschlag werde ich umso wütender. Aus meinen Ohren pfeift bestimmt schon der Dampf. Ich muss mich so zurückhalten, um dem Zorn, der durch mich strömt wie glühendes Magma, am ausbrechen zu hindern. Alle Sicherungen drohen mit brachialem Getöse einfach rauszuspringen. "...nie?", fließt das Wort über Kyos Lippen. Dem Ausraster so nahe, sprudelt alles, was sich seit Tagen in mir aufgestaut hat, mit ungeheurer Kraft, die ich selbst, wenn ich es wollte, nicht beherrschen könnte, heraus. "Das ist ja wohl die absolute Höhe! Was zum Teufel?! Ich glaub's nicht! Meine eigenen Freunde kriegen das verfluchte Maul nicht auf und verweigern mir sogar die kleinste Information!" "Jetzt komm mal wieder runter." "Runterkommen? Ich soll runterkommen?!" "Ja, Gott verdammt nochmal. Du führst dich auf wie ein Kleinkind." Die Arme rumschleudernd, schenke ich der Umwelt überhaupt keine Beachtung mehr. "Ich check's nicht! Wie zur Hölle konntet ihr mir das nur verschweigen? Wieso habt ihr mir das nicht gesagt? Ihr seid meine Freunde, verdammt. Und ich erfahre das dann von irgendsoeinem Kasper, der zum Staff gehört. Woher weiß der das überhaupt?! Und... Was zum verfickten Teufel?!" Wie Toshiya nur unglaublich ruhig bleiben kann, während ich ihm am liebsten meine geballte Faust ins Gesicht donnern will, ist mir ein Rätsel. "Ach, jetzt tu nicht so, als würde das irgendwas an der Tatsache ändern, dass Kaoru sich 'nen Scheißdreck darum schert, was du fühlst. Außerdem macht das hier schon seit 'ner Weile die Runde und mittlerweile haben das alle gehört, selbst die, die für den Merch-Bereich zuständig sind." Hart zerbeiße ich meine Unterlippe und fauche ihn fuchsteufelswild an. "Es ändert aber was an der Tatsache, dass ich die ganze Zeit dachte, er wäre wieder solo!" "Die..." "Nichts 'Die'! Ich begreif das einfach nicht! Wie könnt ihr bloß so herzlos sein? Dass ihr nicht einmal ein Sterbenswörtchen von euch gegeben habt! Dass ihr euch nicht was schämt! Und sowas schimpft sich meine Freunde." "Wir haben es dir nicht gesagt, weil es dich nur noch unglücklicher gemacht hätte." "Und weil wir uns keinen Gitarristen leisten können, der permanent geistig abwesend ist." Funkelnd stiere ich Toshiya an, als könnte ihn mein Blick allein erwürgen. "Willst du mir damit etwa unterstellen, ich wäre nicht professionell genug, um mein privates Leben und meine Arbeit von einander zu trennen?" "Ich sage ja nur, dass du dich nicht davon ablenken lassen solltest, was sich zwischen dir und Kaoru abspielt. Oder eben nicht abspielt." "Die... Wir haben es doch nur gut gemeint." Beschwichtigend will mir Kyo die Hand auf die Schulter legen, doch ich weiche einen Schritt zurück und beiße weiter auf meine bereits ganz blutige Lippe. In dieser Sekunde weiß ich, er meint es so, meint es nur gut. Und ich weiß ebenfalls wie bescheuert und unvernünftig ich mich verhalte. Aber mein Herz kann es nicht akzeptieren, kann das nicht dulden, will es nicht verstehen, weigert sich. Es kommt mir vor wie Verrat. Es ist Verrat. Der Zorn kreischt es in mir in meine Ohren, bis ich ganz taub davon bin und nur noch schwanke. "Diese ganze... Diskussion ist mir im Grunde reichlich egal...", presse ich hervor, benebelt von meinen Gefühlen, die mich übermannen. Ich reagiere unlogisch. Das ist mir bewusst. Es ist mir egal. "Viel mehr beschäftigt mich die Sache mit seiner Freundin und... ich glaube..." Mir ist so kotzelend auf einmal, ich kann es nicht erklären. "Ich muss das jetzt erst einmal verdauen... Entschuldigt mich bitte." Hier will ich keinen Moment länger stehen. Weg. Nur weg hier. Bevor ich noch mehr sage, was ich später nur bereue. Ich wirble herum, bin bereits einige Meter davon getaumelt, da drehe mich noch einmal um. Bitterer Unterton klingt in meiner Stimme mit. "Und Toshiya. Keine Sorge, das wird sich nicht auf meine Arbeit auswirken." ~*~*~ Liebes Universum, ich hasse dich. Gaga. Lungenbedürfnis. Muss eine rauchen. Suche Kippen in meinen Taschen, finde keine. Bordcomputer überlastet. Mein Körper fühlt sich an, als würde er der Belastung, die ich ihm tagein, tagaus zumute, nicht mehr lange standhalten. Es ist bloß ein kleiner Tropfen, doch er platscht scheppernd in das bis zum Rand gefüllte Fass und bringt alles zum Überschwappen. Würde mich nicht wundern, wenn ich jetzt gleich hier im Gang zusammenbreche. Geht aber nicht. Das Konzert ist in weniger Zeit. Und da vorne bei den Aufzügen steht Kaoru. Niemanden will ich jetzt weniger sehen. Als unsere Blicke sich treffen, schlägt ein Blitz in meinen Schädel ein, der mich für einen Augenaufschlag nur noch schwarz sehen lässt. Für eine verfluchte Sekunde wünschte ich sogar, er würde nicht existieren. Eine weitere hasse ich mich dafür, sowas überhaupt zu denken. Ohrfeigen will ich mich. Mir selber wehtun. Der Eisenpflock in meiner Seele... ich ertrag ihn nicht mehr. Alles tut weh. Was ist nur los mit mir? Wo ist meine positive Einstellung? Wo ist die gute Laune? Wo ist das Lächeln? Gelogen. Alles davon. Vorgegaukelt, erfunden, Spinnerei. Freundin. Freundin... War ja klar, dass einer wie Kaoru nicht Dauersingel bleibt. Und jetzt springt auch der riesiger Scheinwerfer über meinem Haupt an und alles erstrahlt urplötzlich in glasklarem, blendenden Licht. Deswegen ist er so durch den Wind. Da hängt wohl der Haussegen schief. Und seinen Unmut lässt er tagtäglich an mir aus. Ich sollte jetzt Mitleid haben, nicht wahr? Aber nein, es freut mich. Je mehr Krach da ist, je verzweifelter Kaoru ist, je mehr es an ihm nagt, desto höher die Chance, dass es auseinander bricht. Und nein, es trifft nicht auf mich zu, dass ich sagen kann 'Wenn er glücklich ist, bin ich es auch.' Ich bin nun mal so egoistisch. Ich will ihn. Niemand anderes soll ihn haben. Und er soll sich nicht zu einer anderen Person hingezogen fühlen. Nur, weil da plötzlich noch eine Frau im Spiel aufgetaucht ist, werde ich jetzt keinen Rückzieher machen. Nein, niemals. Nicht nach all der Zeit, die ich investiert habe! Nicht nach all der Folter, die ich durchlitten habe. Doch wenn ich so nach ihm in den Aufzug steige - da meine Füße mich gegen meinen Willen hinterher gezwungen haben - wenn ich so neben ihm hier stehe und wir nach oben fahren, dann habe ich nichtmals den blassesten Schimmer wie ich mich überhaupt verhalten soll. Ganz normal, du Hohlbirne, höre ich wie mein Verstand sich aus dem Urlaub zurückmeldet. Leichter gedacht, als in die Tat umgesetzt. "Wir gehen doch heute Abend alle gemeinsam einen Trinken." Ungefragt bewegen sich meine Lippen, ohne dass ich es verhindern kann. Jemand anderes steuert meinen Körper, als hinge ich an dünnen, unsichtbaren Fäden. "Ich hoffe doch sehr, du kommst auch mit." "Sicherlich." "Und dann lässte dich mal so richtig volllaufen!" Das sollte wohl fröhlich, optimistisch klingen, doch mein Zorn verseucht selbst diesen Satz mit Bitterkeit. "Hab ich denn einen Grund dazu?" "Na, natürlich. Du hast doch Krach mit deiner Liebsten." Oh Gott. Hab ich das gerade wirklich gesagt? Ist das wirklich aus meinem Mund gekommen? Das war meine Stimme. Es hörte sich dennoch nicht nach mir an. Oh mein Gott. Nein. Nein! Zurückspulen. Mach, dass ich das nicht gesagt hab. NEIN. "Du weißt es also?" "Aaach, das weiß doch jeder." Ich bin so dumm. Ich will sterben. Ich will nicht so dumm sein. Ich will das nicht. Was mache ich hier?! "Jeder also?" "Ja, jeder." Meine Grimasse ist so fürchterlich. Was ist denn bloß in mich gefahren? "Aber falls dich das nun denken lässt, dass du mich auf diese Weise loswerden kannst, dann hast du dich geschnitten. Ganz tief!" Ich beuge mich zu ihm und bohre ihm meinen Zeigefinger ins Schulterblatt. "Ganz tief, Kaoru!" "Die... Da fährt dein Bus nach Halt's Maul." Er schlägt meine Hand weg und ich winke ab. "Ist ja schon gut." Mehr als einen zweifelnden Blick ernte ich dennoch nicht. "Auf alle Fälle gehen wir heute Nacht nach dem letzten Konzert mal so richtig einen heben, okay?" "Wenn ich ja sage, hörst du dann damit auf mich so verstörend anzuglotzen?" Derjenige, der meine Handlungen und Mimik steuert, lässt mich einen Schmollmund ziehen und ich merke wie ich mich langsam in Richtung Türen zu drehen scheine. "Dann ja", bestätigt Kaoru, als sich der Aufzug öffnet, rückt seine Sonnenbrille zurecht und schreitet ohne zurückzublicken auf und davon. Kühl, gelassen und doch wie als wollte er vor mir fliehen. Kaum, dass sich die Türen wieder rappelnd geschlossen haben, zerspringt der dunkle Bann, der über mir lag, in tausend Teile und mir reißt es die Beine weg. Meine Faust schlägt hart gegen die Metallwand. Ich keuche, berühre meine Stirn. Sie glüht. Fast verbrenne ich mir meine Finger daran. Wie wild dröhnt der Wasserfall aus Blut gegen mein Trommelfell. Ja, auf meinem Herzen, da ist ein Knopf. Darauf steht in dicken, leuchten Buchstaben geschrieben: Bitte drücken Sie hier zur Selbstzerstörung.' Ich habe gerade selbst mit voller Wucht draufgeschlagen. ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 6: Zwischen Leber und Herz. ----------------------------------- Kommentar: Die Sprünge, die ich in diesem Kapitel mache, sind doch recht hart. Das Auf und Ab geht weiter. Und... ich kann halt nicht besser schreiben D: Es tut mir leid. Der Mystery-Factor bleibt weiterhin erhalten, aber Hinweisschilder sind überall im Text versteckt ♥ Und dafür, dass ich so 'ne lahme, perfektionistische Krücke bin, war ich dieses Mal doch Recht schnell mit dem Update, oder? Bin das ich? Bin das wirklich ich? Ich weiß es nicht mehr. Mein Geist fühlt sich fremd an in diesem Körper, als gehöre er schon lange nicht mehr zu ihm. Müde und schwer schauen die Ringe aus, die sich dunkel auf mein Gesicht gezeichnet haben. Spiegel können nicht lügen. Es kommt mir vor, als hätte auch ich ein Déjà-vu. Alles scheint sich endlos zu wiederholen. Aber warum ist der Schmerz, an den ich mich doch schon längst gewöhnt habe, auf einmal so stark, dass er mir regelrecht die Luft abschnürt? So schlimm wie heute war es lange nicht mehr und die Zeichen stehen viel zu sehr auf Sturm. Ich fühle das Beben unter meinen Fußspitzen. Der erste Platzregen hat bereits begonnen. Und das ungute Gefühl in meinem Magen will einfach nicht verschwinden. Ich fühl mich so unvollständig. So elend. Eiskaltes Wasser fließt in meine Hände, durch meine Finger, und ich spritze es in mein Gesicht. Ich muss funktionieren. Ich muss. Es ist egal, was gerade mit mir passiert. Da wartet ein Publikum auf mich. Und ich muss mich zusammenreißen. Bin ein Mann und keine Meme. Selbst ein abgerissener Arm wäre keine Entschuldigung mich hängenzulassen. Damit klarzukommen, dass er eine Freundin hat, das kann doch nicht so schwer sein. Was ändert das schon großartig für mich? Die Chancen standen schon vorher beschissen für mich und jetzt tun sie es eben noch mehr. Auf den ersten Blick eben. Aber wenn er wirklich gehörig Krach mit ihr hat und alles komplett in die Brüche geht und erst in Schutt und Asche liegt, dann wird da meine Schulter sein, an der er sich ausheulen kann. Ich muss nur warten und geduldig sein. Zwei Sachen, die ich im Grunde überhaupt nicht kann, aber trotzdem: Diese Freundin wird für mich kein Hindernis sein. Obwohl es mir zugegeben den Boden unter den Füßen wegreißt, wäre es doch gelacht jetzt den Schwanz einzuziehen. Nur meine Gefühle sollte ich besser zu kontrollieren lernen, damit ich sie ihm nicht wieder in einer schwachen Sekunde blind an den Kopf werfe. Wenn ich es will, kann ich alles bewerkstelligen. Und egal wie geschunden mein Körper sich anfühlt, solange ich noch kriechen kann, gebe ich nicht auf. Was ich zu ihm gesagt habe, klang in meinem Tonfall vielleicht etwas sehr wahnsinnig, aber es ist letztlich die Wahrheit. Ich bin viel zu stur, um mich geschlagen zu geben. Früher oder später ist Kaoru meins. Und wenn es das Letzte ist, was ich... Moment, falscher Film. Ja, so langsam beginnt mein Magen alles zu verdauen. Auch, dass man mich nicht eingeweiht hat. Es wäre wünschenswert gewesen, aber offensichtlich befand man es ja nicht für nötig. Oder wollte mich damit schützen... Ich kann eben nicht lange am Boden sein. Würde ich mich erstmal häuslich dort unten einrichten, würde ich meinen Arsch wohl überhaupt nicht mehr hoch kriegen. Ich packe diesen flackernden Zorn und diese wabbernde Eifersucht und stopfe sie zurück in die Box in meinem Herzen. Dann heißt es hoffen, dass ich sie zumindest für die nächsten paar Stunden auch dort drin lassen kann. Obwohl meine Selbstzerstörung, dank meines unzähmbaren Temperamentes, bereits eingeleitet scheint. ~*~*~ Erst mal auf den Brettern, die die Welt bedeuten, angelangt, zittere ich ein wenig vor Aufregung. Dann beginnt das Konzert. Und endlich habe ich dieses Gefühl wieder. Es gibt mir so unglaublich viel Kraft. Ich bin da, wo ich hingehöre. Dort ist das Publikum, die Musik beginnt und als ich in meiner Position bin, fühle ich mich wie als wäre ich Zuhause angekommen. Das hier, genau diese Atmosphäre - ich bin endlich daheim. Es ist unfassbar wie sehr es mich gleich drei Spähren höher trägt. Stress, Probleme und all der Unsinn verschwinden einfach, lösen sich mit fast erschreckender Geschwindigkeit auf. Es muss die Musik sein, die wir in Schwerstarbeit mit Blut, Schweiß und Tränen zusammengeklöppelt haben. Und Kyos Gesang. Diese Konzerte, dieses auf der Welt Herumtouren und vor Leuten zu spielen, das zu tun, was ich liebe, bei dem mir das Herz immer wieder aufs Neue aufblüht, das ist wie Therapie. Das macht mich glücklich, füllt mich aus, ist die Luft, die ich zum Atmen brauche. Ich werfe meine Pleks in die Menge und strahle. Genau jetzt fühle ich mich, als würde ich auf Watte gehen. Der Jubel und die ausgestreckten Hände, die vergnügten Gesichter und jede Emotion, die ich zu fassen kriege, macht mich so high. Das hier ist besser als jede Droge. Denn es ist real. Und egal wie grottig es mir den ganzen Tag über gegangen ist, das hier heilt mich. Wasser spritzt aus den Flaschen in meinen Händen in die ausgelassene Masse, als ich am Rande der Bühne meine Runden ziehe, bis ich bei Toshiya angekommen bin. Zwar ist er bereits von Kopf bis Fuß durchnässt, doch kann ich es mir nicht verkneifen, bei seinem frechen Grinsen, auch Wasser in sein Gesicht zu schütten. Dafür kassiere ich einen leichten Schlag auf den Hinterkopf, der mir jedoch herzlich schnuppe ist, da ich in dieser Sekunde ein weiteres Opfer ins Visier genommen habe. Kaoru, der gemerkt hat, dass ich nichts Gutes im Schilde führe, als ich auf diese Seite der Bühne geschlendert bin, versucht sich klangheimlich auf und davon zu machen. Doch man sollte nicht die Reichweite meines Armes unterschätzen und so angle ich ihn mir schlichtweg, bis er sich fast in meinem Schwitzkasten wieder findet. Wären wir hier nicht auf einer Konzertbühne und vor knapp 2000 Menschen, hätte er mich mit Sicherheit schon längst weggeschubst. Aber er hat keine Chance zu entkommen. Besonders nicht, wenn ich so schön lächele, ihn an mich presse und er so vollgepumpt mit Glückshormonen ist, dass man glatt eine Kleinstadt damit beleuchten könnte. Ja, der einzige Ort, an dem ich ihm nah sein kann, ist hier. Keinen Widerstand leistet er. Und niemand auf diesem Planeten sieht doch besser neben ihm aus, als ich. Nichtmal irgendsoeine daher gekrochene Freundin. Mein breites Honigkuchenpferd-Grinsen und sein verzauberndes Lächeln, das sich fast schelmisch um seine Lippen kräuselt, müssten doch wundervoll auf einem Foto aussehen, würde uns nun jemand knipsen. Von mir aus könnte die Zeit nun stillstehen. Diese Atmosphäre ist himmlisch. Sein warmer Körper, der leicht gegen mich lehnt und diese Nähe. Lässig liegt mein Arm über seiner Schulter; die Fans animierend hat er seinen Arm gehoben. Wie im Zentrum der Welt ist es neben ihm. Es ist seltsam auf was für Höhenflüge einen eine solche Live-Show bringen kann, dass alles von einem abfällt, für gewisse Zeit gänzlich zu existieren aufhört und selbst Kaoru es zulässt, dass ich ihn berühre; dass der Schmerz in meiner Brust wie nie da gewesen ist. Das alles wirkt so weit entfernt, nicht relevant in diesen Augenblicken. Niemand kann sehen, wie sehr die Worte und Taten dieses Mannes mich noch vor weniger Zeit verletzt haben. Niemand ahnt es, wie lästig ich ihm eigentlich bin und wie er normalerweise jede noch so kleine Berührung mit mir scheut, als wäre ich hochgiftig. Hier oben ist alles anders. Auf der Bühne sind wir anders. Die Existenz an diesem Platz ist so simpel. Keine Umständlichkeiten, keine Probleme. Aber auch keine Verbindlichkeiten. Langsam löse ich meine halbe Umarmung und gebe ihn frei. In meinen Taschen habe ich noch mehr Pleks, die ins Publikum geschleudert werden wollen, sowie diese Flasche, die Kaoru immer noch hält und gerade aus ihr trinkt. Ich bin mir sicher, er wollte sie soeben werfen, doch kommt meine flinke Hand ihm zuvor. Mit einem schnellen Griff gehört sie mir und diesen einen Schluck aus ihr lasse ich mir auch nicht entgehen. Für die ganzen Qualen heute kriege ich einen indirekten Kuss, ha. Und nach einem schönen Wurf von mir, kriegt ein überglücklicher Fan eine Flasche aus der Kaoru und ich kurz nacheinander getrunken haben. Heute habe ich wirklich genug getan was Fanservice angeht. Neben mir hüpft Shinya auf die eiserne Box unseres Sängers, wirft seine Drumsticks in die Menge und verschwindet kurz darauf backstage. Berauscht machen auch Kaoru und ich uns auf den Weg mal endlich die Bühne zu verlassen - wir sind die letzten. Und ich habe schon beim ersten Schritt, den ich die Stufen herunter setze, das Gefühl, als hätte das Auge des Sturms gerade recht freundliche Grüße auf meine Brust gekritzelt. ~*~*~ Backstage ist es sehr viel kühler, aber die Hitze des Auftrittes lungert noch immer überall in meinem Körper, klebt an mir. Es ist spät, das vorerst letzte Konzert ist vorbei. Ich bin so vollkommen durchgeschwitzt, ich brauche erstmal eine Dusche und dann schlüpf ich in was Bequemeres. Müde bin ich überhaupt nicht. Aufgedreht eher. Das Adrenalin rauscht noch immer durch mich, spült meine Adern mal so richtig gut durch und ich könnte Bäume ausreißen, wenn ich das wollte. In Hotelzimmern wachsen für gewöhnlich aber keine Bäume. Zu dumm aber auch. Ah, ich darf nicht vergessen Kaoru eine neue Kampfansage zu machen. Gerade vorhin, als ich ihm so nah war und er nicht mal weggelaufen ist, sogar in meinem Arm war... Als ob ich jetzt aufgeben würde! Pah, nichts da! Das weckt meinen Jagdtrieb. Ich hab Blut geleckt. Wär doch gelacht jetzt kehrt zu machen! Das hätten wohl alle gerne. Da kennen sie mich aber schlecht. Aufgeben befindet sich nicht in meinem Wortschatz! Schließlich... sehe ich hundertmal besser aus! (Obwohl ich sie ja eigentlich noch nie gesehen habe...) Ich kann aber hundertpro besser küssen als die und im Bett bin ich sowieso der absolute Überflieger! Ich bin der Meister der Verführung! Ha, ja, genau! Und ich bin klug! Und witzig! Und ich habe Humor! Und ich bin lustig! Und ich wiederhole mich gerade ständig! Und ich mag die gleichen Sachen wie Kaoru! Ich teil mir manchmal ein Gehirn mit ihm! Wir sind ein eingespieltes Team! Ich bin seine zweite Hälfte! Ich bin einfach die bessere Wahl, die bessere Partie! Ich bin das Ass in Kaorus Ärmel! Die Kohlensäure in seinem Sekt! Der Schaum auf seinem Bier! Was zur Hölle fasel ich hier eigentlich! Ich hab keine Ahnung! Aber oh mein Gott YAY! Was war nur in meinem Drink?! Er kann ja lange behaupten, dass sein Herz niemals mir gehören wird, aber Augen lügen nicht. Nein, Augen lügen nicht. Auch nicht, wenn man versucht sie hinter dunklen Sonnenbrillengläsern zu verbergen. Frisch geduscht und in sauberen Klamotten, mit den ersten zwei kleinen Durstanregern aus der Minibar im Magen, mache ich mich frohen Gemüts auf zu der Party in der Hotel-Bar im oberen Teil des Gebäudes. Auf dem Flur gable ich noch schnell Toshiya mit auf, der das Pech hat, dass sich unsere Wege hier kreuzen. Somit kriegt er meine ganze neu heraufbeschworene positive Einstellung ab. Vorhin war ich noch stocksauer auf ihn, aber mein Ärger ist mittlerweile wieder verpufft und so zurre ich heiter den Kragen meines Hemdes zurecht, grabbel derweil ununterbrochen an meinem Haar herum und latsche neben ihm her. "Ich weiß, alle halten mich hier schon für verrückt, aber... das ist alles Strategie!", verkünde ich kurz vor dem Schließen der Aufzugtüren, nachdem Toshiya sich nach meinem aktuellen Geisteszustand erkundigt hat. "Wir halten dich nicht für verrückt, wir wissen, dass du nicht mehr ganz dicht bist. Was hast du übrigens jetzt schon wieder eingeworfen? Vor dreieinhalb Stunden wolltest du mir noch den Hals umdrehen vor Wut. War es das Konzert? Oder nimmst du wirklich heimlich Drogen?" Mir missfällt der Blick, mit dem er mir von der Seite her buchstäblich einen absichtlichen Schlag in die Rippen verpasst. "Ich lass mich nicht so schnell aus dem Gleichgewicht bringen", schmolle ich. "Das sah vorhin aber noch ganz anders aus." "Unterschätz mich nicht. Immerhin schwanke ich nicht nicht so lange herum wie Kaoru. Ich bin ausgebuffter als du denkst!" "Ausge- was?" "Ausgebufft! Ausgefuchst. Ausgekocht. Ausgeschlafen!" Im obersten Stock steigen wir aus dem Aufzug und Toshiya glotzt mich nur an als würde ich Ungarisch sprechen. "Hat das Wörterbuch geschmeckt, das du geschluckt hast?" "Ich wollte dir damit nur sagen, dass ich besser bin als Kaoru." "Worin?" Ich stöhne. "Überall. Er kann sich ja gerne einen abasten mit seiner ach so tollen Freundin. Ist seine eigene Schuld, wenn er sich sowas wie die auferlegt." "Ach, hast du sie in Zwischenzeit persönlich kennengelernt?" Ein paar wenige Meter gegangen, knöpfe ich einer vorbeilaufenden Kellerin einen der vielen bunten Drinks ab, die sie auf einem Tablett mit sich herum trägt und nehme einen großen Schluck. "Nein." "Und woher nimmst du dann das Recht so über sie zu reden? Vielleicht ist sie ja sogar ganz nett." "Sie ist seine Freundin. Der Feind. Ist mir schnurzpiepegal, ob sie nett ist." "Naja, aber wer sagt eigentlich, dass da nicht mehr alles ganz rund läuft?" "Na, sein Handy." "Hast du seine Nachrichten gelesen?" "Nein." "Na also. Kann ja alles mögliche sein. Vielleicht zoffen die sich auch nur wegen einer neuen Wohnzimmergarnitur." Empört versetze ich ihm einen harten Stoß. "Sag mal, auf wessen Seite stehst du überhaupt?" "Auf gar keiner. Ich bin neutral." "Neutral ist langweilig. Willst du langweilig sein?" Mit dem Holzstäbchen, das in meinem Drink war, zeige ich auf ihn als wäre es ein Messer. "Deine manipulative Ader ist sehr mickrig ausgeprägt, Die. Also versuch's erst gar nicht", erwidert er bloß und stibitzt mir doch glatt die Olive. "Verdammt. Trotzdem kann Kaoru von mir aus machen, was er will. Ich klebe fester als ein 10 Jahre alter Kaugummi unter einem Schultisch!" "Das glaub ich dir auf's Wort. Da vorne steht übrigens dein Objekt der Begierde." Unverzüglich vergesse ich seine Dreistigkeit, wirble stattdessen herum und erspähe tatsächlich Kaoru unweit von mir entfernt in einer Menge aus fröhlich blubberndem Staff. Die Kellerin spaziert in dem Moment erneut an mir vorbei und das nutze ich, um mein leeres Glas gegen ein volles auszutauschen. Gierig schlinge ich auch diesen starken Alkohol herunter als wäre er Wasser. Dann drücke ich Toshiya in die Hand, was ich nicht mehr gebrauchen kann. "Nimm mal." Geschwind krempel ich die Ärmel meines Hemdes hoch und lege mein siegessicheres Lächeln auf, während mein Augenpaar nur auf die katzenartigen Bewegungen meines Zieles fixiert sind. "Dann mal auf in den Kampf!" "Viel Glück." Ein leichter Schlag auf den Rücken trifft mich, gefolgt von den Worten: "Und sag mir Bescheid, wenn du dabei bist dich lächerlich zu machen. Das will ich mir nur ungern entgehen lassen." ~*~*~ Kaum, dass meine Füße mich nennenswerte Zentimeter von Toshiya weggetragen haben, bemerke ich wie etwas in mir nicht stimmt. In meinem Kopf ist alles verschwommen, das warme Glühen des Alkohols fließt durch meine Blutgefäße. So viel war es gar nicht, aber dennoch genug, um alles lockerer zu machen. Relaxter irgendwie. Und als ich durch den Eingangsbereich der Bar schreite, bin ich nur ein bisschen wackelig auf den Beinen. Leicht beduselt bin ich. Ich kann das ab. Meine Leber kennt das schon. Und trotzdem sehe ich die kleine hellhaarige Person gar nicht, die plötzlich wie aus dem Nichts hinter einer Ecke vor mir auftaucht, bis ich mit Karacho in sie hineinrenne. "Hey!", ächzt es vor mir. Blinzelnd, von dem plötzlichen Zusammenprall mehr als nur überrascht, und nach einem Blick nach unten wird mir klar, dass ich eben tatsächlich Kyo über den Haufen gerannt habe. "Oh, alles okay?" "Ich denke schon." Er ergreift meine Hand, die ich ihm entgegenstrecke, um ihm wieder in eine senkrechte Lage zu verhelfen. Mit leicht verstimmter Miene reibt er seine Stirn, murrt leise, bevor er dann ein Auge auf mich wirft. "Entschuldigung, ich hab dich nicht gesehen." Er winkt ab. "Ist schon gut... Und bei dir? Bei dir auch alles okay?" "Bestens. Ja, alles bestens." Holzauge sei wachsam, da neben mir ist schon wieder die Kellerin mit ihrem Getränketablett! Mich juckt's in den Fingern. Aber Kyo versteht was davon mich abzulenken und so reagiere ich zu lahm und greife nur ins Leere, anstatt ein Glas zwischen meinen Fingerchen wieder zu finden, das ich mir gleich mit zu meiner Beute hätte nehmen können. "Und? Wo willste hin?" Immer diese Neugier. "Zu Kaoru." "Und dann?" Meine Augenbraue windet sich nach oben. "Dann sag ich ihm, dass uns seine Krawall-Freundin mal gern haben kann und dass er mich stattdessen nehmen soll!" "Aber sonst geht's gut?" "Wie gesagt: Alles... bestens." Das Hicksen in diesem Augenblick kann ich leider Gottes aber nicht unterdrücken. "Ich merk's schon. Du gehst nirgends hin." Da steht er nun da, versperrt mir den Weg mit eiserner Bestimmtheit und plustert sich so seltsam auf, dass ich die Krise krieg, weil eigentlich will ich ja nur vorbei und mir nicht wieder Vorträge anhören müssen. "Waruuum?" Unbeabsichtigt treten meine Augen hervor. "Weil du dich nur zum Affen machen würdest." "Du bist aber nicht mein Erziehungs... dingsda." Scheiß Wörter, wollen mir nicht einfallen. "Ja, aber ich bin auch nicht die Super-Nanny und jetzt setz dich da hin." "Ich hasse das, wenn du so fürsorglich bist!", motze ich, ziehe ein langes Gesicht und denk nicht mal im Traum daran mich irgendwo hinzusetzen, nur, weil Kyo wieder einen auf Hausdrachen machen muss. Er beugt sich vor, durchbohrt mich praktisch mit seinen Blick und trotz seiner geringen Körpergröße bekomme ich es mit er Angst zu tun. "Willst du mal wissen, was ich hasse?" "Nein." Nicht genug Angst, um nicht noch trotzig wie ein kleines Kind darauf antworten zu können. Doch er ignoriert die Tatsache schlichtweg, dass ich überhaupt etwas gesagt habe. "Ich hasse es, dass du es nicht in deine verdammte Birne kriegst, dass Kaoru dich nicht liebt. Hör doch endlich auf deine Gefühle gegen jemanden zu schleudern, der sie nie erwidern wird. Hör einfach auf damit. Und verdammt noch mal, lauf nicht angetrunken zu ihm und klatsch ihm deine geschundene Seele an den Kopf." Okay, alles wirklich schön und gut, wenn Kyo so wunderbar ruhig dabei bleiben kann, wenn er soetwas zu mir sagt, aber... "WARUM DAS DENN NICH?!" Harsch wischt er meine Hand fort, die ihm bereits wild vor dem Gesichtsfeld rumfuchtelte. "Schrei nicht so. Ich bin doch nicht taub." "ABER!" "Du scheinst wirklich großen Wert darauf zu legen dein Leben noch mehr in die Hölle auf Erden zu verwandeln, oder?" In meiner Bewegung erstarre ich zu Eis. Für eine endlos wirkende Sekunde betrachte ich ihn bloß. Jetzt bekomme ich erst mit, dass ich eben richtig laut geworden bin. Wobei um uns herum doch andere Leute sind, die zwar einen halben Gang entfernt sind, aber trotz der Musik im Hintergrund sehr wohl in der Lage sind uns zu hören. Irgendwo schlägt mein Verstand hart in Kyos Augen auf Grundeis. Ich wende meinen Blick ab, klebe ihn auf meine Schuhspitzen, sehe schweigend zu Boden. "Die..." Ein tiefes Seufzen fließt über Kyos Lippen. Seine Stimme... so besorgt. Sie klingt schwer und behutsam. "Warum gibst du nicht einfach auf?" Meine Lippe schmerzt, als meine Zähne sich in sie bohren. "Ich kann nicht..." "Warum nicht? Ist es denn wirklich so schwer einfach loszulassen?" "Loslassen... das sagt sich so leicht..." "Aber was macht es so schwer? Warum machst du es dir so schwer?" "Weißt du... der einfachere Weg ist nicht immer unbedingt der, der einen auch glücklich macht." "Willst du behaupten, du bist jetzt glücklich?" "Nein..." "Na also." "Aber was ist so falsch daran für sein Glück zu kämpfen?" "Du kämpfst aber in einer aussichtslosen Schlacht. Das scheinst du immer noch nicht verstanden zu haben. Mach doch endlich mal deine Augen auf." Ich spüre seine Hände auf meinen Schultern, wie sie mich gepackt haben, mich rütteln, doch der Traum in dem ich stecke, hat mich wie ein schwarzes Moor zu tief hineingezogen, als dass ich mich befreien könnte, und ich kann nicht aufwachen. Immer noch kann ich nicht aufsehen. "Es ist nicht aussichtslos." "Erzähl keinen Schwachsinn. Du weißt genauso gut wie ich, dass es vergebens ist. Und es tut mir mindestens genauso weh wie dir, mit anzusehen, wie du dich bemühst und machst und tust und doch immer wieder abgewiesen wirst. Wie du dein Leben nur darauf lenkst und blind wirst für alles andere. Vielleicht klammerst du dich nur an eine Illusion und übersiehst dabei was für dich bereit gehalten wird. Weißt du, wir haben es dir absichtlich nicht gesagt, dass Kaoru eine Freundin hat." Die Finger meiner rechten Hand haben den Saum meines Hemdes bereits völlig ausgeleiert. Hungrig sind meine Ohren, saugen seine Worte, die mein Herz schmerzhaft durchschütteln, auf. Doch was auch immer er jetzt sagt, es geht irgendwo auf halber Strecke verloren. "Du leidest. Jeden gottverdammten Tag. Vielleicht bin ich zu dumm es zu kapieren, weil es mir einfach nicht in den Schädel will, aber... warum tust du dir das an? Warum schlägst du immer weiter mit diesem verfluchten Hammer auf dich ein? Warum?" "Weil ich Hoffnung habe", verzweifelt klingen die Laute, die mir da entweichen, und doch wie in Trance. "Hoffnung worauf?! Dass Kaoru eines Morgens aufwacht und feststellt, dass er doch auf Kerle steht?" Meine Fingernägel graben sich tief in meine Handflächen. Schmerz, den ich nicht fühle. "Vielleicht." "Das ist Selbstmord." "Ich laufe lachend in die Kreissäge... Ich weiß." "Aber warum?" "Weil... ich ihn liebe." Langsam, schwerfällig hebe ich den Kopf, schaue ihn an, versuche ein klein wenig zu lächeln. "Du... kennst doch dieses Gefühl. Du kennst es. Es hört nicht auf. Es hört einfach nicht auf. Da ist kein Schalter im Hirn, den man umlegen kann und dann sind alle Gefühle einfach und auf einmal verschwunden. Ich kann das nicht. Ich kann es einfach nicht. Ich kann nicht aufhören ihn zu lieben." Kyo seufzt, antwortet leise, resignierend, aber weiterhin besorgt. "Liebe macht blind... Ich weiß. Aber trotzdem. So wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen. Du befindest dich in einer Einbahnstraße." "Auch in Einbahnstraßen gibt es manchmal Geisterfahrer." "Ach, Die... Sag mal, hast du noch nie von dem Spruch 'Der Klügere gibt nach' gehört?" Ich runzle die Stirn "...aber das ist doch aus der Zahnpasta Werbung." "Und wenn schon. Genau so ist's aber", meint er und hebt die Schultern. "Mmmh... Dann kann ich nur sagen 'Wer nicht wagt, der nicht gewinnt'." Erneutes Seufzen. Ein Kopfschütteln. "Du bist echt hoffnungslos." "Nein", erwidere ich und bin so ernst wie ich es nur sein kann. "Ich bin einfach nur wahnsinnig motiviert." "Oder vielleicht auch nur wahnsinnig." ~*~*~ Kurz nachdem ich Kyo hinter mir gelassen habe, und diese vielen Sätze im Gehen verdauen muss, stellt sich mir wieder das nächste Problem: Ich habe Kaoru gänzlich aus den Augen verloren. Auch von Toshiya keine Spur mehr. Ich sehe jede Menge Leute, bekannte Gesichter, aber auch zu viele normale Hotelbesucher. Es ist zu voll hier und das Licht ist zu gedimmt. Hinzukommt, dass mir meine Augen andauernd Streiche spielen. Mittlerweile habe ich eine halbe Stunde nur damit zugebracht, herumzuirren, konnte dabei wieder vollends aus dem Schwanken und Zweifeln kommen, in das man mich fast gestoßen hätte, habe Ausschau gehalten, mir noch mehr Mut angetrunken und dennoch komm ich mir vor, als wäre zwischendurch mal der Erdboden aufgerissen und hätte Kaoru verschlungen, denn er ist unauffindbar. Ich weiß wirklich nicht, woran es liegt, aber ich scheine eine Art Magnet für alkoholische Getränke zu sein. Ständig ist dieses Teufelszeug in greifbarer Nähe und wie ein Einarmiger Bandit schnappt meine Hand jedesmal zu, wenn es wagt mir zu nahe zukommen. Zu nahe sind mir derzeit auch die Jungs von der Vorband, die mich von meinem Pfad abbringen wollen und mit aller Macht probieren mich dazu zu bewegen mit ihnen einen zu heben, anstatt mitten im Raum zu stehen und wie ein Nilpferd zu gucken. Ich mag nicht. Außerdem tut der Klumpen in meinem Brustkorb weh. Das kann ich nicht ignorieren. Ich hatte doch was vor. Wollte doch eine Kampfansage machen. Jetzt hab ich nur wieder ein Glas am Mund kleben und spüre Tequila in meinem Rachen brennen. Wie sagt man doch so schön? Zwischen Leber und Herz passt auch immer noch der Schmerz. Nee, das war irgendwie anders. Ach, drauf geschissen. Ich hab einen im Kahn. Wo's hier bloß der Kaoru wieder hin? Der's so winzig, ich find den nicht zwischen den riesigen Ausländern. Verflucht sei er. Irgendwie schaffe ich es mich von dem Pulk zu lösen, der sich um mich gebildet hat, und meine Suche fortzusetzen - was sich als immer schwieriger herausstellt. Es muss wohl schon etwas später sein, denn überall, wo ich hinblicke, tummeln sich angeheiterte Menschen und vor meinen Augen verschwimmt alles immer mehr. Gestresst versuche ich mir eine Zigarette anzustecken, drurchwühle meine Taschen, aber ich kann mein dummes Feuerzeug nirgends finden. Wie sich eine Sekunde später herausstellt, muss ich das auch gar nicht. Wie von selbst fällt der Glimmstängel durch meine Finger und landet auf dem Boden. Denn kaum, dass ich um die Ecke bin, die Bar verlassen habe, passiert es auch schon. Es ist nicht mal genug Zeit vergangen, um mir wieder Luft zum Atmen zu geben. Neben der Gestalt einer zierlichen jungen Frau taucht Kaoru auf. Glitzernd, nahezu sprühend vor Ausstrahlung, funkelnd wie ein Brillant. Mir ist als hätte mir just in diesem Moment jemand brutal einen Ziegel vor die Stirn geschlagen. Das geht mir zu schnell. So schnell kann ich nicht schalten. Nicht mal nüchtern. Plan, ich brauche einen Plan, irgendwas, so dass ich mich aus gutem Grund an ihn klatschen kann. Wo es drauf ankommt, will mein Hirn wieder nicht arbeiten. Die ganze Nacht über keine Spur von ihm und jetzt das. Es hat keinen Sinn. Wenn ich nicht sofort reagiere, laufe ich Gefahr, dass er entdeckt wie ich hier wie angewurzelt stehe und ihn angaffe, wie er sich köstlich zu amüsieren scheint. Improvisieren muss ich. Mir wird schon was einfallen. Ich schaff das. Mit torkelnden Schritten durchquere ich den Raum, ihn im festen Blick. Schon längst hat er mich gesehen, sich absichtlich weggedreht. Doch mit Entschlossenheit schreite ich voran, bis ich hinter ihm stehe und auf seine Schulter klopfe. Unter meiner Hand fühlt sie sich so wunderbar warm an. "Hey, Kaoru. Weißt du, was ich-" "Nein." "Weißt du, was du-" "Nein." "Du weißt doch gar nicht, was ich sagen will!" Eiskalt. Er wendet nicht mal das Gesicht zu mir. "Und ich glaube, es geht mir auch besser so. Wie du siehst, unterhalte ich mich hier gerade. Würdest du mich also bitte entschuldigen?" Als wäre ich ein kleines Kind, das den Papa bei wichtigen Geschäftsgesprächen stört. Nicht mit mir. "Ich hab aber 'nen guten Vorschlag, Kaoru. Lass uns raus gehen und ein bisschen in der Stadt rumlaufen. Die Lichter glitzern heute Nacht doch so schön, man sieht sogar die Sterne, es ist einfach traumhaft draußen und die Luft ist herrlich warm." "Nein Danke, kein Interesse." Damit drückt er unwirsch meine Hand fort. Es ist als würden seine Worte mich wie ein Pfeil durchbohren. Ist es der Alkohol? Ist es das? Dieser Satz trifft mich härter, als er es sollte. Am Abend hätte ich ihn mit Leichtigkeit geschluckt. Jetzt versetzt er mir einen heißen Stich mitten ins Schwarze. Und ich gerate ins Taumeln. Der Ziegel schlägt ein weiteres Mal brachial gegen meinen Schädel. Er ignoriert mich. Als wäre ich nicht da. Führt seine Unterhaltung fort. Würdigt mich keines Blickes. Liebäugelt mit der Frau neben sich. Erst jetzt wird mir bewusst, dass es sich um seine Freundin handelt. Ich... nein... Ich verliere mich selbst. Mir ist so schwindlig. Beine fühlen sich an, als würden sie nicht zu mir gehören, verweigern ihren Dienst, gehorchen nicht mehr. Wie meine Lippen, die unzusammenhängendes Zeug daher brabbeln, das niemanden interessiert, sich nicht mehr entsinnen können, warum ich hier stehe. Weg. Ich will fort. Nicht mehr hier sein. Ich ertrag das nicht. Gaukle mir vor, ich könnte es, doch kann keine Sekunde länger hier stehen. Ich stolpere einen Schritt nach hinten, dann einen weiteren. In einer Menschenmasse bewege ich mich in Zeitlupe. Um mich herum läuft alles dreifache Geschwindigkeit. Die Geräusche erscheinen quakend und schrill, dröhnen in meine Ohren. Das Lachen, die Musik prasselt von allen Seiten auf mich ein. Die Farben werden grell, brennen sich in meine Augäpfel. Übel wird mir. So übel. Und diese Hand dort. Kaorus Hand. Was macht sie da? Auf einer Hüfte, die nicht meine ist. Sie gehört zu mir, auf meine Haut. Und seine Freundin... die mich anblickt, als wüsste sie über alles Bescheid, mich auf eine Weise anlächelt, die ich nicht begreifen kann; ihre Finger in den Stoff seines Hemdes krallt und ihn zu sich zieht, sich an ihn drückt. Sie haben sich vertragen. Keine Spur mehr von der dunklen Wolke über ihm, als er sich zu ihr beugt und ihre Lippen sich berühren. Will meinen Blick fortreißen, doch mein Augenpaar ist wie gefesselt, starrt wie gebannt, kann es nicht glauben. Mein Gehirn weigert sich strikt, das, was sich dort unweit von mir entfernt abspielt, als real zu akzeptieren. Kümmert es irgendwen, wenn ich mich fühle, als wären meine Gedärme vergiftet, als würden sie langsam in meinem eigenen Leib verrotten? Nein. Wenn ich dich liebe, dann ist das mein Problem. Wenn ich mich nach dir verzehre, dann ist das meine Schuld. Meine Apathie schlägt in Wut um. Zu hart, zu hastig. Der Alkohol verätzt meine Innereien, Säure meinen Schlund. Mein Magen droht sich umzudrehen. Jetzt und hier. Ich würge. Doch bevor die Lichter ausgehen, packt eine Hand mich grob am Oberarm und zerrt mich beinahe brutal davon und in einen anderen Gang. Rumsend schlägt mein Rücken gegen die Wand hinter mir. Die Hand über meinen Mund gepresst, sinke ich zusammen, versuche nicht zu husten, versuche zu atmen. Alles ist ganz verschwommen. Ich höre eine Stimme wie durch Watte zu mir dringen. Vor mir taucht ein Gesicht auf, eine Person, die sich vor mich hockt. So schön kalt ist die tätowierte Hand, die sich auf meine Stirn legt. Ich blinzle betreten, während der Alkohol Achterbahn mit mir zu fahren scheint. Doch langsam wird meine Sicht, mein Kopf, wieder klarer. Es ist Kyo, der unmittelbar vor mir ist, meinen Namen ruft und mich so heftig rüttelt und schüttelt, dass mir gleich wieder ganz schwarz vor Augen wird. "He, lass das...!", stöhne ich und schaffe es mit einiger Anstrengung mich aus seinem Griff zu befreien. Mit der Klarheit kehrt auch wieder der Zorn zurück. "Ich bin doch nicht das Bäumchen-schüttel-dich..." "Wer weiß", keift mich Kyo an. "Vielleicht fällt ja doch ein klein bisschen Intelligenz aus deinem Kopf, wenn ich nur kräftig genug schüttel." "Das einzige was hier gleich fällt ist meine Faust... und zwar in dein Gesicht..." Mein Oberstübchen fühlt sich an, als wäre eine Bombe darin explodiert. Wahrscheinlich weil es beim Schütteln gegen die Wand geprallt ist. "Immer sachte, sachte. Du lässt deine Wut an der falschen Person aus." "Was willst du überhaupt?" "Dich vor deiner eigenen Dummheit bewahren." "Ich habe dich nicht um deine Hilfe gebeten." Ich will das nicht. Er soll aufhören sich einzumischen, so grob zu mir zu sein. Doch scheint auch seine Nachsicht mit der Zeit im Sand versickert zu sein. "Hör zu. Es ist wichtig. Ich kann das nicht mehr mit ansehen." "Dann mach halt die Augen zu", blaffe ich benommen, blocke seinen Finger, der mir wohl drohen will. "Oh haha, würd ich ja gerne. Nur bei euch ist das so wie bei einem Autounfall - es ist so schrecklich, man kann einfach nicht weggucken. Und jetzt sperr deine Lauscher auf, ich hab noch Besseres zu tun, als mich mit dir rumzuplagen." Unsanft beginnt er an meinem empfindlichen Ohr rumzuzerren. Meinen lauthalsen Protest und mein konstantes Fauchen ignoriert er jedoch gekonnt. "Wenn du ohne Deckung aus dem Schützengraben stürmst, musst du dich nicht wundern, wenn du im Kugelhagel endest." Widerbörstig und mittlerweile mehr als nur verärgert, schlage ich seine Hand fort und reibe mein malträtiertes Ohr. "Du weißt gar nichts." "Ich weiß genug, um zu kapieren, dass Kaoru der Panzer ist, der dich zu Brei fährt." "Halt dich da raus." "Wie bitte?" "Halt dich raus aus meiner Liebe." Trotz meiner Übelkeit stemme ich mich zurück auf die Beine und werde prompt wieder gegen die Wand geschleudert. "Verdammte Scheiße, Die. Es dreht sich nicht immer alles nur um dich. Ich find's auch grässlich, was Kaoru dir alles an den Kopf wirft, aber es ist mindestens genauso schlimm, was du hier abziehst! Gib endlich auf, hörst du? Gib endlich auf. Such dir 'ne nette Freundin oder von mir aus auch 'nen Freund, und vergiss ihn. Vergiss Kaoru einfach. So wie ihr euch gegenseitig behandelt, habt ihr einander sowieso nicht verdient." "Ich weiß es wirklich sehr zu schätzen, dass du dir solche Sorgen um mich machst, aber so bin ich nun mal." "Bescheuert, das bist du." "Na und? Dann bin ich eben bescheuert", zische ich. Endlich lässt er von mir ab. In seinen Augen kann ich erkennen wie viel Beherrschung es ihn kostet so ruhig zu bleiben wie er immer noch ist. Er schnauft, starrt mich an. "Weißt du was? Fein. Mach halt wie du denkst. Ich halt mich da ab jetzt raus. Aber wenn du wieder auf die Fresse fliegst, ist es nicht meine Schuld. Und jetzt gehst du am besten schleunigstens ins Bett, du hast schon wieder zu tief ins Glas geguckt." Ich rücke meine Klamotten zurecht und murre. "Soll ich dich bringen? Findest du den Weg in dein Hotelzimmer?" "Jaah, ich bin doch kein Kind mehr." "Dann benimm dich gefälligst auch endlich mal so." ~*~*~ Mit leisem Klicken öffnet sich die Tür vor mir, an die ich meinen fast berstenden Kopf gelehnt habe. Stolpernd, auf diesen Beinen, die sich anfühlen wie aus Gummi, falle ich in mein Zimmer hinein. Wodka, Bier, Tequila und Korn lachen mich an und veranstalten eine Polonaise in meinem Bauch. Zittrig sind meine Finger, als ich mich bis auf die Shorts entkleide, bevor ich in die Kissen stürze, das Gesicht nach unten. Leise heule ich auf. Jetzt lieg ich schon und dennoch dreht sich alles munter weiter. Dieses Schwindelgefühl fühlt sich wirklich alles andere als schön an. Und übel ist mir auch wieder. Gott, ich bin so betrunken... In meine Erinnerungen haben sich Kaoru und seine grässliche Freundin gebrannt. Wie seine Hand auf ihrer Hüfte lag, ihre Münder zu einem verschmolzen. Diese Bilder verfolgen mich eisern und lassen mich einfach nicht mehr los. Sie tun weh, brennen, doch ich kann sie nicht aus meinem Hirn verbannen. Ganz gleich wie sehr ich mich darum bemühe. Zu einem Ball zusammengerollt, beiße ich auf meine ohnehin schon aufgeplatzte Lippe. Mein Inneres schmerzt so sehr. Es wird langsam alles alt. Ich kann die Ketten, die mich fesseln, einfach nicht zerbrechen. Mein Körper wird langsam alt. Letztlich bleibt nichts zurück in mir, in meiner Seele. Sucht bedarf eines stärkeren Beruhigungsmittels. Das Dröhnen dieses Giftes benebelt mich so sehr. Weitere Erinnerungen schleichen sich ein. Ich erinnere mich an das, was Kaoru zu mir sagte, kurz nachdem wir die Bühne verlassen hatten. Die Worte spuken noch immer in den Kammern meines Geistes herum. Der verdrehte Sinn von ihnen klopft erst jetzt ganz leise an meinen vernebelten Verstand. Doch es scheint mir, als würde er nur daran zerbrechen. Und vielleicht ist es auch zu verdrehtes Denken. Vor nicht wenigen Augenblicken hatte ich mir ein Handtuch geschnappt und es mir über das nasse Haar gerubbelt, mich auf einen der Sessel fallengelassen. Freudiges Gelächter und zufriedene Stimmen hatten die Luft um uns erfüllt und jemand hatte von irgendwoher gerufen "Das war der letzte Live! Ein Hoch auf die Pause! Ein Hoch auf die Pause!" und ein anderer hatte geantwortet: "Und in einer Woche sehen wir uns dann wieder!" Erschöpft und high zugleich von der Bühnenshow, hatte ich mich zu Kaoru gewandt, ihm sacht und neckend in die Seite gestoßen, leise gegluckst. "...und bis dahin musst du jetzt ohne mich auskommen, Kaoru." Er hatte bloß gelacht. "Das ist kaum zu schaffen." "Aber es ist nötig", hatte ich gemeint, meinen Kopf schief gelegt und beipflichtend genickt. Kaoru jedoch hatte nur an seiner Wasserflasche genippt, seine Augen wie abwesend über die Köpfe der Leute um uns herum wandern lassen und geantwortet: "Ja, und ich habe es nötig wie nie..." ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 7: Verlierer/Gewinner ----------------------------- Kommentar: Tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat. Dieses Kapitel wollte irgendwie nicht so brav fließen, wie ich es gedacht hatte. Der Titel ist auch recht lahm, mir wollte partout kein schöner einfallen. Und ehrlich gesagt habe ich nicht den blassesten Schimmer, warum dieses Kapitel so lang geworden ist o_o; Grauenhaft. Ein simples Wort mit zehn Buchstaben, das diese komplette Tour absolut perfekt beschreibt und zusammenfasst. Seit Dienstag befinden wir uns wieder auf der Straße. Die Pause hat sehr gut getan, uns allen. Ich habe viel Sightseeing machen können und mich auch sonst bestens amüsiert, neue Kraft schöpfen können. Auch mein Gleichgewicht habe ich wieder gefunden, nach meinem Absturz versucht Alkohol zu meiden - was mir zugegebenermaßen leider nur mittelmäßig gelungen ist. Alles scheint immer noch beim Alten zu sein, nur noch viel verwirrender, und mich lassen die Gedanken nicht los, was Kaoru mit seiner Freundin in der Freizeit getan hat, als ich ihn nicht beschatten konnte. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß - was für ein Gott verdammter Schwachsinn. Es ist Samstag, es ist früh, wir sitzen im ruckelnden Bus und im Grunde befindet sich zur Zeit alles eher im Grünen Bereich. Wenn man es jedoch genauer betrachtet, verändert sich das Bild. Nachdem die Tourwoche vor der Pause für mich bereits eine der schrecklichsten seit einer Ewigkeit war, droht auch diese nicht allzu besser zu werden. Nein, es geht nicht darum, dass mich wieder einmal alle phasenweise absichtlich ignorieren, wenn ich meine Ausrutscher habe. Nein, es ist nicht die Tatsache, dass ich vor ein paar Tagen wieder eine total hirnlose Auseinandersetzung mit Kaoru hatte. Nein, es hat wirklich nichts damit zu tun, dass Shinya mich mal wieder zu Tode genervt hat mit seinem Gefrage über Englische Grammatik und Aussprache. Nein, Toshiyas neutrales Verhalten und Rumsticheln ist nicht der Grund. Nein, nicht mal Kyo, der mich wie ein kleines Kind behandelt und nicht wie jemand, der auch gut auf sich allein aufpassen kann, ist dafür verantwortlich. Nein, nein, nein... Es ist viel schlimmer. Ich hatte schon seit genau drei Monaten keinen Sex mehr!! Notfall. Ausnahmezustand. Alarmstufe ROT. Was ist nur passiert? Hab ich etwa meinen Charme verloren oder meine Anziehungskraft oder meinen Sexappeal oder... einfach ALLES?! Horrorvisionen bilden sich vor meinem inneren Auge und verfestigen sich nach und nach immer mehr zu einem klaren Bild. Hundertprozentig liegt es daran, dass ich älter werde... Oh mein Gott, nein, ich BIN alt! Jetzt und zum allerersten Mal verstehe ich wie sich Kaoru fühlen muss. Mein Kopf knallt mit Überschallgeschwindigkeit auf die steinharte Tischkante vor mir. Die Arme über dem Kopf verschränkt, so liege ich hier und winsele wie ein geprügelter Hund. Ich bin alt. Ein alter Mann, der nie wieder irgendwelche heißen Mädchen oder Kerle abkriegen wird... Wie konnte das nur passieren? So einfach über Nacht? Was ist denn nur los auf einmal? Warum ausgerechnet jetzt? "Die? Alles okay bei dir?" Kaorus dunkle Stimme findet den Weg an meine Ohren. "Ich werde alt...", jammere ich rum, vergrabe meinen Kopf tiefer unter den Armen und im Pulli. Doch das Einzige, was von ihm zurückkommt, ist ein spöttisches Lachen. "Ach, komm schon. Wir alle werden älter." "Du bist überhaupt keine Hilfe." "Was soll ich denn sonst tun? Dich bemitleiden?" "Hört sich doch für den Anfang schon mal ganz nett an..." Grummelnd presse ich meine Nase gegen die kalte Tischplatte, die sich bald schon wegen meines heißen Atems erwärmt. Es besteht überhaupt kein Grund dazu aufzublicken, ich weiß ganz genau, dass Kaoru mich angafft mit diesem absolut verfolgenden Ausdruck auf seinem Gesicht. Zu hören wie er gegenüber von mir Platz nimmt, zu spüren wie er eine seiner Hände behutsam auf mein Haar legt und es leicht zerstrubbelt, tut so gut an diesem Morgen im immer noch fahrenden Tourbus. Aber natürlich hält dieser Moment nicht lange an. "Also Die, wenn du dich unwohl fühlst, dann solltest du etwas ändern." Gaaah. Hallo weltverbessernder Psychiater-Kaoru! Ich will tot umfallen. Jetzt. "Selbstmitleid bringt dich kein Stück weiter", sagt er und ist ach-so-hilfreich. "Nicht?" "Die, was willst du-?" "Sex." Ein genervter Laut dringt aus Kaorus Mund. "Ich meinte: Was willst du ändern, du Kartoffelkopf?" "Ich will ändern, dass ich wieder Sex habe." Ist das denn so schwer zu kapieren? "Du scherzt, oder?" "Glaub mir, ich bin viel zu verzweifelt, um zu scherzen." Kaoru räuspert sich - wahrscheinlich mehr aus dem Grund, weil er bezweifelt, dass ich wirklich ein Gehirn besitze, welches den sonstigen Hohlraum in meinem Schädel füllt, als dass er wirklich einen Frosch im Hals hat. Obwohl er in letzter Zeit oft einen Frosch in seinem Hals hat. Das und diese ganze Husten, Schnauben, Schnarchen, Schnorcheln Geschichte. Ein Zeichen des Verfalls vielleicht... Oh nein, ich will nicht das gleiche Schicksal erleiden! "Also..." Ich höre das Schnappen seines Feuerzeugs, wie er an der Zigarette zieht, die er gerade eben angezündet hat, und wie er den Rauch nur den Bruchteil einer Sekunde später wieder sanft ausbläst. Der Geruch ist sofort überall in der Luft, während er einfach mit der Kippe zwischen den Lippen weiterredet. "Du willst Sex. Irgendwelche speziellen Wünsche?" Die Tatsache ignorierend, dass diese Unterhaltung vollkommen absurd ist in Anbetracht der Tatsachen wie es zwischen uns steht, antworte ich einfach ehrlich und trotzdem vage. "Ich bin nicht wählerisch..." "Willst du Sex mit mir?" Jetzt ist der Moment, in dem ich endlich meinen Hals etwas hochrecke, zu ihm aufschaue, um einen Blick auf ihn zu riskieren und trotzdem versuche ihn nicht mit riesigen Augen anzugaffen. "Wenn du dich anbietest, sicher." Meine Stimme zittert leicht. Kaoru grinst nur selbstgefällig. "Hör auf zu träumen." Sofort macht meine Stirn wieder Bekanntschaft mit der Tischplatte. Schon schlimm genug, dass er mich verspottet, aber muss er sich dabei auch noch so köstlich amüsieren?! Das ist makaber. "Wenn du es so dringend brauchst, dann geh doch ins Bordell." Schade, dass Blicke nicht töten können, sonst würde er jetzt tot über der Leitplanke hängen. "So dringend brauch ich's nun auch wieder nicht! Außerdem muss Die nicht für Sex bezahlen. Die ist derjenige, der für seine Dienste bezahlt werden sollte!" Mit den Augen rollend zieht Kaoru wieder an seiner Zigarette. "Du redest von dir selbst in der dritten Person mit einer Schnatterstimme. Das heißt du brauchst äußerst dringend jemanden, der dir das Hirn aus dem Schädel vögelt." "Bietest du dich nicht vielleicht doch an?" Mein Grinsen ist greller als eine Billionen Supernovas. "Lieber rasier ich mir die Eier." "Idiot." "Nein, du bist der Idiot. Du kennst das Sprichwort, Die: Wenn es geht wie eine Ente und redet wie eine Ente, dann ist mit Sicherheit eine Ente." "Fick dich, Kaoru. Fick dich einfach." "Immer noch besser als dich zu ficken." Damit steht Kaoru auf, wirft den Zigarettenstummel in den Aschenbecher und verzieht sich wieder in den hinteren Teil des Busses. Ignorant. Mir hängt's zum Halse raus, dass ich mir diesen Scheiß jeden Tag wieder aufs neue reinziehen muss. Freiwillig gibt sich das doch keiner, oder? Ich muss wahnsinnig sein, minderbemittelt, geistig zurückgeblieben. Aber das Arschloch zu spielen steht Kaoru nun mal nur allzu gut, wenn man weiß wie er eigentlich wirklich ist. Nichtsdestotrotz will ich gerade nichts lieber tun, als ihm in den Arsch zu treten. Voller Verzweiflung beiße ich in den Tisch. Nicht, dass es auch nur irgendwas ändert - außer, dass mir nun die Zähne höllisch wehtun - aber irgendwie muss ich doch all meine unterdrückten Aggressionen loswerden. Sie an dem Eisklotz da auszulassen, könnte mich Kopf und Kragen kosten. Wo zum Teufel ist eigentlich Toshiya, wenn man ihn mal braucht?! ~*~*~ So, und nun? Schon wieder zwei Stunden rum und noch keinen Schritt weiter mit meinem Plan. Wo krieg ich denn jetzt den geeigneten Bettpartner her? Die sprießen ja leider nicht wie Pilze aus dem Boden. Ja, ich hab gesagt, ich bin nicht wählerisch. Naja, ein bisschen vielleicht schon. Mit der oder dem Erstbesten spring ich auch nicht sofort in die Federn. Ich hab schließlich auch Anstand. Irgendwie muss die Chemie ja stimmen. Selbst, wenn es nur für eine Nacht ist. Hör ich mich gerade irgendwie menschenverachtend an? Obwohl mir auch grad wieder einfällt, dass wir heute nicht in einem Hotel übernachten. Zur Freude aller ist schlafen im Bus angesagt. Immerhin schlafe ich über Kaoru. Also meine Koje ist über seiner. Es hat sich wirklich gar nichts verändert und ich lerne auch nie dazu. Ganz gleich wie mit meinen Gefühlen Schlitten gefahren wird. Total stur oder total bescheuert. Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Natürlich, Kaoru ist nach wie vor bissig und fies zu mir, aber vielleicht hatte Kyo ja Recht und ich gehe tatsächlich selbst immer etwas zu weit. Ich habe versucht ein paar Gänge runter zu schrauben, nachdem ich mich für mein Verhalten in letzter Zeit doch reichlich schäme. Aber... Keiner von uns hier spielt auf irgendeine Art und Weise fair. Wir schummeln, wir betrügen und wir bluffen auch. Alles ist erlaubt und wer austeilt, muss auch einstecken können. Ich versuche meine Sicht auf alles etwas zu verändern und vielleicht zu begreifen, wie ich gewissen Situationen aus dem Weg gehen kann und wenn dies nicht klappen will, dann wenigstens, wo sich das Schlupfloch befindet, in das ich mich hineinpressen kann, sollte die Sintflut zurückkehren. Ja, ich bin selber Schuld, wenn ich nochmal auf die Fresse fliege. Damit kann ich leben. Ein paar blaue Flecken mehr oder weniger... Da ist eine Freundin, die es auszustechen gilt. Nie mehr will ich diese zerkratzende Verzweiflung spüren, die ich bei ihrem plötzliches Auftauchen fühlte. Toshiya meinte trocken sie wäre absolut ungefährlich. Was genau er damit aber sagen wollte, hat er mir natürlich nicht erklärt. Was Kaoru höchstpersönlich betrifft, nimmt er mich überhaupt nicht mehr ernst. So wie die ganze Zeit vorher auch schon. Im Prinzip hat sich sein ganzes Verhalten nicht einen Deut geändert. Nur meine Reaktion darauf dreht sich wie eine Fahne im Wind. Ich stolpere durch den Bus. Mein Gleichgewichtssinn scheint sich lange schon verabschiedet zu haben. Ich taumele hin und her, halte meine Bierdose fest umschlungen in meinen Fingern, bahne mir meinen Weg zurück vom Kühlschrank zu meinem Sitzplatz. Der Fernseher über unseren Köpfen spielt eine DVD ab, die ich in und auswendig kenne und so schenke ich dem flackernden Bild wenig Beachtung, hefte mein Augenpaar lieber auf die Fensterscheibe neben mir. Dahinter verbirgt sich jedoch nur eine triste Landschaft, die im dichten Nebel versinkt, der wie eine dicke Decke über den Feldern liegt. Ein kalter Schluck Bier fließt über meine Zunge, meinen Schlund hinab. Der Alkohol aktiviert sofort das Belohnungszentrum in meinem Hirn und ich schließe seufzend die Augen für eine Weile. Gegluckse dringt an meine Ohren. Dieser Film ist nun wirklich behämmert, aber meine Bandkollegen scheinen sich echt bis aufs Äußerste zu amüsieren. Unruhig rutsche ich auf dem gepolsterten Sitz hin und her. Vom vielen Sitzen schmerzt mein armes Hinterteil und auch mein Rücken beklagt sich ächzend, schickt unangenehme Stiche meine Wirbelsäule hinauf. Leichter Nieselregen klatscht gegen die Glasscheibe, gegen die ich meine Stirn gelehnt habe. Toshiyas Lachen vermischt sich mit dem von Kyo, während Shinya gegenüber von mir immerzu die Augen verdreht bei jedem Lacher, der von der linken Seite des Busses zu uns dringt, bevor er wieder hochkonzentriert die Buchstaben in seinem Lernbuch studiert. Erneut seufze ich kaum hörbar auf. Die Büchse an meinem Mund lecke ich gedankenversunken den Rand der kleinen Öffnung entlang, nur um dann ein Sekunde später erschrocken zurückzuschrecken, als das scharfe Metall erbarmungslos in meine Zungenspitze schneidet. Leise fluchend stelle ich die Dose vor mir auf den Tisch und berühre den kleinen, blutenden Riss, wobei ich gleichzeitig unzählige Bierspritzer auf meinen Shirt entdecke, welches ich eigentlich heute den ganzen Tag über tragen wollte. Shinya nimmt von meiner Ungeschicktheit nur mit einem flüchtigen, genervten Blick Notiz. Zeitgleich erhebe ich mich und klettere wieder zurück in den Gang. Natürlich kann ich mit diesen frischen Flecken auf meiner Kleidung nicht durch die Gegend rennen. Wie würde das denn aussehen? Also dackle ich mit bereits nacktem Oberkörper zurück in den hinteren Teil des Busses. Wie ich so im Gang hocke, meinen Koffer aus der schmalen Nische unter den Kojen hervorgezogen, und darin nach einem neuen Shirt herumwühle, erscheint auf leisen Sohlen Kaoru vor mir. "Was machst du denn schon wieder da?" Nur kurz schaue ich zu ihm auf, richte meine Aufmerksamkeit dann aber wieder auf meine Klamotten. "Ich suche." "Schon wieder deinen Verstand?" "Über diesen Witz lacht schon seit langem keiner mehr." Lässig lehnt er sich an die Kojen an der Seite. "Dabei ist es doch gar kein Witz." "Stimmt. Das einzige, was hier ein Witz ist, bist du. Musst du nicht grad jemand anderen belästigen?" Endlich ziehe ich das gesuchte T-Shirt aus dem Koffer. "Hey, das ist doch mein Satz. Haben wir nun, ohne dass ich es mitgekriegt habe, die Rollen getauscht?" Immer noch hockend drehe ich mich zu ihm. "Ja, Kaoru. Willkommen im Paralleluniversum." Keine Ahnung, woher das dreckige Grinsen kommt, das sich auf mein Lippen stiehlt. Vielleicht, weil sich in diesen Sekunden mein Kopf so ziemlich auf einer Höhe mit seinem Schritt befindet. Wäre da nicht noch der verflixte Koffer zwischen uns. "Müsstest du im Paralleluniversum nicht eigentlich gut aussehen?" War ja klar, dass jetzt sowas kommt. "Müsstest du im Paralleluniversum nicht eigentlich größer sein als ein Wäschekorb?" Zurück auf den Beinen, bäume ich mich vor ihm auf, mache mich im ganzen Gang breit. Bis zur Unkenntlichkeit verzieht sich Kaorus Gesicht. "Leck mich am Arsch." "Mit dem größten Vergnügen!" Für den Bruchteil einer Sekunde blinzelt er mich verstört an, hatte wohl nicht mal im Traum daran gedacht, dass meine Antwort wie aus der Pistole geschossen kommen würde. Aber dann bildet sich ein sonderbares Grinsen auf seinem Gesicht, das mir wahrlich Rätsel aufgibt. "Bei sexuellen Zweideutigkeiten bin ich wie immer ganz vorne dabei, nicht wahr?" Jetzt verwirrt er mich. "War das jetzt eine Aufforderung?" "Aber natürlich, Die. Spring rein in meine Koje und mach's dir bequem, mach dich schon mal frei und ich komm dann gleich mit 'ner Flasche Champagner und 'ner Tube Schlagsahne hinterher." "Sarkasmus scheint die einzige Sprache zu sein, die du flüssig sprechen kannst, hm?" "Aber du scheinst ja sowieso keine einzige Sprache zu verstehen, die ich spreche." "Du sprichst ja auch so viele." Und ich dachte, nur ich leide unter derartig konfusen Stimmungsschwankungen. Man könnte die Luft zwischen uns schneiden, so dick ist sie. In seinen Augen funkelt es, aber ich kann meine auch zu solchen fiesen Schlitzen verengen - kein Kunststück. "Lass mich mal durch", pflaumt er mich an, versucht sich an mir vorbeizuzwängen. "Nö", erwidere ich und mache mich demonstrativ noch breiter. "Du stehst im Weg." "Wie heißt das Zauberwort?" "Fick dich." Mein Gesicht wird lang wie das eines Pferdes. "Und das ist richtig~", zwitschert Kyo mit einem Mal völlig ungefragt von hinten. Schleppend drehe ich mich zu ihm um, wobei die feine Ader an meiner Stirn hektisch zu zucken beginnt. Über die Lehne des Sitzes gebeugt sitzt er da, neben ihm luschert auch Toshiya herüber. Es ist mir fast so, als wären wir hier sowas wie eine Zirkusattraktion. Nur mag ich es nicht sonderlich, wenn man mich mit solchen Blicken beäugt und nur sensationsgeil darauf wartet, dass Kaoru mir wieder verbal eins überbrät. "Streu nicht noch Salz in die Wunde!", keife ich und stubse Kyo hart gegen die Stirn, drücke ihn nach hinten, damit er sich wieder mit was anderem beschäftigt und sich aus meinen Angelegenheiten raushält. Seine Antwort beginnt mit einem Achselzucken. "Du rollst dich doch schon genug allein im Salz herum." "Sehr witzig. Als würde ich das freiwillig machen." "Tust du doch", wirft Toshiya auf einem Müsliriegel rumkauend ein. "Gar nicht wahr!" Genervt wippt Kaoru mit der Schuhspitze auf und ab, raschelt mit seinem Notizzettel rum. "Könntet ihr bitte mal damit aufhören?" "Danke!" Hach, wenigstens Kaoru findet auch, dass das hier Kindergarten ist. "Dies erbärmlichen Anblick ertragen zu müssen ist schon schlimm genug, da muss ich nicht auch noch über sein erbärmliches Leben hören." Mich trifft der Pfeil buchstäblich direkt ins Genick. Empört reiße ich meinen Mund auf, fasse diesen dreisten alten Sack wieder genau ins Auge, erhebe sogar mahnend meinen Finger, mit dem ich ihm wild vorm Gesicht rumfuchteln kann. "...hey! Schon mal drüber nachgedacht, wer Schuld daran ist?!" "Keine Zeit." Ich glaub's hackt mal wieder. "Du hast sogar genug Zeit um ellenlange Blog-Einträge zu schreiben! Verarsch mich nicht!" Kaoru quittiert das Ganze nur mit einem gleichgültigen Blick. Murrend gebe ich den Gang frei und lasse ihn an mir vorbei. An ihm beißt man sich wahrlich die Zähne aus. Jetzt hilft nur noch schnaufen. "Ich beobachte dich, Kaoru. Ich beobachte dich!" "Ja, ja..." Augenrollend und wirsch drückt er meine Hand zurück, die ich ihm noch weiterhin mahnend nachgeschickt habe. Danach pflanzt er sich geradewegs auf den freien Platz neben Shinya und breitet seinen Zettel auf dem Tisch aus. Zeitgleich hocke ich mich murrend wieder hin, um meinen Koffer zu schließen und ihn unter den Kojen zu verstauen. Zuerst ziehe ich mir aber das neue T-Shirt über, denn langsam wird es mir doch recht kühl oben rum. Überall auf meinem Oberkörper hat sich schon eine richtige Gänsehaut gebildet. Irgendwie komme ich aber nicht weit mit dem Drunterschieben meines Gepäcks, denn plötzlich klemmt irgendwas und es geht nicht weiter. Verdammt, jetzt muss ich mich an den dreckigen Teppich des Gangs kleben, damit ich da drunter gucken kann, um zu sehen, warum es nun nicht mehr passen will. Ich verdrehe just in dem Moment meinen Kopf und blinzle in diesen vollkommen unausgeleuchteten Bereich des Busses, als man mir auf einmal von hinten unsanft gegen den Hintern tritt. "Ey! Was wird das denn jetzt?" Sofort wirble ich herum, um den Übeltäter noch auf frischer Tat zu ertappen. Wie sich den Bruchteil einer Sekunde später herausstellt, ist es kein geringerer als Toshiya. Hätte ich mir irgendwie auch denken können. "Ich hab 'n Vorschlag für dich", verkündet er, während ich mir über den schmerzenden Po reibe und es aufgebe diesen bescheuerten Koffer noch irgendwie wieder an seinen rechtmäßigen Platz zurückzubefördern. Eine meiner Augenbrauen schraubt sich in die Höhe. "Und was soll das für einer sein?" Na, da bin ich ja mal gespannt wie ein Flitzebogen. "Du willst doch mal wieder jemanden für die Nacht haben, stimmt's?" "Du hast gelauscht." "Ich hab nicht gelauscht. Es ist unmöglich wegzuhören, wenn man im gleichen Bus mitfährt!" Alles Ausreden. Ich erhebe mich brummend und trete neben ihn. "Also, willst du nun jemanden oder nicht?" "Jaaah." Mit den Fingern grabbel ich mein Feuerzeug und Kippen vom Tisch, um mir eine längst überfällige Kippe anzuzünden. "Gut, ich hab da nämlich beim letzten Konzert ein Mädchen kennengelernt", beginnt Toshiya mit seiner Geschichte und betrachtet mich dabei, wie ich an meiner Zigarette ziehe. "Total süß, die Kleine, und 'n echtes Goldstück. Aber naja, wie sich rausstellte, stand sie gar nicht auf mich, sondern war mehr von dir angetan, hat mich aber trotzdem angebaggert, weißte?" Eine erhobene Augenbraue reicht hier wohl aus als Erwiderung. "Wie dem auch sei..." Er zieht eine Schnute, als ich nichts darauf erwidere. "Auf jeden Fall wird sie auch bei der nächsten Show dabei sein und ich hab ihr gesagt, dass ich ihr vielleicht helfen könnte an dich ranzukommen, da du zur Zeit ohnehin ziemlich depri bist-" "Ich bin nicht depri." "-und mal wieder jemanden gebrauchen könntest, der mit dir zusammen das Bett zum Beben bringt. Sie's 'n ziemlich heißer Feger." Mit halbem Ohr folge ich Toshiyas Worten, inhaliere den Rauch. "Das kannst du vergessen", schaltet sich Kyo neben uns auf seinem Sitzplatz in unsere Unterhaltung ein. "Hm?" Gleichzeitig drehen Toshiya und ich uns zu ihm um. "Wieso das?", kommt die Frage von Toshiya. "Na, weil Die keine dominanten Frauen gebrauchen kann." Irritiert blickt Toshiya mich an, mustert mich, als könne er in meinen Gesicht lesen, was für ein Typ Kerl ich bin und was ich gerne mag, wo man mich berühren muss und worauf ich stehe und wo ich anfangen muss zu keuchen und wie man mich um den Finger wickelt. "Was'n?!" "Wie, du kannst mit denen nichts anfangen?" Völlig verdattert beäugt er mich, doch ich rauche nur weiter unbeeindruckt und still vor mich hin, asche ab und an mal in dem Aschenbecher auf dem Tischchen zu meiner Linken ab. "Die gehen mir halt auf den Geist." "Und auf die Libido." Leises Lachen dringt aus Kyos Mund. "Was du schon wieder so alles weißt und durch die Gegend posaunst." "Hast du mir selbst erzählt, du Lauch. Und wir sind doch hier unter uns." Ich brumme als Erwiderung, ziehe erneut an meiner Zigarette und puste den Rauch in kleinen Ringen wieder aus. Unterdessen habe ich meinen Koffer aufgehoben, ihn ein Stück weit am Griff in den Gang getragen und halte dann inne. Es tönt ein lautes Scheppern durch die Luft, als ich meinen schweren Koffer plötzlich ganz einfach neben mir auf den Boden fallenlasse, um es mir dann mit meinem Hintern darauf bequem zu machen. Dabei schrickt Shinya leise quietschend von seinem Lernbuch auf und wirft es fast durch den halben Bus vor Schreck. Der Koffer ist irgendwie hart und ich hab auch keine Ahnung, warum ich mich gerade überhaupt auf ihn setze. Vielleicht einfach, damit niemand sagen kann, dass er hier im Weg steht, wo ich ihn schon nicht mehr zurückschieben kann. "Na gut", lacht Toshiya heiser und etwas unbeholfen. "Ist wohl nix dran zu ändern." Ich zucke mit den Schultern und asche ab. "Also soll ich euch jetzt lieber nicht verkuppeln?" "Nimm sie, Die. Ich rate dir dazu. Das ist vielleicht deine letzte Chance." Da wollte ich gerade antworten, da mischt sich Blödmann-Kaoru in dem Moment auch noch ungefragt und lachend in das Gespräch ein. Meine Lippen werden zu einer schmalen Linie, ich verschränke die Arme vor der Brust und ignoriere ihn schlichtweg. "Wenn sie wirklich so 'ne Süße ist... Versuchen kann man's ja mal." Jetzt bin ich aber wirklich froh, dass er dem Mann mit dem Ziegenbart unweit entfernt von uns ebenfalls keine Beachtung schenkt, sondern mich stattdessen angrinst. "Gut, dann stell ich sie dir nach dem nächsten Konzert vor. Kann ja sein, dass sie dir doch gefällt!" Einseitig lächelnd nicke ich, sehe aus dem Augenwinkel, wie Kaoru eine beleidigte Flunsch zieht und sich wieder seinen Notenblättern widmet, da keiner von uns beiden Anstalten macht auf seinen blöden Kommentar einzugehen. "Na toll, Die wird verkuppelt und was ist mit mir? Was krieg ich?" Den Ellenbogen auf den Tisch gelegt und den Kopf auf die Hand gestützt, stiert Kyo zu uns, die wir noch immer wie bestellt und nicht abgeholt im Gang des fahrenden Busses rumhängen, und schiebt beleidigt seine Unterlippe vor. "'ne Umarmung?", gluckst Toshiya und grinst ihn an, dass der Metalldraht über seinen Zähnen nur so im grellen Licht der Sonne funkelt, die sich auch endlich einmal sehen lässt. "Danke, ich verzichte." "Ach komm schon Kyo, ich weiß du willst es~" "Geh weg! Es ist zu heiß für Umarmungen. Ich guck jetzt den Film alleine weiter, wenn du kein Interesse mehr dran hast." Schnurstracks und schneller als Toshiya seine vier Buchstaben wieder auf seinen alten Sitzplatz zurückschwingen kann, hat Kyo bereits den Knopf auf der Fernbedienung betätigt und diese grässliche DVD läuft weiter. Die schwachen, aber immer noch warmen Strahlen, die durch das Fenster in mein Gesicht fallen, kitzeln an meiner Nasenspitze und ich verfolge das Geschehen gegenüber von mir schmunzelnd, bevor ich dann plötzlich auf meinem Köfferchen hin und her zu schwanken beginne. Wie aus heiterem Himmel überfällt mich mit einem Mal ein luftabschnürender Hustenreiz und ich keuche erschrocken auf. Es kribbelt und juckt gewaltig in meinem ganzen Hals. Erst, als ich aus voller Lunge gehustet habe, verschwindet das Kratzen so blitzartig, wie es aufgetaucht ist. Angeekelt werfe ich einen Blick in meine feuchte Hand, die ich beim Husten vor den Mund gehalten habe. Dabei entgeht mir nicht, dass Toshiya und Kyo mich mindestens genauso angewidert von der Seite her anstarren. "Ich hab ein Insekt verschluckt", krächze ich, halte zum Beweis meine Handfläche hoch auf der nun eine winzige Fliege klebt. "...Horst." Ich hebe nur die Schultern und lasse meine lieben Bandkollegen zurück, um mich widerwillig vom Koffer zu erheben und mich in die Toilettenkabine zu begeben, um meine dreckigen Hände zu waschen. Sowas hatte ich auch noch nie. Das mich ein so klitzekleines Tierchen beinahe zum Ersticken bringt. Ungläubig schüttle ich den Kopf und trockne meine Hände. Ein rascher Check meines Gesichtes zeigt mir, dass meine Haare nicht mehr richtig liegen. Ich seufze leise und kämme sie kurzum mit meinen Fingern durch. Sieht wohl wirklich so aus, als würde Toshiya mir dann bald so etwas wie ein Date verschaffen. Nur ohne Essen oder gemeinsames durch die Gegend laufen und dafür mit mehr Sex. Ein Sex-Date sozusagen. So weit bin ich also schon gesunken... dass ich mir von unserem Bassisten Billigware andrehen lassen muss. Und ich sag auch noch zu. Ich muss wirklich äußerst verzweifelt sein. Drei Monate nagen eben an einem so potenten Mann wie mir. Obwohl ich zugeben muss, dass ich wohl abgelehnt hätte, wäre Kaoru nicht dabei gewesen. Probieren wir es also mal auf die gute, alte Eifersuchtsnummer. Aber warum eigentlich? Ja, warum? Kann ich doch jetzt schon mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass es zu nichts und wieder nichts führt. Außer zu noch mehr blauen Flecken. Naja, selbst wenn dabei nicht das gewünschte Ergebnis herauskommt, so werde ich immer noch etwas weniger Druck auf dem Füller haben als jetzt. Argh, ich kann nicht glauben, dass ich so eine gequirrlte Scheiße wirklich denke. Schnell raus hier und so tun, als würde ich nicht heimlich irgendwas planen. Meine Pläne sind eh alle von vornerein zum Scheitern verurteilt. Ich bin eben verflucht. Vielleicht ahnt Kaoru es ja auch schon. Schließlich habe ich ihn gerade eben einfach gnadenlos mit Missachtung gestraft und wenn ich jetzt weiterhin so kühl zu ihm bin, denkt er noch, ich würde das absichtlich tun, was ja im Grunde auch meine Absicht ist, aber... Oh, wie ich meine Paranoia vermisst habe. Ich spaziere zurück in den vorderen Teil des Busses, mache davor jedoch einen kurzen Abstecher zum Kühlschrank. Der Hunger kneift und zwickt mich, das merke ich nicht nur an meinen seltsamen Gedankengängen. Außerdem könnte ich was Süßes vertragen. Die anderen unter Umständen vielleicht auch. Mit Unterzuckerung ist nicht zu spaßen! "Ratet mal, was ich habe!", zwitschere ich und werfe mich schwungvoll auf den Platz gegenüber von Kaoru. "Rinderwahn?" Meine Augäpfel drehen sich einmal im Kreis und ich will ihm am liebsten an seinem Bart ziehen. "Nein, ich hab Eis mitgebracht. Will jemand welches haben?" Gewissenhaft reiche ich jedem einzelnen ein frisches Eis am Stiel, bevor ich mich zurücklehne und die Verpackung von meinem entferne. Dabei erspähe ich auch das Bier, das ich vorhin ganz allein zurückgelassen habe. Das arme muss ja ganz fürchterliche Angst gehabt haben. Ich werde es von seinem Leid erlösen! In der einen Hand halte ich meinen Leckerbissen, mit der andere angle ich mir die Dose. Sogar Shinya macht nun mal eine Pause vom Lernen und knüllt das Plastikpapier zusammen, legt es neben das, was Kaoru auf die Tischplatte gelegt hat. Der nervige Film flimmert noch immer auf dem Bildschirm vor Kyo und Toshiya. Ich studiere Kaorus entspanntes Gesicht, während seine Zunge scheinbar gedankenverloren über die dünne Schokolade leckt unter der sich Vanilleeis verbirgt. Was für ein köstlicher Anblick. Allerdings nicht mehr, als er eine erschrockene Fratze zieht und sich ihm scheinbar die Zehennägel vor Ekel aufrollen. "Ist das Nusseis?" "Also, da auf der Verpackung Nüsse zu sehen sind, vermute ich doch mal stark, dass es nicht Kirscheis ist." Seine Grimasse wird noch unansehnlicher. "Ja, es ist Nusseis. Da sind Mandeln in der Schokolade. Da, da und... da." Ich deute mit dem Finger auf die einzelnen Stücke, die aus der Schokoschicht seines Eises hervorlugen, nachdem ich mein Bier kurz abgestellt habe. "Bäh." Seufzend zucke ich mit den Achseln. "Also meiner Meinung nach schmeckt das mit Mandel am besten." "Wenn ich nach deiner Meinung gefragt hätte, dann... Warte... Das wird nie passieren." "Haha. Gib's halt mir, wenn du es nicht magst." "Ich geb dir doch nicht mein Eis, wo ich schon dran geleckt habe!" "Hm? Warum nicht?" Jetzt muss ich aber doch blinzeln. "Na, weil das doch wie ein direkter Kuss wäre~", lacht Toshiya, der sich zu uns rübergebeugt hat, fast aus einem Sitz fällt dabei. "Sag mal, lauscht du schon wieder?!", fauche ich ihn an. "Ich lausche nicht! Ich muss das mit anhören!" "Was auch immer. Ich will das Eis nicht." "Wie? Wirfst du es weg?" Etwas verwundert beobachte ich Kaoru wie er sich von seinem Sitz quält, das Eis von sich weghält als wäre es radioaktiv verseucht. "Was für eine Verschwendung." "Also dir geb ich es auf gar keinen Fall!" "Jetzt stell dich halt nicht so an." Genervt stehe ich ebenfalls mit auf, stibitze ich ihm die Leckerei direkt vor der Nase weg, bevor er sie in die Tonne kloppen kann. "Was zum-? Was soll das? Hau mir doch nicht das Eis aus den Fingern! Nimm deine Hände da weg. Du sollst das nicht essen!" "Blah blah, Kaoru. Ich hör nur blah blah." Wie gut, dass ich größer bin, er nicht mehr an das Eis rankommt, als ich es hochhalte, und er mich mal gern haben kann, wenn es um solche Dinge geht. Als ob ich mir das hier entgehen lassen würde. Ich müsst ja schön blöd sein. "Maaaah, dann iss es halt und werd glücklich damit." Resignierend lässt er sich zurück an den Tisch plumpsen, während ich nur zufrieden grinse. "Danke~" "Keine Ahnung, warum du überhaupt so scharf darauf bist." "Na, das liegt doch auf der Hand." Dass ich ihm das echt erst noch erläutern muss, grenzt schon ans Lächerliche. "Liegt es?" "Ja." "Dann nenn mir den Grund, warum du so grell auf meine Spucke und Bakterien bist." "Eeeeeh. Weil..." Ich pflanze meinen Hintern ebenfalls wieder zurück auf meinen Platz. "Weil... weil... Na, weil halt!" "Das ist kein Grund." "'Weil halt' ist sehr wohl ein Grund!", verkünde ich lauthals, hätte beinahe wieder eine Biersauerei mit meinem ungeschickten Ellenbogen veranstaltet, und beiße voller Genuss in sein kaum angerührtes Eis. "Wo? Im Flachpfeifenland?!" Darauf antworte ich nur mit Kopfschütteln. Hab gerade beide Hände und den Mund voll zu tun. Selbst, wenn es nur Spucke und Bakterien sind: Toshiya hatte ganz recht, es ist und bleibt ein indirekter Kuss. Mit Kaoru. Eben dieser seufzt nur, muss uns anderen nun wohl oder übel beim Essen zu sehen und schmollt. Hingegen habe ich nun das, was ich wollte und genieße. So mag ich das doch gerne. Eins zu Null für mich. ~*~*~ Es ist mir beinahe so, als wäre dieser Tag wie im Flug vergangen, jetzt, wo ich an ihn zurückdenke. Und Sightseeing macht mich immer so schläfrig. Busfahrten ebenso. Und Shopping natürlich. Von allem habe ich für heute genug und ich hatte mich auch so auf mein warmes Bettchen gefreut. Auf erholsamen Schlaf ohne Albträume, damit ich morgen gut in Form für das Konzert bin. Das Gesicht auf meine Kissen gepresst, wälze ich mich aber nun doch wieder schlaflos herum. Trotz Decke ist mir kalt. Ich friere sogar. Auf meinem Rücken hat sich eine hartnäckige Gänsehaut gebildet. Meine Haare haben sich demonstrativ allesamt aufgestellt. Tiefer mummele ich mich in das dünne Stück Stoff ein. Es ist Sommer. Es ist warm im Tourbus. Mir sollten keine Schauer über den Rücken laufen und meine Zähne leise aufeinander klappern vor Kälte. Vielleicht werde ich krank. Vielleicht habe ich mich irgendwo angesteckt. Bloß wo ist die Frage. Um mich herum sind alle fit und bester Gesundheit. Es düsen keine Bazillen um mich herum. Und von Kaorus Eis kann es nicht kommen, da er nicht mal ansatzweise schwächelt. Gut möglich wäre aber auch, dass mein Körper schlichtweg spinnt. Es könnte auch daran liegen, dass mich diese Nähe Kaorus allmählich wieder verrückt macht. Im Bus so dicht bei einander zu schlafen, kann schon kirre machen. Mal davon abgesehen, dass man sich ständig wie auf Klassenfahrt fühlt. Verflixt, es muss wohl wieder drei Uhr nachts sein und ich bin geradewegs an der Tiefschlafphase vorbei und direkt in die Depression geschlittert. Ich hasse das. Dass man seinen Kopf aber auch nie ausschalten kann. Und die Nacht einfach nicht rumgehen will. Schwer seufzend rutsche ich in meiner kleinen Koje hin und her. Alle anderen um mich herum befinden sich schon längst im Land der Träume. Ich höre ihr schwaches Atmen und das leise Schnarchen. Beneidenswert. Unter mir brummt Kaoru leise vor sich hin. Ob er wohl damit aufhören würde, würde ich ihm Mund und Nase zuhalten? Höchstwahrscheinlich würde er dann daran ersticken. Oder mir einen Finger abbeißen. Aber vielleicht würde er nicht mehr brummen, wenn man ihn küssen würde. Nicht, dass diese tiefen vibrierenden Geräusche nervig wären, aber mir drängen sich einfach wieder unzählige absurde Fragen auf. Wie fest sein Schlaf wohl wirklich ist. Ich weiß nicht, wie es um ihn steht, aber ich würde davon aufwachen, würde man mich küssen. Wieder nestle ich in meiner Decke herum, denke unablässig an diesen Mann nur ein paar Zentimeter unter mir und wie es wohl wäre, wenn er mich wachküssen würde. Und wie es wohl wäre, würde er mich richtig küssen. Wonach schmecken seine Lippen wohl? Sind sie rau, etwas aufgesprungen oder ganz sanft? Ist er eher derjenige, der zuerst kleine Küsse haucht, vorsichtig an Lippen nippt oder verspielt daran knabbert oder aber direkt in die Vollen geht? In all den Jahren, die ich ihn kenne, habe ich ihn noch nie wirklich jemanden küssen sehen. Und das ist schon seltsam. Ja, er hatte mal ein paar Freundinnen, die ich auch zu Gesicht bekam, doch wenn Zärtlichkeiten in dieser Richtung ausgetauscht wurden, dann waren es oft nur Begrüßungs- oder Verabschiedungsküsse. Die anderen Male musste ich weggucken. Mehr als einen flüchtigen Blick erträgt mein Herz nicht, ohne zu zerbröseln. Das habe ich erst vor ein paar Tagen schmerzhaft feststellen müssen. Doch, ich wüsste es schon gern. Was für ein Kusstyp er ist... Und im Bett? Er mag's bestimmt zärtlich, intensiv - und manchmal herrlich verrückt. Ha, okay, jetzt schummle ich. Das habe ich mal irgendwo in einem Horoskop über Wassermänner gelesen. Über Schütze stand da auch was: Draufgängerisch, fröhlich, voller Eifer. Ja, so bin ich auch. Ist also doch was dran am Astro-Müll. Aber das hilft mir auch nicht weiter. Genug hab ich von ewigen Theorien und dem Nachdenken, dem Grübeln, wie ich mir den Kopf zerbreche. Praxis - das ist es, wonach ich mich in meinem tiefsten Inneren sehne, wonach es mich dürstet. Und keine Worte der Welt reichen aus, um zu beschreiben, was ich fühle, wenn ich ihn nur anschaue. Da klafft ein gewaltiges Loch in meinem Herzen, das nur er zu stopfen vermag. Er ist zwar oft genug in letzter Zeit unausstehlich zu mir, aber das ändert nichts an der Tatsache, das ich ihm mit Haut und Haar verfallen bin. Ich würde immer noch ihm gehören, selbst wenn ich ihn nie mehr wiedersehen könnte. Und ich will so gerne endlich mal spüren, wie es wäre mehr für ihn zu sein als nur ein lästiger Kollege, dessen Verhalten dem einer geistigverstörten Klette gleicht. Will wissen, wie es sich anfühlt, wenn er Liebe gibt, wenn er sich hingibt, wenn er sein Herz öffnet. Ich ziehe meinen Arm unter meinen Kopfkissen heraus, rolle mich auf die Seite, drücke das Bettzeug fort. Mit dem Handrücken streiche ich den Vorhang neben meinem Schlafplatz davon. Im Gang brennt sehr gedimmtes Licht, das alles nur schwach erhellt, gerade genug um sich des Nachts im Bus zurechtzufinden. So leise wie nur möglich krabble ich langsam aus meiner Schlafkoje, so dass ich mir nicht den Kopf an dem Brett über mir zertrümmere. Meine nackten Füße berühren den kühlen Boden und ich lasse mich auf die Knie sinken. Vorsichtig ziehe ich den Schlafvorhang an Kaorus Bett zur Seite. Wie verrückt beginnt mein Herz zu schlagen, als ich ihn direkt vor mir liegen sehe, die Augen geschlossen, friedlich schlafend. Er atmet flach und leise, durch die dünne Decke kann ich erkennen, wie sein Oberkörper sich leicht hebt und senkt. Feigling. Ich bin so ein Feigling. Kann meine Augen nicht von seinen blassen Lippen fortreißen, doch traue mich nicht mich zu ihm zu beugen und sie zu küssen. Er sieht so sanft aus, dass es mir das zitternde Herz in der Brust zerfetzt. Bei ihm liegen würde ich jetzt gerne, seine Wärme spüren. Doch ich hocke nur hier im Gang, kaum mehr am Leib als Boxershorts, und starre ihn wie in einem Bann einfach bloß an. So sehr. Ich will es so sehr. Ich strecke meine zittrige Hand aus, berühre sein weiches Haar kaum merklich, streichle liebevoll über es. Er lächelt im Schlaf. Und auch ich muss lächeln. Doch während seines von Glückseligkeit spricht, ist meines nur durchtränkt von Melancholie. So lieblich sieht er aus, wie er daliegt und scheinbar von etwas Schönem träumt. In mir zieht sich alles zusammen. Durchflutet ist mein Kopf von Gedanken, die sich nur um ihn drehen, voll von verpassten Chancen. In dieser Sekunde muss ich nichtmals Mut in mir zusammenraffen. Mein Körper gehorcht nicht länger dem Verstand. Es ist nur noch Impuls. Nur noch Sehnsucht. Vorgebeugt knie ich da, die Augen geschlossen, Blut rauscht laut durch jede meiner Adern. Mir ist so heiß, dass mir ganz schwindlig davon wird. Behutsam liegen meine Lippen auf Kaorus. Eine Sekunde, zwei und drei, dann vier und fünf... Als ich mich von ihm löse dreht sich alles flackernd im Kreis. Dröhnend wummert mein Herzschlag durch meinen ganzen Leib. Er hat es nicht gemerkt. Er ist nicht aufgewacht. Er schlummert nach wie vor friedlich schmunzelnd vor sich hin. Unfassbar. Meine Fingerspitzen tasten ungläubig über meine Lippen, meine Zunge leckt leicht darüber, als könnte sie die zarte Berührung immer noch darauf schmecken, als hätte sie sich dort eingebrannt. Mir ist so schwummrig. Ich glaube das nicht. Ich kann es nicht begreifen. Ich bin ein Dieb. Ich schäme mich nicht mal. Um meine Mundwinkel kräuselt sich ein verstohlenes Lächeln, bin wie im Rausch. Völlig benebelt, glücklich. Stundenlang könnte ich hier an seiner Seite sitzen, ihn noch stundenlang stumm betrachten und mich doch niemals an seinem Anblick sattsehen. Wenn er so selig träumt, wenn das schwache Licht einen sanften Schatten auf seinen Körper wirft, der halb von der Bettdecke umhüllt ist, einige Stellen seiner Haut strahlen lässt. Dann sieht er aus wie aus Porzellan... so blass und so zerbrechlich. Der Mund ist nun einen Spalt geöffnet, er atmet still, kaum hörbar. Dunkle Strähnen seines Haares fallen leicht in sein Gesicht. Kaoru erinnert mich an Schneewittchen. Ich muss leise in mich hineinlachen, noch während ich das denke und mich selbst für diesen Gedanken für bescheuert erkläre. Aber es ist wahr. Seine Haut wirkt so weiß wie Schnee, seine Lippen so rot wie Blut in diesem Licht. Und sein Haar ist so schwarz wie Ebenholz. Mir fallen die unsinnigsten Vergleiche ein, je länger ich ihn anblicke. Aber ist das nicht ganz natürlich? Plötzlich erinnert einen alles und jeder an eine geliebte Person. Es muss die Sehnsucht sein. Und vielleicht auch ein Stück weit die Detailverliebtheit. Die feinen Stoppeln über seinen Lippen, die kleinen Narben auf seinen Wangen, seine einmalige Nase, die dunklen Linien seiner Tattoos. All das macht ihn so real. Leider ist genau diese Realität hier - ebenso wie die auf der Bühne - eine verzerrte. Wir sind zwar beide hier, unsere Herzen schlagen genau jetzt im gleichen Takt, unsere Lippen haben einander berührt, und doch bin es mit Sicherheit nicht ich, der in seinen Träumen umhergeht und ihn lieblich lächeln lässt im Schlaf. Wie eine Katze auf Samtpfoten, so vorsichtig und lautlos streiche ich über seinen Kopf. "Ich liebe dich...", wispere ich, beuge mich leicht vor und hauche einen kaum spürbaren Kuss auf seine warme Stirn. "Ich liebe dich, Kaoru." Dann kehre ich leise zurück in meine Koje. ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 8: Gefühlsachterbahn. ----------------------------- Kommentar: Erstmal: Ach du Schande, ich hab nicht wirklich 9 Monate zum Updaten gebraucht, oder? Ihr dürft alle mit Steinen nach mir werfen, ich stell den Korb mal hier hin, okay? Es tut mir schrecklich leid, dieses Kapitel hat mir solche Schwierigkeiten bereitet... Geplant war etwas ganz anderes. Ich wollte es peppiger und lustiger machen, insgesamt etwas heiterer - irgendwie bin ich gescheitert. Mir wollte und wollte kein vernünftiger Anfang einfallen. Herausgekommen ist das hier. Aber immerhin ein bisschen Klartext - hoffe ich zumindest. Es ist wenigstens das bisher längste Kapitel. Meine Fingerknöchel schlagen klopfend gegen die Tür des Hotelzimmers. Vergeblich warte ich auf eine Reaktion. Wieder und wieder klopfe ich an, doch selbst nach dem zwanzigsten Versuch tut sich nichts. Frustriert lehne ich meine Stirn gegen das Holz, gebe einen weinerlich murrenden Laut von mir, der einfach so von meinen Lippen purzelt. Das hat doch alles keinen Sinn. Warum stehe ich hier überhaupt? Höchstwahrscheinlich ist er gar nicht da, ausgegangen oder so. Ich hätte vorher nachfragen sollen, was er für heute noch vorhat, dann würde ich jetzt bestimmt nicht wie blöde vor seinem Zimmer herumlungern und mir die Beine in den Bauch stehen. Schritte hallen hörbar von den Wänden wider. Neben mir taucht Kyo auf, schaut mit weit hochgehobener Augenbraue zu mir. "Warum klebst du an der Tür?" "Weil's lustig ist." Irgendwie war das jetzt patzig, das hab nicht nur ich mitbekommen. Mit hängendem Kopf löse ich mich von dem kalten Holz, um ihm einen Blick zuzuwerfen. "Tut mir leid." "Schon gut", winkt er ab und nickt zur Tür, während er weiterspricht. "Ganz offensichtlich hat er sich vom Acker gemacht." Grummelnd zerwuschel ich mein Haar, streiche es kurz darauf aber wieder glatt. "Das hab ich mittlerweile selbst gemerkt. Hat nicht mal ein Sterbenswörtchen gesagt." "Ist das denn so verwunderlich? Vielleicht ist er feiern gegangen. Toshiya erwähnte da sowas von einem 'coolen' Club zwei Straßen weiter." "Um die Uhrzeit? Das sieht ihm gar nicht ähnlich." In der Tat ist es erst kurz vor neun Uhr abends. Partyzeit beginnt für Kaoru nie vor kurz vor zwölf. Das wäre seine Jagdstunde hat er mir mal vor Jahren verklickert, als wir zusammen einen heben waren. Gelacht und gelallt hatte er da, dass die richtig gute Stimmung erst dann aufkommt, wenn der neue Tag angebrochen ist. Aber Kaoru muss nicht jagen, er hat doch seine große Beute schon gemacht. Normalerweise nutzt er den freien Abend oft zum Ausruhen und Ausschlafen, und wenn er doch feiern geht, dann immer in Begleitung, nie allein. Was sich unter unserer Tour-Gesellschaft herumsprach, war, dass viele für heute erst gegen zehn Uhr feiern gehen wollten. Mit wem sollte Kaoru also gegangen sein? Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, dass er Frust schiebt, keine bekannten Gesichter um sich herum haben will, nur säuft, um mal einen Moment lang nicht denken zu müssen. Aber das ist schlichtweg lächerlich. Sowas mache ich, aber doch nicht er. Was für einen Grund sollte er auch haben? "Geht Toshiya denn hin?" "Ich denke." "Du auch?" "Eigentlich wollte ich ja..." Kyo wirft einen flüchtigen Blick den Gang entlang, als wollte er sich vergewissern, dass sich niemand sonst in Hörweite befindet. Als sein Augenpaar wieder bei mir angekommen ist, fragt er: "Willst du denn hin?" Es reicht anscheinend nicht, dass mich ein Kerl absolut verwirrt, jetzt fängt er auch damit an sich rätselhaft zu verhalten und Sätze ins Nichts laufen zu lassen. "Naja, alkoholischen Getränken bin ich nun wirklich nicht abgeneigt und ein bisschen Feiern könnte auch nicht schaden." Seine Mundwinkel heben sich zu einem Grinsen. "Wie wär's denn, wenn wir dir dann endlich mal wieder was Nettes für die Nacht an Land ziehen? Mir ist zu Ohren gekommen, dass sich bei dir inzwischen jede Menge sexuelle Energie aufgestaut hat." "Das musste man dir erst sagen? Sieht man mir das nicht sofort an, weil's in Leuchtbuchstaben auf meiner Stirn eingraviert steht?" Fängt er jetzt allen Ernstes an mich auszulachen? Auf einmal schallt sein glucksendes Lachen durch den leeren Gang. So lustig war das nun auch wieder nicht, was ich da von mir gegeben habe. Die Wahrheit war es eben. "Einem ausgehungerten Tiger merkt man es an, wenn er ausgehungert ist, was?" "Tu nicht so, dir geht's doch genauso." Kyo streicht sich das blonde Haar aus der Stirn und lacht heiser. "Da hast du wohl Recht. Was ist eigentlich mit der Kleinen, die dir Toshiya so großzügig versprochen hat?" "Die ist nicht aufgetaucht. Hat es sich allen Anschein nach anders überlegt." "Ich dachte sie soll so auf dich abgefahren sein?" Ich zucke bloß mit den Achseln. Ein verächtlicher Laut verlässt Kyos einen Spalt breit geöffneten Mund. "Und sowas nennt sich dann treuer Fan." "Fans sind eben auch nicht das, was sie einmal waren. Aber sag mal, warum setzt du dich eigentlich auf so eine Durststrecke? Kannst mir nicht erzählen, dass sich in all der Zeit noch nichts bei dir ergeben hat. Noch nicht mal 'n nettes Gespräch oder so?" "Ausländerinnen haben andere Standards." "Das ist deine Ausrede?" "Meine eigenen Erwartungen sind vielleicht auch einfach zu hoch." "Das hört sich bekannt an", seufze ich und weiß genau wie einem zu hohe Erwartungen das ganze Leben versalzen können. "Heute Abend habe ich mir aber vorgenommen, dass sich das ändern muss", sagt er während wir den Gang hinunter zum Treppenhaus gehen. Ein schüchterndes, aber dennoch diebisches Grinsen spielt plötzlich um seine Lippen und er wirkt siegessicher. Im Gegensatz zu mir kann er das auch sein. An Charisma mangelt es uns beiden nicht, aber meine Beute ist nach wie vor mehr als nur immun gegen jegliche meiner Anstalten. Es ist die alte Leier. "Und bei dir im Übrigen auch. Also machen wir uns jetzt auf die Socken." "Das heißt, du willst mir beim Jagen helfen?" "Hast du vor den ganzen Abend nur Kaoru nachzusehen und nachzustellen?" "Naja, eigentlich..." "Ich weiß, ich weiß. Schon in Ordnung. Ich weiß doch, du bist vertraglich dazu verpflichtet Kaoru tagtäglich auf die Nerven zu gehen." "Wenn du das so sagt, hört es sich an als wäre ich wie ein kleines nörgelndes Kind." Der Schlag einer flachen Hand trifft mich am Rücken. "Genau das, Die. Genau das." "Hat das etwa auch Kaoru gesagt?" Innerlich schneide ich schon wieder unansehnliche Fratzen bei der Verschwendung eines Gedanken daran, wie man sich auf meine Kosten lustig zu machen pflegt. "Kommt dir denn sonst jemand in den Sinn?" Grummelnd stoße ich die Glastür zum Treppenhaus auf. "Manchmal frage ich mich allen Ernstes, warum er solche Dinge von sich gibt." "Weil er weiß, wie er die Wunden zum Jucken bringen kann." Ein kurzes Murren ist meine Antwort. Wenn er wüsste, wie Recht er damit hat. Es juckt zwar nur ein bisschen, aber dennoch hinterlässt jede noch so bescheuerte Bemerkung irgendwo in mir ein unangenehmes Brennen. Je öfter man in eine Kerbe haut, umso brüchiger wird das Holz ja auch. Ich nehme drei Stufen auf einmal und sehe zu, dass wir möglichst schnell hier raus und in die Bar kommen, in der ich mich dann quer über den Tresen schmeißen kann. Das Frustzentrum beginnt mit leiser, aber immer lauter werdender, hochgeschraubter Stimme nach Alkoholbetäubung zu kreischen. Und mittlerweile macht sich der Wunsch in mir breit mir außerdem noch Seelenbalsam zu krallen. Nur endlich was, um nicht mehr alleine einzuschlafen, mit dem Körper in ein leeres, kaltes Bett zu fallen und gezwungenermaßen meine Hände zu benutzen. ~*~*~ Die rauchige Luft strömt durch meine Lungen und kitzelt in meinem Hals. Draußen ergießt sich der Regen in dicken, kalten Tropfen auf die Stadt, durchnässt das grüne Laub der Bäume und besprenkelt Fensterscheiben. In meinen Haaren steckt die Nässe, auf meiner dünnen Lederjacke fließen noch die letzten Rinnsale herunter, als Kyo und ich in die stickige Wolke aus verbrauchter Luft eintauchen. Bereits am Eingang verliere ich ihn beinahe aus den Augen. Die Menschen fliehen in die Clubs, Bars und Kneipen und sorgen für eine undurchschaubare feiernde Masse, die lautstark vor sich hinbrabbelt und schnattert. "Der Laden ist offensichtlich drauf und dran aus allen Nähten zu platzen", raunt Kyo mir von hinten zu, während ich mir noch das feuchte Haar zurechtzuzupfen versuche. "Mir Jacke wie Hose. Als allererstes brauch ich einen Drink." Und zwar mehr als dringend. Diese Dancefloor-Musik halte ich beim besten Willen nicht lange nüchtern aus. Von allen Seiten her dröhnt sie aus den Lautsprechern, wummert selbst noch in der verdrehtesten Hirnwindung nach. Cooler Schuppen, beschissene Musik. Vielleicht sind meine Ohren zu verwöhnt von den Rockfestivals. Noch bevor ich einen Fuß vor den anderen setzen kann, packt Kyo mich grob am Ärmel und zerrt mich zurück, so dass ich ein, zwei Schritte nach hinten taumele. Bloß kurz nickt er herüber zur Schänke, doch offensichtlich genug, dass ich seinem Blick folge. "Bist du dir sicher, dass du das brauchst?" Meine Augen weiten sich unbewusst, als ich zwischen einer Horde gut gelaunter Einheimischer ein bekanntes, griesgrämiges Gesicht erkenne. Das Kaoru seinen Arsch bereits an der Bar parkt, konnte ich ja nicht wissen. Ich brumme lautlos vor mich hin, noch während ich ihn begaffe als wäre er eine Zirkusattraktion. Obwohl seine Erscheinung durchaus Ähnlichkeit mit der des Tigers vor dem brennenden Ring hat. In diesem Fall ist das feurige Hindernis aber nicht ein angezündeter Hulahoopreifen, sondern viel mehr ein bis zum Rand gefülltes Glas Bier. Wie gebannt starrt er in die gelbliche Flüssigkeit, regt sich dabei nicht einen Millimeter. Nicht mal, als zwei junge, kichernde Frauen ihn versehentlich anrempeln und sich kurz darauf angeduselt entschuldigen. "Er wirkt völlig weggetreten", spricht Kyo die Worte aus, die ich gerade gedacht habe, und schaut zu mir auf. Als könnte ich ihm nun den Grund dafür erklären. Ich hebe bloß meine Schultern, reibe mein Ohr, welches von dem grässlichen Bumbum, das sich auch noch Musik schimpft, schmerzt. "Ich brauch trotzdem immer noch 'nen Drink." Mit diesen Worten, die nun mehr wie ein mies getarnter Vorwand klingen, lasse ich Kyo zurück und stiefele hinüber zum Ausschank, der sich just in diesem Moment etwas leert. Ohne Probleme schiebe ich mich neben Kaoru. Ich weiß, unerwiderte Liebe lässt die Menschen lächerlich erscheinen. Doch heute Nacht ist es mir egal. Es ist mir egal, was er denkt. Ausnahmsweise bin ich nicht wegen ihm hier. Ich pflanze meinen eigenen Garten, anstatt darauf zu warten, dass jemand mir Blumen bringt. ...oder so ähnlich. Der Ausdruck, der sich auf seine scharfen Gesichtszüge legt, als ich meine Stimme erhebe und mir auf Englisch ebenfalls Hopfen und Malz bestelle und er sich daraufhin ruckartig zu mir dreht, bereitet mir dennoch Sorgen. Was hinter dieser Stirn vor sich geht, weiß wohl wirklich niemand zu sagen. Jedenfalls scheint er alles andere als freudig überrascht mich zwischen all den feiernden Leuten plötzlich direkt neben sich auftauchen zu sehen. Die Haut an seiner Nasenwurzel ist zerkräuselt, die Lippen verzogen zu einer dünnen Linie. "Scheiße, lassen die hier denn jeden rein?", sind die ersten Worte, die mich wie ein Knüppel an der Schläfe treffen. Unbeeindruckt von seinem Murren lehne ich mich an die Bar und bezahle mein Getränk. "Meine Anwesenheit bereitet dir wohl Kopfschmerzen." "Das ist nun wirklich unschwer zu übersehen." Sein Augenpaar richtet sich statt auf mich einzig auf den Wolkenbruch, der sich außerhalb des schmalen berieselten Fensters abspielt. Auch ich folge seinem Blick, doch kann ich dort wohl nicht das sehen, was er sieht. Ohne auf seine Worte einzugehen, führe ich das Bier an meine Lippen. Das wohltuende monotone Prasseln des Regens ist hier drinnen nicht mehr zu vernehmen. Zu laut ist die ohrenbetäubende Musik, die von allen Seiten auf uns einhämmert. Bunte, glitzernde Lichter, Leuchtreklame, die in meinem Augenwinkel in regelmäßigen Abständen in fremder Sprache aufflackert. Das Wasser verschluckt langsam die Welt dort draußen vor dem Fenster. Eine Weile betrachte ich ihn nur schweigsam von der Seite, studiere seine Regungen, seine Miene, die sich wie in Stein gemeißelt präsentiert. Ich atme hörbar aus, zwirbele mein Haar unruhig mit der freien Hand. Fernab von der weltlichen Realität, in der ich hier mit ihm feststecke, ziehen sich meine Gedanken wie zäher Brei. Es zu erklären, fällt mir schwer, doch da ist etwas, das wie ein düsterer Schatten an ihm klebt, etwas, das nicht ins Bild passt, ganz gleich wie sehr er sich bemüht, das niemand es bemerkt. Ich sorge mich nun mal und ich muss es wissen. "Alles klar bei dir?" "Hm? Warum fragst du?" "Weil du das Hotel einfach ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, verlassen hast." "Ich bin keine fünf mehr." "Kaoru..." Endlich nimmt er einen Schluck von seinem Bier, das er bis dahin nicht angerührt hatte, schluckt umständlich und leckt sich den Schaum von den Lippen. "Mh?" Schwer seufzend blicke ich ihn an, mustere ihn und kann nicht glauben, dass er es tatsächlich vorzieht abweisend zu sein, mir vorzugaukeln da wäre nichts, was ihn bedrückt. "Ich glaube, es würde nicht nur mir einen riesigen Stein vom Herzen nehmen, sondern auch dir, wenn du mir sagen würdest, was mit dir los ist. Das hier sieht dir nicht ähnlich." "Ich habe nicht den leisten Schimmer, wovon du redest." "Und ich habe nicht den leisten Schimmer, warum du immer noch denkst ich wäre der gottverdammte Feind!" Mit hochgeschraubter Augenbraue stiert er mich entgeistert an, als meine Stimme plötzlich lauter wird als es nötig ist, selbst bei dieser nervigen Lautstärke. "...du hast echt nicht mehr alle Latten am Zaun." "Ich... was? Na hör mal! Meinst du, nur, weil ich tiefere Gefühle für dich empfinde, die du nicht erwidern kannst, kannst du nicht deinen Kummer und deine Gedanken mit mir teilen?" "Die..." "Wir waren doch mal Freunde, gute Kumpels! Wir haben jeden Scheiß zusammen bequatscht und waren wie Pech und Schwefel, Pinky und Brain, Dick und Doof, und heute kannst du mir nicht mal mehr genug vertrauen, um mich wissen zu lassen, was in deinem Dickschädel vor sich geht?!" "Die..." "Sind wir uns denn so fremd geworden, dass die einzigen Worte, die du noch mit mir austauschst sich entweder auf Musik, Arbeit und die Band oder aber auf spöttische Seitenstiche und widerwärtige sarkastische Bemerkungen begrenzen?!" "Die. Halt einfach nur deine Klappe." Hart knallt der Bierglasboden auf das Tischholz. Der Inhalt des Glasses verteilt sich in einer spritzenden Fontäne quer über die Theke, seine zitternden Hände. "Es ist nichts. Es geht mir bestens. Jedenfalls bis du gekommen bist. Würdest du mich jetzt bitte entschuldigen? Du machst mich wahnsinnig." Mit einem Ruck wirbelt er herum, an mir vorbei und ich sehe nichts weiter als seine Haare, die wie in Zeitlupe in der Luft eine Welle zeichnen und seinen Rücken, der kurz darauf in den Menschenmassen untergeht. Diese Klatsche war deutlich genug. Jedoch merke ich erst danach, was für eine gequirrlte Scheiße ich da soeben von mir gegeben habe. Es trifft mich unbarmherzig, wie ein Felsbrocken direkt gegen die Schläfe. Da, wo er noch vor einer Sekunde gestanden hat, klafft nun ein Loch, das ich noch nicht ganz begreife. Ich schlucke schwer und zimmere mir die flache Hand gegen die Stirn, in der Hoffnung, dass es irgendetwas bewirkt, aber es ist aussichtslos mit mir. Wütend auf mich selbst fluche ich in mich hinein. Mir absolut schleierhaft, wie ich bloß so taktlos sein konnte. Wo hab ich denn bloß meine Logik gelassen? Auf dem Hotelzimmer vergessen oder verloren, als Kaoru mir mit abwehrender Körperhaltung zu verstehen gab, dass das, was immer ihn auch bedrückt, nicht für meine Ohren bestimmt ist. Wiedermal könnte ich mir in den Hintern beißen. Ständig begehe ich den gleichen hirnrissigen Fehler. Wieso lerne ich denn nur nie daraus? Wie war das mit dem lächerlich? Lächerlich mache ich mich ganz gewiss. Immer und immer wieder. ~*~*~ Was hat Tomaten auf den Augen, Karotten in den Ohren und Stroh im Kopf? Richtig. Kaoru und ich. Ablenken wollte ich mich - war das, wenn man es genau nimmt, nicht der eigentliche Grund, warum wir in diese Bar gekommen sind? Aber Kaorus Präsenz ist allgegenwärtig. Selbst, wenn er mal nirgends zu sehen ist, so wie jetzt. Zwischen meinen Ohren surrt alles. Nichts trinken klappt mal wieder hervorragend. Bier. Kein Wunder, dass man es auch Krawallbrause nennt. Dazu fühle ich mich mehr oder minder hingerissen. Zu blöd nur, dass ich eigentlich nicht der Typ Kerl dafür bin. Jedoch nach dem vierten Bier, das den Weg hinunter, entlang meinem Schlund, in meinen Magen und letztlich in meinen guten Kumpel die Leber gefunden hat, regt sich in mir, in meinen Eingeweiden, die altbekannte unruhige Schlange, die mir bitterböse Dinge einflüstert, die ich nüchtern nie denken würde. "Es ist wirklich ein vermalledeites Hundsleben", stoße ich aus, werfe mich mit Wucht zurück gegen die Lehne des karminroten Sessels, der inmitten einer kleinen Sitzgruppe etwas abseits der Tanzfläche in der Lounge steht. "Bist das du, der da aus dir spricht oder bloß der Alkohol?" "Frag mich nicht. Frag meinen hohlen Schädel." "Am besten frag ich gar nicht mehr." Allein die Tatsache, dass Kyo mich wieder aufgesammelt hat, nachdem ich mich einmal mehr in die Nesseln gesetzt habe, grenzt an Heldentum. Dass er immer noch neben mir am Tisch verweilt wohl eher an Masochismus. Eine Zigarette zwischen den Lippen brumme ich missmutig vor mich hin. "Warum eigentlich ich? Ich bin niemand!" "Du hast dich da selbst reingeritten, also beschwer dich nicht. Außerdem ist die Nacht noch jung und noch alle Möglichkeiten offen. Wolltest du nicht Ablenkung? Deine verzogene Flunsch hilft auch nicht sonderlich dabei Frauen anzuziehen. Seit 'ner geraumen Stunde verscheuchst du konsequent alles, was rasierte Beine hat. Wie soll ich uns beiden denn da zum Erfolg verhelfen?" Sei es rhetorisch oder nicht rhetorisch gefragt, in meiner Magenkuhle beginnt ein dicker Stein hin und her zu rollen. "Die... Du stehst doch auch immer noch auf Frauen, oder?" "Ist das auch nur irgendwie relevant?" Er hebt die Schultern. "Ich frag ja bloß." "Natürlich ist mir klar, dass ich in meinem Zustand nicht gerade der Frauenmagnet bin, aber wenn dich meine Laune so stört, dann kannst du mich hier auch gerne alleine lassen. Ich komm schon zurecht." "Was passiert, wenn man dich alleine lässt, habe ich bereits oft genug erlebt. ...hey, sag mal, ist das da hinten nicht die Ursache für deinen schweren Gehirnschaden?" "Hey, was soll das denn heiß- ...bitte was?" Auf einmal ist meine luri-schluri-Stimmung wie weggeblasen und meine Augäpfel treten aus ihren Höhlen hervor. Unter Umständen sollte ich aufhören, den Fingerzeigen von Leuten zu folgen, denn in den meisten der Fällen geschieht kurz darauf eine wahre Katastrophe. Dieses Mal jedoch entscheidet das Unheil selbst sich bis auf geringen Abstand zu nähern, bis zu dem Punkt, an dem sich sogar unsere Augen treffen. "Was führt dich denn hier her?", kommen die Worte aus Kyos Mund, während Kaoru mit merkwürdig unbekannter Miene dasteht, als wäre das ganz selbstverständlich und mich mit seinen dunklen Pupillen ersticht. "Ich wollte zu Die." Mir rutscht sprichwörtlich das Herz aus dem Hosenschlitz, kugelt quer durch den Raum und zur Tür hinaus. "Ich glaube, darauf hat er sehnsüchtig gewartet." Unverblümt wie eh und je gibt Kyo das von sich; dabei entspricht es nicht mal der Wahrheit. "Mh ja, wie auch immer. Ich wollte mich nur entschuldigen." An dieser Stelle fehlen mir wirklich die Worte. Nicht mal für eine Grimasse reicht es noch. Umso dankbarer bin ich Kyo, dass er für mich antwortet. "Entschuldigen?" Ein Schatten huscht über Kaorus Gesichtszüge und er knurrt, sichtlich unerfreut darüber, dass er nicht mit mir allein reden kann. "Ich war vorhin etwas harsch zu ihm." Mein Kehlkopf fühlt sich dick und angeschwollen an. Da liegt diese bestimmte Anspannung in der Luft, die drauf und dran ist sich als tosendes Ungetüm zu manifestieren. "Entschuldigung angenommen", krächze ich und zünde mir beiläufig eine weitere Zigarette an, um mich abzulenken. "Kann ich mal mit dir alleine reden?" "Ich weiß nicht." Als wäre das das Stichwort gewesen, das gefehlt hat, erhebt sich Kyo urplötzlich von seinem Sitz. "Ich wollte mir sowieso gerade die Beine vertreten", sagt er achselzuckend, als er unsere verwirrten Blicke sieht, und macht keinen allzu großen Hehl daraus, dass das glatt gelogen ist. Binnen weniger Sekunden ist er auf und davon, hinterlässt nur einen leeren Platz, auf den sich auch direkt Kaoru fallen lässt. Die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, mustert er mich, sitzt schweigend da. Wehleidig verziehe ich mein Gesicht. Es geht nie gut, wenn wir beide alleine sind. Gerade jetzt wäre es mir viel lieber, hätte sich Kyo nicht vom Acker gemacht. Blöder Mistkerl. In meinem Zustand bin ich wie eine tickende Zeitbombe. Der Glimmstängel zwischen meinen Fingern ist mein einziger Rettungsanker. Doch es ist egal wie verzweifelt ich daran ziehe, die Anspannung bleibt bestehen und ich kann Kaorus Blicken nicht länger ausweichen. "Über was wolltest du denn mit mir reden?", traue ich mich die Frage in den Raum zu werfen. "Es geht um eine Angelegenheit, die mir sehr am Herzen liegt. Um jemanden, der mir sehr am Herzen liegt." 'Seine Freundin' ist der erste Gedanke der mir scharf wie die Klinge eines Dolches in den Kopf schießt, ihn bestialisch spaltet. Und damit kommt er ausgerechnet zu mir. Zwar sagte ich, dass er mit seinen Gedanken und seinem Kummer zu mir kommen kann - habe ich mich doch vorhin genug darüber aufgeregt, dass er es eben nicht tut - aber wenn es um sie geht, bin ich mehr als offensichtlich nicht der richtige Ansprechpartner. Er bringt es ja nicht mal über sich ihren Namen über die Lippen zu bringen. Doch in seinen Augen spiegelt es sich klar und deutlich. Wer, wenn nicht seine Freundin, würde diesen melancholisch bitteren Ausdruck hervorrufen, der seine dunkle Iris leicht zum Schimmern bringt? Schien ihre Beziehungskrise nicht gerade erst vorüber? Höhnend hat man mir doch unter die Nase gerieben wie sehr und nahe sie sich stehen. Dieses widerliche Szenario, das meinen Alkoholabsturz zufolge hatte. Natürlich, ich wusste von Anfang an, dass da etwas nicht stimmt. Kaorus Alleingang in eine Bar, dazu noch in einem fremden Land. Aufgewühlt und erneutem Stress ausgesetzt; und jetzt ist er hier, unweit von mir entfernt, stiert mich an mit den Blicken einer Sphinx. Wie unsichtbare, eiskalte Hände legen sie sich um meinen Hals. Werden mich wohl auch erwürgen, wenn ich sein Rätsel nicht löse. "Ich könnte bei dieser Angelegenheit wirklich... deine Hilfe gebrauchen." "Meine Hilfe?" Es ist unmöglich, dass mein Ton noch ungläubiger klingen könnte. Ungewollt hat sich meine Stimme in die Höhe geschraubt. "Seit wann brauchst du meine Hilfe?" Anstatt mir zu sagen, worum es sich genau handelt oder auf mich einzugehen, seufzt er bloß schwer und streift sich durch die Haare. "Komm, es ist nur ein Gefallen." "Das letzte Mal, als du mich um einen Gefallen gebeten hast, habe ich mir fast einen Bruch gehoben." "Es ist aber wirklich wichtig." "Das sagst du jetzt." Wer weiß in welche missliche Lage er mich nun wieder bringen will. "Ach, komm schon. Hab ich dich jemals im Stich gelassen?" Ein bitteres, trockenes Lachen fällt von meinen Lippen. "Willst du, dass ich das beantworte oder soll ich einfach nur böse gucken?" Erneutes schweres Seufzen. "Jetzt hab dich nicht so. Ich entschuldige mich auch aufrichtig bei dir. Umarmen wir uns?" Es ist wie als schlüge er mir mit einem Spaten direkt vor die Stirn. Die Schlange in meiner Magenkuhle zischelt, faucht, rasselt. Erst ein hartes Schlucken, dann ein Satz den ich ausspucke. "...ich glaube, wir sind zu männlich dafür." In meiner Stimme klingt ganz deutlich mit, dass 'wir' in diesem Falle nichts Anderes bedeutet als 'du'. Dieses Mal ist es er, dessen Leib plötzlich zuckt, als hätte er sich einen Schlag an einem Elektrozaun geholt. Als hätte es ihn wirklich getroffen, was ich soeben von mir gegeben habe. Jedoch ziehe ich wieder voreilige Schlüsse. Warum sollte es ihn auch nur im Geringsten berührt haben? Höchstens, weil ich nicht direkt meine Hilfe bei seiner privaten Angelegenheit angekündigt habe. In mir ist alles ganz kaputt und aufgekratzt. Bin hin- und hergerissen zwischen Gefühlen für ihn, die nicht mehr zusammenpassen. Die an Wahnsinn grenzende Liebe, die Unterwürfigkeit, der geschundene Stolz, die funkensprühende Wut, die alles vergiftende Eifersucht, die Enttäuschung und das Gefühl nicht mehr zu wissen, was real, Einbildung, richtig oder falsch ist. Widersprüchlichkeit. Die Nervenenden flackern im epileptischen Takt. "Tut mir leid, ich wollte das nicht so-" "Ja, Kaoru. Mir tut es auch leid. Du bist ja nicht derjenige, der Tag ein, Tag aus mit Spott beschmissen wird und von dem dann noch verlangt wird zu helfen. Schön, bitte... Ja, ich hab gesagt, dass du mir dein Herz ausschütten sollst, aber ich will es nicht hören, wenn es bloß darum geht, dass du wieder Stress mit deiner Freundin hast. Und wenn du ganz ehrlich bist, weißt du genau, dass es abartig ist mit diesem Thema zu mir zu kommen. Ausgerechnet zu mir! Ja, ich liebe dich nun verdammt noch mal, aber deswegen musst du mir doch nicht absichtlich jeden Schritt zu einer Qual werden lassen, bloß weil du nicht damit umgehen kannst und vielleicht den Freund, den du einmal in mir hattest, vermisst." Entgeistert starrt er mich an. Es vergehen Sekunden, in denen die Welt wie erfroren scheint. Dann endlich Worte, die jedoch alles andere als befriedigen sind. "...wieviel hast du getrunken, Die?" Meine Hände beginnen vor Wut zu zittern. "Das ist alles, was du mir zu sagen hast?!" Alles dreht sich. In einem Raum voller Farben, die sich vermischen und neue schrille Farbengebilde formen. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Doch genau das tue ich. Die ganze Zeit. Und kann nicht aufhören. Ich kann einfach nicht. Ich kann... nicht... "Hast du mir überhaupt zugehört?" Es ist mir egal wie laut ich werde, wie unangebracht dieses Verhalten, dieses Thema an diesem Ort ist. Niemand wird die Worte verstehen, die ich ausspreche. Vielleicht nicht mal Kaoru. "Ja, ich kann es dir nicht mal verübeln, dass du mich so sehr hasst. Wie kann man so jemanden wie mich auch lieben?" "Die, du fängst schon wieder genauso an wie vorhin." "Ich sage dir nur, wo ich stehe." Und höchstwahrscheinlich ist es auch zu viel Klartext, der aus meinem Mund sprudelt. "Das musst du aber nicht!" "Allen Anschein nach schon, weil du jetzt hier bist und mit mir über deine Freundin sprechen willst!" "Es geht aber überhaupt nicht um meine Freundin." "Um was zur Hölle dann?!" "Um dich, du hirnverbrannter Idiot!" Jegliche Worte verkannten sich quer in meiner Kehle. Wir starren uns gegenseitig nieder. Etwas von dem Bild, dass ich von Kaoru hatte, beginnt zu bröckeln. Verpufft ist mit einem Schlag die Aggression, die noch vor dem Bruchteil einer Sekunde heiß in mir gelodert hat. Nichts, absolut gar nichts, bleibt mehr zurück. Dafür schlingt sich ein anderes Gefühl wie eine bitterkalte Kette um meine Gedärme und schickt Gallensäure meinen Hals hinauf. "Um mich...?", würge ich hervor und habe vergessen, wo oben und unten ist, wie mir geschieht und auch wie ich nur jemals wieder gut machen soll, was ich ihm entgegen geschleudert habe. Dieser Gedanke, mehr noch als die Überraschung Thema seines Anliegens zu sein, bringt mein Herz zum Zittern. Mein gesamter Körper bebt. Keine Spur mehr von der Wut. Wie als hätte man mich in den kalten Regen geschmissen, hat sich innerhalb von wenigen Wimperschlägen eine Welt komplett auf den Kopf gedreht. "Ja, um dich." "Wieso...?" "Ich glaube, das ist jetzt nicht mehr so wichtig." Ist das Schmerz, der hinter diesem dicken Brillenrahmen aufleuchtet? Ist das meine Schuld? Natürlich ist es das... Ohne es zu bemerken; bin ich auch nicht besser als er. Sein garstiges Auftreten der vergangenen Zeit hat einen Schutzmechanismus in mir hervorgebracht, welchen ich nicht unter Kontrolle habe. Ich kann seine wahren Beweggründe kaum noch erkennen. Kaoru ist der Mann, der sich in sanften Nebelschwaden immer mehr vor meinen Augen auflöst, bis ich schließlich nur erahnen kann, wo er irgendwann mal für mich stand. Ein 'Tut mir leid' ist zu schwach. Es ist unverzeihlich, dass ich ihn schon wieder vor den Kopf gestoßen habe. So wie er es sonst mit mir zu pflegen tut. Dabei wollte ich doch niemals gegen ihn kämpfen. Genau das tue ich aber wohl. Und ich kann nicht immer alles auf den Alkohol schieben. "Ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen..." Ausgesprochen klingt es noch erbärmlicher. Wir beide wissen, dass es unser Jähzorn ist, der uns so manches im Leben schwerer macht, als es an sich ist. In seinem Gesicht stehen die Sätze geschrieben, die es nicht wagen über seine Zunge zu rollen. Und da ist er wieder, der Eispanzer. Das Dichtmachen. "Vor den Kopf stoßen? Mich?" Das Lachen klingt falsch und aufgelegt. "Ich lach dann morgen, okay?" Aber die Augen erzählen eine ganz andere Geschichte. Wenn es eine Steigerung für Verwirrung gibt, dann tritt sie sicherlich in diesem Moment in Erscheinung. Unweigerlich presse ich meine Lippen zusammen, meine Zähne bohren sich in sie hinein. Nervöses Schweigen legt sich zwischen unser beider Leiber, die auf zwei verschiedeneren Ebenen gar nicht sein könnten. Kühles Schweigen. Es nistet sich nahezu bei uns ein. Und ehe ich mich versehe, erkenne ich uns beide im Regen stehend, obwohl wir uns doch in diesem Raum befinden. "Kaoru...", flüstere ich, doch weiter kommt meine Stimme nicht. Auf einmal ist es bloß sein Rücken, der mir noch zugewandt ist. "Ich muss jetzt gehen. Du hast bestimmt auch noch was Besseres vor", raunt er gepresst, und dabei zittert seine Hand schwach. Ich will etwas erwidern, doch meine Kehle scheint so trocken, dass sie wohl zerbersten würde, würde ich jetzt sprechen. Ganz zu schweigen davon, dass er mir keine Antwortmöglichkeit mehr gibt. Da geht er, lässt mich zurück. Mit einer beängstigenden Selbstverständlichkeit. Mit tausend verworrenen Gedanken, die wie aufgebrachte Bienen in meinem Schädel herumschwirren. Mit einem säuerlichen Druck in meinen Eingeweiden, in denen nichts bleibt außer dem Rumoren und der stechenden Frage, über was er mit mir hätte reden wollen, hatte ich meine Zunge doch bloß ein einziges Mal im Zaum gehabt... ~*~*~ Wieviel Zeit genau verflossen ist, seitdem ich mir mit meinen Worten erneut ins eigene Fleisch geschnitten habe, vermag ich nicht mehr zu sagen. Es müssen Stunden vergangen sein, in denen ich mich meinem Rausch hingab; aber was war und mit wem, nichts davon krieg ich mehr zusammen. Auch nicht, warum ich mich bloß wieder dem Alkohol hingeben habe und wie ich überhaupt hier hergekommen bin. Das alles ergibt keinen Sinn. Die laute Musik und die vielen Menschen, deren Gesichter verwaschen und konturenlos wirken, haben wahrlich etwas Gespenstisches an sich. Jetzt irre ich hier nahe der Bar herum wie ein Irrlicht und weiß nicht mal mehr wo links und rechts ist, weil ich mich zu oft hin und her gedreht hab. Als Gott den Orientierungssinn vergab, hatte ich mich verlaufen. Und von Kaoru ist immer noch keine Spur zu entdecken. Immer wenn man den mal braucht, ist der nicht da. Okay, was heißt hier brauchen. Ich brauch ihn ja nicht wirklich. Er mich ja auch nicht. Hat ja grad ausnahmsweise mal kein Problem, aber... neee, ich will den einfach sehen und mich an den kleben und mir wünschen, dass wir endlich aufhören uns wie im Tollhaus zu benehmen. Ah, ich hab 'n bisschen zu viel von dem lustigen bunten Gesöff gehabt. Hehehe. So viel nun auch wieder nicht. Ich bin leicht erheitert, aber nicht betrunken. Ich schwöre es! Ich kann genauso gerade denken wie ich gerade gehen kann! Ups. Dass ich jetzt mit diesen Frauen hier zusammengestoßen bin, sagt gar nichts! Oh, holla die Waldfee. Was sehen meine kurzsichtigen Augen. Für einen Moment bin ich vollkommen abgelenkt. Ein breites Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Ich hebe die Hand und lasse mich für eine Sekunde von den tiefblauen Augen der Frau vor mir fesseln. Sie scheint in dieser Sekunde ähnlich zu fühlen, denn genau diese hübschen Augen blicken tief in die meinen. Was bin ich heute wieder für ein Schelm! Ich grinse verstrahlt wie ein kleiner Junge beim Anblick von etwas Süßem. Goooott, ich hatte lange keinen Sex mehr. Schöne weibliche Rundungen ziehen mich eben an wie das Licht Motten. Nicht ganz so schlimm, aber naja... Im Gegensatz zu vielen Fans beim Meet-and-Greet vor einigen Tagen ist das hier doch wirklich mal schön anzusehen und vor allem schön zu riechen. Bild ich mir das ein oder duften beide nach unglaublich süßem Parfüm? Mein Geist ist ganz benebelt. Wer war noch mal der Typ in den ich eigentlich verknallt bin? Eeeh... Scherz. Ich bin heute schwanzgesteuert. Und mittlerweile ist mir egal wer, nur überhaupt wer. Mein Frust hat den Maximalwert erreicht. Trotz des akuten Verlustes an funktionierenden Hirnzellen und drohendem Boardcomputer-Absturzes kann ich mich wieder entsinnen, was ich vorhatte, bevor ich hier gelandet bin und nun von süßem Kichern abgelenkt werde. "Ähm..." Es ist nicht gut seine Sätze so zu beginnen, besonders nicht auf Japanisch. Jetzt muss ich auch noch Englisch reden. "Entschuldigung. Habt ihr zufällig Kaoru gesehen?" Okay, ich bin dumm. Warum frag ich das überhaupt? Ich nehme mal stark an, dass sowieso keine von den beiden Fan von Dir en grey ist, geschweigedenn uns überhaupt kennt. Trotzdem haben sie mich die ganze Zeit über gemustert und ihre Blicke an mich geheftet. Na klar, so einen heißen Japaner wie mich trifft man auch nicht alle Tage, ich weiß. ...ich hatte wirklich nicht zu viel Alkohol! Und warum rede ich eigentlich ständig mit mir selbst?! "Wer ist Kaoru?", fragt mich die erste mit brünettem Haar und legt ihren Kopf etwas schief, sieht mich abschätzend an, ohne mir dabei aber das Gefühl zu geben, es wäre unangenehm mit mir zu reden. Die Frau mit den blauen Augen beugt sich zu mir und lächelt sanft. "Wie sieht er denn aus?" Naja, gute Frage. "Wie ein Möchte-gern-Streber mit 'nem Durchschnitt von 5,6." War das jetzt zu böse? Aber die beiden scheinen sich köstlich darüber zu amüsieren und man sagt mir, mein Akzent wäre entzückend. Ist er das? Ich strenge mich wirklich an mit meinem Englisch. Jetzt gebe ich dem ganzen noch mal einen zweiten Anlauf und beginne Kaoru zu beschreiben, schließlich will ich ihn ja tatsächlich finden. "Ungefähr eins siebzig groß, dunkle schulterlange Haare, Kinnbärtchen, hohe Wangenknochen, schmale Schultern, tätowierte Arme, schwingt die Hüften, während er geht und trägt 'ne Brille mit dickem schwarzen Rand." Während die eine noch angestrengt nachzudenken scheint, bestätigt die andere bereits: "Ja, ich glaube, ich habe vorhin so einen Mann zur Hintertür rausgehen sehen." "Wirklich? Wann war das ungefähr?" "Vor etwa zehn Minuten vielleicht. Er schien es eilig zu haben, die Bar zu verlassen." Stirnrunzelnd blicke ich rüber zur Tür, durch die Kaoru wohl entfleucht sein muss, als meine Aufmerksamkeit flöten gegangen ist. "Naja, dann werd ich wohl mal-" Hart und schmerzend bleibt mir der Rest meines Satz im hinteren Teil meines Halses stecken. Direkt vor mir, so nahe, das der betäubende Duft des Damenparfüms meine Sinne tanzen lässt, steht plötzlich diese brünette Schönheit vor mir, strahlt mich mit einem bezaubernden Lächeln an und hat ihre zierliche Hand auf meinen Oberkörper gelegt. Und ich wünschte so sehr, dass ich sagen könnte, ich würde träumen und in Wahrheit wäre es Kaoru über den ich hier schwärme, aber es ist nur diese Ausländerin, bei deren Anblick aus dieser minimalen Distanz mir etwas zu schwindlig für meinen Geschmack wird. Ich bin mir sicher, sie hat gemerkt wie meine Augen jetzt praktisch in ihr Dekolletee gefallen sind. Zusätzlich rückt mir die Blauäugige mit einem Mal auch ungewöhlich nah auf den Pelz. Oh nein, das kann ich nun ganz und gar nicht gebrauchen. Also im gewissen Sinne schon, aber ich... ich... Ach, verfluchte Scheiße nochmal, ich bin doch auch nur ein Mann! Ich bekomme Schweißausbrüche. Einerseits flirten mich beide gerade ganz offensichtlich und unübersehbar an und das bestimmt nicht aus dem Grund, weil sie mit mir über die aktuelle Weltpolitik reden wollen. Ahahaha. Heilige Scheiße, ich möchte nicht sexuell so stark zu jemand anderem als Kaoru hingezogen sein. Aber diese Art und Weise wie sie mir beide in die Augen sehen, mich praktisch schon mit bloßen Blicken verschlingen und mir die Klamotten vom Leib reißen, während ich nur schlucken kann, mich so entsetzlich hart am Riemen reißen muss, lässt mich wahnsinnig werden. Und so übermäßig schüchtern bin ich normalerweise nicht. Die Frage schimmert beinahe in diesen Augen, liegt beinahe auf diesen kirschroten Lippen und ich kann sie schon in meinen Ohren klingen hören. Und was viel schlimmer ist, meine eigene Stimme wie sie ein 'ja' raunt, während meine Hände sich bereits ganz woanders befinden. Und das Karussell in meinem Schädel beginnt sich zu drehen, das Kino in meinem Kopf zeigt mir hämisch Bilder und Szenen, die diese Nacht dann für mich bereit halten würde. Zwei Frauen. Zwei. Ich habe die Wahl. Süßes oder Saures. Naschen oder verhungern. Oh Gott, ich hasse mich. Ich hasse mich so sehr. "Es... es tut mir wirklich leid. Ich muss jetzt wirklich meinen Freund suchen." Ich lächle nervös, versuche zu überspielen, dass jede Zelle meines Körper danach lechzt auf diese Verführung einzugehen. Es fällt mir schwer mich loszureißen, einen Schritt zurückzuweichen, in diese enttäuschten Gesichter zu blicken und dann die Flucht zu ergreifen. Ich bin so dumm. So unfassbar dumm. Dabei will ich doch eigentlich. Ich will wirklich und das ist das Dilemma an der Sache. Im Grunde war es mir doch oft egal und jetzt sollte es mir nur noch mehr egal sein, schließlich vergnügt sich Kaoru doch auch, also warum sollte nur ich mich zurückhalten? An meinen Gefühlen für ihn ändert das nichts. Es ist nur verdammter Sex. Mein Herz hängt trotzdem an ihm. Wir sind einander in keinster Weise verpflichtet. Warum kann ich es dann heute bloß nicht? Ausgerechnet heute. Vielleicht nicht nach all dem, was ich vor gar nicht allzu langer Zeit gesagt habe. Vielleicht nicht, weil ich eben diesem Mann, den ich doch liebe, nicht aufgeben wollte. Nicht um alles in der Welt. 'Die' muss ein anderes Wort für 'Vollidiot' sein. Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Güterzug. Direkt dort, wo es am meisten wehtut. Direkt in meinen alkoholverseuchten Verstand, der mit einem stechenden Hieb wieder klar und nüchtern ist. Vorbei an dem Türsteher stolpere ich aus dem Club. Verdammt, was bin ich nur nur für ein gottverdammter Trottel! Kaorus Verhalten den ganzen Abend über. Kann ein einziger Mensch denn so viel Vakuum in seiner Birne haben? Wieso sehe ich es erst jetzt? Weshalb springen diese Scheuklappen erst jetzt wie eine Kruste von meinen Augen? Irgendwas beschäftigt ihn ungemein. Es muss sehr in seinem Kopf rumspuken und ihn nicht in Ruhe lassen, dass er sogar Ablenkung durch Alleinsein vorzog. Sein Abwehrverhalten - kann es sein, dass die Dinge, die ich nicht sehen kann und meinen Augen verborgen bleiben, eben diese sind, die der Wahrheit entsprechen? Also bin ich der Grund seiner Sorgen. Wäre das der Fall, würde ich es mir nicht verzeihen, dann auch noch so widerlich zu ihm gewesen zu sein, als er mit mir sprechen wollte. Als würde ich ihm nichts mehr bedeuten... Und sei es nur als Freund. Zwölf Jahre. Zwölf verfluchte Jahre, als würden diese ohne Stellenwert sein. Wenn er mit mir über mich sprechen will, dann sicherlich nicht, weil er mich als Feind sieht. Allein, dass ich das gesagt habe, macht mich wütend auf mich selbst. Doch diese Liebe macht mich blind, diese Angst vor weiteren Verletzungen. Nur, was bin ich wirklich für ihn? Wo stehen wir? Mit einem Bein im Abgrund oder trennt uns nur ein Stück von einer Besserung? Ich glaube, ich habe den Schlüssel gefunden. Es ist das Ertragen. Weder er noch ich können das einander verübeln. Letztlich muss es für ihn genauso schwer sein wie für mich. Es wird in der Tat vertrackt sein tagtäglich den richtigen Umgang mit mir zu finden und zu wissen, dass ich mehr für ihn empfinde als bloße Männerfreundschaft. Da den Mittelweg zwischen kalter Schulter und freundschaftlicher Herzlichkeit zu beschreiten, muss wahrlich mit immensen Anstrengungen verbunden sein, die ich mir wohl kaum vorzustellen vermochte. Und halte ich mir den Spiegel vor das Gesicht, so sehe ich, wie gierig ich gewesen bin, wie ich mich aufgezwängt habe, wo es ihm doch ganz offensichtlich soviel Unbehagen bereitet hat. Kein Wunder, dass er mich immer wieder auf Distanz zu halten versucht. Letztlich hatte Kyo vielleicht doch Recht: Ich sollte aufgeben. Nicht um meiner selbst Willen, aber wegen Kaoru. Sonst treiben wir den Dorn bloß noch tiefer in die Wunde, treiben den Keil noch mehr zwischen unsere einstige Freundschaft. Das ist leichter gesagt, als getan. Ich habe mich geirrt. Dabei war ich mir doch sicher, dass er mich hasst, dabei ist es wohl genau andersherum. Ich war mir sicher, ihn durchschaut zu haben - nur dieses eine Mal. Aber letztlich hat sich mir wieder gezeigt, dass ich im Prinzip gar nichts kapiert hatte und noch immer ratlos den Holzweg angestarrt habe. Draußen schlägt mir die kühle Luft ins Gesicht, sowie die enttäuschende Erkenntnis, dass ich mir selbst das Suchen in diesem Fall schenken kann. Er ist nicht hier draußen. Niemand steht am Eingang des Clubs unter. Keine Menschenseele zu sehen, die auch nur annähernd Japanisch aussieht. Hier draußen ist nichts, nur der stechende, kalte Regen, der sich fortwährend auf die Stadt ergießt und der trist-trüben Atmosphäre, die sich in meinem Brustkorb einnistet, besten Tribut zollt. Wummern und Dröhnen dringt aus dem kleinen Club hinter mir, wirkt mit einem Mal unwirklich und fremd. Das zischende Rauschen des Niederschlags betäubt meine Ohren, bis das behagliche Geräusch eins wird mit dem Brausen des warmen Blutes durch meine Gefäße. Ich atme tief durch, so tief, der Atemzug brennt in meinen Lugenflügeln. Drei, womöglich auch vier Schritte, vom Eingang entfernt, haben mich meine Beine zum Bürgersteig getragen. Es ist ganz anders als in den Räumen voller zusammengepferchter Menschen. Nicht, dass Menschenmassen ein neuer Anblick für mich wären. Ich vermag nicht zu sagen, was genau den Hebel in meinem Innersten auf ein Neues umgelegt hat. Vielleicht werde ich allmählich manisch-depressiv. Ich lege den Kopf zurück in den Nacken und will für den Moment einfach nur - wenn auch nur für Bruchstücke von Sekunden - den Schlamassel vergessen, in den ich mich stets bestens reinzureiten verstehe. Wie angenehm kühl sich die Tropfen auf meiner erhitzen Haut anfühlen. Die unzähligen kleinen Sprenkler wirken wie die Stiche einer Brennnessel. Bloß ohne die schmerzhaften Quaddeln, die eine Berührung mit ihren Brennhaare nachsichzieht. Eher erfrischend und belebend. Die Lider fest geschlossen, sauge ich den modrig, erdigen Geruch tief in mich ein. Ein surrealer Duft, der mich schaudern lässt. Jede Pore scheint leicht zu erzittern, als der Wind leise winselnd mein Haar zerzaust. Von den durchtränkten Blätter des Baumes über mir platscht es hart auf mich nieder. Ich schere mich einen feuchten Kericht um meine Haare. Menschen mit farbenfrohen Regenschirmen gehen vorbei, versteckt darunter. Die, die ohne Schutz sind, rennen. Ihre Fußstapfen bringen das Wasser in den Pfützen zum Beben, die Tropfen zum munteren Herumspringen. Kann es sein, dass ich dieses Gefühl bereits viel zu lange vermisst habe? Die Verbundenheit mit der Erde und die innere Ruhe, die damit verbunden ist. Langsam glätten sich die Wogen und meine Gefühlsachterbahn kommt zum Stehen. Der nasse Teer glitzert wie schwarzer Onyx; die Kreise, die die Regentropfen nach sich ziehen, scheinen wie von Geisterhand gemalt. Ganze Bäche und Flüsse bilden sich zu meinen Füßen. Längst ist der dünne Stoff der silbernen Chucks durchweicht, die Feuchte hat selbst Besitz von meinen Socken ergriffen. Ich fröstele. Die Nässe steckt bereits tief in meinen Knochen. Dennoch nimmt nichts diesem Regenerguss seine urige Schönheit, seine einlullende Wirkung. Doch das beruhigende Rieseln an meinen Wangen findet plötzlich ein abruptes Ende. Verwundert neige ich den Kopf ein paar Zentimeter zur Seite. Ein kastanienbrauner Schirm bedeckt mich nun, schützt mich vor weiteren kühlen Spritzern. Gehalten wird er von einer schmalen, tätowierten Hand, die zweifelsohne zu Kaoru gehört. "Du bist ganz nass." Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich in seiner bloßen Feststellung fast eine süße Besorgnis heraushören. Doch mein Gehirn filtert zumindest diese Fehlinformationen gewissenhaft heraus, bewahrt meinen Körper davor unnötige Endorphine auszuschütten. "Du wirst dich noch erkälten." Eine Lungenentzündung käme nun wahrlich ungünstig, dennoch vermag es mein Körper nicht sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Wie erstarrt, unfähig ihn auch nur anzublicken. Der scharfe Geruch seines Aftershaves sticht in meiner Nase. Zusammen, vermischt mit seinem ganz eigenen Duft, wird er zur toxischen Droge. "Du hast ja nicht mal eine Jacke an..." Ob es ihm überhaupt aufgefallen ist, dass er nahezu mit sich selbst redet? Irgendwie sind mir sämtliche Worte und Ausdrücke längst im Halse stecken geblieben im Verlauf des Abends. Zu viel Schwachsinn habe ich bereits von mir gegeben, zu heftig sind wir aneinander geraten. Umso unwirklicher kommt es mir vor, dass die Worte, die seinen Mund verlassen, so fürsorglich sind; dass er überhaupt erst auf mich zugekommen ist. Vielleicht ist das der Grund, warum mein Inneres keinerlei Regung zeigt. Betäubend ist das Gefühl, nicht zu wissen, wie ich mich nun verhalten soll. Ich wende mich zu ihm, blicke ihn an. Die Feuchtigkeit der Luft hat sein dunkles Haar zum Kräuseln gebracht. Sanft umspielt es seine Wangen, die von der frischen Luft einen lieblichen rosigen Schimmer bekommen haben. Ich weiß nicht, was er hier macht, was ihn zu mir getrieben hat. Niemals können wir in einander Köpfe schauen. Auch weiß ich nicht, warum ich jetzt, wo er bei mir steht, wieder alles vergessen habe, was zuvor rastlos in meinen Gedanken kreiste. Mein Geist ist wie leergefegt. In der Ferne grollt der Donner. Unterschwellig und bedrohlich. Trotzdem tut der Klang dieses Dröhnens meinem Herzen gut, ebenso wie Kaorus bloße Anwesenheit in diesem Moment. Ein leichtes Lächeln ziert seine Lippen, während er den Schirm immer noch behütend über mich hält, auf eine Reaktion von mir wartet, doch mich nicht dazu zwingt. Dabei habe ich seine Freundlichkeit nicht verdient. Sie passt nicht, ganz egal wie sehr ich es drehe. Ich brauche eine Pause von all dem. Ich kann einfach nicht mehr. Lange ruht mein Augenpaar auf seinen Gesichtszügen, die im fahlen Licht nahezu geschmeidig anmuten. "Lass uns zurück ins Hotel gehen, Die", sagt er und seine Stimme klingt dabei so herrlich zart, dass ich nichts weiter tun kann als schwach zu nicken und dicht an dicht mit ihm unter dem Regenschirm versteckt, den schmalen Gehweg entlang zurück zum Hotel zu wandern. ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 9: Die Kunst des Verlaufens. ------------------------------------ Kommentar: Kkkkcch; hier meldet sich aus den tiefsten Tiefen der Versenkung die olle Peri von ihren widerlichen Schreibblockaden zurück. Der größte Kreativitätsblocker ist nach wie vor dieses verfluchte real-life. Und vielleicht musste ich auch erst einen bestimmten Status an Gereiztheit erreichen, um überhaupt in der Lage zu sein dieses Kapitel zu schreiben. Wie dem auch sei, ich hoffe, ihr seid mir nicht allzu böse. Ich weiß, Kapitel 9 hat irrsinnig lange gebraucht und es tut mir aufrichtig leid! ._. Selbst in der Hotellobby riecht es noch nach dem unverkennbaren modrigen Geruch des Regens. Ich atme tief ein, doch meine innere Unruhe will und will nicht aus meinen Knochen weichen. Sie klebt an mir und lässt sich partout nicht abschütteln. Die Blätter der Pflanzen neben den Fahrstühlen wiegen sich leicht im Windzug, der durch die geöffneten Empfangstüren strömt, als wir eintreten. Kaoru hat seinen Regenschirm zugeklappt und hält ihn von sich weg. Während er ihn an der Rezeption abgibt, da er ganz offensichtlich nur geliehen war, schiele ich herüber zu den Automaten neben den Aufzügen. Einer bietet Getränke an, der andere kleine abgepackte Snacks. Nicht zu vergleichen mit den Jidouhanbaiki in meinem Heimatland, aber bei näherem Betrachten doch ganz ähnlich. Aus meiner hinteren Hosentasche krame ich mein Portmonee hervor und begutachte die angebotenen Köstlichkeiten. Schließlich fällt meine Entscheidung auf ein Tütchen Knabberzeugs. Ich werfe gerade meine ausländischen Münzen in den Schlitz ein und habe auf die breite Taste gedrückt, da erscheint Kaoru neben mir. "Du solltest wirklich schleunigst in trockene Klamotten schlüpfen." Er greift in das Ausgabefach und reicht mir meinen Snack. Das Wechselgeld jedoch begutachtet er einen kurzen Augenblick lang, bevor es mir dann ebenfalls entgegenhält. "Schon seltsam wie sich die Münzen hier anfassen", sagt er wie zu sich selbst und drückt bereits auf den Rufknopf des Aufzugs. Was genau ich nun mit dieser Information anfangen soll, weiß ich nicht. Doch es ist dieses merkwürdige Gefühl in mir, welches dieser simple Satz in mir hinterlässt, das mich nachdenklich macht. Die Art und Weise wie er Sätze einwirft, die nicht verlangen, dass man auf sie eingeht, die nur dazu dienen, dass seine momentanen Gedanken seinen Kopf verlassen - mir gefällt sie. Mir gefällt es von seinen Beobachtungen zu hören, mögen sie auch noch so nebensächlich sein. Man kann ihm so einiges vorwerfen, aber nicht, dass er die Welt um sich herum nicht wahrnimmt. Und diese Erkenntnis wiederum gibt mir wirklich zu Denken. In diesem Moment kommt der Fahrstuhl bereits im Erdgeschoss an und seine Türen öffnen sich, um uns Eintritt zu gewähren. Kaum, dass ich mit Kaoru eingestiegen bin, wirft er mir einen Seitenblick zu, den ich meine schon mal irgendwann gesehen zu haben. Wenn ich mich doch bloß erinnern würde wann. Mein Kopf ist zu müde, um überhaupt noch richtig zu arbeiten. Ich bin froh, wenn ich mich endgültig in mein Bett werfen und bis zum nächsten Morgen durchschlafen kann. Und bloß nicht mehr daran denken muss, was ich heute wieder alles von mir gegeben habe und mir das Hirn darüber zermartern muss, was er mir für Rätsel aufgibt. Die Fahrstuhltüren schließen sich lautlos. Lässig an die Wand gelehnt, betätige ich den Schalter direkt neben mir mit der leuchtenden 11 drauf. Die Kabine setzt sich in Gang, Kaorus Finger sind tief vergraben in seinen Hosentaschen. Die Kette, die an seinen Gürtellaschen baumelt, klimpert leise unter dem unablässigem Wippen seines Beines. Es ist wie als würde er einer Melodie folgen, die nur er zu hören scheint. Oder es ist Nervosität. Ich betrachte ihn aus den Augenwinkeln, während der Fahrstuhl sich sanft nach oben wiegt. Als er seine dunkle Stimme erhebt, sind meine Ohren gespitzt. "Hör mal, Die... Worüber ich vorhin mit dir reden wollte, das-" Ich werde wohl nie erfahren, was nach diesen 'das' kommt. Plötzlich beginnt die gesamte enge Kabine zu ruckeln und rackeln, als hätte ein Erdbeben sie erfasst. Ein lautes Knirschen von Metall gegen Metall zerreißt die Luft und der gesamte Aufzug macht einen harten Ruck zur Seite, zerrt uns so heftig den Boden unter den Füßen weg, dass keine Zeit mehr bleibt sich auch nur irgendwo festzukrallen. Die Wände sind zu glatt, um dort Halt zu finden. Unsanft lande ich auf meiner Hüfte. Aufjaulend finde ich mich mit dem Gesicht am Boden wieder. "Was zur Hölle war das?", höre ich Kaorus ungehaltenes Fluchen von der anderen Ecke des Fahrstuhls. Er, ebenfalls mit der Stirn am Boden, rappelt sich langsam wieder auf. "Ein... Erdbeben vielleicht?" "In diesem Land?!" "Ich hab keine Ahnung." Um ehrlich zu sein, hab ich noch bis vor weniger als dreißig Minuten die Nacht mit Cocktails in der Hand verbracht und kann mich nun beim besten Willen nicht mehr darin erinnern, in welchem Land wir gerade eigentlich sind. Und so gut war ich auch nicht in Geographie. Als täte das jetzt auch nur irgendwas zur Sache. "So ein Mist!" Während ich kurz abgedriftet war, hat Kaoru den Notfall-Knopf betätigt. Jedoch scheint dieser nicht seinen gewünschten Effekt nach sich zu ziehen. Ein weiteres Mal presst Kaoru seinen Daumen auf den Knopf. Nach dreißig Sekunden noch einmal. Sogar ein viertes und fünftes Mal, doch es rührt sich rein gar nichts. Keine Stimme meldet sich aus dem Lautsprecher und keine Lampe leuchtet mehr am Schalterbrett. Das Licht über unseren Köpfen flackert, hält sich bisher tapfer gegen einen Ausfall; aber die Frage ist, wie lange noch. "Vielleicht sollten wir oben durch die Luke aussteigen?" "Ich hab gehört, das sei noch viel gefährlich als einfach in der Kabine zu bleiben. Wenn eines von den Stahlseilen reist, zerteilt es dich glatt in der Mitte." "Reißende Stahlseile... sehr ermutigend... Zwischen welchen Stockwerken stecken wir wohl?", frage ich sehr leise. "Ich weiß nicht. Vielleicht zwischen dem fünften und sechsten?" Wir blicken uns in der gleichen Sekunde an. Und als hätten wir exakt das Gleiche gedacht, beginnen wir urplötzlich gemeinsam laut zu rufen, uns irgendwie bemerkbar zu machen, gegen den Stahlkasten anzubrüllen, gegen die kahlen Wände zu prügeln, bis die Handballen rot und wund sind, die Kehle trocken und heiser. Es sind einsame Hilfeschreie. Allesamt werden sie verschluckt. Nach unserem Lärm bleibt nichts zurück außer eine langanhaltende, eisige Stille, die es schafft, dass sich meine Eingeweide benommen zusammenziehen. Ich schlucke schwer, starre die Aufzugstüren an, die sich weder wie erhofft öffnen noch irgendein Geräusch von außerhalb vernehmen lassen. Was solche Situationen anbelangt, bin ich nicht sonderlich kreativ. Ich kann mir jederlei Melodien ausdenken und sie in Töne umsetzen, aber mir vorstellen, was ich tun soll, wenn ich in einem Aufzug feststecke... dafür hat mein Steuerungssystem keinerlei Vorschläge. Diese Software fehlt ganz einfach. Mein ganzer Kopf kommt mir selbst allmählich vor wie ein langsamer alter Computer. Ich laufe noch mit Windows98. Während Kaoru natürlich bereits Windows7 installiert hat und noch vor mir die nächste Phase erreicht. Es ist die Wut, die wie aus heiterem Himmel von ihm Besitz ergreift. Fluchend schlägt er gegen die Notfall-Taste, so energisch, dass ich fürchte er könnte sich dabei ernsthaft verletzen. Doch nach wie vor rührt sich nichts. Ein letztes Mal scheppert seine geballte Faust auf den Knopf. "Hör auf, das bringt doch nichts..." "Besser als nur hier rumzusitzen und zu warten", schnauzt er aufgebracht, reibt sich seine demolierte Hand und rennt wie ein Tiger in einem Käfig umher. "Und was, wenn sie uns nicht finden?" "Früher oder später wird jemand merken müssen, dass wir hier drin sind." Vielleicht habe ich schon viel zu früh das Stadium der Resignation erreicht. "Aber wann soll das sein? Wir müssen morgen weiterreisen." "Wie spät haben wir es?" Kaoru wirft einen raschen Blick auf seine Armbanduhr, hält dabei an. "Kurz nach halb drei. Bis die ersten Hotelangestellten kommen, sind es noch Stunden." "Der Nachtdienst leistet ja auch wirklich tolle Arbeit." Mein Blick schweift nach oben, inspiziert die Wände. "Haben Aufzüge nicht normalerweise Überwachungskameras? Siehst du irgendwo eine?" Zu zweit stehen wir da, die Köpfe in den Nacken gelegt, suchen angestrengt nach einer Kameralinse irgendwo in diesen zwei Quadratmetern Raum. Doch vergeblich. "Nichts. Gar nichts", brummt Kaoru und lässt seinen Rücken frustriert gegen die Wand krachen, rutscht langsam an ihr herunter, bis er auf dem Boden hockt. Sein Kinn fällt auf seine Brust und das Haar bedeckt seine Augen. Ein Seufzen aus den Tiefen meiner Lunge entweicht meinen Lippen und auch ich lasse mich niedersinken. "Und nun?" "Was 'nun'?", knurrt er neben mir. "Hast du es schon mit dem Handy probiert?" "Ja. Kein Empfang. Natürlich. Wie könnte es auch anders sein bei dem ganzen Metall." "Scheiße..." Wir sitzen im Schlamassel. Ziemlich tief sogar. Wir beide wissen das. Doch zu diesem Zeitpunkt mag das keiner von uns beiden laut aussprechen. Aus Angst vielleicht, dass sich die auswegslose Situation auch zu einer solchen manifestiert. Im Grunde genommen, müsste ich mich nun freuen. Wir sind auf engstem Raum miteinander eingeschlossen, umgeben von nackten Stahlwänden. Selbst, wenn er es wollte, könnte er mir nicht entfliehen. So gesehen ist er mir ausgeliefert. Oder ich ihm. Je nachdem wie man die Sache betrachten möchte. Dass ich an so etwas überhaupt noch zu denken vermag. Man möchte meinen, dass sich in Anbetracht der vorhandenen Tatsachen andere, viel wichtigere Dinge in den Vordergrund schieben, und nichtsdestotrotz schweifen meine Gedanken ab. Die Versuchung ist zu groß, aber anders betrachtet, ist mein Kopf auch lange nicht mehr klar. Was tun wir, wenn wir hier wirklich bis zum frühen Morgen sitzen sollten? Ich hatte mindestens vier Bier und andere lustige, bunte Gesöffe. Ich kann hier unmöglich die ganze Nacht ausharren. "Kaoru...?" Er hebt seinen Blick. "Ja?" "Ich... hab zu viel getrunken", gestehe ich leise. Keine Antwort. "Ich weiß nicht... ob ich das, was ich heute alles getrunken habe, auch bei mir behalten kann..." "Oh, erspar mir das bitte." Ich starre meine Zehenspitzen an. Dass die Übelkeit mich einholt, hat mir gerade noch gefehlt. Was meinen Zustand angeht, so bin ich erstaunlicherweise relativ nüchtern. Nicht mehr ganz klar im Kopf sicherlich, aber dennoch nicht betrunken, dafür, dass ich mir wirklich so einiges hinter die Binde gekippt habe in dem Club. "Ich weiß um meine Nervigkeit. Ignorier mich einfach", nuschel ich vor mich hin, lege mich auf den unbequemen Untergrund, diese kalte Metallplatte. "Quatsch nicht." Ein Schnaufen kommt aus seiner Ecke. Dann ein schwermütiges Seufzen. Bedächtig schaut er zu mir herüber, mustert mich für einen Augenblick mit zusammengezogenen Augenbrauen, bevor er schwach in meine Richtung nickt. "Du blutest." Ich blinzele, sehe verwundert an mir herunter. Tatsächlich fehlt ein Stück Haut an meinem rechten Unterarm. Muss ihn mir wohl aufgeschürft haben, als ich fiel. Jetzt, wo ich die Wunde entdeckt habe, beginnt sie auch unverzüglich zu brennen. Unbewusst ziehe ich die Luft scharf durch die Zähne ein. "Ach verdammt." Heute ist wieder mal ein Scheißtag. Und Kaoru verfällt auch wieder in tiefstes Schweigen, hat die Augen geschlossen und die Arme vor dem Brustkorb verschränkt. Dabei war der Eisklotz gerade erst geschmolzen und er nett zu mir. Jetzt das. Womöglich ist mit der Gefangenschaft im Aufzug die Furcht zurückgekehrt, dass ich, wenn er zu lieb zu mir ist, meine Beherrschung verliere und meine Prinzipien über den Haufen werfe, nicht gegen seinen Willen über ihn herzufallen. Wenn ich das so in meinem Kopf vor mich hin spreche, klingt das noch viel dämlicher. Aber ich bin auch nicht auf die Welt gekommen, um allwissend pseudotiefsinnige Dinge von mir zu geben. Mir reicht mein kleiner bescheidener Beruf als Rockstar. Ich mache Exkurse in die verworrensten Wirrungen meines Oberstübchens und Kaoru sitzt bloß da wie ein in sich zusammengefallener Windbeutel. In diesen Augenblicken wird mir schmerzhaft klar, wie laut und erdrückend Stille doch sein kann. Selbst das sonst so leise Sirren der Oberlichter wird zum ohrenbetäubenden Dröhnen. Ich fühle mich wie kurz vor der Häutung. Dieser Körper ist schon längst zu klein geworden für dieses Herz. Kann ich nicht einfach mein Leben hier speichern und was ausprobieren und wenn es schiefgeht wieder hierher zurückkehren? Ah, ich bin so ein Trottel, dass ich mich in jemanden verliebe, der so höchst desinteressiert an meiner Liebe ist, aber mir trotz allem das Gefühl gibt, dass er sich um mich sorgt und manchmal auch als wäre er von mir angezogen. Eine einzige Person sollte nicht so einen Effekt auf mich haben. Das ist nicht fair. Es ist in meiner unmittelbaren Reichweite und doch sind meine Arme zu kurz, um es zu fassen. Wie außerordentlich töricht von mir. Nicht einmal in eintausend Jahren würde er mich ansehen. Besonders jetzt nicht, wo er seine neue Freundin hat. Ich weiß nicht, ob und wie sehr ich sie überhaupt beneiden kann. Höchstwahrscheinlich nicht sonderlich, da er ihr bestimmt noch nicht einmal gesagt hat, dass er sie liebt. Weil er sie nicht lieben kann. Nicht nach so kurzer Zeit. So rede ich es mir zumindest ein. Obwohl ich nicht mal weiß, wie lange die beiden tatsächlich schon zusammen sind. Drei Monate? Vier? Mein Gehirn macht einen Satz in meiner Hirnschale. In einem Aufzug stecken geblieben zu sein - was für ein paradoxer, fieser, abscheulicher Zufall. Aus den Augenwinkeln luschere ich zu ihm herüber. Er wirkt so eingeschlossene in seine ganz eigene Welt. Ein Hauch von Verwegenheit umgibt ihn, wenn er sich nicht rührt und das einzige, was seinen Körper zu unbewussten Bewegungen bringt, sein Atem ist. Wenn er doch bloß nicht so Gottverdammt umwerfend aussehen würde. So Gottverdammt wie mein perfektes Gegenstück, so Gottverdammt seelenverwandt sein würde. Vielleicht würde ich dann besser damit klar kommen. Oder vielleicht will ich das auch einfach nur glauben. Ich habe das Gefühl, ich müsste diese Stille brechen, diesen Bann über uns. Egal mit welchen Worten, nur muss ich es endlich schaffen, dass wir uns nicht mehr pausenlos im Kreis drehen. Oder in einem Sumpf aus Gewohnheiten steckenbleiben, in dem wir nichts anderes tun außer ständig aneinander zu geraten. "Kaoru, du..." Ich weiß nicht, wo das hinführt, aber ich weiß schon jetzt, wie es ausgeht. "Du kannst mir das nicht verübeln; ich ertrag das nicht, verstehst du?" Er hebt den Kopf, dreht ihn zu mir herüber. "Was denn?" Das war zu abrupt, zu sehr aus dem Stehgreif gegriffen. Er kann nichts dafür, dass ich wahnsinnig bin. Oder zumindest wahnsinnig betrunken. So scheint es mir. Wo wir dabei sind - wollte ich nicht aufhören ständig dem Alkohol mein Fehlbenehmen in die Schuhe zu schieben? "Ich... Ach, ich weiß auch nicht." Ich Feigling. Trete ich jetzt doch den Rückweg an. "Du bist seltsam, Die." Als wüsste ich das nicht selbst. "Du weißt ganz genau woran das liegt...", brummel ich meinen nicht existenten Bart. "Ja, mag schon sein." "Du machst es mir aber auch wirklich nicht leicht." "Ist es denn wirklich so schwer?" "Von deinem Standpunkt ausgesehen sicherlich nicht." "Und was macht dich da so sicher?" "Nichts bei dir macht mich jemals sicher." Ein kurzer Lacher entweicht seiner Lunge, während er ausatmet. "Du weichst meiner Frage aus." "Ich mein... du musst nicht die ganze Zeit aufpassen, was du sagst und das jedes Wort ein komplett falsches sein könnte." "Ich glaube deine Wahrnehmung ist arg gestört." "Was zum-? Na, besten Dank auch!" "Nein, im Ernst. Du musst aufpassen, was du sagst? Ist es nicht jedes meiner Worte, was auf die Goldwaage gelegt wird?" Empört öffne ich den Mund, um etwas darauf zu erwidern, schließe ihn jedoch sofort wieder. Im Prinzip hat er Recht. Das wissen wir beide. "Aber", nehme ich das Gespräch nach wenigen Sekunden, in denen meine Gehirnzahnräder verzweifelt nach einem Gegenargument suchen, wieder auf, "du kannst dich frei äußern. Du kannst direkt sein. Auf den Punkt." "Ach? Du nicht?" Das schlägt mich vor den Kopf. "Nein, ich nicht." "Warum nicht?" "Ich.. Was... Verdammt, was soll ich dir denn sagen?" "Ich weiß nicht, was möchtest du mir sagen?" "Das weißt du ganz genau." "Du weichst meiner Frage schon wieder aus." "Weil du ganz genau weißt, was die Antwort darauf ist." "Na und? Dann hör ich sie eben noch mal." "Das ist Schwachsinn." "Nein, Schwachsinn ist, dass du es mir nicht einfach ins Gesicht sagst." "Verdammt noch mal, was willst du denn von mir hören?! Tut mir leid, aber ich habe mich in dich verliebt.?!" Die Welt ist kein Wunschkonzert. Und man sollte wissen, wann es besser ist, aufzuhören zu wünschen. Warum muss ich mich auch immer in die abwegigsten Dinge verbeißen? Dieses Herz lernt wohl nie dazu. "Vielleicht." "Viel...leicht...?" Vielleicht. Vielleicht sagt der. Es ist ja auch genau so einfach. "Und... das war's jetzt oder wie?" "Das war's", erwidert Kaoru so trocken wie Heizungsluft. "Oder hast du noch etwas hinzuzufügen?" "Arschloch", stoße ich aus und schleudere meine Sonnenbrille quer durch den ganzen Raum und ihm an die Birne. Vielleicht... Vielleicht... Vielleicht hilft es ja, ihm etwas Hartes gegen den Kopf zu hauen. Doch er lacht bloß und ich wünschte, ich hätte gerade noch mehr zur Hand, was ich ihm ins Gesicht pfeffern könnte. Unruhig wippe ich mit dem Fuß, betrachte das leichte Lächeln, das sich um seine Mundwinkel kräuselt, nur verständnislos und mit Abscheu. Mein Herz liegt hier auf dem Schleifstein und niemanden schert's. Meine Augen drehen eine Ehrenrunde in meinem Kopf. Das ist alles so irrsinnig. Das ist so absurd, dass es doch überhaupt nicht real sein kann. Sowas sieht man doch sonst immer nur in Filmen. Aber manchmal schreibt das Leben selbst die abwegigsten Geschichten. Auch wenn diese reichlich dämlich ist. Sich in dich zu verlieben ist unsinnig. Denn du siehst mich nicht. Du kannst mich auch gar nicht sehen. Ich bin wie das strahlendste Rot auf diesem Planeten. Ein satter, kräftiger Farbton. Doch für deine Katzenaugen bin ich unsichtbar. In ihnen gehe ich unter in einem Meer aus faden Blautönen. "Sag mal..." Es wundert mich, dass doch tatsächlich er das Gespräch wieder aufnimmt. "Warum warst du eigentlich in diesem Club? Ich dachte, Toshiya hätte jemanden für dich aufgerissen. War sie nicht nach deinem Geschmack?" Macht ihm das Spaß? Mich jetzt auch noch nach sowas zu fragen... "Wenn du es genau wissen willst, sie ist nicht aufgetaucht. Da, jetzt hast du was zum Lachen." "Na, zum Lachen finde ich das nicht gerade. Findest du es zum Lachen?" Ich runzle die Stirn, betrachte Kaoru abschätzend, kratze mich nachdenklich am Nacken. "Naja... Ehrlich gesagt habe ich mir noch gar keinen so großen Kopf darum gemacht." "Es ist dir also egal?" "Mmh. Ja." "Also warst du bloß so in dem Club, um dich zu betrinken?" "Ich hatte gar nicht vor mich zu betrinken!", antworte ich patzig. "Ist das hier ein Verhör?" Kaoru spielt mit meiner Sonnenbrille herum, klappt die Bügel nach innen und wieder nach außen, beschmiert dabei die Gläser mit seinen Daumen. "Nein, das ist es nicht..." "Ich war wegen jemand anderem da." "Ich weiß." "Scheint ganz so, als wärst du letzten Endes doch allwissend." Es fällt schwer die Bitterkeit verschlossen zu halten. Die Schultern hebend erwidert er: "Wenn du das sagst..." und macht damit Andeutungen diese Unterhaltung im Sand zerlaufen zu lassen. Doch das lasse ich nicht zu, dass er sich einfach so aus der Affäre zieht. Ein verächtlicher Ton, der sich meiner Kontrolle entzieht, purzelt über meine Zunge. "Ganz im Stillen hältst du dich doch selbst dafür." Eine Ader an Kaorus Stirn beginnt merklich zu zucken. "Ach? Tue ich das?" "Hast du dich in letzter Zeit schon mal im Spiegel angesehen?" "Was hat das damit zu tun?" "Wenn du mal einen Blick in den Spiegel getan hättest, hättest du gesehen wie Egozentrik in dir feste Formen angenommen hat." Schon längst hat die Ermüdung von meinem Körper Besitz ergriffen. Bester Nährboden für meine Streitlust. Ich habe meine Zunge nicht mehr im Zaum. Letztlich wird der Jähzorn mir wohl immer zum Verhängnis werden. "Ah, und über deine Selbstgefälligkeit reden wir hier nicht?" "Mein Ego ist gerade mal so groß, dass es in eine Zigarettenschachtel passt. Deines hingegen..." Ich mache eine weite, schwungvolle Geste mit meinen Armen. "...woooah - reicht von hier bis zum Südpol. Mit dem du ganz nebenbei auch deine frostige Art teilst." "Und weißt du, womit du deine Art teilst? Mit der eines wildgewordenen kranken Affens." "Was zum?! Du vergleichst mich mit einem Affen? Einem... Affen?!" Mein Mund ist bitterböse verzogen, meine Oberlippe stößt an meine Nasenspitze und meine Arme bilden vor meinem Brustkorb eine verkrampfte Mauer. "Jetzt komm mal wieder runter. Als wäre dieser Vergleich an den Haaren herbeigezogen." "Ich zieh hier auch gleich mal was an den Haaren herbei. Nämlich dich!" "Wenn du handgreiflich werden willst, dann tu's doch. Wenn du das Echo vertragen kannst." "Ach, dann ist das hier jetzt also ein Egokampf, oder was?! Bitte, den kannst du haben!" "Weißt du was, Die? Es wäre wirklich schön, wenn du dich einfach nur verpissen würdest." Ich knirsche mit den Zähnen. "Selbst, wenn wir nicht hier drin feststecken würden, würde ich dir den Gefallen nicht tun." Der alte Grundsatz 'Auge um Auge' macht schließlich alle blind, das wusste schon Martin Luther King. "Weißt du, was mich am meisten ankotzt?", sage ich und donnere meine Faust unachtsam gegen die Wand. "Dass du ständig deine Farben wechselt. Wie ein verdammtes Chamäleon. Wie soll ich denn da jemals wissen, woran ich überhaupt bin?!" "Du würdest dir einen wesentlichen Teil deines Kummers sparen, indem du einfach mal aufhörst dich in alles so hineinzusteigern!" "Ich bräuchte auch einfach keinen Kummer mehr zu haben, wenn du aufhören würdest mich wie den letzten Dreck zu behandeln und mich vor Leuten bloßzustellen und... Weißt du, was echt nervt?!" "Mit dir in dieser Buchse gefangen zu sein und dir dabei zuzuhören wie du über dein armseliges Leben rumjammerst?" Was... für ein verdammtes Arschloch. Nicht einmal ein Wort oder ein Satz fällt mir in meinem Zorn noch ein. Die blanke Leere lässt jegliche Äußerung zurück in meinen Schlund sinken, doch ballen sich meine Hände zu Fäusten. Verdammst seist du und verdammt seien meine törichten Gefühle für dich. Wie konnte dieses Herz nur jemals seinen Sinn in deiner Präsenz verlieren? Die Zwiespältigkeit und die Lächerlichkeit meiner Dummheit. Blutstau... Wutstau. Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen. Ich weiß nicht, ob ich wütend auf ihn bin, weil er so ist oder ob ich wütend auf mich bin, weil ich so bin. "Von allen Dingen, Die, von all den verdammten Dingen, die du verloren hast, vermisse ich deinen Verstand am meisten." Mein Blut kocht so hart in meinen Gefäßen, dass die Pumpe nicht mehr hinterherkommt, sich stattdessen entscheidet von meinen Lungenflügeln zerpresst zu werden, die sich in diesem Augenblick mit Luft füllen, die ich wutentbrannt durch meine Nüstern ziehe. Ich habe das Gefühl, als ich hätte ich mich verlaufen. Vollkommen verrannt. Als hätte ich nicht darauf geachtet, wo meine Füße mich unablässig hingetragen haben. Hart, mit einem dumpfen Geräusch, trifft meine Handkante auf die kalte Metallwand. Der ebenso dumpfe Schmerz lässt nicht allzu lange auf sich warten. Vergessen ist, was ich eben noch sagen wollte. Vergessen, wovon ich fand, dass es echt nervt. ~*~*~ "Wie lange willst du noch da hinten in der Ecke schmollen?" Es muss über eine halbe Stunde vergangen sein. Dennoch kommt es mir vor, als würde sich die Zeit wieder ziehen wie alter Kaugummi. Abgewandt, mit dem Rücken zu Kaoru, hocke ich auf dem Boden, fummle an dem nutzlosen Handy rum, schenke dem ungehobelten Kerl kaum zwei Meter von mir entfernt keine Beachtung. "Das geht dich gar nichts an." "Oh Mann, jetzt benimm dich nicht wie ein Kind." "Wenn du mich wie ein Kind behandelst, dann kann ich mich auch wie eines benehmen." Aus mir spricht der bloße Trotz. Außerdem knurrt mir der Magen. Das Knabberzeug war schneller leer, als ich gucken konnte. In diesem festgesteckten Aufzug ist es so wunderschön wie in einer Konservendose. Fehlt nur noch, dass die Stahlseile reißen. Dann befänden wir uns wohl schnurstracks im Keller. Aber da hält sich ja auch schon meine Stimmung auf. Zum Glück ist wenigstens meine Kleidung wieder trocken. "Jetzt tu nicht so, als hätte ich dir irgendwas furchtbar schlimmes angetan", brummt es von der Seite. Ich wünschte so sehr ich könnte es, aber ich kann es nicht auf mir sitzen lassen. "Also würdest du das von vorhin nicht als absichtliche Verletzung ansehen?!" Sein unbeherrschtes Seufzen drückt einmal mehr aus, dass er am liebsten gar nicht erst auf diese Frage antworten würde. "Das Einzige, was hier verletzt ist, ist dein Stolz, du verdammter Gockel." "Du nennst mich Gockel?!" "Du könntest jede habe, jeden einzigen, nur mich nicht und das wurmt dich ungemein. Ist es nicht so?" Was soll ich dem entgegensetzen? Er presst die Luft aus seinen Lungen wie ein Drache der Feuer speit. "Sag mal, stellst du dich absichtlich so dumm oder bist du wirklich so blöd?" Die Lippen fest aufeinander gepresst, starre ich Löcher in meine Knie, die kaum merklich zittern. "Herr Gott noch mal, jetzt stell dich nicht so an. Wir sind doch beide Kerle. Sollten wir uns nicht da auch so benehmen? Sollten wir nicht-" "Kaoru... Ich... liebe dich." Vermutlich nicht der geeignetste Zeitpunkt, um ihm meine Liebe zu gestehen. Und genauso starrt er mich in dieser Sekunde auch an. Wenigstens schafft er es den aufgeklappten Mund mit einiger Anstrengung wieder zu schließen. Das kam jetzt zu plötzlich. Was zum Geier mache ich hier eigentlich? - schreit mein Verstand. Doch der hat hier schon lange nichts mehr zu melden. "Du... weißt ganz genau, dass ich... auch sehr viel... Sympathie für dich empfinde." Das klingt beinahe, als würde es ihm leid tun. Doch seine Stimme klingt gequetscht, als würde es ihn unendliche Anstrengung kosten überhaupt etwas hervorzubringen und sich nicht gleich an der Decke selbst zu erhängen - wenn es sein muss mit seiner überdimensionalen Kreuzkette. Da ist sie - diese peinliche Stille und die Situation, wo Worte nicht mehr ausreichen. Sein Verhalten ergibt keinen Sinn. "Sym... Sympathie?" "...ja?" Warum um alles in der Welt hört sich das an, als würde er das nur sagen, damit ich endlich meine vorlaute Fresse halte? "Sympathie." "Ja." "Sympathie...", wiederhole ich mit einem bitterbösen Lacher, beiße mir auf die Unterlippe, bevor ich dann die Augen aufreiße und ihn wohl anstarre wie ein aufgebrachter Ochse. "Sag mal... Willst du mich eigentlich verarschen?!" "Was denn?!", faucht er, denn er hat erkannt, was für einen Blödsinn er da gerade von sich gegeben hat, springt auf die Beine, gestikuliert wild mit den Armen rum. "Was soll ich denn sonst sagen?! Ich kann keinem mit einem Penis bestückten Mensch sagen, dass ich ihn liebe!" "Bist du... völlig irre?! Du hasst mich! Und was zur... Was zur Hölle?! Heißt das, wenn ich mir den Schwanz abschneide, würdest du dich eventuell dazu bereiterklären mich zu lieben?!" Die Tatsache, dass er schweigt, konzentriert an die Decke schaut und allen Ernstes auch noch darüber nachzudenken scheint, macht mich noch viel wütender als ich es vorher war. "Kaoru! Herr Gott noch mal!" "Jetzt stell dich nicht so an! Ich hab nicht gesagt, dass ich dich nicht mag. Ich steh nur nicht... auf den Teil zwischen... du weißt schon!" "Sprich es doch aus, du Arsch. Schwanz, Schwanz, Schwanz, SCHWANZ." "Jetzt hör auf damit!", herrscht er mich an und schüttelt sich. Wohl vor Ekel. "Nein. Werd ich nicht, denn du hast ganz offensichtlich eine Homophobie." "Hab ich gar nicht!" "Versuch gar nicht erst es abzustreiten!" Mit zu Schlitzen verengten Augen gehe ich einen Schritt auf ihn zu, den Zeigefinger gegen sein Brustbein gepresst. Kaoru wischt meine Hand unwirsch fort. "Ich hab keine Homophobie!" "Ach nein? Hat der liebe Herr Niikura nicht? Dann passiert es wohl rein zufällig, dass dir vor Abscheu ständig die Haare zu Berge stehen, wenn ich mich dir auch nur nähere?!" "Ich kann es nicht leiden, wenn man mir so zu Leibe rückt. Verdammt noch mal, wäre ich homophob, wäre ich sicherlich aufgesprungen und hätte mich auf der Stelle übergeben, als du mich vor ein paar Tagen nachts einfach geküsst hast, als du gedacht hast, ich würde schlafen und könnte dein dämliches Gesäusel nicht hören!" Ich kann nicht fassen, was meine Ohren da hören. Wäre das hier ein Trickfilm, wäre ich Tom und Kaoru Jerry, dann hätte ich so eben einen Stein, einen Amboss und ein Klavier auf den Schädel bekommen. Mein Sprachzentrum ist mit einem Mal zertrümmert. Da stehe ich nun, taumele rückwärts, bis ich nicht mehr rückwärts taumeln kann. Den Rücken zur Wand, den Kopf in Unglaube schüttelnd, stottere ich Laute vor mich hin. "Du... warst wach...?" Wie kann das sein? Warum? Warum hab ich es nicht gemerkt? Wie konnte ich tatsächlich glauben, er hätte es nicht gemerkt? Das Brennen in meinem Herzen, als würde ich es mir auf Asphalt aufschürfen, macht mich schlagartig kampfunfähig. Zu viele Gedanken, Wahnvorstellungen prasseln auf mich ein. Kaoru ist doch wie die Wüste und ich wie ein Schneeschauer - das passt einfach nicht. Beides kann augenscheinlich nicht im gleichen Raum miteinander existieren, ohne eine Katastrophe zu verursachen. Und doch tun sich hier Abgründe auf, Hoffnungen machen sich breit, an die ich nichtmals mehr selbst im Fiebertraum gedacht hätte. Klebrig haften sie an den Synapsen, machen mich gefühllos, wo ich überquellen müsste vor Empfindungen. Es gibt Gedanken, die sollte man nicht denken und trotzdem verschwenden wir abertausende davon in unserem Leben. Doch ist der Gedanke wirklich verschwendet, wenn ich mir wünsche sein zu sein? Und wenn es die Möglichkeit gäbe, dass er gar nicht so ist, wie er es mir vorzugaukeln versucht? "Warum... warst du wach..." Zu sprechen, obwohl man weiß, dass jedes Wort, das einem nun entweicht, die Dinge noch viel schlimmer machen kann, ist wahrlich ein Fluch. "Ich... bin aufgewacht, als du mich angegrabbelt hast..." Es ist ein tiefes Grummeln, ein Hauch von Verlegenheit legt sich auf seine Wangen, sein Blick geht in die mir am entfernteste Fahrstuhlecke. Ich geb auf. Ich verstehe diese Welt nicht mehr. "Warum hast du mich nicht weggedrückt...?" Dachte, diese Frage hätte sich nur in meinem Kopf gebildet, doch als Kaoru plötzlich darauf antwortet, bemerke ich, dass ich sie tatsächlich laut ausgespochen habe. Die von Nachdenkfalten zerfurchte Stirn unterstreicht seine Worte nur noch. "Ich weiß es nicht." Und es erscheint mir wie der erste wahre Satz, der heute ausgesprochen wird. "Kaoru... Ich..." Krampfhaft versuche ich das Thema umzulenken. Weg von meinen unbedachten, nicht verstandesgelenkten Äußerungen, die uns beiden Unbehagen bereiten. "Warum... um alles in der Welt hast du mich eigentlich aufgesammelt? Vorhin... Du hättest mich einfach im Regen stehen lassen können. Ich hätte es verdient gehabt. Und dann wären wir jetzt auch gar nicht hier..." Betroffen sehe ich zu Boden. "Ich habe das Gefühl, dass ich es... nach all dem blöden Quatsche, dass ich dir in den vergangenen Wochen entgegengeschleudert habe, nicht einmal mehr wert bin, dass du mich ansiehst." "Was redest du da bloß für einen Unsinn..." Fast zu einem Flüstern ist seine Stimme geworden. In dieser Tonlage hört sie sich noch viel rauer an. "Du hast betrübt ausgesehen." Ich hebe meinen Blick, blinzele schwerfällig durch das dichte dunkle Haar vor meinen Augen. "Ich hab mir Sorgen gemacht." Er zuckt mit den Schultern, während er seinen Kopf zu mir dreht. Raunt mir zu wie ein grummliger alter Bär, den man aus den seligen Tiefen seines Winterschlafes gezerrt hat. Mir wird um die Zerbrechlichkeit dieses Moments bewusst, um seine subtile Sanftheit und der umhüllenden Wärme, die von diesem Mann am anderen Ende dieses Metallkäfigs auf einmal ausgeht. Beinahe könnte man sie übersehen, hat er doch nach wie vor seine altbekannte Raubeinigkeit an sich. Aber ich bilde mir das nicht nur ein. In der harten Schale ist mit einem Mal ein Riss. Und ein Satz schießt mir durch den Kopf. Seine Unmittelbarkeit so scharf wie die Schneide eines Dolchs. Wie... wie nur, kann ich verleugnen, was ich nicht verleugnen will? "Du hast dir Sorgen gemacht...", wiederhole ich seinen Satz halblaut vor mich hin, als würde er dadurch erst real werden. Ich lasse mich an der Wand heruntergleiten, muss sitzen, strecke die Beine von mir. Zu meiner Überraschung setzt Kaoru sich neben mich. Ich seufze. Mein Körper erfleht den rauchigen Geschmack einer Zigarette. Auf meine Zungespitze legt sich die Bitterkeit des Qualms, die ich sonst immer durch meine Lungen ziehe. Eine flüchtige Erinnerung. "Eine quarzen wäre jetzt nicht schlecht, nicht wahr?", sagt er, als hätte er meine Gedanken gelesen, und lacht sehr leise und unbeholfen. Ich blicke ihn an. "Jaaa..." Und muss lächeln. "Das alles ist doch irre." Bestätigend nickt Kaoru, wippt mit seiner Schuhspitze. "Ich bin es. Du ist es. Wir sind es. Diese Situation ist es... Ich mein... wer ist denn schon so bescheuert und bleibt mitten in der Nacht in einem Aufzug stecken? Und das ausgerechnet dann, wenn man mindestens ein Fass Alkohol getrunken hat, der nicht nur auf die Blase, sondern noch viel mehr aufs Gehirn drückt. Und dann macht man sich auch noch zum Affen. Wenn man das nicht schon sein ganzes Leben lang gemacht hat. Und das vor dem, vor dem man doch gut dastehen möchte. Und sei's drum auf welcher Seite man steht oder in welchem Team man spielt. Verdammt, eine Zigarette wäre nun wirklich der Knaller." Das kratzige, halb nach innen hallende Lachen von Kaoru ist so schön. "Ich weiß..." Und plötzlich hat er aus seiner Hosentasche ein zerknittertes Päckchen Billigkippen hervorgezaubert. Wie macht er das nur ständig? "Kannst die ganze Packung haben. Sie schmecken nicht besonders gut, aber..." Das, was nach dem aber kommt, warte ich gar nicht erst ab. Ich ergreife die Schachtel und ziehe eine Zigarette heraus. Hastig tatsche ich meine Taschen nach einem Feuerzeug ab. Natürlich ist Kaoru schneller, hat seines bereits hergezogen und hält mir die Flamme hin. Der erste Zug erscheint mir himmlisch. Der Rauch verlässt in einem großen Schwall meine Lippen. "Vielleicht geht jetzt wenigstens der Feueralarm los und jemand kommt, um uns hier rauszuholen." "Oder aber wir haben so eben unser Schicksal besiegelt und werden an unserem eigens gemachten Qualm ersticken." Wir blicken einander an... und prusten gleichzeitig los. Um ein Haar hätte ich mich vor Lachen am Rauch verschluckt. Zur Sicherheit entwendet Kaoru mir die Zigarette, zieht selbst daran, obwohl er nicht minder laut lachen muss. "Das hört sich jetzt vielleicht doof an...", gluckst er und wedelt mit der freien Hand eine Wolke davon. "Aber... ich würde mit niemanden lieber zusammen sterben als mit dir." Erst bleibt mir das Gelächter im Halse stecken und ich starre ihn an - sein Profil, sein Schmunzeln - dann jedoch muss ich über diese Aussage ebenfalls lächeln. "Schon etwas makaber jetzt darüber zu reden, findest du nicht?" "Mag schon sein..." Unsere Blicke treffen sich. "Aber wenn es so wäre und wir beide würden hier elendig verenden...", stoppt er mitten im Satz, schüttelt den dunklen Haarschopf mit noch immer gekräuselten Lippen, bevor er dann ganz ernst wird. "...dann könnte ich es mir nicht verzeihen, vorher nicht noch das getan zu haben." Da sitze ich wie ein unwissendes Kind an seiner Seite und frage mich noch überrumpelt, was er denn wohl mit 'das' meinen könnte, als er sich zu mir beugt und seine tätowierte Hand bereits ihren Weg auf meine Wange gefunden hat. Ich weiß nicht, was er da macht, aber ich glaube, ich verliere den Verstand. Wozu sind eigentlich Träume gut, wenn sie nicht ein wenig unrealistisch sind? Seine Nähe ist so warm, sein Atem berührt meine Haut. Und die Fingerkuppen, die mein Gesicht streichen... Die Nackenhaare erheben sich zur Standing-Ovation. Ich frage mich, wie man den Faden nur so verlieren kann. Verlaufen ist im Grunde nichts Schlimmes, oder? Man findet nur etwas, was man eigentlich überhaupt nicht gesucht hat. Ist die Lösung denn so leicht, dass man Angst vor der Antwort hat? Seine Lippen pressen gegen die meinen, so unerwartet, so sinnesraubend, dass mir schwindlig wird. Meine Augen weiten sich, werden riesengroß. Bin wie erstarrt, perplex. Und doch hämmern tausend Fragen wirr und kreischend durch jede Ecke meines Kopfes, in dem Sirenen aufheulen, die vor dem Großbrand warnen, der in diesen Sekunden in meinem Körper auszubrechen droht. So viele Fragen, peitschend und markversteinernd. So viele, doch eine schreit am grellsten: Wer bist du und was hast du bloß mit Kaoru gemacht? ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 10: Nachgeschmack. -------------------------- Kommentar: Gefühlte Jahrhunderte ist es her. Über ein ganzes Jahr ist in Wirklichkeit vergangen. Du meine Güte. Dass es so lange dauern würde, habe selbst ich nicht gedacht. Mittlerweile habe ich dieses Kapitel so oft rauf und runter gelesen, so oft hier und da noch etwas eingefügt, etwas verbessert, etwas rausgestrichen, dass ich es fast auswendig kann. Ich könnte noch viel länger daran herumbessern, da ich immer noch nicht zufrieden damit bin. Aber ich lasse das nun. Da ich letzten Endes sowieso nie 100%ig zufrieden bin mit meinem Geschriebenen. Als kleine Randnotiz möchte ich hinzufügen, dass ich den ursprünglichen Plan, wie dieses Kapitel aussehen soll, nach langem Hin und Her komplett über den Haufen geworfen habe. Und ich bin im Nachhinein sehr froh, dass ich vorerst doch noch mal ein wenig Tempo aus der Geschichte rausgenommen habe. Ich hoffe, ihr seid mir deswegen nicht allzu böse... Ich kann mich nicht erinnern, wann sich meine Knie zum letzten Mal so schwammig angefühlt haben. Sogar zitterten. Die Aufregung, sie zuckt durch jede Zelle. Endlos erscheinende Zeit fließt, plätschert dahin. Und ist doch nur knapp ein Wimpernschlag. Zaghaft erwidern meine Lippen den Kuss, können nicht fassen, was in diesem Augenblick geschieht. Angst den Moment zu zerbrechen. Panik vor dem Erwachen aus einem Tagtraum. Sanfter Druck, ein leises Bitten nach mehr. Ich hab so viel Angst davor, dass er aufhört, wenn ich dem Ungeheuer in mir nachgebe und den Kuss vertiefe. Ich kann nur mit erwidertem Küssen bitten. Und er gewährt mir meinen Wunsch. Wie ein Dieb in der Nacht stiehlt sich seine Zunge durch meine Lippen, dringt in meinen Mund ein. Ich verliere den Verstand, als unsere Zungen einander berühren. Dieses schwummrige Gefühl. Ich muss mich so sehr zurückhalten, damit ich nicht beginne seine Zunge zu bekämpfen, zurück in seinen Mund zu drängen und die Kontrolle zu übernehmen. Ich will ihn so sehr, dass die Adern in meinem Kopf zu zerplatzen drohen. Das Blut rauscht wie ein D-Zug durch meine Ohren. Ein weiteres Ruckeln lässt die Kabine erbeben, doch ich nehme es nur am Rande wahr. Die Erschütterung trennt unsere Lippen und ich öffne meine Augen einen Spalt. Langsam sinkt mein Kopf auf Kaorus Schulter. Stumm blickt er zu mir herunter, seine warme Handfläche bedeckt meine Wange. Irgendwie wird es mir fast egal, was gerade um uns herum passiert. Die Pforte, die Kaoru geöffnet hat, ich kann sie jetzt nicht mehr schließen. Ich traue mich nicht zu fragen... Bin ich nur eine einmalige Sache? Ein Trostpflaster? Ein Lückenfüller? Meine Lippen berühren seinen Kieferknochen. In mir macht sich ein gänzlich neues Gefühl breit. Der bitterer Nachgeschmack. Es fühlt sich schön an. Es fühlt sich falsch an. Gelogen. Er hat doch eine Freundin. Skrupel hatte ich doch eigentlich zurückgelassen, zusammen mit dem Entschluss mich von ihrer Konkurrenz nicht unterkriegen zu lassen. Sie ist schließlich der Feind. Sie hat das, was ich nicht haben kann, und hat es wahrscheinlich nicht einmal verdient. Vermutlich nicht einmal darum kämpfen müssen. Sicherlich kein einziges Mal gelitten. Sich das einzureden, sollte doch helfen. Ein weiterer Trugschluss. Es könnte dafür wohl keinen unpassenderen Zeitpunkt als diesen geben. Dieser verfluchte Aufzug. Muss er ausgerechnet jetzt seine Entscheidung ändern und zu wackeln beginnen? Das Blut stockt mir in den Adern und der Schreck zuckt durch meine Glieder, als die Kabine unvermittelt ein gewaltiges Stück absackt. Als ginge mir die Pumpe nicht ohnehin auf Hochtouren und als wäre mein Kopf nicht genug benebelt, jetzt versucht mir der Fahrstuhl auch noch Panik einzujagen! Ich starre nach oben, in Kaorus weit aufgerissene Augen. Doch diese starren nur zurück. Für Sekunden, so scheint es mir, halte ich die Luft an, traue mich nicht auch nur einen Atemzug zu tun. Als wäre das Einsaugen dieses bisschen Lufts ausschlaggebend, um die Stabilität zu zerstören, die den Aufzug noch auf dieser Ebene hält. Im Prinzip traue ich mich gerade gar nichts mehr. Nur widerwillig löse ich mich von Kaoru. Die Lampe über unseren Köpfen beginnt wie wild zu flackern, spuckt wirr Lichttropfen in den Raum. Als ihr Licht vollkommen erstirbt, durchfährt mich ein eisiger Schauer. Mein Gehirn spielt mir listige Streiche. Ich will nicht wissen, wieviel noch zu unserem Todessturz fehlt. "Kaoru...", beginne ich matt und versuche mir erste Worte meines Abschiedes zurechtzulegen und im Dunklen nach seiner Hand zu suchen. Doch der Fahrstuhl hat seine Rechnung heute ohne mich gemacht. Mit einem gleißenden Strahl erwacht die Lampe über unseren Köpfen zu neuem Leben. Auf dem Schalterbrett leuchten bunte Lichter auf. Besonders die 11, die ich vor einem gefühlten Jahr gedrückt habe, erstrahlt wieder in einem kräftigen Rot. Ein weiteres Mal zuckelt die Kabine. Nunmehr in mit einem gleichmäßigen Schub nach oben. Schneller als ich denken kann, habe ich mir Kaorus Arm gekrallt. Wenn ich jetzt sterben muss, dann - Der Aufzug kommt zum Stehen. Ein hohes Bing ertönt und unter metallischem Schlirren öffnen sich die Türen. Es ist nicht das Auge des Todes, in das ich blicke. Es ist nicht... Es ist... "Kyo?!", entfährt es mir etwas zu laut, den Finger auf ihn gedeutet. Demonstrativ reibt er sich das Ohr, in welches ich ihm so eben selbst vom Boden aus gebrüllt haben muss. "Ja, live und in Farbe." Der Prozess, in dem ich erst realisieren muss, was geschehen ist, ist noch in vollem Gang. Da hat er doch nicht allen Ernstes den unterbrochenen Kontakt des Fahrstuhls wieder ausgelöst, in dem er oben auf die 'Kommen'-Taste gedrückt hat? Ich bin kein Techniker, aber das klingt unlogisch. Kaorus Arm entzieht sich unvermittelt meinem Griff, schüttelt mich nahezu ab, als wäre ich ein lästiges Insekt, und entfleucht so rasch wie nur irgendwie ausführbar auf die sichere Etage. Bevor sich die Türen erneut schließen und mich womöglich wieder verschließen, hopse ich ihm nach. Bei all diesen sich überschlagenden Ereignissen komme ich kaum noch mit. Sogar meine Drüsen wissen nicht mehr welche Hormone sie als nächstes ausschütten sollen. Auf Kyos Gesicht spielt sich währenddessen ebenfalls ein wahrer Zirkus ab. Ein Ausdruck irgendwo zwischen Verwirrung und Belustigung. "Gibt es einen Grund, warum ihr so verschreckt dreinschaut?" Verschreckt ist das Stichwort. Eine Überraschung, ein Knaller folgt hier dem nächsten. Auch wenn es mir nun erst wirklich bewusst wird - mein Herz pocht immer noch wie verrückt, meine Hände beben merklich und nachdem ich einen Seitenblick auf Kaoru geworfen habe, erkenne ich, dass seine Wangenpartie recht blass wirkt. Keiner von uns macht Anstalten auf die in den Raum geworfene Frage zu antworten. "Seht aus als hättet ihr gerade einen Geist gesehen", lacht Kyo deshalb müde und kratzt sich im Nacken. "Was treibt ihr zwei eigentlich so spät hier draußen?" Ich öffne den Mund. "Wir -" "Wir sind gerade von der Bar zurückgekommen", schneidet mir Kaoru abrupt das Wort ab, klingt dabei ziemlich tonlos, und drückt mir meine Sonnenbrille in die Hand, die ich schon ganz vergessen hatte. Verdutzt, dass er mich nicht sprechen lässt, packe ich sie und blinzele zu ihm herüber. Seltsamerweise kann ich mir schon denken, was jetzt folgt. Ich wundere mich nicht mal mehr darüber. "Ah, seid ihr das?", schwingt der Spott in Kyos Stimme mit. "Mmh..." "Was gibt es da zu 'mmh'en?", brummt Kaoru, der den Sachverhalt der Lage sofort ausgepeilt hat. Beschwichtigend wischt Kyo mit der Hand vor seinem Brustkorb hin und her. "Nichts, nichts." Dann kräuselt sich ein wahrlich diabolisches Lächeln um seine Lippen. "Verwunderlich nur, dass ihr vor mir die Bar verlassen habt." Meine Kehle wird ganz trocken. Und Kaoru noch blasser als ein Eisbär im Skiurlaub. "Aber dafür gibt es sicherlich eine logische Erklärung, nicht wahr?" "Deine Nase wird nicht glücklicher, nur weil du sie in fremde Angelegenheiten steckst." "Aber deine länger, je mehr du flunkerst." Eine Spur Rosa legt sich auf Kaorus Wangen, während Kyo, die Hände tief in die Hosentaschen geschoben, einen nur allzu wissenden Blick über mich streifen lässt. Warum man mich jetzt in diese ganze Geschichte mit reinziehen muss - mir schleierhaft. Von Heimlichtuerei grenze ich mich ab. Ich habe nichts zu verbergen. Anders als der wacklige Mann neben mir, der derweil damit beschäftigt ist imaginäre Blitze zu verschießen. "Nun denn, die Herren. Die, Pinocchio..." Kyo hebt seinen unsichtbaren Hut, die Augen dabei genüsslich mit einem Grienen senkend, und schlendert an uns vorbei in den Fahrstuhl, dessen Türen sich immer noch nicht wieder verschlossen haben. "Ich wünsche noch einen guten Abend." Hastig wirble ich herum. "Warte. Der Aufzug ist nicht mehr ganz in Ord-" Doch eine Hand packt mich von der linken Seite. "Lass ihn fahren", knirscht Kaoru. Klappernd schließen sich die Türen und verbergen einen immer noch grinsenden Kyo. "...wenn wir deinetwegen morgen ohne Sänger dastehen, dann..." Aber Kaoru lässt mir keine Zeit zu Ende zu sprechen oder mir unnötiger- und bekloppterweise nun Gedanken darüber zu machen, ob wir dann demnächst nur noch als Instrumental-Band auftreten werden. Er scheint ganz andere Sorgen zu besitzen. Solche, die er mir ausnahmsweise auch mitteilt. "Weißt du, was das Einzige ist, was uns jetzt noch aus dieser Scheiße ziehen kann?!" Diese plötzliche und wütend gestellte Frage, sein Körper, der auf einmal wieder ganz nah ist, sich praktisch vor mir aufbäumt, sein nicht sichtbares, sich vor Entrüstung sträubendes Katerfell, machen mich so perplex, dass ich im ersten Moment nicht weiß, worauf er überhaupt hinaus will. "Ritueller... Selbstmord?", stoße ich stotternd hervor und das auch nur, weil ich das irgendwann mal so in einem Film gehört habe. "Blödsinn! Er weiß zu viel. Das hast du ihm doch angesehen!" Verwirrt betrachte ich die Metalltüren hinter denen Kyo verschwunden ist, als wäre er dort wieder aufgetaucht. "...dann lieber rituellen... Sängermord?" Der liebe Kaoru wird doch wohl nicht auf seine alten Tage paranoid werden? "Der Kleine ist nicht auf den Kopf gefallen. Der kann doch zwei und zwei zusammenzählen." Ich klemme meine Sonnenbrille an den Halssaum meines Shirts. "Naja, dann kommt er halt auf vier und zu dem Schluss, dass-" Mitten im Satz breche ich ab. Mir drängt sich da ein klopfender Gedanke auf. Die linke Augenbraue hochgezogen und die Stirn arg gekräuselt, beäuge ich ihn, wie er mir gegenüber steht, den Blick über die Schulter den Gang hinab gleiten lässt, als würde er erwarten, dass jeden Moment jemand triumphierend schreiend aus einer der Hoteltüren hervorspringt und "Ha ha! Erwischt!" ruft. "Stört es dich etwa?" Sein schmaler Körper wird durch ein abruptes Zucken erschüttert, doch macht er keine Anstalten mir zu antworten, tut eher so, als würde er überspielen wollen, überhaupt gehört zu haben, was ich gerade gesagt habe. Mit Sicherheit hätte ich ihn das nicht fragen sollen. Hastig setze ich nach: "Er wird es schon niemanden erzählen." Da Kaoru immer noch gekonnt ignoriert, dass ich mit ihm spreche, werfe ich hinterher: "Wenn es das ist... was dich stört." "Stören...", atmet er mit einem dumpfen Lachen aus und zeigt endlich eine Regung. Wie ein Vorhang umrahmt das dunkle Haar sein Gesicht, in dem seine Augen nieder geschlagen und seine Mundwinkel sonderbar feixend nach oben gezogen sind, während er den verlassenen Gang nur einen verlassenen Gang sein lässt. "Ich weiß nicht. ...tut es?" Der Raum scheint sich im Kreis zu drehen, das Blumenmuster der vergilbten Tapete zu tanzen. Das gelbliche Licht der Deckenlampe wirft Schatten auf Kaorus Gesicht. Schatten, die es eisern aussehen lassen, gezwungen. Er blickt mich an, als würde ich die Antwort darauf kennen, und dennoch fragt er sich damit bloß selbst. "Ich will nicht, dass er sich da einmischt", und auf einmal wird seine Stimme wackelig. "Das geht ihn gar nichts an. Ich weiß, du holst dir immer Ratschläge von ihm -" Ich öffne meinen Mund, um zu widersprechen - wenn man es ganz genau nimmt, textet Kyo mich immer vollkommen ungefragt mit seinen Lebensweisheiten zu. Mein Pech ist es, dass ich meistens keine andere Wahl habe, als zu zuhören. "- aber seine Binsenweisheiten haben bei Weitem schon mehr Schaden angerichtet, als sie zu verhindern versuchten." Ich schließe meinen Mund wieder. "Außerdem projiziert er sein eigenes misslungenes Liebesglück auf dich." Die Faust an Kaorus Hosenbein zittert leicht. Ich weiß nicht recht, was ich mit dieser Information anfangen und von ihr halten soll. Es ist mir zwar schon einige Male sauer aufgestoßen, dass ich den einen oder anderen nervigen Ratschlag über mich ergehen lassen musste, wenn ich ihn nicht gebrauchen konnte, aber ich habe Kyos eher negativen Äußerung über Liebe bisher nie so etwas wie... Missgunst zugeschrieben. Warum sollte er die dunklen Wolken seiner Vergangenheit nun auch über mein Leben ziehen sehen? Er ist schließlich mein Freund. "Er soll sich einfach da raus halten. Hieraus - aus meinem und deinem -" Eine plumpe, unbeholfene Geste seiner wedelnder Hand, mit der er ein paar unsichtbare Kreise zwischen uns malt, folgt. "Hieraus eben. Und sich seine blöden Kommentare sparen", fügt er zischend hinzu und blickt mich mit leicht rosafarbenem Gesicht an, als wäre ich es, den er züchtigen müsste. Achselzuckend zerwuschel ich das Haar in meinem Nacken. Merkwürdigerweise beschwert er, der doch nie um einen gemeinen Seitenhieb verlegen war, sich nun darüber, dass man sein Unbehagen für Späße benutzt. "Es macht dir also doch etwas aus." "Nein. Vielleicht... Ich weiß es nicht", druckst er herum, wird schlagartig wieder grantig. "Und was überhaupt?!" "Vielleicht, dass du mich vorhin im Aufzug geküsst hast?", schlage ich mit bitterem Geschmack auf der Zunge vor. Scharf zieht er die Luft durch die Schneidezähne ein. "Hab ich also den Nagel auf den Kopf getroffen." Was für ein Erfolg. Ich könnte mich selbst beklatschen. Nicht. "Hör zu, ich kann mir denken, dass du nicht darüber reden willst." Dass er mich nicht mal mehr ansieht, stattdessen lieber einen hässlichen, fahl gelben Wandschirm anstarrt, bestätigt mich auch darin. "Ich kann mir auch denken, dass du nicht weißt, was du selbst davon halten sollst. Aber das ist schon okay. Ganz normal, denk ich. Und wenn du nicht willst, dass jemand davon erfährt, dann werden meine Lippen verschlossen sein, und wenn Kyo mich fragt, mit eventuellen Mutmaßungen, warum wir beide - du und ich - so spät noch zusammen unterwegs waren, dann werde ich ihm einfach irgendeine Geschichte auftischen, die er schon schlucken wird, umso mehr Herzschmerz ich mit hineinmische." Für den letzten Teil meines Satzes fühle ich mich recht schlecht. Und ich weiß gar nicht, warum ich das Gefühl habe, ich müsste Kaoru besänftigen, diese Situation, dieses... was immer das ist... irgendwie geradebiegen; und sei es drum, wenn ich mich um Kopf und Kragen rede, mich nicht vernünftig ausdrücken kann, mich lächerlich mache. Kaoru sieht nicht sonderlich danach aus, als würden ihn meine Worte milde stimmen. Es ist wohl auch nicht so richtig das, was er von mir hören wollte. Höchstwahrscheinlich nicht. "Es wäre dir wohl lieber gewesen, wenn wir in die Tiefe gestürzt wären und das mit in unser Grab genommen hätten?" Es klingt als würde er in sich hineinlachen, doch er geht nicht auf mich ein. Es ist wie immer dieser schmale Grad auf dem wir uns bewegen. Und leider war ich nie ein Meister im Balancieren. "Weißt du, es... es ist mir egal, wo wir jetzt stehen." Und nie konnte ich schöner lügen. Noch immer entdringt Kaorus Kehle kein Laut. "Kaoru, du-" Doch statt einer Erwiderung auf die ich so gespannt warte, packt er mich urplötzlich grob am Arm. Nicht gefasst auf diesen Überfall, diesen festen Ruck, der durch meinen Körper fährt, meine Innereien für eine Sekunde eine kleine Drehung in meiner Bauchkuhle vollführen lässt, als er mich zu sich zieht, stolpere ich eine Schritt nach vorne. Das nächste was ich spüre, sind glühend heiße Lippen. Es ist wie als würde er mir den Schädel mit einem Stein einschlagen. Abermals perplex kann ich die Empfindung nicht richtig begreifen, und es entschwindet durch meine Finger noch bevor ich es packen kann, ist bereits wieder vorbei, noch bevor es richtig begonnen hat. Ebenso überstürmt wie er ohne Vorwarnung vor mir war, zieht er sich wieder zurück. Hinter meiner Stirn tobt ein Paukenkonzert. "Können wir... bitte aufhören... darüber..." Mit zusammengekniffenen Augen ringt Kaoru nach Worten, reibt sich die Nasenwurzel; wohl verblüfft über seine eigene Tat. Verblüfft bin ich auch. Letzten Endes vollkommen verwirrt, träfe es umso mehr. Wiederholungstäter. Ein zweites Mal. In einem Abstand von nicht mal einer Viertelstunde. Ich glaube, mein Gesicht ist mir auf den Boden gefallen. Ich spüre meine Wangen nicht mehr. "Ja. Okay." Nicht einmal verhindern kann ich, dass sich meine Stimme wie das Japsen eines alten Köters anhört. Seine hingegen gleicht der eines heiseren Papageis. "Danke..." Er lässt von seiner Nase ab, schaut mich jedoch nicht an, obwohl er spüren muss, dass ich in meiner Verwirrung seinen Blick suche, der mir vielleicht ein wenig Aufschluss darüber geben kann, was zum Geier hier gerade vor sich geht. Seine Hände sind tief in seinen Vordertaschen vergraben und ich... meine Fußspitzen, sie haben sich in meinen Turnschuhen merkwürdig verkrampft. Das fällt mir erst jetzt auf. Und nun? Was jetzt? Was sollen wir tun? Ewig so hier stehenbleiben? Ewig eingefroren in unsere Unbehaglichkeit? Gehen wir nun auf unsere Zimmer zurück? Tun so, als wäre nichts gewesen? Der rote abgenutzte Hotelteppich zu meinen Füßen erscheint mir mit jeder Sekunde blasser zu werden. Hin- und hergerissen knibbelt meine Hand am Saum des T-Shirts. Die Situation ist so unangenehm, dass ich mir gar nicht mehr so sicher bin, ob es nicht von Anfang an besser gewesen wäre, sie erst gar nicht hervorzurufen. Dieser zweite Kuss, das ganze Gerede macht alles noch viel schlimmer, kommt es mir vor, anstatt irgendwelche Klarheit zu schaffen. Direkt nachdem Kyo sich verabschiedet hat, hätte ich die Gelegenheit nutzen und mich ebenfalls mit einem knappen 'Gute Nacht' auf mein Zimmer schleichen sollen. Worauf habe ich eigentlich gehofft? Dass er mich bittet, ihn zu seinem Zimmer zu geleiten? Ich dachte, ich wollte nicht mehr so dumm sein. Doch diese überrumpelnde Zuneigung hat meinen Geist restlos vernebelt, mein Sehnsuchtszentrum im Gehirn stimuliert. Mittlerweile hat die Stille zwischen uns fast beschämende Ausmaße angenommen. So kann das nicht weitergehen, ich muss sie durchbrechen. Irgendwie, ganz egal mit was. Meine Augen, die bislang nur den Boden nach etwas Unsichtbarem abgesucht haben, wandern wieder hoch und treffen auf halber Höhe auf Kaorus Blick, der die gleiche Bewegung wie ich gemacht zu haben scheint. Worte purzeln aus meinem Mund: "Naja, also..." "Naja, also...", entfährt es zeitgleich Kaoru. Ich stutze. Verdutzt blinzelt er mich an. Und ich zurück. Für einen Moment ist der vormals stille Raum mit unserem verlegenen Lachen erfüllt. Ich komme mir vor, als wäre ich wieder sechzehn. "Was wolltest du sagen?", fragt er und gibt mir den Vortritt. "Ich..." So genau weiß ich das selbst nicht. Ich hatte gehofft, mir würde schon irgendetwas in den Sinn kommen, irgendeine faule Ausrede aus dem Ärmel purzeln, während ich plappere - doch das kann ich nicht zugeben. "Es ist ja noch nicht so spät", setze ich an, doch ein hastiger Blick auf die Armbanduhr belehrt mich sofort eines besseren. "Okay... es ist schon spät. Aber zu spät, um sich noch aufs Ohr zu legen, nicht wahr? Zu früh, um in die Lobby zurückzufahren. ...also gehen! Wenn du mich fragst, kann mir dieser Aufzug fürs Erste gestohlen bleiben. In den setze ich keinen Fuß mehr, selbst wenn ich morgen meinen Koffer allein die Stockwerke runterhieven muss", lache ich unbeholfen. "Aber naja, ich dachte..." Ja, was dachte ich mir? Gänsehirn! Warum funktionierst du nie dann, wenn ich dich brauche! Auf dich ist kein Verlass. "I-ich hab neulich zufällig in meinem Hotelzimmer gesehen, dass da eine prima Minibar steht." Zufällig - es war das Erste, was mir dort aufgefallen ist. "Mit super Ausstattung. Alleine trinken ist ziemlich armselig, aber zu zweit... Und wäre doch schade, die nicht wenigstens mal genauer unter die Lupe zu nehmen und ein paar Spirituosen auszutesten." Mir kommt es vor, als würde mein resignierendes Gehirn soeben einen verzweifelten Reiz an meine Leber schicken, für einen Lagebericht, ob sie wieder bereit für eine nächste Fuhre Ethanol ist. Hätte meine Leber einen Mund würde sie nun wohl kotzen. Stattdessen kommt der Rückreiz wieder in meiner Sendezentrale an und äußert sich in Form eines stechenden Schmerzes in meiner linke Schläfe. "Denn es ist ja nicht so, als hätten wir heute Nacht noch nicht genug Alkohol gehabt", schneidet Kaorus Schmunzeln durch meinen Organfunk. Eine seiner tätowierten Hände verlässt seine Hosentasche, um eine vorwitzige, dunkle Haarsträhne aus seiner Stirn zu zupfen. "Aber, gerne. Vielleicht lässt sich diese chaotische Nacht doch noch retten. Ich muss nur noch schnell-" Und wie auf ein ungebetenes Stichwort leuchtet und blinkt seine Hemdtasche in bunten Farben auf. Quakig und blechern durchreißt ein Klingelton die dösig schwere Stimmung, wie eine Schere, die eine Filmrolle zerschneidet. "Oh, Moment", die Augen geweitet, hält er mich mit einer raschen Handbewegungen hin, fummelt den Knopf an seiner Hemdtasche auf und zieht das Handy daraus hervor. Das vormals vorhandene Lächeln blättert von seinem Gesicht ab, als er das Display betrachtet. Seine Augen huschen zu mir, dann wieder hinunter. "Miho." Ich habe keine Ahnung, wer Miho ist, doch wird mir mulmig zwischen den Herzkammern bei dem Klang dieses Namens. Bilde ich es mir ein oder empfindet er eine ähnlich unbehagliche Regung in sich, während er den Anruf entgegen nimmt, mir mit einem weiteren Fingerzeig zu verstehen gibt, dass es nur eine Minute dauern wird, und sich dann abwendet, mir den Rücken zukehrt. "Ja? Ja, ich bin noch wach. Nein, du hast mich nicht geweckt. Was? Ach nein, ich konnte nicht schlafen. " Ich habe das Gefühl, dass ich das gar nicht hören sollte. Nein, ich will es auch gar nicht hören. "Das lange Reisen, ja. Bringt meinen Schlafrhythmus ganz durcheinander." Kaoru lacht. Aber nur für einen Moment. Seine Haltung ändert sich abrupt und auch die Luft scheint für einen Augenblick aus seinen Lungen gewichen zu sein. "Was?! Du bist hier? Jetzt? Wo? ...ja. Ja. Ja, okay. Ja. Ich bin gleich bei dir!" Er lässt das Handy zurück in seine Tasche gleiten, dreht sich in der selben Bewegung zu mir um. Noch bevor er eine Silbe gesprochen hat, ist mir als würde sich ein eiserner Krake um meinen Brustkorb schlingen, denn ich weiß ganz genau, was jetzt kommt. "Ich muss gehen." "Nein, geh nicht", würde ich am liebsten sagen, aber mehr als einen fassungslosen Blick bringe ich nicht zustande. Die Kehle ist mir so trocken geworden, sie würde wohl zerreißen, würde ich meine Stimme nur wieder finden können. Kaoru lächelt unsicher, als ich nichts darauf erwidere, reibt sich mit der Rechten seinen Bart. "Tja... na dann... gute Nacht. Schätze ich." Was soll ich darauf auch erwidern? Während ich zusehen muss, wie ich meinem Ziel näher denn je war und plötzlich wieder meilenweit abgehängt werde. Das ist nicht fair. Ich zwinge mich dazu irgendetwas anderes zu tun, nur nicht wieder tief in meine Gedankenwelt abzutauchen. Wohl nicht damit rechnend, dass von mir noch etwas kommt, hat er sich zum Gehen gewandt. Bloß kann ich ihn doch jetzt nicht mir nichts dir nichts gehen lassen. Nicht jetzt. Nicht nach all dem, was heute Nacht zwischen uns geschehen ist! Den Mund nur einen Spalt breit geöffnet, sauge ich die Luft in meinen Rachen, um die Worte zu formen, die ihn davon überzeugen können meine Seite nicht zu verlassen. Aber in diesem Moment wirbelt er ein letztes Mal herum, mit etwas auf dem blassem Gesicht, das ich nicht ganz begreifen kann, was vermutlich ein Lächeln werden sollte, jedoch aussieht wie eine grotesk verzogene Fratze, irgendwo zwischen Entschuldigung und Qual. "Tut mir leid." Ich begreife nicht. Meint er das ernst oder speist er mich einzig mit einer Floskel ab? "Kaoru. Ich..." Ich will ihm nachgreifen, muss ihn aufhalten, ihn festhalten, bevor er mir entgleitet wie die Schnur eines Luftballons. Doch meine Hand greift ins Leere. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, in der mein Blick auf seinem Rücken kleben bleibt, während dieser immer kleiner wird und schließlich hinter einer Ecke verschwindet. Ich fasse das alles einfach nicht mehr. Irgendwo bin ich hier auf der Strecke geblieben. Krampfhaft versuche ich mich an den Anfang dieser Nacht zu erinnern. Als ich in eben diesem Gang stand, neben Kyo, der mir scherzhaft Seitenstiche verpasste, und wir anschließend doch recht guter Laune alle Treppenstufen hinuntergejoggt sind - es kommt mir vor als läge ein ganzes Jahrhundert dazwischen. Nach all der Zeit, die ich alleine mit Kaoru verbracht habe, fühlt sich die Einsamkeit nun befremdlich an, wie ein Anzug, der mir passen sollte, aber es nicht mehr tut. Dort, wo vorher immer das Geräusch seines leisen Atems war, herrscht nun Stille. Und sie ist erdrückend. Den Rücken gegen die Wand hinter mir gelehnt, lasse ich meinen Kopf in den Nacken rutschen. Mit einem Mal brennen meine Augenränder so. Eiskalt sind meine Fingerspitzen, als ich meine Unterlippe nachziehe auf der ich noch immer das Brennen von Kaorus Küssen fühlen kann. Selbst das einseitige, schwache Lächeln, das sich auf mein Gesicht schleicht, kann mich im tiefsten Inneren nicht davon ablenken, dass das Glück, das ich im Grunde genommen empfinden sollte, zermahlen wird von der alten Schwere. Ist es denn wirklich das, was ich die ganze Zeit haben wollte? Flüchtige Küsse und eine Handvoll neuer Ungewissheiten. Hitziges Funkensprühen und eisiges Stehengelassenwerden. So viele neue, gläserne Hoffnungen, die zu zerschellen ein Kinderspiel wäre. Ein mattes Lachen klingt schallend von den Tapetenbeklebten Wänden wider. Irritiert über dieses unvermittelte Geräusch, schlage ich die Lider höher, um mich nach der Person umzusehen aus dessen Kehle es stammt, bis ich bemerke, dass ich es bin, der lacht. Scheint beinahe so, als hätte ich letztlich doch noch meine geistige Gesundheit verloren. Vielleicht sollte ich gar nicht erst versuchen darüber nachzudenken, warum die Dinge, die heute passiert sind, so passiert sind. Welche Bedeutung ich diesen Berührungen zuschreiben soll, und der Tatsache, dass Kaoru binnen von einer Minute, in der er noch so wahrhaftig gewesen war, zu Staub verpufft ist, so als wäre er von Anfang an bloß meiner Fantasie entsprungen, nie real gewesen. Ach, wie schön das wäre, könnte ich meine ewig kreisende Überlegungen ausschalten. Nur für ein paar Stunden. Dieses immerwährende Störgeräusch in meinen Hirnwindungen. "Du hängst ja immer noch hier rum." Ich zucke so heftig in mich zusammen, dass die Rückseite meines Kopfes gegen die Wand stößt. "Was?!" Für den Millionstelbruchteil einer Sekunde, in dem nur verschwommene tätowierte Arme in meinen Blickfeld auftauchen, glaube ich, dass Kaoru, der seine Prioritäten vielleicht noch einmal überdacht hat, zu mir zurückgekehrt ist. Doch anstatt einem Schwall schwarzer Haare, sind es blonde Zotteln, die das Gesicht meines Gegenübers umrahmen. "Was ist los? Wo ist Kaoru?" Es braucht eine Weile und ein paar hastige Wimpernschläge, bis ich wieder scharf sehen kann und Kyos Gestalt, die gerade damit beschäftigt ist, sich das Haar hinters Ohr zustreichen, vor mir deutlicher wird. Das ist der Moment, in dem ich realisiere, dass etwas mit seiner Erscheinung nicht stimmt. Nicht bloß mit der Tatsache, dass er mitten in der Nacht noch auf den Gängen unterwegs ist, sondern auch mit- "Was... ist mit deinem Gesicht passiert?", platze ich heraus, lasse seine Fragen dabei völlig unbeachtet im Raum stehen. Quer über seine linke Wange prunkt ein hellroter, himbeerfarbener, fast verblasster, aber sich trotzdem noch deutlich abzeichnender Abdruck einer schmalen Hand. Wie ein Blitz, der kurz am Himmel aufzuckt, weiten sich seine Augen. Mit einer schnellen Kopfbewegung schüttelt er einige Haarsträhnen zurück über seine Stirn und Wangen, so verzweifelt es wieder zu verstecken. Missmutig brummend zieht er seine Oberlippe einseitig höher. "Gar nichts." Ich hebe eine Augenbraue. "Das sieht aber nicht nach gar nichts aus." "Ich bin ausgerutscht", blafft er und seine Nasenflügel zittern dabei merklich. "Und in eine Hand gefallen?" Eigentlich will ich gar nicht lachen, aber dieses kurze Auflachen konnte ich mir beim besten Willen nicht verkneifen, auch wenn es möglicherweise vollkommen unangebracht ist. Sogleich wird genau das mit einem bösen Blick quittiert. "Ja, ja, lach bloß." "Entschuldigung, ich wollte nicht-" "Ach, ist schon okay. Offen gesagt, ist es... auf makabere Weise wirklich ein wenig lustig." "Bist du denn... in eine Schaufensterpuppe gefallen?" "Ich bin nicht gefallen!" "Gerade noch hast du gesagt, du wärst ausgerutscht." "Das war ein Scherz." "Du hast es so verlauten lassen, als wäre das wirklich passiert", stutze ich und zweifle meine derzeitige Auffassungsgabe an. Unterdessen rauft sich Kyo seine Haare. "Nein, Mann!" "Wie denn jetzt?" "Es ist eher so als wäre jemand an mir ausgerutscht." "Wie kann denn jemand an dir ausrutschen...?" "Sag mal, wie wenig Verständnis für Humor hast du eigentlich?!" "Du machst doch hier das Rätselraten draus." "Das war doch nun wirklich nicht so schwer zu kapieren!" "Entschuldige bitte", gebe ich mit verzogenem Mund, aber ruhig zurück. "Ich hatte eine mir mittlerweile unbekannte Menge Alkohol, bin noch nicht wieder ganz nüchtern, hundemüde und kann sowieso grad nicht mehr klar denken." "Ja. Man merkt's..." grummelt Kyo ziemlich lautstark. Auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors öffnet sich plötzlich eine Hoteltür. Wie in einer Bewegung drehen Kyo und ich uns um. Ein ziemlich wütend aussehender übergewichtiger Ausländer ist auf der Türschwelle erschienen und beginnt etwas mir Unverständliches zu zischen, aber ich mir bin ziemlich sicher, dass er uns damit deuten will, das wir gefälligst unsere Klappe halten und leise sein sollen um diese gottlose Zeit. Als die Tür sich wieder schließt, gibt Kyo mir mit einem Kopfnicken zu verstehen ihm zu folgen und ohne einen weiteren Mucks nehmen wir die Treppe hinauf aufs Dach. Endlich weg von diesem Gang, denke ich mir dabei und erklimme immer zwei Stufen gleichzeitig. Oben angekommen schlägt mir kühle Luft ins Gesicht. Es regnet nicht mehr, wie noch einige Stunden zuvor, doch ist Wind aufgekommen, der nun an meinen Kleidern zerrt und meine Haare zerzaust. Während ich die Eisentür, die auf die Dachterrasse führt, hinter uns ins Schloss stupse, ist Kyo bereits an den Rand des Dachs zum Geländer getreten. Sich darüber lehnend, die Hände daran abstützend, wirft er noch einen flüchtigen Blick über seine Schulter zu mir. Als er sieht, dass ich zu ihm aufschließe, wandern seine Augen zurück zu den Gebäuden ringsherum und zu ihren zu dieser Stunde nur vereinzelt beleuchteten Fenstern. Bevor meine Hände Gelegenheit bekommen kalt zu werden, schiebe ich sie weit in meine warmen Hosentaschen. Ich stehe gut eine handbreit vor der Absperrung und blinzle in den Nachthimmel. Licht kommt hier oben auf dem Gebäude nur von den schwach scheinenden rundlichen Leuchten, die alle paar Meter in den Betonboden eingelassen sind und geradlinige Strahlen in die Nacht werfen. Obwohl die Übernächtigung und die innere Unruhe in mir ihr Unwesen treiben, versuche ich nicht wieder eine gereizte Stimmung aufkommen zu lassen. Davon hatte ich an diesem Tag schlichtweg genug und vor allem mit Kyo möchte ich nicht über Belanglosigkeiten streiten. Zumal ich ihm an seiner Nasenspitze ansehen kann, dass er heute Nacht zumindest genauso angeschlagen ist wie ich. Eine kalte Brise kriecht unter den Stoff meines Oberteils, lässt die Härchen auf meiner Haut emporstehen. "Ich wollte dich nicht anmaulen. Tut mir leid." Hinter dem Vorhang aus hellem Haar kann ich sein Gesicht nicht erkennen. "Mh-mh", lasse ich den verneinenden Laut durch meinen Lippen brechen, schüttele den Kopf, auch wenn er das nicht sehen kann. Der Wind jault leise durch die schwach beleuchteten Straßenschluchten unter uns. Säuselt ein klagendes Lied. "Sagst du mir nun, wie das mit deinem Gesicht passiert ist?" Kyo entfährt ein Lachen. Eine Böe pustet das Haar aus seiner Stirn. "Willst du mir nicht zuerst sagen, warum du immer noch in dem Flur gesessen hast?" Ich bin mir nicht sicher, ob er mir nur ausweicht, weil er von sich selbst ablenken will oder ob er wahres Interesse an dem Verlauf meines weiteren Abends hat. "Ich musste nachdenken", antworte ich knapp. Es ist die halbe Wahrheit. Die ganze Geschichte ist unwichtig, angesichts dessen, was er auf dem Herzen zu haben scheint. "Hmm...", macht er, und dann nach langem Schweigen sagt er schließlich: "Sie war hier." Und seine Augen verändern sich dabei. Die strahlenden Lichter in der Nacht spiegeln sich in der Dunkelheit seiner Pupillen wieder. "Sie ist mir nachgereist." Sie. Ich weiß sofort, wen er meint. Er muss es nicht mal umschreiben. Sie - das ist das Mädchen, das eines Tages in seinem Leben aufgetaucht, wie ein Wirbelsturm durch es hindurch gesaust ist, und genauso plötzlich wieder verschwunden war - wie eine Sternschnuppe, die nur für den Bruchteil einer Sekunde über den Nachthimmel flimmert. Stets hat Kyo sie nur 'sie' genannt. So oft, dass ich irgendwann zu glauben begonnen habe, dass sie überhaupt keinen Namen hat. Die Namenlose, die Unaussprechbare, die-deren-Name-nicht-genannt-werden-darf. Als wäre ihr Name wie ein böses Zauberwort, welches ausgesprochen schauderhafte Dinge geschehen lässt. Es ist diese bestimmte Betonung mit der er dieses Wort seit jeher ausgesprochen hat. Diese bestimmte Betonung, die er sonst nicht gebraucht, wenn er es sagt. Ich habe sie kein einziges Mal gesehen. Sie war beinahe wie ein Geist. Oder ein Phantom. Manchmal war ich sogar so weit zu glauben, dass sie überhaupt nicht existiert. Gescherzt haben wir, dass sie vielleicht auch nur Kyos Hirngespinsten entsprungen ist. Keiner von uns hat sie je zu Gesicht bekommen. Nicht in all den Monaten, in denen sie in seiner Welt auf und abgewandert ist. Und doch ist das Bild, welches ich von ihr habe, so klar in meinen Kopf gezeichnet, als hätte ich sie erst kürzlich gesehen. "Sie war beim Konzert. Sie muss auch irgendwie herausgefunden haben, wo wir unterkommen. Als sie mir in der Bar gegenüberstand, hab ich erst gedacht, jemand hätte mir etwas in mein Getränk gekippt, als ich kurz nicht aufgepasst habe. Ich hab gedacht, ich hätt' sie nicht mehr alle beisammen." In seinem erstickten Lachen klingt ein dünner Hauch Bitterkeit mit. "Aber... sie war wirklich da." Ein Seufzen schwappt über seine Lippen, wie eine Woge eines vom Sturm aufgewühlten Meeres. Meine Augenbrauen haben sich zusammengezogen. Ich bin mir nicht klar darüber, was ich davon halten soll. "Und? Habt ihr miteinander geredet?" Aus meinen Taschen habe ich das Feuerzeug und die fast verbrauchte Schachtel Zigaretten hervorgeholt, die Kaoru vorhin im Aufzug zu Tage gebracht hat. Das einzige, was mir heute Nacht von ihm geblieben ist. Die Flamme des Anzünders flackert für einen Augenaufschlag vor meiner Nase auf. "Nein", erwidert er, schüttelt den Kopf schwach. "Das heißt... ja. Aber nicht viel..." Ich nehme einen tiefen Zug, betrachte das rote Glimmen der Glut am Tabakende der Zigarette. "Ich hab sie noch im Damenwaschraum genommen..." Beinahe verschlucke ich mich am Rauch. Hart kratzt er in meinen Lungenflügeln, doch bleibt mir der Hustenanfall erspart. Auf so eine Aussage war ich beim besten Willen nicht vorbereitet. Zumal Kyo so etwas bei Weitem nicht ähnlich sieht. "Warst du so schlecht, dass sie dich gleich dafür ohrfeigen musste?", ächze ich, meine Kehle dabei mit einem Räuspern wieder klärend. "Schwachsinn", höre ich Kyo murren. "Das war... Das hatte andere Gründe." Befangen reibt er seinen Nacken. "Wir sind in ihr Hotel. 's ist gleich die Straße runter. Ungefähr auf halbem Weg zwischen unserem und der Bar. Und da haben wir... auch nicht wirklich viel geredet. Ich hab danach gesagt, dass ich nicht bleiben kann, und das wir uns besser nicht mehr wiedersehen sollten und naja... irgendwie war das nicht so ganz das, was sie von mir hören wollte." "Nachdem du sie gleich zweimal gefickt hast, sicherlich nicht." Meine Zunge ist mal wieder schärfer als es mir selbst lieb ist. "Ja, ich weiß. Aber was soll ich machen? Mir sind die Sicherungen durchgeknallt, als ich sie gesehen hab. Vielleicht war ich auch nur einsam. Aber das ändert alles nichts daran, dass ich nicht mehr mit ihr zusammen sein will. Ich hab doch nicht nur zum Spaß mit ihr Schluss gemacht. Und ich mein, dass ist ja nun auch immerhin schon fast ein ganzes Jahr her. Was erwartet sie von mir?" Ich stutze. "Also denkst du nicht, dass du die Ohrfeige verdient hast?" "Scheiße, natürlich hab die verdient." Metall knarzt unter seinen Handflächen, die sich anspannen, oberhalb weiße Knöchel freilegen. "Ich könnt mich ja selbst ohrfeigen dafür. Es hat mir damals schon mit ihr gereicht, da muss ich diese ganze Geschichte nicht nochmal aufrollen." Ein frostiger Luftzug weht über uns hinweg, beschert mir Gänsehaut, zerrt an Kyos Haaren und lässt mich erneut einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht erhaschen. Seine Augen sprechen von Müdigkeit und von etwas, was mir schon immer schwer zu deuten fiel. Etwas zwischen einer wissenden Traurigkeit, einem ins Nichts gerichteten Blick, der doch alles zu sehen scheint, dem nichts entgeht; diese tiefschürfende Selbsterkenntnis. Fester klammern sich seine Hände um die Eisenstangen des Geländers. "Bis dahin hab ich nicht mal mehr an sie denken müssen. Ich war glücklich ohne sie, verdammt. Aber ich..." "'Ausgehungert wie ein Tiger', nicht wahr?", erinnere ich mich an die Worte, die er vor ein paar Stunden selbst benutzt hat. "Ja... Höchstwahrscheinlich." Sein Auflachen ist trocken, hart, bringen seinen Kehlkopf zum Vibrieren. "Es war wohl schlichtweg zu einfache Beute. Aber trotzdem ist das wohl keine Entschuldigung für mein Fehlverhalten." "Bist du wenigstens satt von diesem Bissen geworden?" "Körperlich vielleicht. Aber emotional sicherlich nicht." Er seufzt. "Wie denn auch? Sex mit jemandem, der mir absolut nichts bedeutet, könnte mich niemals glücklich machen." Mit einem traurigen Lächeln nicke ich. Ruhe kehrt zwischen uns ein. Ruhe, in der wir stumm über die Stadt blicken und die ersten Vorreiter der Dämmerung am Horizont betrachten. Ruhe, die auch allmählich in meinen Körper vordringt, mit dem stechenden Rauch, den ich in meine Lungen einziehe. Die dünnen Rauchschwaden verwehen hastig im Wind. Ich beobachte eine einsame Wolke, ihre Form stetig kräuselnd verändernd, entlang des Firmamentes wandern. Es muss mittlerweile wirklich früh am Morgen sein, der Himmel färbt sich bereits schwach bläulich. Irgendwann lasse ich die Hand sinken, die Zigarette neben meine Füße fallen, die Spitze meines Schuhs die letzte Glut löschen. Kyos Stimme durchbricht die Stille. "Dieser Tag hat mich ganz schön gerädert... Im Grunde will ich nur noch schlafen." Weit lässt er seinen Kopf zurückfallen, so weit nach hinten, dass sein Hals vollends entblößt und überstreckt ist, seine Nasenspitze gen Himmel zeigt. Beide Hände halten noch immer fest das Geländer umschlungen. In seinen Augen bricht sich das Licht. "Nachdem...", öffnen sich unerwartet seine Lippen wieder und seine Stimme ist nun dunkler als zuvor, "ich ihr Hotel verlassen hatte... Noch eine ganze Weile bin ich wie ein Bescheuerter durch die Gegend gerannt. Erst durch die Straßen, dann durch den Park und irgendwann auch hier." Geistesabwesend scharre ich mit dem Schuh über den Zigarettenstummel am Boden. "Dabei bist du irgendwann auch uns über den Weg gelaufen, nicht wahr?" "Ja... Ich konnte nicht pennen. Hab mich nur hin- und hergewälzt und musste wieder raus aus diesem Zimmer. Aber jetzt glaub ich, dass ich vielleicht ein wenig Schlaf finden kann." Ich blicke zu ihm herüber. Seine Augen sind geschlossen. Ein feines Lächeln kräuselt sich um seine Mundwinkel, und es scheint mir so, als würde es mir deuten, dass es ihm gut getan hat sich zu öffnen, darüber zu reden. Ich muss seufzen, zwirble eine meiner Haarsträhnen. "Also hattest du diesen schicken roten Abdruck bereits auf deinem Gesicht, bevor wir uns am Fahrstuhl begegnet sind. Warum ist mir das nicht aufgefallen?", spreche ich eher zu mir selbst. Das Glucksen, das von Kyo kommt, bleibt mir unverständlich. "Das liegt daran", sagt er, "dass du so tief in deine eigene Welt fällst, wenn du nur Augen für ihn hast." Meine Augenbrauen heben sich. "Ich weiß nicht. Beeinträchtigt Kaoru meine Wahrnehmung so sehr?" "Du kannst es nicht abstreiten." Kyos Kopf sinkt zurück in seine normale Position. "Er spukt ständig in deinem Kopf herum. Ich habe nicht mal seinen Namen erwähnt und du hast trotzdem sofort an ihn gedacht." Ich fühle wie mir das Blut heiß in den Kopf schießt. Wie gern ich das doch abstreiten würde. Und wie lächerlich das doch wäre. Doch es ist mir peinlich es vor ihm zuzugeben, dass meine Gedanken mehr denn je von diesem Mann infiltriert sind. Das Gefühl bei etwas Unangemessenem ertappt worden zu sein, lässt sich nicht von meinen Wangen schütteln. Oh Mann, dieses weibische Verhalten sollte ich mir so schnell wie möglich wieder abgewöhnen. Fürchterlich. Zum Glück scheint Kyo es in dem dämmrigen Licht nicht bemerkt zu haben oder falls doch, besitzt er zumindest das Taktgefühl, es mir nicht unter die Nase zu reiben. Ich will noch etwas sagen, aber komme nicht mehr dazu. Kyo hat bereits auf der Stelle kehrt gemacht und die Tür ins Auge gefasst. "So klar die kalte Nachtluft meine Gedanken auch macht, so langsam frieren mir die Zehenspitzen ein... Kommst du dann?" Schwach stoße ich ein Glucksen aus, nicke auf seine Aussage, wende mich ebenfalls ab und folge ihm. Gemeinsam verlassen wir das Dach über die schmale Treppe, mit jedem Schritt auch ein Stück mehr dieser verworrenen, verwirrenden Nacht hinter uns lassend. Die viel zu sehr kaputtgedachten Gedanken. In stummer Eintracht. Kein weiteres Wort mehr wechselnd. ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 11: Die Konkurrenz schläft nicht. ----------------------------------------- Als ich an diesem Morgen die Augen öffne, kommt es mir vor, als wäre ich aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht. Tonnenschwer erscheinen mir meine Lider und auch der Schädel dröhnt lauter als sonst. Die vorwitzige blonde Strähne, welche mir quer über das Gesicht fällt, schützt mich nur wenig vor dem in das Zimmer hereinströmende Sonnenlicht. Gott, es ist einfach viel zu grell für meinen übernächtigten Organismus. Die Szene besitzt allerdings herzlich wenig Märchenhaftes, so wie ich hier quer über das ganze Bett hinweg ausgebreitet, halb bekleidet, mit einer Hose auf halb acht vor mich hin vegetiere. Und da ich nun mal nicht Dornröschen bin, und somit wohl auch früher verrotten würde, als von meinem Prinzen wachgeküsst, kann das nur bedeuten, dass ich immer noch ich und nicht der Protagonist eines kitschigen Liebesromans bin. Verdammt. Etwas Schlaf aus meiner Wimper wischend und mit einer Hand die Sonne und ihre gratis Laserbehandlung abschirmend, versuche ich mich unter kratzigklingendem Ächzen hochzuhieven, was mir erstaunlich schwerer fällt, als ich es erwartet hätte. Bin halt doch nicht mehr der Jüngste. Und es kommt mir zu diesem Zeitpunkt auch vor, als wären wir bereits seit Ewigkeiten auf dieser Tour. Welcher Tag ist heute nochmal? Meine grauen Zellen befinden sich genauso wie ich noch im Halbschlaf. Dreiviertelschlaf. Wie spät ist es?? Ein gequältes Murren ausstoßend wuchte ich mich auf die Seite. Jeder Wirbel meines Rückens scheint sich gegen mich verschworen zu haben, jeder einzelne schmerzt. Ein gleißender Lichtstrahl fällt durch die seidigen Vorhänge des Hotelzimmers. In dem sanften Windzug, der sich lautlos durch das weit offenstehende Fenster hereinschleicht, wogen die Falten des Stoffes gegen die Wand wie Wellen an ein Ufer. Der Lichtstrahl führt in einer beinahe senkrecht verlaufenden Linie direkt über mein Gesicht, hinab zu meinen Füßen, die unbedeckt über den Rand des Bettes baumeln. Unbedeckt... Wo ist meine Decke überhaupt? Der frische Morgenwind beschert mir eine Gänsehaut, welche mich diesen Verlust erst bemerken lässt. Geblendet von diesem unverschämten Lichtschein kneife ich die eben so mühsam aufgestemmten Augen wieder zu. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, ist es noch viel zu früh für mich, um aufzustehen. Aber aus welchem Grund bin ich aufgewacht? Blind patsche ich dort mit der linken Hand auf dem Nachttisch herum, wo ich mein Handy vermute. Als ich es zu fassen bekomme und auf das Display luschere, erblicke ich anstatt einer Uhrzeit jedoch eine formatfüllende Mitteilung, die mir anzeigt, ich hätte eine neue Nachricht erhalten. Ich schlussfolgere, dass ich wohl vom Vibrieren meines auf stumm geschalteten Handys wach geworden sein muss. "Weckruf. Heutige Abfahrtszeit: Halb elf." Typisch Kaoru. Kurz, knapp, informativ. So mag ich das. Die Uhr zeigt 7:57; ich habe also noch mehr als genügend Zeit zum Duschen und Packen. Und für ein Nikotinfrühstück. Als ich es nach einigen schwerfälligen Bemühungen schaffe mich aufzurichten und gerade die Beine aus dem Bett schwinge, fährt meine Zungenspitze flüchtig über meine Unterlippe - und genau in dieser Sekunde erhellt ein Erinnerungsblitz meinen wolkenverhangenen Schädel. Ein Erinnerungsblitz so glühend heiß wie die Berührung zweier sich umschlingenden Zungen. Ich stocke mitten in der Bewegung. Meine Hand, mit der ich vorhatte mich am Bettrand abzustützen, greift ins Leere, rutscht von der Kante und bringt mich vollends aus dem Gleichwicht. Um wortwörtliche Haaresbreite hätte ich mir die Rübe am Nachttisch zerschmettert, doch der aufdringlich plüschige Teppich neben dem Bett empfängt mich mit fürsorglicher Polsterung. Zeige- und Mittelfinger auf meine Lippen gelegt, starre ich mit weitaufgerissenen Augen ins Nichts. Kaoru hat mich geküsst. Kaoru hat mich gestern Nacht... heute Früh... Er hat mich... Eine hastige Handbewegung und ein erneutes, dieses Mal wildes Herumpatschen auf der Suche nach meinem Handy später, halte ich das Teil endlich in meinen Händen und überfliege noch einmal die eingegangene Nachricht. Wider meiner Erwartung handelt es sich dabei jedoch nicht um eine SMS von Kaoru. Allerdings ist die Nummer, von der sie verschickt wurde, auch nicht in meinen Kontakten eingespeichert, und so bin ich nun noch viel verwirrter, als ich es vorher war. Wer hat mir das geschickt? Wessen Nummer ist das? Bandkollegen, Tourbegleiter, selbst die Vorband... Ich pflege es mit jedem Kontakte auszutauschen. Ein prall gefülltes Telefonbuch gehört für mich einfach zum guten Ton. Also muss diese Nachricht entweder von einem Außenstehenden gekommen sein oder einer meiner Mitreisenden hat seit Neustem eine andere Rufnummer und vergessen es mir mitzuteilen. Das aber mal außer Acht gelassen, ist es schon höchst sonderbar wie dieser "Weckruf" formuliert ist - nämlich genau so, wie es Kaoru sonst zu tun pflegt. Und wenn ich genau so sage, meine ich exakt genau so. Aber es kommt nicht von Kaorus Handy. Denn Kaoru ist einer von denen, die ihre Rufnummer niemals ändern. Auch nach Jahren nicht. Auch nicht, wenn sie den Anbieter wechseln. Eher macht er sich die unnötigen Umstände seine Rufnummer doch irgendwie zum neuen Anbieter mitzunehmen und das alles nur, damit er stets darunter "erreichbar bleibt". Ich fasse zusammen: Auf meinem Handy befindet sich eine Nachricht, die geschrieben ist, wie eine von Kaoru, jedoch nicht von Kaoru ist. Und wenn sie von ihm geschrieben wäre, am Morgen nachdem er mich geküsst hat, dann... Obwohl es ihm ähnlich sehen würde. So trocken zu bleiben. So distanziert. So zu tun, als wäre nichts passiert. Einfach mit dem Alltag weiterzumachen. Aber das will ich im Moment nicht wahrhaben. Gestern war anders. Das, was gestern - vor wenigen Stunden - zwischen uns im Fahrstuhl und auf dem Gang dieses Hotels vorgefallen ist, war so gänzlich anders als alles andere, was je zwischen uns passiert ist. Seine Sanftheit, seine Wärme... Diese Vertrautheit mit der er mich angesehen hat. Ich lehne mich gegen den Rahmen meines Bettes, die halbherunterhängende Decke als Puffer in meinem Rücken, und kreuze die Beine zum Schneidersitz. Zwischen meinen unruhigen Fingern drehe ich mein Handy hin und her, bin meilentief in einem Ozean aus Gedanken versunken. Vielleicht sollte ich diese mysteriöse Telefonnummer einmal anrufen? Wenn sich dann die verschlafene, samtige Stimme meines Lieblings-Brummbären am anderen Ende melden würde, hätte ich wenigstens sofort Gewissheit. Meine eigene Idee mit einer Kopfbewegung abnickend, tippe ich kurzentschlossen auf den Rückruf-Hörer neben der ominösen Nachricht und halte mir das Handy ans rechte Ohr. Während ich mich noch seelisch darauf vorzubereiten versuche, was ich wohl sagen könnte, hätte ich gleich wirklich Kaoru an der Strippe, macht es auf der anderen Seite bereits klack. "Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal." Ich weiß auch nicht so recht, womit ich gerechnet habe, aber damit wahrscheinlich nicht. Ernüchtert lege ich auf und lasse das Handy aus meiner geöffneten Hand neben mir auf den Teppich purzeln. Wer zum Geier hat mir das bloß geschrieben? Die Zahnräder meines verstaubten Oberstübchens mögen sich an dem Morgen nach einer Sonderfahrt auf dem Spirituosen-Karussell noch nicht wieder auf Normalgeschwindigkeit drehen, jedoch bin ich mir ziemlich sicher, dass hier etwas äußerst Merkwürdiges vor sich geht und ich zur Ausnahme nicht bloß unberechtigte Paranoia schiebe. Aber was bleibt mir jetzt noch? Was kann ich in diesem Augenblick noch tun? Ein langer, entnervter Seufzer entspringt den Tiefen meiner verteerten Lungen, die nun heftiger denn je nach einer frühmorgendlichen Kippe verlangen, und so erhebe ich mich vom Boden, schnappe mir die Schachtel Zigaretten und das silberne Zippo-Feuerzeug vom Nachttisch, und trotte leicht schwankend hinüber zum Fenster. Zwar ist mein Körper regelmäßige Alkoholbetankung mittlerweile gewöhnt, aber in meinen ausgelaugten Knochen steckt an diesem Morgen trotzdem so etwas wie ein leichter Kater. Nachdem ich den Vorhang beiseite gezogen, das Fenster geöffnet und mir eine angesteckt habe, lehne ich mich über die Fensterbank und blicke, der Sonne entgegenblinzelnd und den Glimmstängel lässig zwischen meine Lippen geklemmt, hinab auf die Stadt. Zweifelsohne: Ein strahlender Morgen, der keinerlei Spuren des gestrigen Wolkenbruchs zurückgelassen hat. Keine Pfütze mehr zu sehen, kein Tropfen mehr auf den Pflanzen, nur eingetrocknete Flecken, Überbleibsel von Rinnsalen auf dem Glas. Als wäre nichts gewesen. Ist auch für Kaoru nichts gewesen? Wo wären wir gelandet, hätte sein Telefon gestern nicht geklingelt? Wäre dann mehr passiert als nur ein Kuss? Blaugrauer Dunst einsteigt meinen Lippen. Ich frage mich, was ihn bloß dazu getrieben hat, mich zu küssen. War er womöglich betrunken? Auf mich hat er nicht den Eindruck gemacht, als wäre er es, und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob er überhaupt die ganze Zeit über in der Bar herumgehangen hat wie ich, geschweige denn zum Saufen dorthin gegangen ist. Nein, er war bei klarem Verstand, da bin ich mir sicher. Aber was hat das zu bedeuten? Nachdem ich endlich in mein Hotelzimmer zurückgekehrt war, bin ich sofort in meine Kissen gefallen und war zugegebenermaßen zu beschäftigt damit meine Matratze abzuhorchen, als dass ich noch eine Sekunde Zeit gehabt hätte, über all das nachzugrübeln, was sich zuvor ereignet hat. Doch auch jetzt, wo ich die Zeit dazu habe, will mein Verstand es mir nicht erlauben, zu sehr darüber nachzudenken. Stumm vor mich hinrauchend betrachte ich die knorrige alte Linde, die etwas versetzt vor meinem Fenster majestätisch in den wolkenlosen Himmel hinaufragt. Ein nahezu berauschender Duft geht noch immer von ihr aus, noch immer summt und brummt es lautstark aus ihrer Krone, obwohl ihre blassgelben Blüten bereits verblüht sind. Was versuchen diese vielen Hummeln und Bienen dort noch zu finden? Hungrig umschwirren sie den Baum, der ihnen zu dieser Jahreszeit statt süßem Nektar nur noch den qualvollen Tod schenkt. Von hier oben vermag ich nicht zu erkennen, was sich momentan am Fuße des Stammes abspielt, aber ich weiß es genau. Dort unten werden bereits die ersten liegen. Elendig verhungert. Und dabei duftet es doch so verlockend aus dem Blätterdach. Mir wird wehmütig ums Herz. Auch ich kreise ausgehungert und emsig um etwas, welches umgeben ist von einer Aura, die meine Sinne betört. Auch ich habe nicht verstanden, dass der süße Geruch nur ein leeres Versprechen ist und meine Tage gezählt sein werden, sollte ich nicht weiterfliegen. Zu einer anderen Blume. Zu einer, die mich nähren wird. Wenn die Kirschblütenpracht nach wenigen Frühlingstagen in alle Winde verstreut wird, dann empfinden wir tiefe Trauer über den frühen Verlust ihrer Schönheit. Wenn der Lindenblütenzauber Mitte des Sommers abertausende Opfer fordert, vergießt niemand auch nur eine Träne um sie. ~*~*~ "Nicht! Runter mit dem Kopf!!" "Was ist denn?!" "Ssshhhssshhhssshhhssshhhssshhh!!" "Jetzt sag mir doch was-- Wmmpf--!" Es ist 10:20 Uhr. Eigentlich wollte ich nur locker flockig, frisch geduscht und gestriegelt mit meinem Reisegepäck bewaffnet in die Eingangshalle hinunterschlendern, aber noch bevor ich am mir seit gestern Nacht verhassten Aufzug aus der Hölle vorbei und beim Treppenhaus angekommen bin, werde ich urplötzlich am rechten Unterarm gepackt und mit einem gewaltigen Ruck unsanft in einen halbdunklen Seitengang gezerrt von dem keinerlei Türen abführen und nur ein schmales Fenster zum Hinterhof des Hotels hinauszeigt. Ich und mein Koffer werden gezwungenermaßen gen Boden gezogen, während sich eine große schmierige Hand plump auf mein Gesicht drückt und mir mit eiserner Bestimmung den Mund zupresst. Weitere Worte des Protestes sind bereits drauf und dran aus mir herauszuplatzen, da vernehme ich aus dem Gang, aus dem ich soeben verschleppt worden bin, die mir nur allzu bekannte Stimme unserer Übersetzerin Schrägstrich Roadie-Dame, Nora. Sie scheint jedoch alles andere als guter Laune zu sein, denn neben dumpfen Geräuschen, die wie das Herunterfallen und Umherschleifen einer zu vollen Reisetasche klingen, mischen sich erboste, gemurmelte Worte, die ich zwar nicht verstehen, aber dennoch erahnen kann. Eine meiner Augenbrauen verselbstständigt sich und wandert in die Höhe, während ich mit einem skeptischen Seitenblick zu Toshiya herüberschiele, der angespannt und wie elektrisiert direkt neben mir hockt und mir noch immer seine Fettflosse auf den Mund drückt. Mit dem erhobenen Zeigefinger seiner freien Hand und einem Flehen in den Augen deutet er mir mich ruhig zu verhalten und weil ich an diesem Morgen nicht den geringsten Drang danach verspüre unnötigen Stress heraufzuprovozieren, spiele ich sein albernes Theater eben mit. Es dauert nicht lange, da fällt Noras Hotelzimmertür schon ins Schloss und nach einem Rascheln, einem kurzen Ächzen und darauffolgenden entnervten Seufzer kann ich hören, wie ihre Schritte auf dem abgewetzten Teppich immer leiser werden, bis sie schließlich am Aufzug angelangt sein muss, dessen Türen sich nur wenige Augenblicke später rumpelnd öffnen. Da ich uns nun in Sicherheit wiege, löse ich Toshiyas Beutegreifergriff langsam von meiner Visage, erhebe mich und trete sicherheitshalber gleich einen Schritt zur Seite. Unterdessen verlässt ein erleichterter Seufzer Toshiyas Kehle; im gleichen Moment in dem sich auch die Türen des Aufzugs wieder schließen. "Puh... Ein Glück. Sie ist weg." Mit dem Rücken gegen die Wand plumpsend reibt er mit seiner verschwitzten Handfläche nun über seinen Nacken, zerzaust dabei sein schwarzes Haar. "Warum zum Teufel versteckst du dich vor Nora...?", frage ich und werfe einen kurzen Schulterblick in den Gang, um zu prüfen, ob wir nun wirklich alleine sind. "Sie ist gar nicht gut auf mich zu sprechen." Einen Augenblick warte ich schweigend darauf, dass noch etwas kommt, aber als Toshiya keinerlei Anstalten macht, mir den Hintergrund dieser Geschichte zu erläutern, setzte ich nach. "Und warum?" "Warum... was?" "Warum ist sie sauer auf dich?" "Ich hab sie nur nett gefragt, ob sie mir vor der Show noch meine Boots putzen und polieren kann und dann ist sie irgendwie ausgerastet...", nuschelt er und kratzt sich dabei bedröppelt an der Wange. "Aha?" "Hat mir so einen giftigen Blick zu geworfen und mich und meine Schuhe einfach stehen gelassen. Ist ja nicht so, als würde ich ihre Arbeit nicht schätzen oder sie unfreundlich behandeln. Weiß gar nicht, was in sie gefahren ist." Er schneidet eine Grimasse. "Hat bestimmt ihre Tage." "Mmmh..." "Und jetzt hab ich keine Schuhe." Ich glotze ihn an wie ein Auto. "Putz sie doch selbst??" "Kann ich nicht. Die Schuhe sind verschwunden." "Verschwunden?" "Ich hab sie erstmal dort stehen gelassen, wollt sie nicht die ganze Zeit mit mir rumschleppen. Und als ich zurückgekommen bin, waren sie nicht mehr da." "Vielleicht putzt Nora sie jetzt ja doch." Wer's glaubt, wird selig. "Nie im Leben. Du hast nicht gesehen, wie sie mich angeguckt hat." Er verzieht einen Mundwinkel und blickt nachdenklich drein. "Vielleicht sollte ich ihr mal was schenken oder so. Du weißt schon. So als Aufmerksamkeit." Ich nicke bestätigend. "Und was machst du wegen deinen Schuhen?" "Muss ich wohl Stiefel tragen..." "Zum Glück haben wir ja nur 33 Grad Außentemperatur." "Leihst du mir deine Sneaker?" Ein trockenes Lachen verlässt meine Kehle. "Vergiss es." "Ich leih dir auch immer alles!" "Du leihst mir nie was." "Ich hab dir mein Haarshampoo geliehen." "Das war Kyo." "Was ist mit mir?" Wie eine Geistererscheinung manifestiert sich aus heiterem Himmel plötzlich Kyos Gestalt im hellen Gang neben uns. Von seiner linken Schulter baumelt eine wuchtig aussehende Markentasche aus schwarzem Leder, in der rechten Hand hält er den Griff seines Rollkoffers. Er erweckt nicht gerade den Anschein, als hätte er vergangene Nacht viel Schlaf abgekriegt. Seine Augen sehen klein und müde aus, seiner Wange haftet noch ein letzter blasser Hauch Himbeerrosa in der Form eines kaum noch zu erahnenden Handabdrucks an. Erinnerungsfetzen an unsere gestrige Unterhaltung auf dem Hoteldach kehren zurück in mein Gedächtnis. Ich kann mir denken, was ihn wachgehalten hat. Mit einem Kinnnicken in unsere Richtung sagt er: "Stör ich euch grad bei was? Oder gibt's hier was umsonst?" Sein Blick fällt auf eine dürre Spinne, die soeben im Begriff ist sich von einem verstaubten Lampenschirm an der Wand abzuseilen. "Gemütlich habt ihr's hier." "Hast du zufällig noch ein paar Schuhe übrig?", platzt Toshiya direkt mit der Tür ins Haus. "Für wen?", wirft Kyo beinahe desinteressiert als Gegenfrage zurück und bleibt mit seiner Aufmerksamkeit ganz bei der Spinne. "Für mich." Unweigerlich wandern Kyos Augen jetzt hinab zu Toshiyas Füßen - und wie ich seinem Blick so folge, entdecke ich nun ebenfalls, dass Toshiya momentan überhaupt gar keine Schuhe trägt! Steht der hier doch allen Ernstes mit Socken. Ich fass es nicht. "Als ob deine Klumpfüße in meine Schuhe passen würden", sagt Kyo trocken und mit einem Schmunzeln, das sich zögerlich um seine Lippen kräuselt, worauf er bloß ein missmutiges Schnaufen von Toshiya erntet, der gleichzeitig zu mir herüberschaut als erwarte er, dass ich ihm nun irgendwie zur Hilfe eile. Doch ich zucke nur mit den Achseln. "Was denn? Er hat doch Recht." Vollendens eine Schmollschnute ziehend verschränkt Toshiya die Arme vor der Brust. "Na ganz toll. Hochsommer und ich lauf mit Stiefeln durch die Gegend! Was sollen die Leute von mir denken?" "Dass deine Füße glühen müssen." An dieser Stelle kann ich mir mein Lachen nicht mehr verkneifen. Sonst bin immer ich es, der von allen durch den Kakao gezogen wird. Es tut gut, dass auch mal jemand anderes an der Reihe ist. Angesteckt von meinem Lachen zuckt auch Kyos Mundwinkel immer mal wieder flüchtig in die Höhe, doch kurz darauf haben seine Augen bereits wieder einen neuen Punkt am Ende des Ganges, in der Richtung aus der ich zuvor gekommen war, fixiert. Das Geräusch einer Klinke, die heruntergedrückt wird, und beinahe tippelnd anmutende Schritte erfüllen die Luft. Da ich mir nach wie vor im schummrigen Seitengang mit der beunruhigenderweise mittlerweile nirgendwo mehr zu entdeckenden Spinne und einem angefressenen, schuhwerklosen Toshiya die Beine in den Bauch stehe, kann ich nicht erkennen, was sich in diesem Moment um die Ecke, nur wenige Meter von uns entfernt, abspielen muss. Ich kann nur verwundert das bizarre Schauspiel auf Kyos Gesicht betrachten, wie seine Miene sich plötzlich verfinstert, seine Kiefermuskulatur sich merklich anspannt. Ich will gerade selbst einen Blick riskieren und um die Ecke luschern, da spüre ich eine sachte, aber dennoch bestimmte Berührung auf meinem Oberkörper, die mich daran hindert, vorzutreten und mich stattdessen an Ort und Stelle hält. Verständnislos erst Kyos Fingerspitzen auf meiner Brust, dann Toshiya neben mir und schließlich wieder die Fingerspitzen anblinzelnd öffne ich meinen Mund und will gerade nachhaken, was denn los ist, scherzend fragen, ob nun auch er vor Nora auf der Flucht ist, und vorschlagen, dass hier bei uns im Gang noch Platz genug für ihn ist, wenn er ein Versteck sucht, als eine helle Frauenstimme die Stille durchbricht. Eine Stimme so zartschmelzend wie ein Sahnebonbon, das einem langsam auf der Zunge zerfließt. "Kaoru... Es war so schön dich wiederzusehen... Ich dachte, ich müsste zerspringen vor Sehnsucht, hätte ich gestern Nacht nicht bei dir sein können..." Das ist doch jetzt ein schlechter Scherz, oder? Und überhaupt... Wer redet so?! Ich vermute, das ist nun wirklich das Letzte, über das ich mir gerade Gedanken machen sollte. Kaorus warmes, brummendes Lachen, welches ich so sehr liebe, purzelt leise aus seiner Kehle, erfüllt den gesamten Raum und ein glühend heißer elektrischer Schlag zuckt durch mich hindurch. Eine sengende Hitze droht in mir aufzusteigen. In meinen Adern beginnt das Blut zu wallen. "Na, na, zersprungen wärst du ganz bestimmt nicht." "Das sagst du, doch mir war ganz elend ohne dich. Sag, wann kommst du endlich heim?" "Dabei haben wir uns doch erst vor Kurzem gesehen... Hmm." Selbst bis hierher kann ich hören, wie Kaoru die Luft durch seine Zähne einzieht, bevor er nach einer winzigen Pause, in welcher er wohl die Tage im Kopf nachrechnet, antwortet: "Es sind noch vier Konzerte. Also... vor Mitte nächster Woche werde ich nicht zu Hause sein." Seltsam. Ich könnte schwören Kaoru weiß unsere gesamten Tourdaten, inklusive Reisedauer und Aufenthaltszeit, auswendig, und dennoch gibt er ihr kein konkretes Datum. Nächsten Dienstag. Das weiß sogar ich. Das wird auch sie ganz einfach im Internet nachschlagen können. Was soll die Heimlichtuerei? "Mitte nächster Woche..." Voller Wehmut wird ihre Stimme beim Wiederholen dieses Satzes immer leiser. Ich kann das Rascheln von Kleidung hören und suche auf Kyos Gesicht nach einem Mienenspiel, das mir Auskunft drüber geben kann, was dort drüben vor sich geht. Aber seine Züge sind wie im Eis erstarrt. Die Flammen in meinem Herzen lodern über. Ich muss wissen, was da passiert. Ich muss sehen, was sie tun. Als ich mich einfach an Kyos ausgestreckter Hand, die mir bisher deutete zurückzubleiben, vorbeischiebe, lässt er mich sang- und klanglos gewähren. Allerdings kann ich im Augenwinkel erkennen wie seine Augenbraue für eine Millisekunde hochzuckt und registriere auch, dass er sich trotz allem nicht von der Stelle bewegt. Und dann sehe ich es. Sie beide. Kaum einen Steinwurf von uns entfernt. Kaoru steht nur da, lehnt lässig am Türrahmen, eine halbaufgerauchte Zigarette zwischen seinen Finger. Sein dunkelblauer Bademantel - so einer, den man hier vom Hotel gestellt bekommt - ist halb geöffnet, erlaubt einen Blick auf seinen nackten tätowierten Oberkörper. Seinen Haaren haftet ein letzter Rest Feuchte an. Vor ihm steht die Frau, die ich schon vor ein paar Tagen mit ihm zusammen auf einer Afterparty gesehen habe. Nur, dass ich jetzt nicht sturzbesoffen bin und nur Augen für den Grund meiner schlaflosen Nächte habe. Nein, jetzt ich bin hellwach, bei klaren Verstand, und nehme sie zum allerersten Mal richtig wahr. Sie ist zierlich. Viel kleiner als Kaoru. Wie schwarze Seide fällt ihr Haar über ihre runden, schmalen Schultern und aus ihrem herzförmigen Gesicht mit den rosa Wangen funkeln zwei strahlend schöne Onyxe. Ihre Kleidung - eine cremefarbene Bluse mit dezentem Spitzenkragen und eine pastellblaue Jeans - ist schlicht, aber fügt sich nahtlos in das Gesamtbild ihres adretten Aussehens ein. Aus den hellen, flachen Sandalen lugen feingliedrigen Zehen hervor, die wie ihre Fingernägel in cremefarben lackiert sind. Sie ist wirklich verdammt hübsch. Das muss ich neidlos anerkennen, auch wenn mich die Eifersucht in Stücke reißt. Ihre schlanken Finger haben den Saum von Kaorus Bademantel ergriffen, haben sich tief in den Stoff hineingekrallt. Beinahe flehend, beschwörend sieht sie ihm in die Augen. "Kannst du... Kannst du nicht die Zeit vorspulen?" Doch Kaoru erwidert nichts darauf, berührt stattdessen ihre Hand und löst behutsam einen Finger nach dem anderen aus seiner Kleidung. "Du wirst noch deinen Flieger verpassen." Zwar hält er ihre Hand, streichelt einfühlsam mit dem Daumen über ihren Handrücken, und trotzdem vergehen keine zwei Sekunden, da entzieht sie sich seiner Berührung, wie ein scheues Reh vor einem Fremden zurückweicht. "Denk an mich, wenn ich fort bin." Ihre nun befreite Hand setzt zu einer Bewegung an, doch stoppt kurz vor ihrem Ziel. Für einen Moment schwebt sie knapp vor Kaorus Brust, direkt vor seinem Herzen. Wie gebannt starren sie einander in die Augen. Kaum noch wahrzunehmen, kann ich sie flüstern hören. "Vergiss mich nicht." Als sie die Hand schließlich zurückzieht, ballt sie sich zur Faust noch bevor sie wieder neben ihrem Körper angelangt ist, nur um sich kurz darauf wieder zu öffnen und nach dem Griff ihres kleinen Rollkoffers zu greifen. Noch während ich versuche die Bedeutung dieser flüchtigen Geste zu ergründen, kann ich beobachten, wie sich Kaoru von seiner lehnenden Position am Türrahmen gerade aufrichtet, einen letzten, kräftigen Zug von seiner Zigarette nimmt und sich danach rasch in sein Hotelzimmer beugt. Sein ausgestreckter Arm verschwindet im Zimmer und taucht ohne Glimmstängel wieder auf. Die Schultern nach hinten gedrückt, den Rücken halbherzig gestreckt, dreht er sich leicht in unsere Richtung. Inmitten dieser Drehung schlägt sein dunkler Bademantel eine Falte - genau an der Stelle auf seinem Oberkörper, wo noch vor ein paar wenigen Wimpernschlägen so schüchtern und verunsichert ihre Hand schwebte. Erst kann ich nicht erkennen, was nun aus dem Verborgenen unter dem dicken Frotteestoff zum Vorschein kommt. Beim ersten Betrachten sieht es aus wie ein konturloser violetter Fleck. Ich blinzele ein paar Mal, um es auf die Distanz besser ausmachen zu können, kneife dabei die kurzsichtigen Augen zusammen. Dann schlägt der Vorschlaghammer der Erkenntnis endlich in meinen dösigen Schädel ein. Der violette Fleck auf seiner Haut, nein, das blaurote Mal, das Zeugnis seiner letzten Nacht... ist ein Knutschfleck. Unzählige Gedanken krachen in meinen Kopf wie Sturzbäche, drohen mich hinfortzureißen, hinwegzuspülen. Ich will sie eindämmen, zurückdrängen, doch der Bilderschwall nimmt kein Ende. Seine Hände an ihrer blassen Haut, seine Lippen auf ihren, ihre Körper eng umschlungen, mit einander vereint, sein erregtes Gesicht... Oh Gott. Mach, das es aufhört. Ich will es mir nicht vorstellen. Ich will das nicht in meinem Hirn, verdammt! Dennoch brennt es sich immer mehr, immer glühender hinein, bis ich glaube, die Bilder sogar hören zu können. Und bilde ich mir das ein oder kann ich plötzlich ihr süßes Parfüm von dort drüben bis hier hin riechen? Wie es auch an Kaorus Körper haftet. Es beißt in meiner Nase und dreht mir fast den Magen um. Mir ist so kotzelend. Dieser Flur, dieser Hotelgang, der uns in diesem Augenblick trennt... Ich auf dieser Seite - halb versteckt in einem zwielichtigen Seitenkorridor, hervorlugend wie ein ungebetener Zaungast, der einen intimen Moment zwischen einem Liebespaar mit neidisch sprudelnder Galle in seiner Magengrube beglotzt. Und sie beide auf der anderen - umhüllt in einer Blase, in einer anderen Welt, nur Augen füreinander habend. Eine unsichtbare Grenzlinie verläuft zwischen uns. Die Distanz wird immer größer. Der Flur zum reißenden Fluss, an dessen Ufer ich nur hilflos dastehen kann. Etwas tief in mir beginnt leise zu zerbröckeln. "Ich fass es nicht! Es ist halb elf und Kaoru hat noch nicht mal 'ne Hose an!" Es ist wie als würde man mich aus einem Albtraum reißen. Mit einem Mal scheint der finstere Bann, der mich in diesem absurden Moment gefangen hielt, zerschmettert. Noch völlig benommen von dem, was ich soeben gesehen habe, spüre ich links von mir jemand anderen stehen. Es ist Toshiya, der aus dem Gang hervorgekrebst gekommen ist, die Arme erneut vor dem Oberkörper verschränkt hat und eine angesäuerte Flunsch zieht. "Und ich hab mich so beeilt aus dem Bett zu kommen!" Kyos irritierter Blick trifft in dieser Sekunde den meinen und gemeinsam starren wir Toshiya, der offensichtlich nicht den leisesten Schimmer hat, in was für einer Lage wir uns hier befinden, an. "Bitte was...?" Mir rutscht das Herz kilometertief in den Marianengraben. Natürlich bin ausgerechnet ich es, den Kaoru zuerst entdeckt und mit streng zusammengezogenen Augenbrauen fixiert. Wie bestellt und nicht abgeholt, hängen wir drei hier wie die Vollpfosten an der Ecke rum. Es wäre kein Wunder, würde Kaoru nun glauben, dass ich hinter dieser morgendlichen Beschattungsaktion stecke. Nur für den Bruchteil eines Augenaufschlages treffen sich unsere Blicke und doch bricht mir mit sofortiger Wirkung der kalte Schweiß aus. Was Kaoru in diesem Moment empfindet, vermag ich nicht zu sagen. Schon längst sieht er nicht mehr mich, sondern Toshiya an. Diese Eiseskälte mit der er mich unverzüglich komplett auszublenden scheint, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Irgendwo am Grunde der finsteren Tiefsee kann ich mein Herz armselig vor sich hin wimmern hören. "Ich sagte, du hast ja nicht mal 'ne Hose an!", tönt Toshiya lauter als notwendig durch den gesamten Flur und deutet auf den Bademantel. "Sagt derjenige, der nicht mal Schuhe trägt." Auf Kyos trockenen Kommentar entfleucht Kaorus Freundin, die uns nun ebenfalls entdeckt hat und mit großen Augen beobachtet, ein gedämpftes Kichern. Vergeblich versucht sie es hinter vorgehaltener Hand zu verstecken. "Warum hast du keine...", setzt Kaoru an, schließt jedoch seinen Mund wieder, als er zu bemerken scheint, dass ihn die Antwort überhaupt nicht interessiert. "Egal. Was macht ihr hier alle überhaupt schon um diese Uhrzeit?" "Häh? Wir fahren doch heute um halb elf los." "Tun wir nicht? Wir fahren erst nach dem Mittagessen." "Nach dem Mittagessen? Aber in der Nachricht stand doch halb elf." "In welcher Nachricht?" "Die du geschickt hast." "Ich hab gar nichts geschickt." Toshiya lässt einen beinahe genervten Seufzer aus und anstatt, dass er einen Bogen um Kyo und mich macht, quetscht er sich einfach ungehobelt mitten zwischen uns beiden hindurch und marschiert mit seinen besockten Patschefüßen geradewegs auf Kaoru zu, um ihm sein Handy unter die Nase zu schieben. "Das ist nicht meine Nummer", sagt Kaoru nach einem flüchtigen Blick auf das leuchtende Display. "Häh?" "Das ist nicht meine Nummer, ich hab das nicht geschickt. Und um die Uhrzeit hab ich noch geschlafen." "Das stimmt. Wir sind erst um 9 Uhr aufgestanden", bestätigt Kaorus Freundin, die dicht an ihn gelehnt ebenfalls auf das Handy lugt. Kaoru legt die Stirn in Falten. "Das ist mehr als nur eigenartig. Und ihr alle habt diese Nachricht erhalten, ja?" Er sieht zu uns herüber. Kyo nickt kurz. Ich gebe nur einen gedrungenen Laut der Zustimmung von mir. Die Hände in den Taschen meiner Jeans vergraben, wende ich die Augen ab, tue so, also würde ich desinteressiert ins Nichts starren, doch in Wahrheit versuche ich bloß Kaorus Blick auszuweichen, der mich unweigerlich früher oder später erneut treffen und mein Herz zu Brei zerquetschen wird. "Wartet mal kurz hier", höre ich wie von weit her Kaoru sagen und erspähe noch aus dem Augenwinkel, wie er mit diesen Worten plötzlich im Halbdunkel seines Hotelzimmers verschwindet. Ernsthaft? Lässt der uns jetzt hier tatsächlich mit seiner Herzallerliebsten im Flur stehen? Hilfesuchend wandern meine Augäpfel, ohne dass ich den Kopf bewege, zu Kyo herüber. Um ehrlich zu sein, will ich gerade überall hingucken, nur bloß nicht zu der strahlenden Schönheit, dem karieserzeugenden Karamellsirup - dem Wolf im Schafspelz - aber ich will nicht zu auffällig abweisend erscheinen. Eher wie jemand, der mit seinem Kumpel einen ganz alltäglichen, lässigen "Jaja, so isser, der Kaoru"-Blick austauscht. Leider ist Kyo unangefochtener Weltmeister im einen-undefinierbaren-Punkt-im-Nichts-Anstarren. Er bemerkt nicht mal, dass ich versuche mit verzweifeltem Blinzeln Morsecodes an ihn zu senden. Und so legt sich eine wahrlich unbehagliche Stille zwischen uns vier Verlassene. Zum Glück gibt es immer einen Dummen, der ein so peinliches Schweigen nicht lange aushält und es unter allen Umständen brechen muss. "Ähm...", beginnt Toshiya und reibt sich verlegen den Nacken. "Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Sorry. Ich bin Toshiya, Dir en grey's Bassist." "Miho. Kaorus Freundin. Sehr angenehm." Obwohl ich sie nicht ansehe, weiß ich, dass sie sich in diesem Moment höflich verbeugt. Ich höre das leise Rascheln ihrer Bluse. "Und das da drüben ist Kyo. Weißt du, er singt bei unseren Liedern sogar die Instrumente mit." Toshiya schirmt zwar seine Worte mit der Hand ab, redet aber trotzdem ungeniert in der gleichen Lautstärke weiter. Auf Kyos Gesicht ist nicht mal der Anflug einer Regung zu erkennen. "Ach ja!", setzt Toshiya noch lachend nach. "Und die trübe Tasse da hinten ist Die. Aber seinen Namen brauchst du dir nicht zu merken." "He! Also bitte, ja!!" Vielleicht gehen solche belämmerten Sprüche bei Kyo schon automatisch ins eine Ohr rein und ins andere wieder raus, aber mir platzt gleich die nicht existente Hutschnur, wenn Toshiya hier so strunzdämlich versucht einen auf witzig zu machen, um sich bei Kaorus Freundin einzuschleimen. Wie er hier so mit Salz um sich streut wie der Winterdienst an schneereichen Tagen, stößt bei meinen ohnehin schon geschundenen Gefühlen auf allgemeines schmerzverzogenes Zischen. Glücklicherweise, bevor ich mich vergesse, kehrt Kaoru mit seinem eigenen Handy in der Hand zu uns zurück. "Mysteriös. Ich hab die gleiche Nachricht erhalten. Vielleicht von Herrn Masuda?" Noch während ich Toshiya böse anfunkel, dieser nur diebisch zurück grinst, erwacht neben mir Kyo aus seinem Standbymodus. "Der zufällig seine Nummer über Nacht gewechselt hat und jetzt genauso schreibt wie du?" "Naja, nun..." Nachdenklich kratzt sich Kaoru an seinem Kinnbärtchen. "Ich werde das auf jeden Fall gleich klären, jetzt muss ich erst mal-" "'ne Hose anziehen?" Mit etwas säuerlich verzogenem Mundwinkel schaut Kaoru zu Kyo herüber, entscheidet aber diese Bemerkung diplomatisch zu umgehen. "Auch. Aber..." Stattdessen schenkt er seine volle Aufmerksamkeit wieder seiner Freundin und auch ich wage es endlich zu ihr herüber zu linsen. "Ja, genau." Sie dreht sich zu uns und verbeugt sich tiefer als nötig. "Es hat mich sehr gefreut, euch alle einmal kennenzulernen, aber nun muss ich wirklich los. Bitte kümmert euch gut um Kaoru." Weil wir alle im Kern drei anständige Kerle sind, verbeugen auch wir uns leicht vor ihr, auch wenn es jeder Faser meines Körpers in diesem Moment mehr als nur widerstrebt. "Also dann..." Sofort bereue ich es wieder zu ihr geschaut zu haben. Schneller als ich meine Augen aus Höflichkeit - so wie Kyo und Toshiya - oder gar aus purem Selbstschutz abwenden kann, muss ich mitansehen, wie sie sich unvermittelt auf die Zehenspitzen stellt und zu Kaoru hinaufreckt. Ihre vollen Lippen hauchen einen zärtlich aussehenden Kuss auf seine Wange. Fuck, ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie das tun würde. Anderseits bin ich froh, dass sie wohl doch zu schüchtern ist, um Kaoru vor uns dreien ungeniert auf dem Mund zu küssen. Wahrscheinlich würde ich noch an Ort und Stelle in einer Wolke aus purpurner Eifersucht verpuffen. Trotzdem. Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Weiß nicht, wo oben und unten ist. Vom Grund der Tiefsee dringt ein ersticktes Gurgeln aus dem Häufchen Elend, das einmal mein Herz war. Ich denke zurück an die Küsse von letzter Nacht. Unsere Küsse. All das, was gestern zwischen uns passiert ist, scheint mir nun so lange her, beinahe so als wäre es nie passiert. Als wäre diese Erinnerung nur einem Fiebertraum entsprungen. Aber es ist wirklich geschehen. Unbewusst beiße ich auf meine Unterlippe bei dieser Erinnerung. Die nächsten Sekunden ziehen an mir vorüber wie in Zeitlupe. Dennoch kriege ich kaum mit, was sich um mich herum abspielt. Alle Geräusche scheinen wie verzerrt. Als wäre mein Kopf unter Wasser. Bewegungen passieren, Worte werden gesprochen. Ich fühle mich wie ein Polarbär in der Sahara. So schrecklich, schrecklich fehl am Platz. Als ich wieder zu Sinnen gelange, erhasche ich gerade noch am Ende des Ganges, wie Kaorus Freundin im Aufzug verschwindet. "...oder nicht?", höre ich plötzlich jemanden neben mir sagen und der Geruch von scharfem Aftershave, der stechend in meine Nase dringt, katapultiert mich mit einem Satz in die Wirklichkeit zurück. Ich drehe den Kopf zur Seite, blicke direkt in Kaorus nachtschwarze Augen. "W-was?" Da steht er und grinst. Warum grinst er mich an? Was hab ich hier eben verpasst? Was will er mir damit sagen? Verwirrt suche ich nach Antworten in den Gesichtern der anderen. Doch Toshiya grinst ebenfalls bloß wie ein Honigkuchenpferd und aus Kyos ausgesprochen nichtssagendem Schulternheben werde ich auch nicht schlau. "Naja, jedenfalls hab ich mir das schon gedacht." Ich weiß, man scherzelt oft darüber, dass ich bereits mit einem Fragezeichen über dem Kopf auf die Welt gekommen bin, aber könnte man ???????? in Worte fassen, würde ich es gerade herausschreien. Wovon zum Geier redet Kaoru?! Da ist man mal eben eine Sekunde geistesabwesend in seiner Eifersucht am Absaufen und dann wird man sofort wieder ausgegrenzt und zum Gespött der gesamten Band gemacht. Sekunde für Sekunde wird das Grinsen breiter. Mehr und mehr wünsche ich mir, man könnte am Grinsen ersticken. "Übrigens..." Kaoru sieht an mir vorbei zu Kyo, der sich wohl ähnlich fehl am Platz fühlen muss wie ich. "Sag mal, hast du dich heute Morgen irgendwo gestoßen? Du bist ganz rot im Gesicht." Toshiya nickt bekräftigend. "Ja, das ist mir auch schon aufgefallen!" Wie eine Katze, die kurz vor dem Wegdämmern aus dem Schlaf hochschreckt, zuckt Kyo in sich zusammen. Mit einem rotzigen Murren streicht er eine Hälfte seines blonden Haares platt über seine linke Wange, um den verblassten Abdruck der schmalen Hand mehr schlecht als recht zu verbergen. "Ich weiß nicht, wovon ihr redet...", knurrt er bloß und lässt sich mit abgewandtem Gesicht, an Auffällig-Unauffälligkeit kaum noch zu überbieten, in einen ziemlich durchgesessenen senfgelben Ohrensessel plumpsen, der bereits aus allen Nähten fällt. Mit vorgeschobener Unterlippe und einem leichten Achselzucken als Reaktion auf Kyo, lässt Kaoru das offensichtlich unangenehme Thema damit fallen. "Naja, wie dem auch sei... Nun sind wir alle wach - und ich weiß nicht, wie es um euch steht - aber ich hab noch nichts zu Futtern gehabt, also warum gehen wir nicht zusammen was essen?" In der unvermittelten Stille, die auf diese Frage folgt, könnte man meine letzte Gehirnzelle leise dahinscheiden hören. Ein lachendes Schnauben ausstoßend erwidert Toshiya endlich: "Klar. Aber nur, wenn du dir vorher 'ne Hose anziehst." Kaoru blickt an sich herunter, als wäre er quasi verblüfft darüber, dass er immer noch seinen Bademantel trägt. "Zieh du dir erstmal Schuhe an!", meckert Kyo von der Seite und wirft Toshiya was von dem Schaum an die Birne, den er soeben aus dem ramschigen Sessel gepult hat. "Wenn du mir welche leihst, gerne!" Angesäuert bückt sich Toshiya nach dem Schaumstofffetzen, um ihn aus dem borstigen Teppich zu zupfen und ihn wie einen Flitschstein zurück zu Kyo zu schleudern. Dieser blockt ihn jedoch mit einer flinken Handbewegung ab und somit landet der Fetzen direkt vor Kaorus Füßen. Er tiefer Seufzer verlässt seine Lippen, das Grinsen ist verschwunden. "Während ihr das unter euch ausmacht, geh ich mich umziehen. Die, kommst du eben mit?" Ohne mich anzusehen, ohne meine Antwort abzuwarten, dreht Kaoru sich um und marschiert wie selbstverständlich in sein Hotelzimmer. Während ich noch bedröppelt im Flur stehe und einen Moment brauche, um seine Worte, seine Aufforderung überhaupt zu begreifen. Spinn ich jetzt? Hab ich das richtig gehört? Will er, dass ich gleich hier an Ort und Stelle einen Herzinfarkt erleide?! Sogar Kyo und Toshiya stocken in ihren nicht ganz ernst gemeinten Kabbeleien. Auch ihnen scheint das nicht geheuer zu sein, so wie die mich hier ungläubig angaffen als hätte mich gerade der Papst zu einer Audienz in seinem Privatzimmer im Vatikan eingeladen. Vielleicht ist dieser Vergleich auch gar nicht so weit an den Haaren herbeigezogen... Schwer schluckend kratze ich all meinen verbliebenen Mut zusammen, versuche mir nicht in meinem Gänsehirn auszumalen, was mich auf der anderen Seite dieser Türschwelle erwarten wird und folge Kaoru. ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 12: Hirngespinste. -------------------------- Meine Augen brauchen ein paar Sekunden, um sich an das schummrige Licht zu gewöhnen, als ich in das halbdunkle Zimmer trete. Anders als in meinem Hotelzimmer hängen vor Kaorus Fenstern schwere dunkle Vorhänge, die in der grellen Vormittagssonne gerade so viel Licht hindurchlassen, dass man sich frei im Raum bewegen kann, ohne mangels Sicht überall gegenzudonnern. Ich kann erkennen, dass er bereits das meiste in seiner Reisetasche verstaut hat. Auf dem zerwühlten Bett liegen seine schwarze Lederjacke, sein Portemonnaie, ein Zippo-Feuerzeug und eine zerknautsche Packung Mild Seven Light Zigaretten. Beinahe andächtig legt er das Handy, welches er immer noch in der Hand hält, neben die restlichen Sachen. Ich fröstele ein wenig. In diesem Zimmer ist es deutlich kühler als erwartet, obwohl von draußen eine lauwarme Brise hereinweht. Die Luft ist, bis auf den jüngsten Zigarettenrauch, klar und frisch, so als wäre das Fenster bereits seit Stunden geöffnet. Kaorus Haare sind gewaschen, sein Bart ist in Form rasiert, dem Bademantel zufolge war er duschen. Ob mir mein Gehirn bloß perfide Streiche spielt, vermag ich nicht mehr zu sagen, aber ich könnte schwören, dass ich unter dem Gemisch aus süßlichem und scharfen Parfüm, das trotz allem noch wabernd in der Luft schwebt, auch den schwachen Geruch von Schweiß und Sex riechen kann. Brechreiz auslösendes Kopfkino schießt mir erneut wie eine Brandkugel durch den Schädel. Allein wenn ich das Bett betrachte, kann ich vor meinem inneren Auge im Zeitraffer die geisterhaften Schemen darauf entdecken, wie sie die Kissen zerwühlen, in einander versunken sind, ihre schweißnassen Körper sich in Ektase einander entgegenwinden. Ich lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Noch immer ist Kaoru dem Bett und dem Fenster zugewandt. Von der Türschwelle aus starre ich geradewegs auf seinen Rücken. Als er sich zu mir umdreht, fällt mein Blick unwillkürlich auf seinen blanken Oberkörper, der unter dem Bademantel hervorlugt. In diesem Zwielicht erscheint der violette Fleck auf seiner cremigen Haut noch viel dunkler als zuvor. Eine beinahe hypnotisierende Wirkung geht von ihm aus. Wie ein schwarzes Loch, das mich in seinen Bann zieht. In seinen todbringenden Strudel. Wenn ich ihn noch weiter betrachte, zerreißt es mich. Meine Augen wandern hoch zu Kaorus Gesicht und ich bemerke, dass auch er mich stumm angesehen hat. Einen Moment stehen wir beide nur da. Umwoben in einem klebrigen Netz aus Stille und Befangenheit. Ich fühle mich wie ein Insekt - gelähmt, die Innereien vergiftet, wehrlos. Gefangen in seinem Spinnennetz. In quälender Einsamkeit darauf wartend, flehend, von ihm verzehrt zu werden. Könnte ich nur die Zeit zurückdrehen. Könnte ich nur wieder mit ihm im Fahrstuhl eingeschlossen sein. Den magischen Augenblick, den wir teilten, wiederholen. Aber nichts hier dran ist magisch. Nur unangenehm und befremdlich. Ich glaube, das weiß er auch. Sein Mund ist leicht geöffnet. Ich spüre, dass er mir etwas sagen will, doch die Worte finden keinen Weg hinaus. Auch ich will etwas sagen, nur weiß ich nicht was, und vor allem nicht wie. Will nur meine Hand nach ihm ausstrecken, ihn zu mir ziehen und seinen Körper an mich pressen. Mein Gesicht in seiner Schulterbeuge vergraben. Ihn nicht mehr loslassen, bis sich die Realität draußen vor der Tür in eine weitentfernte Erinnerung verwandelt. Aber die Realität ist, dass ich hier in diesem heteroverseuchten Liebesnest stehen muss, mit dem Typen, der mir vor wenigen Stunden erst neue Hoffnungen gemacht hat, nur, um sie jetzt eine nach der anderen wie einen Luftballon zerplatzen zu lassen. Und überhaupt! Welcher Arsch führt seinen bis über beide Ohren in ihn verschossenen Freund auch noch an den Ort des Verbrechens?! Man könnte die Anspannung zwischen uns beiden mit einem Messer schneiden. Wie zwei abgehalfterte Cowboys, die sich zum High Noon in der Mitte der Stadt zum Schusswechsel verabredet haben, stehen wir einander gegenüber. Wer wird zuerst seinen Revolver ziehen? Wer wird wen erschießen? Kaorus Gesicht ist von Schatten verhangen. Gegen das helle Sonnenlicht blinzelnd kann ich den Ausdruck darauf kaum erkennen. Wie viel Zeit ist bereits verstrichen? Es kommt mir vor, als wären Äonen an uns vorbeigezogen, als er endlich etwas sagt. "Die, hör zu..." Seine Stimme ist kehlig, dunkel und warm wie eine Tasse heiße Schokolade. "Es tut mir leid, dass ich dich gestern einfach so sitzengelassen habe." "Ja, Kaoru, mir tut es auch leid. Aber machen wir uns nichts vor." Höre ich mich wie aus einem anderen Hotelzimmer heraus sprechen. Als stünde ich nebenan statt direkt vor ihm, das Ohr an die Wand gedrückt, mich selbst belauschend. Als wären es nicht meine Lippen, die diese Worte formen. "Stell dir nur mal vor, du wärst heute Morgen tatsächlich mit brummenden Schädel neben mir aufgewacht. Ich kann nicht gerade von mir behaupten, dass ich nach einer durchgezechten Nacht noch einen Schönheitswettbewerb gewinnen würde. Nicht, dass du mir vor lauter Schreck noch aus dem Bett gepurzelt wärst und dir am Nachtschrank die Rübe eingeschlagen hättest." So wie das mir vorhin fast passiert wäre... "Und dann wäre wahrscheinlich alles voller Blut gewesen und du weißt, wie zimperlich ich bei Blut bin." "Ähm, Die..." "Dann hätte ich aufgewühlt wie ein verschrecktes Huhn in meinem gebrochenen Englisch den Krankenwagen gerufen und versucht notdürftig deinen nackten Astralkörper unter einer Decke zu verbergen--" "Die..." "--damit dir niemand was wegguckt, natürlich, nicht, weil irgendetwas an dir versteckenswert wäre, und wäre wahrscheinlich noch vor Eintreffen der Sanitäter ohnmächtig geworden und neben dir zusammengebrochen oder so, während--" "Die!!" Auf Kaorus eindringlichen Zwischenruf hin versiegt schlagartig der sprudelnde Bach aus unsinnigen Worten aus meinem Mund und auch mein wildes Gestikulieren findet ein abruptes Ende. Verschämt über mein eigenes Gefasel fühle ich, wie mir die Röte in die Wangen schießt. Vor lauter Unbeholfenheit hab ich einfach drauflosgeplappert, nur, um unter allen Umständen zu vermeiden, dass ich mir etwaige Erklärungen, die nun unausweichlichen folgen werden, anhören muss. Die Zähne in meiner Unterlippe vergraben, die rechte Hand leicht zitternd neben meinem Hosenbein zu einer Faust geballt, versuche ich den Blickkontakt zwischen uns aufrecht zu erhalten, aber ich kann nicht verhindern, dass meine Pupillen immer wieder aufs Neue flüchtig zu seinen Lippen huschen, von ihnen angezogen werden so wie die Fliege vom süßen Nektar angezogen wird. Ob er es bemerkt? Schließlich ist er es, der den Blick abwendet. An seiner Nasenwurzel scheinen sich in diesem Moment seine Augenbrauen zu umarmen. Sichtbare Verunsicherung schwingt in seinem langen Seufzer mit, und auch ein gewisser Schwermut, den ich mir nicht recht zu erklären vermag. Eine tätowierte Hand verschwindet unter seinem noch leicht vor Feuchtigkeit glänzenden Haar, verwuschelt es in seinem Nacken. Ohne mich anzusehen, flüstert er beinahe: "Ich wollte dich bloß wissen lassen, dass--" Doch bevor ich erfahre, was er mich wissen lassen wollte, unterbricht ihn der plärrende Klingelton seines vermaledeiten Handys - so wie gestern Nacht. Als hätte man die Glocke es Kirchturms direkt neben uns geläutet, zucken wir beide gleichzeitig zusammen. Zwar dreht sich Kaoru sofort in Richtung des auf dem Bett liegenden buntblinkenden Störenfrieds, macht aber trotzdem keinerlei Anstalten sich vom Fleck zu bewegen. Stattdessen kann ich mit zunehmender Verwirrung, warum er nicht direkt darauf zustürmt und das Gespräch annimmt, mitansehen wie er sich wieder zu mir dreht. Diesmal sieht er mir in die Augen. "Ich wollte dich bloß wissen lassen, dass ich es nicht--" "A U T S C H!!!" Für eine Sekunde wird mir weiß vor Augen. Ein greller Schmerz durchzuckt meinen Rücken wie ein Blitz, der in einen Hochspannungsmasten einschlägt. Sowie die eiserne Türklinke mir erbarmungslos ins Skelett geschmettert wird, stolpere ich einen Schritt nach vorne. Beinahe hätte mein Gesicht noch Bekanntschaft mit dem schäbigen Hotelfußboden gemacht, hätte Kaoru nicht mit den Reflexen einer Katze reagiert und meinen Sturz mit dem Greifen nach meinen Schultern abgefedert. "Hey, Kaoru!! Herr Masuda steht hier draußen! Versucht dich auf dem Handy zu erreichen, aber ich hab ihm gesagt, er kann ruhig reingehen, weil du ja eh nichts zu verbergen hast." Ich reiße den Kopf herum. Toshiyas Visage, die sich in diesem Moment durch die halbgeöffnete Tür zu uns ins Zimmer hineinschiebt, blickt mir verdattert entgegen. "...was'n mit dir los?", fragt der allen Ernstes, als er mich gekrümmt und auf wackligen Beinen vor sich sieht, glotzt mich dabei so dämlich an, dass ich ihm am liebsten sofort die Gurgel umdrehen möchte. "Oh, ich weiß nicht! Fühlte sich fast so an, als hätte gerade jemand versucht mir mein verdammtes Rückgrat zu brechen!", zische ich ungehalten, während ich vergeblich versuche den scharf pulsierenden Schmerz an meiner Wirbelsäule wegzureiben. "Rückgrat?" Nur zu gerne würde ich dem Rowdy noch einen bitterbösen Kommentar hinterschleudern, aber Herr Masudas gedämpftes Räuspern, welches aus dem Flur heraus zu uns hinein dringt, hält mich gerade noch mal davon ab. "Entschuldigen Sie bitte, wenn ich unpassend erscheine. Ich erhielt heute Morgen eine Nachricht, dass wir bereits um 10:30 Uhr abreisen?" "Sie haben was...?" Kaorus Hände lassen meine Schultern wieder los. Missmutig stapfe ich einen Schritt zur Seite und lasse Herrn Masuda ins Zimmer treten. "Ja... nun", setzt er an, wobei sich seine Augen sichtlich verwirrt über die Düsternis in diesem Raum leicht verengen. "Es ist bald 11 Uhr und bis auf Herrn Shinya ist noch niemand von der Band unten in der Lobby oder zum Frühstück aufgetaucht, da dachte ich, ich sollte lieber einmal nach dem Rechten sehen, falls jemand verschlafen hat." "Hier hat leider niemand verschlafen", brummel ich. "Wie bitte?" Noch bevor ich etwas darauf erwidern kann - um Kaoru nicht noch mehr Unannehmlichkeiten zu bereiten und klarzustellen, dass meine aus dem Zusammenhang gerissene Aussage und der skurrile Anblick, den er und ich hier momentan wohl erregen müssen, nicht das ist, wonach es aussieht - obwohl ich mir nicht mal selber sicher bin, wonach es eigentlich aussieht - grätscht mir Kaoru bereits dazwischen. "Wenn Sie diese Nachricht ebenfalls erhalten haben, heißt das, Sie haben sie nicht geschrieben?" Herrn Masudas Augenbrauen heben sich. "Ich? Meine letzte Hoffnung war, das sie vielleicht doch von Ihnen stammen würde." "Also, solange ich nicht heute Nacht schlafgewandelt bin und von einem fremden Handy aus eine Rund-SMS an alle verschickt habe, nein." Kaorus Lachen klingt unbeholfen und auch irgendwie nervös. "Oh?" "Das ist nämlich nicht Kaorus Nummer. Auch wenn's seine Art zu schreiben ist", fügt Toshiya, der mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen lässig im Türrahmen lehnt, hinzu. Herrn Masudas Augenbrauen heben sich noch ein Stückchen höher. "Soso." "Wer ist denn außer Ihnen noch unten?" Hinter Toshiyas hochgewachsener Gestalt kommt Kyo zum Vorschein. "Alle." "Alle?!", entfährt es uns fast im Chor. "Natürlich war unser Fahrer auch verwirrt, weil er diese Mitteilung ebenfalls erhalten hat und davon ausgegangen war, dass es eine kurzfristige Planänderung gab. Ehrlich gesagt sind alle, die zum Frühstück aufgetaucht sind, äußerst verwirrt. Wir haben darauf gewartet, dass Sie auch irgendwann eintrudeln würden und sich das ganze dann vielleicht auch schnell für Sie klären würde, aber..." Herr Masuda blickt in unsere Runde. Wie als wäre das sein Stichwort räuspert sich Kaoru laut und deutlich. "Ich glaube, wir alle hatten gestern eine sehr lange Nacht, deswegen..." "Ich blick da nicht mehr durch." Toshiya stößt sich vom Türrahmen ab und zieht eine Hand aus der Jeans, um mit ihr zu gestikulieren. "Wer hat denn jetzt diese Nachrichten verschickt?! Wollt uns da bloß jemand verkohlen, oder was?" "Sieht wohl so aus...", murre ich zwischen meinen Zähnen hindurch. Noch immer kann ich die Türklinke in meinem Rücken spüren. Das und die Tatsache, dass ich anscheinend völlig umsonst so früh aus dem Bett gekrabbelt bin und mir diese abstoßende, gefühlsduselig Show zwischen zwei sich wieder vertragenen Turteltauben angucken musste, trägt nicht gerade dazu bei, dass sich meine Stimmung besonders aufhellt. "Ich hätte da so eine Vermutung..." Mein Blick schweift in den Flur. Immer noch halb hinter Toshiya versteckt, murmelt Kyo gedankenversunken vor sich hin, die Oberlippe auf der rechten Seite leicht hochzogen. Jedoch scheint niemand außer mir seine Bemerkung so richtig wahrgenommen zu haben. Jedenfalls bleibt jegliche Reaktion darauf aus. Mir allerdings gibt sie zu denken. Wer würde sich so einen üblen Streich mit uns erlauben? Wer kommt so einfach an all unsere Telefonnummern? Nicht nur von unserem Staff, sondern von der gesamten Band. Kann man das Adressbuch eines Handys hacken? Und wozu? Würden Fans so weit gehen? Aber woher sollten diese wissen, wie Kaoru seine Nachrichten schreibt? "Zur Sicherheit sollten wir aber trotzdem noch mal alle unsere Nummern mit der des Absenders vergleichen", höre ich Kaoru neben mir sachlich und trocken wie eh und je sprechen. Ich spüre seinen Blick auf mir und als ich mich zu ihm wende, schauen wir uns für eine Sekunde direkt in die Augen. Richtig. Da war doch etwas. Er wollte mir etwas Wichtiges sagen, aber ich habe ihn unterbrochen. Er hat erneut versucht mir etwas Wichtiges zu sagen, aber die anderen haben ihn unterbrochen. Und nun ist der Moment vorbei. Verpufft, zerplatzt, liegt als armseliges Konfetti der verpassten Gelegenheiten um uns herum verstreut. "Auf alle Fälle wollte ich Sie nun darüber informieren, dass sich an unserem Zeitplan nichts geändert hat und wir nach wie vor erst nach dem Mittagessen aufbrechen werden. Desweiteren würde ich Sie im Namen des Managers darum bitten, das Frühstück in Zukunft nicht allzu oft ausfallen zu lassen, damit Sie alle bei Kräften bleiben." "Aber natürlich doch", antwortet Kaoru, während wir anderen nur nicken. Herr Masuda nickt ebenfalls kaum merklich und schickt sich an zu gehen. "Also dann. Wir treffen uns nachher zum Mittagessen im Hotelrestaurant." "Klingt super", erwidert Kaoru in einem Tonfall, der in meinen Ohren alles andere als super klingt. Mehr so, als wolle er ihn abwimmeln. Wahrscheinlich hat Herr Masuda das auch verstanden. Ohne ein weiteres Wort verlässt er das Zimmer, wird von Toshiya, der noch in der Tür stand, vorbeigelassen und verschwindet schließlich ganz aus meinem Blickfeld. Zeitgleich ertönt das scharfe ka-chakk-Geräusch eines herausgezogenen Rollkoffergriffs. Auch Kyo scheint die Biege machen zu wollen. "Wenn sich die Sache damit vorerst gegessen hat... Entschuldigt mich bitte. Ich hau mich wieder aufs Ohr." "Aber verpenn das Mittagessen nicht wieder!", kräht Kaoru ihm hinterher. "Nochmal halten wir nicht kurz vor der Halle noch beim McDonald's." Kyo macht eine abwinkende Handbewegung. "Jaja..." "Jaja heißt leckt mich am Arsch", grinst Toshiya mich frech von der Seite an, als hätte er gerade einem Orang-Utan die Relativitätstheorie erklärt. "Ist es zu offensichtlich, wenn ich jetzt einfach weggehe?" "Wenn es euch nichts ausmacht, könnt ihr jetzt gerne beide gehen. Ich würde mich jetzt nämlich gerne umziehen." Den Rücken bereits zu uns gekehrt, klaubt Kaoru sein zuvor ordentlich herausgelegtes Outfit des Tages - bestehend aus einer schwarzen Stoffjeans, einem Band-T-Shirt und einem dunklen Paar Socken - vom Sessel. "Wird auch langsam Zeit. Haste mal auf die Uhr geguckt?" Das Metall von Toshiyas Zahnspange blitzt heller als das Funkeln in Kaorus Augen, die sich uns soeben wieder zugewandt haben. Auffordernd stieren sie uns an. "Okay, okay... Wir gehen ja schon", seufzend schnappe ich mir Toshiyas Ärmel und bugsiere ihn durch die Tür. "Komm, ganz offensichtlich sind wir in Kaorus Liebeshöhle nicht länger erwünscht..." "Die..." In Kaorus Stimme schwingt beinahe etwas Beschwörendes mit, und obwohl ich bereits selbst kurz vor der Türschwelle stehe, halte ich inne und drehe mich zu ihm um, erblicke ihn weniger als eine Armlänge von mir entfernt. Vom Flur her fällt ein gelblicher Lichtstrahl von den Deckenleuchten über meine Schulter, erhellt wie ein Scheinwerfer Kaorus halbentblößten Oberkörper. Das violette Liebesmal erglimmt darauf wie der Mond am Nachthimmel. Erneut öffnet sich sein Mund, um Worte zu formen, doch diesmal komme ich ihm zuvor. Ich strecke den Arm nach ihm aus, tippe mit der Kuppe meines Zeigefingers auf den blauen Fleck. Sofort folgt sein Blick meinem Finger. Ich kann praktisch dabei zusehen, wie sich seine Pupillen weiten. Behutsam, aber unmissverständlich, drücke ich ihn von mir weg - "Lass gut sein." - und lasse ihn allein im Dunklen stehen. ~*~*~ Hinter mir fällt die Tür ins Schloss. So wie vorhin. Nur, dass ich mich jetzt auf der anderen Seite befinde. Toshiya wartet bereits auf mich. "Sag mal, was habt ihr da drin eigentlich vorgehabt?" "Häh?" "Im Dunkeln und so." "Was meinst du denn?" Grummelig setze ich mich in Bewegung. Ich will einfach nur noch weg von hier. "Sag du's mir. Kaoru hat dich doch noch nie mit auf sein Hotelzimmer gelassen." "Das ist glatt gelogen." "Gut, aber das letzte Mal war bestimmt noch im alten Jahrtausend." Ich biege in den staubigen Seitengang, in den ich unlängst verschleppt wurde und von wo aus dieses ganze Debakel seinen Lauf genommen hat. "Worauf willst du hinaus?" "Hast du seine Freundin gesehen?" "Nein, Toshiya. Ich bin gerade eben erst in dieser Existenzebene ge-spawned. Die Person direkt neben dir im Flur vorhin war nur ein Hologramm von mir", sage ich monoton, während ich meinen Koffer ergreife. "Nein, Alter, hast du dir seine Freundin mal angesehen!" "Zwangsläufig." "Die ist echt hübsch." "Hm." "Nichts gegen dich, aber..." "Hmm." "Wollte dir Kaoru sagen, dass du dich endgültig von ihm fernhalten sollst, damit ihn das Mädel nicht doch sitzenlässt und sich lieber aus'm Staub macht, weil sie glaubt, er wäre vom anderen Ufer?" "Was?!" Beinahe hätte ich meinen Koffer auf meinen Fuß fallen lassen. Voller Entsetzen starre ich Toshiya an. "Du weißt schon..." Schwungvoll schultert er sein Reisegepäck. "Er hat dir in letzter Zeit schon ziemlich offensichtlich deine Grenzen aufgezeigt. Find ich ja manchmal ganz amüsant dabei zuzusehen, aber manches ging echt schon unter die Gürtellinie." Wem sagt der das. Ich musste diese verbalen Ergüsse schließlich aus nächster Nähe miterleben. "Vor allem jetzt auf dieser Tour. Ich glaub, das ist echt alles nur wegen seiner neuen Freundin. Kann ich auch verstehen, dass er da kein Risiko eingehen will. Vor allem, wenn die ihm nun auch noch nachreist. Nachher kriegt sie noch irgendwas in den falschen Hals. Manche Frauen können da echt gruselig sein. Mit der Eifersucht und so." Ich schnaufe. "Keine Ahnung, Mann. Ich weiß nicht, was er mir sagen wollte, weil mir irgendsoein geistigumnachteter Depp vorher 'ne Tür ins Kreuz donnern musste." Als ich an die Szene zurückdenke, fällt mir wieder ein, dass Kaoru kurz zuvor noch sein bimmelndes Handy ignoriert hat. In dem Moment war ich ihm wichtiger. Oder rede ich mir das ein? War das, was er mir unbedingt sagen wollte, wichtiger? Aber jetzt hat er es sich anders überlegt? Er hätte es mir doch immer noch sagen können? Aaah! Diese Flut an Fragen zieht mich nur noch tiefer in den Strudel der Ungewissheit. Und dann kommt auch noch dieses Möchtegern-Schweinchen-Schlau um die Ecke und setzt mir irgendeinen neuen beknackten Floh ins Ohr, wo ich doch ohnehin anfällig bin für so eine Scheiße und... ich dreh bald echt noch am Rad. Ist es zu früh für ein Bier? Ich brauch jetzt ganz dringend ein Bier. Äußere Wunden behandelt man mit Alkohol, also sollten sich innere doch wohl auch mit Alkohol behandeln lassen können... Ich will mich viel lieber in den Fluten des Ethanols ertränken, als noch eine weitere Sekunde mit diesen sich ständig im Kreis drehenden Fragen überschüttet zu werden. Längst bin ich zurück im Hauptflur, wie ferngesteuert haben meine Füße mich hier hingetragen. Die Keycard zu meinem eigenen Hotelzimmer in der Hand entriegele ich die Tür. Während ich meinen Koffer ins Zimmer wuchte, höre ich neben mir das leise Klimpern von Toshiyas Hosenkette und kurz darauf seine Stimme. "Sorry wegen deinem Rücken übrigens." Mit einem genervten Seufzen drehe ich mich zu ihm um. "Ich leih dir meine Turnschuhe nicht..." Toshiyas Gesicht verzieht sich, als hätte ich ihm gerade eine Zitronenscheibe in den Mund gestopft. "Ach, Mist..." ~*~*~ Nachdem ich Toshiya irgendwie im Flur abschütteln konnte und die unendlichen Treppenstufen nach unten geeiert bin - in diesen verfluchten Aufzug kriegen mich keine 20 tollwütigen Fangirlies mehr rein! - halte ich im Erdgeschoss angekommen kurz inne. Aus der Puste und mit halbem Drehwurm im Kopf. Die blonde Dame am Empfang lächelt freundlich zu mir herüber, aber bestimmt fragt sie sich, warum ich aussehe, als hätte ich gerade ein Gespenst gesehen. Jedenfalls kann man von ihrem professionellen, maskenhaften Gesicht nicht ablesen, was sie wohl im Moment von diesem japanischen Schönling in zerrissenen Jeans denken mag. Immerhin ist das hier ein Businesshotel. Eins von der teureren Sorte. Das einzig teure an mir sind meine zwei Kilo Chrome Hearts Behang. Bevor ich es bemerke, hat sich die Dame wieder dezent zurückhaltend den Unterlagen auf ihrem Tisch gewidmet und ich bin mir immer noch unschlüssig, was ich eigentlich will. Raus aus diesem Haus, soviel ist mir klar. Ich lasse meine Füße entscheiden, wohin sie mich tragen, und setze mich in Gang. Wie ich an der Rezeption und einer üppig wachsenden Zimmerpalme vorbeischreite, frage ich mich schon, wie die Preisklasse dieses Hotels zwar im oberen Bereich liegen kann, aber der Schuppen doch längst eine Generalüberholung vertragen könnte. Vielleicht ist das im Westen ja gar nicht so unüblich. Ein Schwall stickige flimmernde Luft begrüßt mich, schließt mich in die Arme, als sich die automatischen Türen unter leisem Zischen öffnen und ich nach draußen trete. Seit ich heute Morgen am Fenster stand und vor mich hinsinnierte, ist bereits einige Zeit verstrichen. Inzwischen ist es heiß geworden. Die Sonne nähert sich ihrem Zenit, entsendet erbarmungslos ihre sengenden Strahlen gen Erde, direkt in mein Gesicht. Beinahe habe ich vergessen, wie sich das anfühlt. Wärme. Ohne übermäßig theatralisch klingen zu wollen, empfinde ich nun doch in mir eine eisige Schwere. Ich wünschte, Eifersucht würde wieder in meinen Gedärmen brodeln wie glühendes Magma. Stattdessen macht sich in mir ein Gefühl der Resignation breit. Langsam, wie Staubkörner in der Luft, rieselt sie herab, rieselt auf mein Gemüt. Ich will mich einfach bis zum Mittagessen irgendwo in der umliegenden Umgebung ablenken. Von mir aus auch planlos durch die Gegend laufen. Nur will ich nicht mehr daran denken müssen, was ich gesehen habe - und viel schlimmer noch: das, was ich nicht gesehen habe. Doch die Gedanken verfolgen mich wie eh und je, stellen mir nach wie ein Jäger Pirsch auf ein weidwundes Tier macht. In jedem Schatten, in jedem Dunkeln lauern sie mir auf, bereit mir in einer unachtsamen Sekunde den Gnadenstoß zu verpassen. Was ist, wenn Toshiya recht hat? Wenn Kaoru wirklich ein und für alle Mal für klare Verhältnisse sorgen will. Wenn er es ernst mit ihr meint, den nächsten Schritt mit ihr gehen will und es sich nicht mehr leisten kann, wenn ein anderer das harmonische Gleichgewicht zwischen ihnen stört. Wenn der magische Moment, den wir gestern Nacht teilten nur der Hitze des Augenblicks geschuldet war. Was dann? Ich bin nicht mal imstande dazu mir dieses Szenario auszumalen, selbst wenn es wohl unweigerlich auf mich zurast wie der Shinkansen auf seinen Zielbahnhof. Es ist nicht so, als wäre ich noch nie in dieser Lage gewesen. Schließlich hat Kaoru über die Jahre hinweg einige Beziehungen mit Frauen gehabt, die ihm viel bedeuteten. Zwar waren eine gute Handvoll davon nur von kurzlebiger Dauer und andere endeten unter bizarren Umständen, aber damals war das anders. Wir waren anders. Ich war anders. Meine Schwärmereien waren anfangs unschuldiger Natur. Kumpelhaft. Mehr Rumalbern als verbindlich. Mir hat es genügt auf freundschaftliche Weise Spaß mit ihm zu haben, sowie ich auch mit den anderen meine Scherze getrieben habe. Wir alle haben uns schon in den Armen gelegen, dicht an dicht gegeneinandergedrückt im Bus gesessen oder auf der Bühne unsere Show abgezogen. Manche mehr, manche weniger. Aber über unverbindliches Verknalltsein ging es für mich nie hinaus. Ich hätte auch nie gedacht, dass es irgendwann einmal soweit kommen würde. Aber mit der Zeit wurde aus der winzigen Knospe der Bewunderung erst ein stattliches Pflänzchen, dann ein alles überragendes Gewächs und mittlerweile schlagen die Wurzel dieses knorrigen uralten Baumes tief in mein Herz hinein, haben es eingeschnürt, überwuchert, sind eins geworden mit meinen Blutbahnen. Wie soll ich ihn nur je wieder aus mir herausschneiden? Die Liebe, die ich für Kaoru empfinde, ist untrennbar mit mir verbunden. Das ist nicht über Nacht geschehen, aber je älter wir wurden, umso klarer wurde es mir: Ich kann nicht ohne ihn. Und mit dieser Erkenntnis kam die Eifersucht. Zu Beginn war es leichter seine Freundinnen und weiblichen Bekanntschaften auszublenden, mir auszureden, dass er auf lange Frist mit ihnen glücklich werden wird. Jede gescheiterte Beziehung bestätigte mich in diesem Aberglauben. Das hält eh nicht lange. Sie passt sowieso nicht zu ihm. Ja, ihr habt grad Spaß zusammen, aber pass auf, wenn ihr erst zusammenzieht... Aber Kaoru ist auch älter geworden. Und mit dem Alter kommt der Wunsch nach Sicherheit, nach Beständigkeit, nach dem Ende der Suche. Bevor wir unsere lange Übersee-Tournee in diesem Jahr angetreten sind, hatten wir im Winter viel Zeit gemeinsam im Studio verbracht. Es waren anstrengende Monate gewesen, die an unser aller Nerven gezerrt und uns unserer ganzen Kraft beraubt hatten. Gegen Ende wurden die Aufenthalte in verqualmten Aufnahmeräumen länger und länger, die wenigen Stunden, die wir uns im vertrauten Heim befanden nur noch mit von Erschöpfung geschwängertem Schlaf gefüllt, bis wir schließlich gar nicht mehr nach Hause fuhren und uns das Studio voll und ganz, mit Haut und Haaren, verschluckt hatte. Es war zu dieser Zeit, als Kaorus letzte Beziehung in die Brüche ging. Distanz und Stress hatten die Flamme der Liebe erstickt. Sie war nicht mit einem gleißenden Flackern oder unter Funkensprühen erloschen, sie war jämmerlich mehr und mehr geschrumpft und eines Tages klammheimlich, unbemerkt einfach ausgegangen. Danach vergingen ein paar Wochen, bis wir unsere erste Heimat-Tournee bestritten. Zwar wusste ich bereits während der Proben dafür, dass sie getrennt waren, doch war ich mir nicht sicher, welche Spuren diese Trennung bei Kaoru selbst hinterlassen hatte. Wer ihn kennt, der weiß genau, dass Kaoru einem eine halbe Enzyklopädie an die Backe labern kann - und wird! - und von allem und jedem und dem sein Onkel faselt, aber seine innersten Gefühle und Gedanken, nein, nein, die hält er fest unter Verschluss, die versteckt er unter einem eisernen Schleier des Stillschweigens. Und so war ich der Überzeugung, er wäre nach dem Aus seiner letzten Beziehung alleine geblieben. Als die Daten der Tour, auf der wir uns momentan befinden, näher rückten, nahm auch allmählich mein Entschluss, es noch einmal ernsthaft bei ihm zu versuchen, Form an. Hätte ich vorher gewusst, dass er seine Fühler schon längst nach einer neuen süßen Frucht ausgestreckt hat, hätte ich mich vielleicht nie so sehr in all das hineingesteigert. Wer weiß. Vielleicht musste es auch von Anfang an so kommen. Ein unvermeidbares Ereignis auf das ich zwangsläufig zugesteuert bin. Sowie der Shinkansen der Unabwendbarkeit auch jetzt ungebremst auf mich zusteuert. Letztlich bin ich es vielleicht selbst, der mich am Glücklichsein hindert. Ein Saboteur in den eigenen Zellreihen... Ich krame die zerknitterte Zigarettenschachtel aus meiner Hosentasche hervor, klemme mir einen Glimmstängel zwischen die Lippen und taste auf der Suche nach meinem Feuerzeug die übrigen Taschen an meinem Körper ab. Ohne Erfolg. Verdammt, ich muss es vorhin in meinem Hotelzimmer liegengelassen haben. Gerade als ich vor mich hinknurrend die Zigarette zurück in die Schachtel befördern will, höre ich neben mir ein ka-cha und sehe aus dem Augenwinkel heraus eine Flamme vor meinem Gesicht auftauchen. Ich folge der breiten Hand, die sie entzündet hat, den Arm hinauf, bis zu der mir nur allzu bekannten Miene meines Mannes für besondere Gelegenheiten, meines persönlichen Gitarrensitters, meines Roadies, Kuroo. "Hey. Sind Sie alleine hier?" Ich hebe eine Augenbraue. Die Zigarette zwischen meinen Lippen begradigend, beuge ich mich nach vorne, lasse das Feuer das Papier ergreifen und ziehe an ihr. "Ja..." "Verheiratet?" Beinahe verschlucke ich mich am ersten Qualm. Unter raspelndem Husten erwidere ich so trocken, wie es mir in diesem Zustand möglich ist: "Nein, ich bin Rockstar." Für eine Sekunde glotzen wir uns beide nur grenzdebil in die Augen. Dann wird die Stille von unserem Lachen durchbrochen. "Oh Mann, der war ja richtig schlecht... Zum Glück biste kein Stand-up-Comedian geworden." "Mit dem Gesicht? Ich bitte dich." Kuroo zieht die Nase hoch und sieht mit unfixiertem Blick die Straße rauf. "Dachte mir schon, dass ich dich hier finden würde." "Du kennst mich eben zu gut." "Willst dir die Beine vertreten vor der Busfahrt?" "Genau." Ich will nicht zugeben, dass ich eigentlich aus dem Hotel geflohen bin, um meinen Kopf wieder freizukriegen, dem wildumherbrausenden Bilderkarussell in meinem Hirn zu entkommen und um mich nicht noch vor dem Mittagessen in der Kloschüssel zu ersaufen. Aber das kann ich Kuroo schlecht sagen. "Schon 'ne komische Sache das mit der SMS heute Morgen, hm?" Rauch verlässt meine Lippen, als ich nicke. "Naja. Wollen wir 'n paar Runden um den Block dreh'n? Noch hält man es draußen aus, ohne 'nen Hitzschlag davon zu tragen. Glaub, die Fahrt wird nachher lang." "Ich dachte schon, du fragst nie." ~*~*~ Stellt sich heraus, dass Sightseeing mit Kuroo an meiner Seite genau die Ablenkung war, die ich brauchte. Historische Gebäude und lokale Sehenswürdigkeiten zu begutachten, örtliche Läden unsicher zu machen, in Modegeschäften nach überteuerten Klamotten zu stöbern und eine neue, noch dunklere, noch wuchtigere Sonnenbrille zu kaufen. Kurz überlege ich, ob ich Toshiya ein Paar schicke Ersatzschuhe besorgen soll, als ich ein Schuhgeschäft auf der anderen Straßenseite erspähe, aber nachdem er mich, meine Nerven und meinen armen krummen Rücken heute Vormittag so malträtiert hat, überlege ich es mir über den blauen Fleck an meiner Wirbelsäule reibend und leise vor mich hin brummelnd dann doch anders. Soll der doch selbst gehen! Schließlich hat er sich das selbst zuzuschreiben. Unsere Nora muss schon genug aushalten in diesem überwiegend männlichen Haufen, dessen Testosteron des Öfteren überschäumt, und dann drückt er ihr noch mehr Arbeit auf's Auge. Stattdessen kaufe ich in einem winzigen, bis zum Überquellen vollgestopften und gut besuchten Süßigkeitenladen an einer Ecke eine Schachtel Pralinen für sie. Hab gehört, die Schokolade von hier soll weltberühmt sein. Durch die mannigfaltigen Gerüche, die aus all den Restaurants und Cafés strömen, angestachelt, meldet sich nun auch allmählich mein Magen, den ich seit heute Morgen nur mit Zigaretten abgespeist habe, zu peinlich lautem gurgelndem Wort. Zum Glück befinden wir uns bereits auf dem Rückweg zum Hotel, auch, wenn wir etwas spät dran sind. Hauptsache ich kriege nicht wieder den Deppenplatz zugewiesen. Vor Kopf sitzen, ist mal so überhaupt nicht meins. Und nach Möglichkeit will ich so weit weg von Kaoru sitzen, wie es nur eben geht. Oh Mann... Gestern noch hätte ich mir eigenhändig und freudestrahlend eine Rippe aus dem Fleisch geschnitten, nur um ihm näher sein zu dürfen, und heute... Okay, vielleicht ist das etwas übertrieben, aber dennoch. Geistesabwesend betrachte ich die Pralinen, die unter einer Klarsichtfolie in einem blassrosafarbenen Schächtelchen wie ausgestellte Juwelen still da liegen. Ich stehe an einer Ampel in der sengenden Mittagssonne. Schweiß steht mir auf der Stirn und eine Haarsträhne meint sich an mein Gesicht kleben zu müssen. Neben mir pafft Kuroo lässig eine Zigarette, während er auf seinem Handy der Routenberechnung von Google-Maps folgt. Vielleicht hätte ich Kaoru auch etwas mitbringen sollen. Nur eine Kleinigkeit. Eine Aufmerksamkeit. Aber wie hätte er das aufgefasst? Ich weiß, was für eine Naschkatze er ist und dass er zu Schokolade niemals Nein sagen würde. Aber Pralinen von einem anderen Mann geschenkt zu bekommen? Und noch dazu von mir... So vertieft darin das Cœur à l'orange anzustarren, bemerke ich gar nicht, wie das Licht von Rot auf Grün gesprungen ist. Erst als Kuroo mich am Ärmel zupft, setze ich mich in Gang. Der Sonne entgegenblinzelnd folgen wir einer geraden Straße bis in unser Hotel, wo uns der kühle Lufthauch aus der Klimaanlage bereits erwartet. Ob uns die anderen auch bereits erwarten, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls haben es sich bereits alle auf ihren vier Buchstaben im Speisesaal bequem gemacht, als wir beiden Nachzügler den Raum betreten. Natürlich hat man nicht auf uns gewartet, wie ich mit verzogenem Mund feststelle. Es gibt Suppe als Vorspeise und jeder ist damit beschäftigt leise vor sich hinzulöffeln oder zu schlürfen. Das dumpfe klong klong erfüllt den gesamten Saal. Wir bahnen uns einen Weg zum Tisch, vorbei an anderen Gästen des Hotels. Geschäftsleute, schnöselig aussehende Familienväter mit ihren aufgetakelten Ehefrauen und bieder angezogenen Kindern, ältere Ehepaare auf Städtereise. An unserem Tisch nahe eines Panoramafensters sind noch zwei Plätze frei. Bevor ich tatsächlich dazu gezwungen werde vor Kopf zu sitze, schiebe ich mich an Kuroo, der sich noch höflich bei den anderen für unsere Verspätung entschuldigt, vorbei und schwinge meinen Hintern auf den unbesetzten Platz am Ende des Tisches neben Shinya. "Schmeckt's?", frag ich ihn frech, um mich herum auf dem Tisch wüst meine Habseligkeiten ausbreitend. Shinya antwortet mit einem knappen Nicken. "Du hast gekleckert", schimpfe ich mit übertrieben gespieltem väterlichen Ernst und deute auf einen bräunlichen Tropfen Suppe neben seiner Schale. "Ja... Tut mir leid...", nickt er wieder, dabei unbeirrt weiter löffelnd. "Warst du shoppen??" Toshiya, der mir schräg gegenüber sitzt, beugt sich quer über den Tisch zu mir, ohne darauf zu achten, dass er beinahe Kyo seinen Ellenbogen ins Gesicht gezwiebelt hätte. So rammdösig wie dieser aber über seiner Suppe hängt, zuckt er nicht mal mit der Wimper, als der Arm an ihm vorbeizischt. "Neidisch?" Ich nehme die neue Sonnenbrille von der Nase und schüttele schwach mein Haar als wäre ich in der billigen Kopie einer L'Oréal Werbung. Die Unterlippe leicht schmollend vorschiebend und vor sich hinmurmelnd, grapscht Toshiya nach einem Stück trockenem Brot. "Du hast 'nen Sonnenbrand auf der Nase." Alarmiert greife ich sofort in mein Gesicht, um etwaige Verbrennungen meiner Alabasterhaut zu ertasten. Da mir das allerdings keinerlei Aufschluss über den derzeitigen Zustand meines Zinkens gibt, schnappe ich mir kurzerhand mein Handy und begutachte mich in der Spiegel-Funktion der Kamera. Unterdessen höre ich schon das schadenfrohe, unterdrückte Lachen von der anderen Seite des Tisches. Über mein Handy hinweg funkele ich Toshiya giftig an. "Sehr witzig." "Find ich schon. Bambi...", prustet er und krümelt überall auf die weiße Tischdecke. "Rudolph." "Was...?" Ein langer Seufzer entfleucht Kyos Kehle. "Rudolph. Bambi ist das Reh mit der zerschroteten Mutter. Du meinst Rudolph mit der roten Nase." "Ich dachte du schläfst?" "Seh ich aus, als würd' ich die Suppe inhalieren?!" "Ich weiß nicht... Ja? Zutrauen würde ich es dir." Während sich Toshiya und Kyo gegenseitig anquaken, streiche ich behutsam über meine Nasenspitze. So schlimm ist es zum Glück nicht. Leicht gerötet, aber bei Weitem kein Sonnenbrand. Ich lege mein Handy beiseite und schaue mich nach dem Kellner um. Allmählich hängt mir der Magen in den Kniekehlen. Ich teile ein Stück Brot über meinem Teller und nage lustlos daran herum. "Er hätte mir ruhig sagen können, dass er Shoppen geht", nuschelt Toshiya, offensichtlich immer noch nicht mit dem Thema durch, seine Serviette an. "Uh-huh", antwortet Kyo geistesabwesend, ohne die Augen von seinem Teller zu heben. "Hätte er doch, oder?" "Ja", erwidert Shinya, durch Toshiyas eindringlichen Blick mehr dazu genötigt, höflich. Ich höre nur noch mit halbem Ohr zu. Fast am anderen Ende des Tisches, neben unserem eigenen Staff und den Übersee-Tourbegleiter, entdecke ich Kaoru vor einem leeren Suppenteller sitzen, das Kinn auf den Handballen gestützt, sein Handy in der Rechten umklammernd, der Bildschirm hell erleuchtet. Ein mildes Lächeln kräuselt sich um seine Lippen. Allein dieser Anblick stimmt mich augenblicklich wieder verdrießlich. Schreibt er etwa schon wieder mit seiner Freundin? Oh Miho! Wie schön war die gestrige Nacht. Nunmehr verzehre ich mich nach deiner sanften Berührung, nach deiner umschmeichelnden Weiblichkeit. Das klingt so behämmert, dass ich lachen will, aber eigentlich wird mir davon nur kotzelend. Endlich kommt ein Kellner herangeschwebt und serviert auch mir und Kuroo unsere Suppe. Ich tunke das Brot hinein und beobachte aus dem Augenwinkel heraus weiter Kaoru. "Hast du die geschenkt bekommen?", höre ich plötzlich Shinya neben mir krächzen, wobei sein Finger auf die Pralinenschachtel, die halb begraben unter meinen Zigaretten, dem Ersatzfeuerzeug, meiner Sonnenbrille, dem Handy und einem zusammengeknüllten Kassenbon vor mir liegt. Im ersten Moment bin ich verwirrt. Wer sollte mir die geschenkt haben? Heute ist doch nicht Valentinstag. Dann erinnere ich mich, dass wir uns auf Tour befinden und diese Schokolade auch gut und gerne von einem Fan hätte kommen können. "Nein, die werde ich verschenken." Shinyas Augen verengen sich kaum merklich. Beinahe beschleicht mich das Gefühl, er wolle mich ermahnen. Wahrscheinlich glaubt er, ich würde diese Pralinen in aller Öffentlichkeit Kaoru überreichen und ihn somit vor versammelter Mannschaft lächerlich machen. Also füge ich hinzu: "Die sind für Nora". Gerade laut genug, damit Shinya es mitkriegt, aber Nora, die nur wenige Plätze entfernt sitzt und sich angeregt auf Englisch mit einem internationalen Tourbegleiter unterhält, nicht. Daraufhin glätten sich Shinyas Gesichtszüge wieder. Zwar dachte ich, meine gedämpfte Stimme wäre nicht weiter über den Tisch hinweg getragen worden, allerdings vergas ich, dass Toshiyas Neugier immer die größten Ohren hat. "Für Nora?", fragt er unbehelligt, aber Gott sei Dank leise, die Schachtel ins Visier nehmend. Da ich mir soeben einen Löffel Suppe in den Mund geschoben habe, nicke ich bloß. Halb grüblerisch, halb verlegen kratzt er sich an der Wange. "Vielleicht sollte ich ihr auch was schenken. Was Persönliches... Etwas, das von Herzen kommt." "Arterien." "Danke, Kyo..." "Kein Ding." Meine verstohlen Blicke hangeln sich immer wieder am Tischläufer entlang zu Kaoru. Als sein Handy endlich seinem Klammergriff entkommt und neben der Serviette rasten darf, verlässt auch sein Ellenbogen die Tischplatte. Dahinter kommt ein halbvolles Glas Bier zum Vorschein. Es ist gerade einmal Mittag und Kaoru ballert sich einen! Ich werd bekloppt. So wie das flüssige Gold plötzlich aus seinem Versteck in den Vordergrund rückt, erinnert es mich nur allzu schmerzlich an den Knutschfleck, der auch so jählings aus den Schatten hervorsprang. Wie ein Schreckgespenst. Wie lange steht es schon da? Ist es das einzige? Hat er vorher noch mehr getrunken? Ich denke an das Bier, doch eigentlich drehen sich meine Gedanken unablässig um den Fleck. Wie ein Brummkreisel. Wie ein Schreckgespenst, das auf einem Brummkreisel reitet. Wo hat sie noch überall ihre Spuren auf ihm hinterlassen? Wo hat sie ihn überall geküsst, berührt... Ihre Krallen an ihm gewetzt. Als der Hauptgang aufgetischt wird, würge ich mit einem dicken Klos im Hals den letzten Schluck herunter. Ich bestelle ebenfalls ein Bier und schere mich herzlich wenig darum, dass augenblicklich meine geschundenen Organe stumm kreischend zu protestieren beginnen. Wie unschuldig unser gestriger Kuss war. Wie dreckig mir im Vergleich die Vereinigung zweier Menschen erscheint. Heuchler, schreit mich mein Verstand unvermittelt an. Du hättest es genauso getan. Wärst du es gewesen, der sich gestern Nacht mit ihm in den Kissen gewälzt hat, hättest du ihn übersät mit bittersüßen Malen. Du hättest alles dafür getan, dass es zwischen euch schmutzig wird. Grummelig stochere ich in meinem Essen herum. Zumindest ist meine Laune nicht die einzige, die sich spontan wieder ins Angesäuerte abseilt. Kyo macht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und wirkt so übernächtigt, dass ich mir ernsthafte Sorgen mache, er könnte vor lauter Müdigkeit gleich vom Stuhl kippen. Ab und an kann ich beobachten, wie seine Lider kurz flattern, als koste es ihn alle Anstrengung seines Körpers wachzubleiben. Unterdessen schichtet Toshiya schmolllippig dreinblickend seit zwei Minuten immer wieder mit der Gabel den Reis seines Hühnerfrikassees von einer Seite des Tellers auf die andere. Und was in Kaorus verworrenen Gehirngängen vor sich geht, vermag wohl auch nur er alleine zu sagen. Jedenfalls haben seine Gesichtszüge jetzt, wo er schweigend seinen Hauptgang vertilgt, mehr mit einer Eisenmaske als mit einem Mann aus Fleisch und Blut gemein. Einzig und allein Shinya wirkt taufrisch. Anstatt sich des Nachts auf fremden Straßen in überfüllten stickigen Bars und Clubs bei grässlicher Bumm-Bumm-Musik die malträtierte Leber zu verätzen und danach stundenlang 15 Meter über dem Erdboden in einer eisernen Sardinenbüchse eingesperrt zu hängen; sich von seiner aus heiterem Himmel aufgetauchten sukkubusähnlichen Ex-Freundin erst die Sinne vernebeln und dann von ihr um den Schlaf bringen zu lassen; es sich übermütig mit seiner weiblichen Tourbegleitung zu verscherzen; oder erst mit seinem besten Freund und dann seiner ebenfalls aus einem Riss in der Dimension herausstolzierten Freundin herumzumachen, saß Shinya wohl den ganzen Abend gemütlich auf seinem Hotelzimmer, hat in seiner mitgebrachten Lektüre geschmökert und nach einem heißen wohltuenden Bad noch vor Mitternacht den Kopf auf seidige Kissen gebetet und ist in aller Seelenruhe in einen traumlosen Schlummer gefallen... Zumindest spinne ich mir das gerade in meinem Hirn so zusammen. Je länger ich Kaoru beim Kauen zugucke, umso mehr ist mir danach mich in meiner Eifersucht und meinem Missmut zu suhlen. Seit ich hier sitze, hat er mich keines einzigen Blickes gewürdigt! Was wollte er mir vorhin bloß sagen? Werde ich es je erfahren? Muss ich dumm sterben? Lässt er mich am langen Arm verhungern? Darf ich mir selber in meiner drömeligen Rübe zusammenreimen? Die, ich habe diese Spielchen jetzt lang genug geduldet, aber damit muss jetzt Schluss sein. Ich durchbohre ein Stück Fleisch mit der Gabel. Lächerlich. ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 13: Von Aufzügen und Treppenstufen. ------------------------------------------- Mit Müh und Not habe ich es geschafft mein Mittagessen runterzuwürgen. Erstaunlich, wie sehr mir der heutige Tag bereits auf den Magen geschlagen ist. Dabei war das Letzte, was ich gestern gegessen und von dem ich bis vorhin gezehrt habe, ein paar Snacks aus dem Hotelautomaten, welche nun wirklich herzlich wenig nahrhaft sind. Eine Rolle Toilettenpapier hätte wahrscheinlich mehr Brennwert als diese krümeligen, ungesalzenen Kartoffelchips. Trotzdem ist mir der Hunger während des Essens vergangen. Habe nur noch gegessen, weil ich essen muss. Und jetzt fühle ich mich zu voll, um mich überhaupt bewegen zu wollen. Das Essen hier drüber macht mich immer regelrecht kaputt. Ich vermisse japanisches Essen. Ich sehne mich nach einer guten Miso-Suppe mit Tofu. Nach einem herzhaften Käseomlette. Auch wenn mir gerade speiübel ist. Unsere Gesellschaft verlässt den Speisesaal. Zwar bin ich mal wieder hauptsächlich mit mir selbst und meinem eigenen kleinen Minikosmos beschäftigt, aber was für gemischte Gefühle auch bei den anderen herrschen, ist mir nicht entgangen. Die seltsamen Geschehnisse von heute Vormittag sind an keinem so recht vorübergegangen. Dass jemand all unsere Kontaktdaten zu besitzen scheint und uns an der Nase herumgeführt hat, hat nicht nur für Verwirrung gesorgt, sondern auf Seiten des Managements auch allgemeine Besorgnis erregt. Als ich Nora auf dem Weg hinaus darauf anspreche, erklärt sie mir, dass unsere internationale Tourbegleitung ihr gegenüber lockerer darauf reagiert zu haben scheint. "Ich glaube, die denken das war nur ein Scherz und dass es einer von uns gewesen ist." "Denkst du das denn auch?", frage ich, mich vorsichtig an teilweise vollbesetzten Tischen vorbei bugsierend, um nicht irgendeinen grimmig dreinblickenden Ausländer beim Suppeschlürfen anzurempeln. "Ich weiß es nicht. Unter westlichen Bands ist es wohl gar nicht so ungewöhnlich, sich solche Art von Streichen auf Tour zu spielen. Aber der Manager hat trotzdem versucht den Anruf zurückzuverfolgen. Allerdings ohne Erfolg. Herr Masuda sagt, wir sollten unbekannte Nummern vorsichtshalber ignorieren, und dass weiterhin versucht wird, der Sache auf den Grund zu gehen." Da ich nicht recht weiß, was ich darauf erwidern soll, nicke ich bloß. Wir sind die Letzten, die den Saal verlassen und zu dem Rest der Gruppe bei den Fahrstühlen aufschließen. Weiter vorne erspähe ich Kaorus dunklen Hinterkopf zwischen den Roadies hervorlugen. Neben ihm steht Toshiya, der in dieser Sekunde über seine Schulter zu uns herüberblickt, sich jedoch hastig, nervös blinzend, wieder von uns abwendet. Ich kann beobachten, wie sich Noras Oberlippe ganz langsam in einer Mischung aus Schmollen und Verärgerung zu kräuseln beginnt, während ihre Augen winzige Blitze in Richtung Toshiya abfeuern. Nachdenklich, mit mir selber ringend, reibe ich meinen Nacken. Ich schnalze mit der Zunge und halte ihr kurzentschlossen die Schachtel Pralinen hin. Noras weitgeöffnete Augen starren mich verdattert an. Als würde ich ihr gerade eine fette warzige Kröte entgegenstrecken. "Was ist das?" "Für dich", entgegne ich so trocken wie nur irgend möglich und mache eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf gen Fahrstuhl. "Von Toshiya. Es tut ihm leid, was er von dir verlangt hat. Traut sich nicht, es dir selbst zu geben." Immer noch glotzt sie mich wie perplex an. Langsam wird es mir unangenehm. Ich komme mir vor, als wäre ich wieder in der Oberstufe und würde einem Mädchen zum White Day etwas Süßes zur Bestätigung ihrer Gefühle schenken. "Nun nimm schon." Ohne noch länger zu fackeln, drücke ich ihr die Schokolade einfach in die Hände, bevor ich noch rot anlaufe und die Situation noch falscher aussieht, als sie es eh schon tut. "Es tut ihm leid...?", fragt sie mit solch Unglauben in der Stimme, dass es ich mich ernsthaft wunder, wie ungeschickt und unmöglich sich Toshiya ihr gegenüber eigentlich verhalten hat. "Ja. Und nicht nur, weil er seinen Schuhen nachtrauert." "Nach... trauert?" "Sag mal, hast du 'nen Papagei verschluckt?" Die Schlange vor uns wird kürzer, nachdem sich bereits einige mit dem Fahrstuhl nach oben begeben haben, und ich schließe zwei Schritte auf. "Nein. Aber warum nachtrauert? Ich habe sie ihm doch vor die Tür gestellt." "Vor die Tür gestellt??" "Wer ist jetzt der Papagei...", höre ich Nora leise in ihren nicht vorhandenen Bart nuscheln; das Knistern der Plastikverpackung der Pralinen in ihren Fingern verschluckt ihre Worte beinahe. "Ich wollte sie ihm persönlich überreichen, als ich heute Früh mein Zimmer verlassen habe, aber er hat die Tür nicht aufgemacht - ich glaube es war zu früh und er hat noch geschlafen - also habe ich sie ihm davor gestellt." "Tja..." Ich kratze mich an der Wange. Soeben verschwinden Toshiya, Shinya, Kyo, Herr Masuda und die Roadies hinter sich schließenden Fahrstuhltüren. "Dann muss sie jemand geklaut haben." "Nicht dein Ernst?!" "Wäre nicht das erste Mal, dass wir auf Tour beklaut werden." Ich sollte nicht lachen, aber irgendwie passieren uns immer so dämliche Sachen und somit kann ich einfach nicht anders. Wer würde schon ein paar durchgegaste Schuhe in einem Hotel stehlen? Vielleicht irgendein kleptomanisch veranlagter Fan. "Und was mache ich jetzt?" Bedröppelt sieht Nora zu mir hoch, während ich mir gerade die Sonnenbrille ins Haar stecke. "Dich freuen, dass es nicht Kaorus oder Kyos Schuhe waren." Mit den Fingern zupfe ich mein T-Shirt zurecht. Da sie mich erneut nur anstarrt, schiebe ich noch nach: "Keine Sorge, ich werd's ihm schon an deiner Stelle verklickern. Er ist sowieso mucksig, dass ich ohne ihn Shoppen gegangen bin. Dann suchen wir ihm halt in der nächsten Stadt ein neues Paar aus. Halb so wild." Durch mein aufmunterndes Grinsen beruhigt, stößt sie einen kurzen Seufzer aus. "Danke. Und Danke für die Pralinen." Sie zeigt auf einen Aufzug, der gegenwärtig wieder unten angekommen ist und bereits von weiteren Mitgliedern unseres Staffs bestiegen wird. "Nehmen wir den auch?" Kurz überlege ich, ob ich sie darin einweihen soll, was mir vergangene Nacht in dieser Blechbüchse widerfahren ist - natürlich ohne die pikanten Details - entschließe mich dann jedoch dagegen und antworte: "Geh ruhig schon vor, ich wollte mir noch was aus dem Snack-Automaten da vorne ziehen." "Ganz wie du willst." Damit flitzt sie achselzuckend rüber in den Fahrstuhl, dessen Türen gerade noch von einem internationalen Tourbegleiter für sie offen gehalten werden. Sofort mischt sich ihre Stimme in das muntere englische Gebrabbel im Innenraum. ka-chunk, die Türen schließen sich und ich stehe alleine im Foyer. ~*~*~ Zwar war es nur ein Vorwand, um Nora nicht erklären zu müssen, warum ich nach dem gestrigen Horror im Fahrstuhl des Grauens, den ich immer noch nicht mental überwunden habe, keinen Fuß mehr in ihn zu setzen gedenke, aber jetzt stehe ich tatsächlich vor dem Automaten und werfe eine Münze hinein. So wie vor knapp zwölf Stunden. Mit einem Schokoriegel bewaffnet, wende ich mich dem Treppenhaus zu. Ich übertrete die Schwelle der Feuerschutztür und will soeben nach links gen Aufstieg abbiegen, als ich mitten in der Bewegung erstarre. Auf der zweiten Stufe, mit dem Rücken an die kitschig tapezierte Wand gelehnt, steht Kaoru. Abermals das Telefon in der Hand. Möglicherweise hatte er über Nacht einen schrecklichen Laborunfall, der ihn unwiderruflich mit seinem Mobilfunkgerät verschweißt hat. Oder warum hängt er schon wieder ununterbrochen mit der Nase im Display? Durch das dumpfe Geräusch meiner Schritte auf dem Teppichboden von mir Notiz nehmend, hebt sich sein zuvor angestrengt wirkender Blick und wandert zu mir herüber. Seit er mich und Toshiya vorhin aus seinem Zimmer gescheucht hat, haben wir einander nicht mehr in die Augen gesehen. Jetzt fühlt es sich so an, als würde alles Blut in meinen Wangen hinab in meine Zehenspitzen schießen. Da ich ihn anscheinend derzeit anglotze wie eine Kuh, wenn's donnert, hebt sich Stück für Stück seine rechte Augenbraue. Sein rechter Mundwinkel tut es ihr gleich. "Wie ich sehe, bist du auch aufs Treppenkraxlen umgestiegen." Sein strahlend schönes Lächeln blendet mir entgegen. Augenblicklich katapultiert sich das erst vor ein paar Sekunden abgesackte Blut wieder zurück in meine Wangen. Mich beschleicht das unwohle Gefühl, dass er mich hier abgepasst hat. Als hätte er genau gewusst, dass ich früher oder später hier auftauchen und die Treppe nehmen würde. Den Rücken von der Wand gelöst, schiebt er das Handy zurück in seine hintere Hosentasche. "Wollen wir zusammen hochgehen?" Ich schlucke. "Nur wenn du mir versprichst, mich nicht die Treppen runterzuschubsen und nachher versuchst es wie einen Unfall aussehen zu lassen." Kaorus warmes, herzhaftes Lachen erfüllt das gesamte Treppenhaus. Ich möchte mich auf den Boden schmeißen und mich in meinen eigenen Tränen wälzen, so schön klingt es in meinen Ohren. "Kann ich nicht versprechen", sagt er mit gekräuselten Lippen und dem Ausdruck eines frechen Katers in den Augen. Die Wahrheit ist, ich würde barfuß bis zum Mond latschen, wenn er mich darum bitten würde ihn dorthin zu begleiten. Trotzdem traue ich seinem Lachen nicht. Warum hat er so unverschämt gute Laune? Hat er nicht bis gerade eben noch ernst auf sein Handy geglotzt? Fuck, stimmt ja. Wie konnte ich das vergessen? Herr Brummbart hatte ja vergangene Nacht das Glück sich nach Herzenslust von seiner Freundin durchbügeln zu lassen. Kein Wunder. Danach würde ich auch strahlen wie'n Honigdachs. Erst steckt der mir im Aufzug seine Zunge in den Hals und dann vergnügt er sich auf seinem Zimmer mit wem anders! Verflucht sei diese scheiß moderne Technik. Ohne diese aufdringlich bimmelnden Funkfernsprecher wäre ich gestern derjenige gewesen, mit dem Kaoru Ehrenrunden auf der Liebesgondel gedreht hat und nicht Miho. Was auch immer das heißen mag. Ist mir doch egal. Vielleicht sollte ich Kaoru doch auf den Mond schießen. Im Handumdrehen würden sich alle meine Sorgen in Luft auflösen und wieder Normalität in mein Leben einkehren. Wie ich das dann allerdings meinen Bandkollegen erklären sollte, weiß ich auch nicht. Vielleicht würde es genügen in Zukunft Kaorus Gitarrenparts als Playback einzuspielen und auf der Bühne einen Pappaufsteller an seiner statt zu platzieren. Würde der Unterschied jemandem auffallen? Nein, das ist fies. Das klingt so, als würde sich Kaoru auf der Bühne gar nicht bewegen. Manchmal blinzelt er ja auch. Die Eifersucht grassiert in meinen Eingeweiden wie Schimmel auf einem alten Stück Brot. Dabei will ich sein Lächeln erwidern und mit ihm unbeschwert Seite an Seite nach oben schlendern. Was also bildet sich mein verqueres Gehirn ein, mir solch widerliche Gedanken einzupflanzen, die ich doch in mir vergraben will? Ebenso wie unser Kriegsbeil. Mir kommt es vor, als würden Minuten verstreichen, in denen ich bloß bärbeißig den Evakuierungsplan an der gegenüberliegenden Wand anschmolle, obgleich es vermutlich nur wenige Wimpernschläge sind. Ein Schwall aufgestaute Luft bringt meine Nasenflügel zum Erbeben. "Na gut, aber wer zuletzt oben ist, ist 'ne lahme Ente!" Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kaoru meine Flunsch nicht entgangen ist, trotzdem lässt er sich davon nichts anmerken. Stattdessen erklingt erneut sein Lachen, dieses Mal in Form eines matten Glucksens. "Verstanden..." Unbeirrt stapfe ich schnellen Schrittes an ihm vorbei die Treppe hoch, dabei immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Die Plastikverpackung des Schokoriegels knistert in meinem Griff. Nachdem wir die Stockwerke unbehaglich schweigend erklommen haben und fast oben angekommen sind, erhebt Kaoru dicht hinter mir leicht aus der Puste plötzlich die Stimme. "Ich weiß, dass ist jetzt kein sonderlich guter Augenblick dafür", beginnt er, "aber ich muss dir unbedingt was sagen." "Wenn es Ausreden oder Entschuldigungen sind, will ich es nicht hören." "Das zwischen uns, das geht nur uns beide was an." Meine Schritte werden langsamer. Ich zögere. Dann bleibe ich doch stehen und drehe mich zu ihm um. Am liebsten würde ich sofort lospoltern, was zum Kuckuck er damit meint, aber er kommt mir zuvor, ehe ich Luft holen kann. "Hör zu." Er steht zwei Stufen unter mir, blickt mit seinen tiefschwarzen Augen zu mir herauf. Ich bin verunsichert, warte darauf, dass er weiterspricht. "Was ich gestern getan habe..." "Ich verstehe nicht-?" "Können wir uns darüber unterhalten, wenn wir alleine sind?" "Wir... sind gerade allein." Mit skeptisch hochgezogener Augenbraue blickt Kaoru über seine Schulter und im Treppenhaus herum, während durch die geschlossene Feuerschutztür des Stockwerks unter uns gedämpftes Teenagergejohle zu uns hinauf dringt. "Ich meine wirklich allein." "Und warum fängst du dann ausgerechnet damit an, wenn wir im Treppenhaus stehen?" "Weil ich es dir heute Morgen nicht sagen konnte. Und ich es dir gleich, wenn wir wieder stundenlang im Bus sitzen, auch nicht mehr sagen kann. Also... Können wir später reden? Unter vier Augen. Alleine. Vielleicht in meinem Hotelzimmer?" Der giftige Gedankencocktail in meinem Kopf beginnt sich erneut zu einem reißenden Strudel zu formen. Wie mechanisch antworte ich: "Okay." "Kannst du solange warten?" Kann ich solange warten, fragt der mich... Ich warte schon so lange auf diesen Zug, der nicht ankommen will, dass ich das Gefühl habe von Anfang an am falschen Bahnhof gestanden zu haben. "Kaoru... Ich hab es satt, dass wir uns andauernd an die Köpfe kriegen." "Ich auch." Da ist sie wieder. Diese Anspannung zwischen uns. Und ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Am liebsten würde ich ihn erwürgen. Am liebsten würde ich ihn umarmen. Am liebsten würde ich ihn so fest umarmen, dass ich ihn erwürge. So voller Wut, so voller Sehnsucht nach ihm bin ich. Stattdessen bringe ich mal wieder nichts Vernünftiges hervor, murre bloß kleinlaut die Kitschtapete neben mir an: "Dann ist ja gut..." Als mir kurz darauf der scharfe Geruch von Kaorus Rasierwasser in der Nase kitzelt und ich meinen Blick wieder von ihr löse, sehe ich gerade noch Kaoru lässig an mir vorbeitigern. Erneut mit diesen gekräuselten Lippen. Dichter an mir als am Geländer. Für den Bruchteil einer Sekunde streift sein Handrücken den meinen. "Na, dann komm. Oder willst du ein lahmer Esel sein?" Wie eine zu eng gewordene Maske platzt der düstere Ausdruck mit ohrenbetäubendem Scheppern von meinem Gesicht. "Eine Ente! Eine lahme Ente hab ich gesagt!" "Tatsächlich? Aber für mich siehst du viel mehr nach einem Esel a-" Was tun meine Hände da? Warum gehorchen sie meinem Körper nicht? Ich greife nach seinem schmalen Handgelenk, erwische es ohne Mühe und ziehe es zu mir heran, ihn zu mir herum. Er, der nun eine Stufe über mir steht. Er, der nun auf Augenhöhe mit mir ist. Er, dessen warme Haut von meiner Handfläche umschlossen wird. Er, dessen Pupillen sich vor Schreck kaum merklich weiten, dessen Lippen sich einen Spalt öffnen, dem für einen Moment das süffisante Lächeln entglitten ist. Er, der mich Esel nennt. Ich stopfe ihm den Schokoriegel in seine verflucht weiche Hand, remple ihn mit der Schulter beiseite und dränge mich an ihm vorbei die Treppe hoch, sanft - will ja nicht, dass er mir gleich wie ein spiddeliger Ast in zwei Teile zerbricht - und stratze die letzten Stufen zu unserem Stockwerk hoch, wo ich die Tür in den Flur aufstoße und mich schwungvoll nochmal zu ihm umdrehe. "Quak quak, Kaoru." Frech stecke ich ihm die Zunge raus, während er immer noch stocksteif, den Schokoriegel haltend, unten steht und zu mit heraufgafft. Ich hätte ihn gerade auch küssen können. Ich hoffe, er weiß das. ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 14: Unverhofft kommt oft. --------------------------------- "Ich weiß, wer diese Nachricht verschickt hat." Es ist halb vier. Ich liege wie ein abgewrackter D-Promi weitab der anderen auf der Rückbank unseres Tourbusses, ein lauwarmes, kaum angenipptes, langsam schalwerdendes alkoholfreies Bier in der Hand und betrachte die vorbeiziehende Landschaft hinter der getönten Scheibe. "Wie?" Bräsig löse ich ein Auge von den sonnigen Hügeln und lasse es an der schwarzen, an den Knien zerrissenen Hose neben mir herunterwandern. Die Beine, die in ihr stecken, gehören Kyo. Mein Chamäleonauge rollt zurück nach oben in sein Gesicht. Wild fallen ihm ein paar blondierte Strähnen in die Stirn. Auf seiner rechten Wange klebt Schokolade. "Ich hab mal ein bisschen nachgeforscht." "Häh?" Da ich bis eben noch geistig auf der gleichen Umlaufbahn wie Pluto unterwegs war, fällt es mir schwer, diesem plötzlichen Konversationsversuch auf Anhieb zu folgen. "Die Nachricht, die heute Morgen auf unser aller Handy eingegangen ist. Ich hab nachgeforscht", wiederholt Kyo ohne eine Miene zu verziehen und lässt sich neben mir auf die Polster sinken. "Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?" Erst jetzt sehe ich, dass er seinen Laptop mitgebracht hat. Andächtig platziert er ihn auf seinen Oberschenkeln. "Doch. War gar nicht so schwer. Sieh mal. Ich hab einfach ein bisschen rumgegoogelt und bin dann darauf gestoßen, dass die Telefonnummer, von dem die Nachricht an uns alle versandt wurde, wahrscheinlich von einem Wegwerf-Handy stammt." Erwartungsvoll nehme ich einen Minischluck. "Und?" "Wegwerf-Nummern kann nur die Polizei nachverfolgen." Beinahe spucke ich das Bier wieder zurück in den grünen Flaschenhals. "Und woher weißt du dann, wer die Nachricht verschickt hat?!" Während ich mich fast an meinem eigenen Sabber verschlucke, zuckt Kyo bloß mit den Achseln. "Ich hab angerufen." "Und wer war dran?" "Eine Frau vom Flughafen." "Was?" Jetzt muss ich mich doch langsam aufrecht hinsetzen. "Richtig. Was hat die mit uns zu tun? Ich war auch erst verwirrt. Aber soviel ich von ihrem Englisch verstanden habe, hat man das Telefon auf einem Sitz am Flughafen gefunden und es bei ihr abgegeben." "Und? Jetzt wissen wir doch immer noch nicht, wem dieses Handy gehört." Mit dem Handrücken wische ich einen bitterschmeckenden Speichelfaden von meiner Unterlippe. Unterdessen beugt sich Kyo zu mir herüber, sich mit der Hand an der oberen Klappe seines Laptops festhaltend, und sieht mich eindringlich an. "Denk noch mal genau nach. Wer ist heute Morgen zum Flughafen gefahren, den wir kennen?" "Keine Ahnung, Alter." Genervt von dieser Geheimniskrämerei und der Tatsache, dass mir jetzt Hopfentee in den oberen Atemwegen kratzt, zerwuschel ich mein Haar, bis es in alle Richtungen absteht. "Die. Du hast diese Person sogar gesehen." "Wann?" "Vor Kaorus Hotelzimmer?" "Was? Du meinst...?" So langsam fällt der Groschen. Und mir fast das ganze Gesicht auf den Boden. "Ja." Geräuschvoll klappt Kyo seinen Laptop zu. "Aber... Aber warum?" "Du weißt warum." "Aber..." "Wer sonst hat Zugriff auf all unsere Rufnummern und weiß zufälligerweise genau wie Kaoru schreibt UND ist vorhin zum Flughafen gereist, wo sie aus Versehen ihr Handy verloren hat?" "Aber wieso sollte Kaorus Freundin das getan haben?" Kyo schnalzt mit der Zunge und verschränkt die Arme vor der Brust. "Ganz einfach: Um dich auszuspielen." Mir wird schwindelig - und an dem kaum angerührten Bier kann es nicht liegen. Ich starre Kyos Profil an. Seine Stirn liegt in Falten. Ich folge seinen Handbewegungen, während er spricht. "Sie musste dich ja irgendwie vor Kaorus Zimmer locken, damit du sie auf jeden Fall siehst, wie sie sich möglichst dramatisch und süßlich von ihm verabschiedet und es den Anschein erweckt, als wären sie Hals über Kopf in einander verliebt, obwohl - du erinnerst dich sicherlich noch? - die beiden sich gerade erst heftig über Textnachrichten gezofft haben. Aber damit es nicht zu auffällig ist, dass nur du diese SMS mit der angeblichen Abfahrtszeit erhältst, hat sie sie direkt an alle verschickt und ein Wegwerf-Handy benutzt, so dass es niemand bis zu ihr zurückverfolgen kann. Sonst hätte Kaoru doch sofort gewusst, dass es sich bei der Nummer um ihre handelt. Am Flughafen hat sie es dann einfach irgendwo liegen gelassen, um es loszuwerden." "Kyo..." "Ja?" "Du bist ein Fuchs." Er schnaubt. "Ich weiß." Ich stecke die Flasche in den Getränkehalter neben mir und reibe mir in kreisenden Bewegungen mit den Handballen über Augen und Schläfen. "Trotzdem will es immer noch nicht in meinen Schädel rein, wieso sie so weit gehen würde. Sie sieht überhaupt nicht aus wie eine, die sich zu solcher Manipulation herablassen würde." Sich weit in die Polster zurücklehnend, den Kopf in den Nacken gelegt, erwidert Kyo: "Lass dich nicht von ihrer unschuldigen Ausstrahlung täuschen. Salz sieht auch auf den ersten Blick aus wie Zucker..." Da sind sie wieder. Kyos Sprichwörter. "Wenn du dich nicht von ihr austricksen lassen und durch ihre Spielchen bei Kaoru in Ungnade fallen willst", fährt er mit Blick an die Decke fort, "rate ich dir, sie auf gar keinen Fall zu unterschätzen. Auch wenn ich vermute, dass sie dir bloß den Wind aus den Segeln nehmen wollte, halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass sie auch zu anderen Mitteln greifen würde." "Frauen sind echt gruselig." "Wem sagst du das", brummelt er leise, die Hand auf seine linke Wange gelegt. Für eine Weile verfallen wir beide in tiefes Schweigen. Erst als der Bus durch ein Waldstück fährt und ich das Gesagte in meinem Kopf wieder und wieder Revue passieren lassen habe, kommt mir plötzlich ein Gedanke. Ich tippe Kyo, der mit geschlossenen Lidern regungslos neben mir verharrt, auf den Oberarm. "Weißt du, was mir gerade einfällt?" "Was denn?", fragt er ohne die Augen zu öffnen. "Toshiyas Schuhe." "Häh?" "Du weißt doch, dass er sie Nora zum Putzen aufs Auge gedrückt hat, sie aber nie wiedergesehen hat." "Weiß ich...?" "Kann gut sein, dass du heute Morgen noch im Halbschlaf warst... aber an Toshiyas nackte Füße erinnerst du dich doch wohl noch?" "Ungern." "Auf jeden Fall hat mir Nora vorhin verklickert, dass sie sie, obwohl sie sauer auf ihn war, doch geputzt und vor seinem Hotelzimmer abgestellt hat. Aber laut Toshiya standen vor seiner Tür keine Schuhe. Glaubst du, Kaorus Freundin könnte sie gestohlen haben, weil sie dachte, es wären meine?" Ein Auge öffnet sich. Nachdenklich zieht er eine Schnute. "Hmm... Möglich. Wenn sie wusste, wo unsere Hotelzimmer ungefähr lagen. Aber wann soll sie das bewerkstelligt haben?" Darauf mag mir auch nicht so recht eine Antwort einfallen. Das Auge schließt sich wieder. "Ich vermute, die hat sich jemand vom Hotelpersonal gemopst." "Und was, wenn es sich bei all dem doch um einen Stalker handelt?" "Der uns bloß veräppeln will?" Ich nicke - auch wenn er das nicht sehen kann. Kyo lacht trocken. "Tja, wäre nicht das erste und vermutlich auch nicht das letzte Mal." ~*~*~ Von der heutigen Busfahrt, die sich mal wieder stundenlang hinzieht, tut mir diesmal ganz besonders der Hintern weh, also laufe ich, während wir über den Asphalt rumpeln, wie Falschgeld im hinteren Teil des Busses auf und ab. Meinen gemütlichen Gammelplatz auf der Rückbank habe ich längst an Kyo verloren, der sich dort langgemacht hat und nun mit dem Kopf auf der Sitzfläche die Milben beim Hautschuppendinieren belauscht. Nach wie vor spuken mir seine Worte in den Hirnwindungen herum. Doch egal wie oft ich diese Geschichte durchspiele, ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Kann es wirklich sein, dass Miho - mir läuft es stets wie eiskalte Spinnenbeine den Rücken herunter, wenn ich ihren Namen auch nur denke - so weit gehen würde? Weil sie mich als eine Bedrohung ansieht? Wir kennen uns ja nicht mal. Hab ich überhaupt nur ein Wort mit ihr gewechselt? Wie lange hat das gedauert, alle wichtigen Telefonnummern aus Kaorus Kontakten auf das Wegwerf-Handy zu übertragen? Das alles nur, um mich eifersüchtig zu machen? Nein, um mich in die Schranken zu weisen. Wäre das nicht auch auf natürliche Weise gegangen? Und wenn die Nachricht doch nichts mit ihr zu tun hat? Manchmal lässt man sein Handy ja eine Zeit lang unbeaufsichtigt irgendwo liegen, vielleicht hat da jemand die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und sämtliche Kontakte von einem von uns auf sein eigenes Handy kopiert. Aber wer ist so unterbelichtet keine Passwortsperre auf seinem Handy einzurichten? "'tschuldigung, darf ich mal vorbei?" Jäh zerreißt Toshiyas Stimme meine verhedderten Gedankenfäden. Erst mit seinem Eintreffen bemerke ich, dass ich angewurzelt wie eine von Stürmen gepeitschte Trauerweide mitten im Gang stehe und melodramatisch aus dem Fenster starre. "Äh... Hm. Sicher...", presse ich hervor und mache anstatt einen Schritt nach hinten, einen Schritt näher zur Fensterscheibe, um ihn an mir vorbeizulassen. Meine Nasenspitze berührt das kühle Glas, während Toshiya sich an mir vorbeischiebt. Dass er die Schiebetür, die den hinteren Lounge-Bereich von den Schlafkojen trennt, auf und auch wieder zugeschoben hat, hab ich gar nicht mitbekommen. "Sei froh, dass du nicht vorne bist", sagt er und lehnt sich mit dem unteren Rücken gegen einen Wandschrank links von mir. Auf meinen fragenden Blick hin fügt er schräg grinsend hinzu: "Kaoru zupft schon die ganze Zeit weichgespülte Melodien auf seiner Gitarre." Seine Oberlippe zuckt nach oben, kurz blitzt der Metalldraht über seinen Zähnen auf, während er eine imaginäre Gitarre zu spielen anfängt und dabei so tut, als wäre er Kaoru. "Was ein Angeber, nicht? Nur weil der über beide Ohren verliebt ist." Ich gebe ein unschönes Grunzen von mir, lasse meine Stirn gegen die Glasscheibe prallen. Vier mal - jedes Mal ein wenig fester. "Tja, so ist das wohl. Frag mich, wie sich das anfühlen muss." Was wie ein trockenes Lachen klingen sollte, ähnelt mehr dem Geräusch eines vom Himmel herunterkrachenden Klaviers. Ich spitze meine Ohren, kann von der vermeidlich spielenden Gitarre aber keinen Ton erhaschen. Zu laut sind die auf Hochtouren arbeitende Klimaanlage und das tiefe Brummen des Busmotors. Toshiya, der meinen beißenden Unterton entweder gekonnt überhört oder vielleicht auch einfach anders interpretiert hat, greift unvermittelt mit seinen Pranken nach meinen Schultern und schüttelt mich durch als wäre ich ein Apfelbaum. Ohne diese Geste zu kommentieren, lässt er mich so plötzlich, wie er mich überfallen hat, wieder los. Ist das eine von diesen sonderbaren westlichen Verhaltensweisen, die er sich von den diversen Bands, mit denen wir rumgereist sind, abgeguckt hat? Sollte mich das jetzt trösten? Als ich mich zu ihm wende, hängt er bereits am Handy. "Hier." Er hält mir das Display vor die Nase. "Da will ich nachher hin." Im Webbrowser ist die Seite eines Designerschuhladens geöffnet, der sich in der gleichen Stadt befindet, in der wir morgen ein Konzert geben werden. Einige Zeit nachdem wir losgefahren waren, habe ich Toshiya die Sache mit seinen verschollenen Schuhen beigebracht. Auch, dass ich Nora die Pralinen in seinem Namen überreicht habe, habe ich ihm gesagt. Er hat es mit Fassung getragen. "Jetzt hab ich wenigstens eine Ausrede da reinzugehen." Er zieht das Handy wieder weg und scrollt eine Weile ohne hochzusehen durch die Seite. "Du kommst doch mit, oder?" Ehe ich antworten kann, sagt er: "Und wenn du nicht mit willst, schlepp ich eben Kyo mit." "Das will ich sehen." Dieses Mal ist mein Lachen tatsächlich trocken. "Vielleicht sollte ich auch Nora mitnehmen. Quasi als Strafe, dass sie meine Schuhe unbeaufsichtigt vor meiner Tür ausgesetzt hat." "Vorhin wolltest du ihr noch was schenken." "Will ich immer noch. Was Richtiges. Was von mir persönlich kommt, nicht in meinem Namen verschenkt wurde. Vielleicht nehm ich sie mit in den Laden, scheuch sie durch die Gegend und lass sie mir alles nach tragen und kauf ihr am Ende ein schickes Paar Schuhe." "Du bist wirklich ein herzensguter Mann." "Danke." Meine Hand gleitet in meine Hosentasche. Jetzt ist so langsam der Punkt erreicht, an dem ich echt 'ne Zigarette vertragen könnte. Leider ist Rauchen nur vorne im Bus gestattet. "Naja. Ich guck dann mal, wie die Luft vorne so is'." Demonstrativ lasse ich die Glimmstängel in der Schachtel rappeln. "Yo." Als ich die Schiebetür hinter mir schließe, sehe ich noch wie Toshiya sich gerade an der Minibar bedient. Ich durchquere den Gang mit unseren Schlafkojen. Die funzelige Deckenleuchte spendet gerade soviel Licht, um sich nicht der Länge nach auf die Fresse zu legen. Konturenlos fällt mein Schatten auf die Schiebetür vor mir. Bevor ich sie aufziehe, halte ich kurz inne und horche. Die sanften Klänge einer Akustikgitarre dringen durch das Holz. Sonst nichts. Kaoru hebt nur eine Augenbraue, als ich herein komme. Die linke Seite - die sich gegenüber liegenden Sitzbänke und der Tisch - sind mit Kaorus allgemeinem Klimbim übersät. Als hätte jemand eine Piñata gefüllt mit seinen Habseligkeiten darüber zerschlagen. Ein aufgeklappter Laptop, auf dem der Bildschirmschoner läuft, kreuz und quer liegende Notenblätter, teils blanko, teils bekritzelt, ein unangerührtes Notizbuch, seine Sonnenbrille, eine Ansammlung von Markern und Schreibern, davon einer ohne Kappe, eine Coladose, sein verflixtes Handy, Feuerzeug, Zigaretten und der dazugehörige, reichlich bestückte Aschenbecher. Wie mein Blick so über die Tischplatte schlittert, fällt er auch unweigerlich auf die achtlos zusammengeknüllte Verpackung eines Schokoriegels. Meines Schokoriegels. Den, den ich Kaoru eingeschnappt im Treppenhaus in die Hand gedrückt habe. Er hat ihn gegessen. Ich weiß auch nicht, was mich daran gerade so empört. Und sitzend vor all dem: Kaoru und seine dämliche hochgezogene Augenbraue. Die rechte Seite sieht dagegen um einiges ordentlicher aus. Versteckt hinter einem Taschenbuch und mit Kopfhörern auf den Ohren sitzt Shinya starr wie ein Ölgötze am Fenster und liest. Anders als Kaoru schaut er jedoch kurz auf und nickt mir kaum wahrnehmbar zu, während ich es mir gegenüber von ihm bequem mache. Ich ertappe mich dabei, wie ich darüber nachdenke, was wohl mit Kaorus ganzem Unrat passieren würde, wenn der Bus nun eine Vollbremsung hinlegen würde. Wir sind zur Zeit nur auf der Landstraße unterwegs, aber mutig ist es allemal. Ich angele mir einen Aschenbecher, klopfe eine Zigarette aus dem angebrochen Päckchen und zünde sie an. Abwesend, mit dem Blick nach draußen gerichtet, höre ich Kaorus Gitarrenspiel zu. Es klingt sehnsüchtig, aber von Schmalz keine Spur. Toshiya, der alte Übertreiber. Der Rauch verlässt meine halbgeöffneten Lippen, steigt zur Decke hinauf, wo er sich allmählich verliert und mit der Luft vermischt. Sollte ich Kaoru von dem Verdacht erzählen, den Kyo und ich hegen? Würde er mir glauben? Würde er es für möglich halten? Ich nage meine Unterlippe an. Aber was, wenn es gar nicht stimmt? Würde ich es mir wieder mit ihm verscherzen? Dass ich seiner Liebsten so etwas vorwerfe. Asche rieselt in die Glasschale. Vielleicht sollte ich es für mich behalten, bis ich mir sicher bin. Ihn darauf anzusprechen, könnte genau das sein, was sie geplant hat. Wenn sie uns gegeneinander ausspielen will, wäre es wohl am einfachsten Zwietracht zwischen uns zu säen. Auf wessen Seite würde sich Kaoru wohl eher schlagen? Auf die seiner honigsüßen Freundin, der man doch bereits an der Stubsnasenspitze ansehen kann, dass sie keiner Fliege etwas zu Leide tun könnte oder seinem langjährigen Bandkollegen, der nachweislich bisweilen zu Paranoia und Überreaktion neigt? Die Klänge verstummen. Ohne den Kopf zu sehr zu drehen, werfe ich einen verstohlenen Blick zu Kaoru herüber. Er sieht mich an. Ausdruckslos. Es ist mir beinahe unangenehm. Weil mehrere Sekunden vergehen und er einfach nichts sagen will, führe ich meine Hand wie in Zeitlupe zu meinen Lippen und nehme einen langen, kräftigen Zug. Qualm wabert aus meinem Mund. "Was'n?" "Findest du nicht auch, dass der Klang einer einzelnen Saite so viel mehr ausdrücken kann, als alle Worte zusammen?" Mir ist, als hätte mir jemand ein Brett vor den Kopf genagelt. "Ist doch seltsam, oder?" Kaoru legt die Gitarre behutsam beiseite und tätschelt ihren Bauch. "Wenn mir die Worte fehlen, kann ich immer noch meine Gitarre für mich sprechen lassen. Als bestünde zwischen meinem Herzen und meinen Fingern eine direktere Verbindung als zwischen meinem Kopf und meinem Mund." Ich fasse es nicht. Ich zermarter mir den lieben langen Tag die Scheißrübe und er hat nichts Besseres zu tun, als über seine Klampfe zu sinnieren! Ich wende meinen Blick ab. "Mag sein." Ein Stift kratzt ein paar Noten auf Papier. Am liebsten würde ich jetzt schmollen, aber die Genugtuung gönne ich ihm nicht. Stattdessen rauche ich schweigend meine Zigarette zu Ende und versuche bis zu unserer Ankunft irgendeine Sitzposition einzunehmen, bei der mein Steiß mich nicht umbringt. ~*~*~ Möglicherweise bin ich nicht der Allerschlauste. Und auch mein Temperament geht mitunter mit mir durch wie eine Herde aufgeschreckter Gnus. Aber dass mein Herz nicht am rechten Fleck ist, kann man mir wirklich nicht unterstellen. Ganz gleich wie rotzig oder gehässig ich sein kann. Am Ende des Tages lasse ich mich sogar von meinem drömeligen Bandkollegen bequatschen mit ihm durch die hiesigen Schuhgeschäfte zu streifen, damit dieser seine Grashüpferstelzen mal hier, mal dort in allerhand Designergaloschen stecken kann, obwohl ich mich lieber Kopfüber in die Minibar auf meinem Hotelzimmer stürzen möchte. Letztlich sind es spitzzulaufende gelackte Halbschuhe aus schwarzem Leder, die in ihrer dazugehörigen Schachtel den Weg in eine schicke Henkeltasche finden. Kaum dass wir jedoch den Laden verlassen haben, wandern sie auch schon an Toshiyas Füße und tauschen dort die Plätze mit seinen durchgegasten Stiefeln, die er seit heute Morgen ununterbrochen angehabt haben muss. Nach einem Gebärdentanz und vielen Sätzen in gebrochenem Englisch ist es mir darüber hinaus noch gelungen in Erfahrung zu bringen, wie wir vom Schuhgeschäft aus am schnellsten zu einer bestimmten Sehenswürdigkeit gelangen können. Ich stehe in der schmalen Einkaufsgasse und gebe die Daten zur Routenberechnung in Google Maps ein. "Irgendwie erinnert mich das an letztens. Wisst ihr noch? Als ihr mich einfach stehengelassen habt und ohne mich im Tourbus weggefahren seid..." Doch meine Worte verhallen scheinbar ungehört. Oder werden vom geschäftigen Treiben der kaufwütigen Meute um uns herum verschluckt. Toshiya lässt die Einkaufstasche baumeln. "Ich kann echt nicht glauben, dass du mitgekommen bist." "Ich wollte ein Foto machen." Für einen Moment sehe ich von meinem Handy auf und werfe Kyo einen Seitenblick zu. "Das muss ja echt ein besonderer Ort sein!", grinst Toshiya breit und streckt sich ausgiebig, die Arme hoch in die Luft gereckt. Kyo hebt nur ungerührt die Schultern. "Naja, wie dem auch sei." Die Tasche schlägt Toshiya ein-, zweimal dumpf auf dem Hinterkopf. "Wollen wir auf dem Weg dahin noch was mampfen?" "McDonald's." "Schon wieder?" "Ich will'n scheiß Hamburger, verdammt." "Kinder", sage ich. "Beruhigt euch." Das gleißende Licht der sengenden Abendsonne, reflektiert von meinem Handydisplay, verfängt sich in meinen Wimpern und lässt mich für einen Moment beinahe erblinden. Ich schiebe mir die heute Früh gekaufte Sonnenbrille, die während unseres Ladenbesuches in meinem Haar steckte, zurück auf die Nase. Auch nach mehrmaligem aggressiven Blinzeln wollen die unförmigen Sonnenflecken nicht von meiner Netzhaut verschwinden. "Laut Karte liegt sogar ein McDonald's auf dem Weg, und ich könnt jetzt echt 'nen Burger vertragen." "Und 'ne Cola mit Eiswürfeln", ächzt Kyo, sich mehr oder weniger verzweifelt mit einem hauchdünnen Pamphlet über örtliche Touristenattraktionen schwüle Luft zu fächernd. Im Gegensatz zu mir hat er seine Sonnenbrille seit wir das Hotel verlassen haben nicht abgesetzt. Die Ärmel seines T-Shirts sind bis zu den Schulterdächern hochgekrempelt. Es ist ja nicht so, dass wir das Schwitzen nicht gewöhnt wären - schließlich gehört es irgendwie schon zwangsweise zu unserem Beruf dazu - aber in staubtrockener Luft, ohne das leiseste Säuseln eines Windhauchs in der Sommersonne, die uns erbarmungslos auf die Birne knallt, zu stehen, ist trotzdem noch was anderes als adrenalinvollgepumpt, schweißüberströmt im Scheinwerferlicht auf der Bühne herumzuturnen. Toshiya wischt sich einen langsam herunterrinnenden Schweißtropfen von der Wange. "Und zum Nachttisch 'nen Milkshake..." "Okay, okay, ist ja schon gut." Ich schultere meine Tasche. "Bevor ihr jetzt noch anfangt Speichelfäden hinter euch herzuziehen, lasst uns lieber die Hufe schwingen." "Geht klar, Kaoru-san." "...bitte, was?!" Ich halte in der Bewegung inne, noch ehe ich einen Fuß vor den anderen setzen kann. Hab ich Staub in den Ohren oder fangen meine Bandkollegen jetzt schon an fiebrige Hitzehallus zu kriegen? "Ich hab gesagt-", setzt Kyo an. "Ich hab gehört, was du gesagt hast", schneide ich ihm unwirsch das Wort ab. Unbeeindruckt von meinem scharfen Ton und unablässig weiter fächernd, sieht Kyo an mir vorbei in die Einkaufspassage. "Ihr werdet euch halt in letzter Zeit immer ähnlicher." "Wie so'n altes Ehepaar", quakt Toshiya dazwischen. "Nur ohne Ehe." "Aber mit genauso wenig Sex." "...ich lass euch Pappnasen gleich hier draußen verkokeln und nehm mir 'n Taxi zurück ins Hotel!" "Wieso? Wartet da jemand auf dich?" Die Silberarmbänder an Kyos Handgelenk klimpern bei jeder Fächelbewegung wie ein vom Sturm gepeitschtes Windspiel. "Kaoru auf jeden Fall nicht." "Okay, das reicht jetzt, Toshiya." Mit einem klatschenden Geräusch trifft Kyos Rückhand züchtigend den nackten Oberarm von Toshiya. "Reiß dich mal zusammen. Der arme Die, Mann." "Häh? Du hast doch angefangen!" "Ssscht jetzt. Sonst platzt er noch." Und in der Tat tue ich das gleich wirklich. "Das ist der Dank dafür, dass ich mit euch einen Schaufensterbummel in diesem Glutofen mache?" "Schaufensterbummel...", prustet Toshiya hinter vorgehaltener Hand. "So nennt meine Oma das auch immer." "Ruhe jetzt! Ich bin der Blüte meines Lebens." "Und in der wievielten?" "Toshiya." "Wer redet hier jetzt so wie Kaoru, häh? Ich bin nicht mitgekommen, damit ihr mich auf öffentlicher Straße drangsaliert. Nach der gestrigen Nacht hätte ich gerne mal wieder so etwas wie Friede-Freude-Eierkuchen in meinem Leben, wenn das nicht zu viel verlangt ist, weil mir das alles mittlerweile bis hier oben steht und ich echt mal ein paar gute Freunde und aufbauende Worte vertragen könnte! Wäre das vielleicht möglich? Oder muss ich mir von euch jetzt auch noch solchen dummen Sprüche drücken lassen? Wo Kaoru gerade vergessen hat, dass er mich hasst und stattdessen so behandelt als würde er nur auf den richtigen Augenblick warten, um mir den erlösenden Gnadenstoß zu geben." Stille. Auf meinen Wutausbruch folgt betretenes Schweigen. Eine Traube einheimischer Frauen mittleren Alters in teuren Kleidern, behängt mit Einkaufstaschen, unter einem schattenspendenden Sonnenschirm gedrängt, wirft uns abschätzige Blicke von der Seite zu. Oder vielleicht auch nur mir, weil ich meine Stimme erhoben habe. Verlegen kratze ich mich am Nacken. "Sorry..." Ich versuche den Blicken meiner Freunde auszuweichen. "Ich weiß auch nicht, woher das gerade alles gekommen ist..." "Schon gut", höre ich Kyo sagen. "Wollen wir zu McDonald's? Ich geb' einen aus." Aus dem Augenwinkel sehe ich Toshiya eine angedeutete Verbeugung in Richtung der Damen machen, dabei flackert ein entschuldigendes Lächeln über seine Lippen. Kurz darauf wirft er auch mir einen schuldbewussten Blick zu. Immerhin scheint er zu wissen, dass er zu weit gegangen ist. "Aber du musst mir versprechen, dir nicht mehr soviel die Rübe über Kaoru zu zerbrechen. Im Gegenzug verspreche wir dir, dich fortan nicht mehr zu foppen." Mit diesen Worten und verzogenem Mund versetzt mir Kyo mit seinem Pamphlet einen schmerzlosen Klaps auf die Stirn, der mir zeitgleich angenehm kühle Luft zu wedelt. Er seufzt. "Naja, vielleicht etwas." Und weil es darauf nichts mehr zu sagen gibt, setzen wir uns alle in Bewegung, ohne noch ein weiteres Wort darüber verlieren. ~*~*~ Das ist ja alles immer viel leichter gesagt als getan. Denk nicht mehr so viel daran, aber das Gehirn ist wie das verschlissene Aufziehwerk einer uralten, blechern vor sich hin dröhnenden Spieluhr, deren nervtötende Melodie, erst einmal begonnen, sich weder verschnellern noch abwürgen lässt. Und so leiert sie unablässig weiter, bis auch der letzte Ton endlich verklungen ist. Nur dreht irgendein Depp in meinem Gehirn immer und immer wieder den Schlüssel um und die Melodie fängt aufs Neue an zu dudeln. Hallt hundertfach von den leeren Kammern meines Oberstübchens wider und bauscht sich dabei zu einer wahren Albtraum-Symphonie aus sich stets überlappenden Klängen auf, als wäre mein Kopf die Spitze eines Glockenturms. Zu meinem Entsetzen entpuppt sich der Ort, den wir besichtigen wollen, als wahrer Pärchen-Hotspot. Überall tummeln sich glücklich Verliebte. Arm in Arm, Hand in Hand schlendern sie an uns vorbei, einander herzend und dümmlich vor sich hin lächelnd. Mir wird spontan wieder übel. Der Käse des Cheeseburgers klebt mir noch an den Zähnen und hält sich hartnäckig am Gaumen fest. Bemüht versuche ich ihn mit dem letzten Rest eiskalter Cola wegzuspülen und meinen Mageninhalt damit eindringlich zu warnen gefälligst dort zu bleiben, wo er ist. Toshiya und ich haben am Rande eines großen Wasserbeckens, welches umsäumt von Bäumen innerhalb einer grünen Parkanlage liegt und in dessen Mitte ein überdimensionaler Springbrunnen prunkt, Platz genommen. Kyos zur Hälfte weggefutterte Pommesschachtel und sein gesüßter Eistee stehen neben mir auf der Steinmauer. Um ein Haar hätte er uns noch in einen Starbucks um die Ecke gescheucht, aber ich habe mich durchgesetzt. Jeder Schritt ist mir bei dieser Bullenhitze mittlerweile zu viel geworden. Insgeheim bereue ich es sogar mich überhaupt so weit vom Hotel entfernt zu haben. Zwar wollte ich mir nach der Busfahrt unbedingt die Beine vertreten, aber nach der mehr oder weniger halbdurchzechten Nacht gestern und dem wilden Ritt auf dem Emotionskarussell, wäre mir eine horizontale Lage, vorzugsweise mit dem Gesicht nach unten, zugegebenermaßen momentan schon lieber. Hier auf diesem gepflasterten Platz in der prallen Sonne läuft der Schweiß nun unablässig mein Brustbein hinab. Mittlerweile fühlt sich das feuchte T-Shirt an wie eine zweite Haut, die mit meiner eigenen verschmolzen zu sein scheint. Erschöpft werfe ich einen Blick über meine Schulter. Ein kleines Kind mit strohblondem Haar jagt verzweifelt einem Luftballon hinter her, während seine zwei Geschwister mit nackten Füßen wild im Brunnen umherstampfen, sich dabei gegenseitig laut juchzend mit Wasser bespritzen - sehr zum Missfallen ihrer Eltern. Ein Stück dahinter, an einer ruhigeren Stelle, entdecke ich Kyos schmale Gestalt am Beckenrand hocken, die Kamera nach oben Richtung Wasserfontänen gestreckt, den Kopf in den Nacken gelegt. Sein fokussierter Blick liegt auf etwas, das sich mir nicht erschließen will. "10.000¥, dass er ins Wasser fällt." Toshiyas Worte gehen nahtlos in ein Schlürfen über. Am Grunde seines Bechers versteckt sich noch etwas vom seinem Milkshake. Ein Schmunzeln stiehlt sich auf meine Lippen. Während Kyo hinter uns weiter gedankenverloren Fotos knipst, zünde ich mir eine Zigarette an. Es ist die letzte aus dieser Schachtel. Ich zerknülle das Papier und sehe mich nach einem Mülleimer um. Der nächstgelegene liegt mir schräg gegenüber nahe einer von einem Pärchen besetzten Bank. Meine Organe machen einen Satz im meinem Bauchraum. Dass die Leute hier im Westen ihre Zuneigung zu einander immer so öffentlich zur Schau stellen müssen. Sitzen da eng umschlungen, für jeden sichtbar, und turteln sich liebestrunken an... Am liebsten möchte man Nehmt euch ein Zimmer! schreien. Kurzentschlossen stopfe ich die leere Zigarettenpackung einfach wieder zurück in meine Hosentasche. Ob Kaoru sowas gestern auch mit seiner Freundin gemacht hat? Als sie erschöpft, in wohliger Trägheit, in seinen Armen lag. Ob er ihr auch immerzu tief in die Augen geblickt hat, als wären ihre Pupillen der nachtschwarze Himmel, der sich sternenbedeckt und unergründlich unendlich vor ihm erstreckt? Hat er sich darin verloren? Ist er haltlos darin versunken? Bis ein inniger Kuss den Bann zwischen ihnen zerbrochen hat. Ein Kuss. Ich muss wieder daran denken, wie er mich geküsst hat. Es ist kaum 24 Stunden her und doch verblasst die Erinnerung daran bereits. Wie sich ein warmer Atemhauch an einer kalten Scheibe auflöst. Meine Lungen füllen sich mit Rauch. Ob er uns mit einander verglichen hat? Miho und mich. Ob er an sie gedacht hat, als er mich geküsst hat? Ob er an mich gedacht hat, als er sie geküsst hat? Und überhaupt: Was hat er sich eigentlich dabei gedacht, uns beide in der selben Nacht zu küssen? Ist er etwa so einer? Ein elendiger Fremdküsser. Mit Sicherheit ist er ihr gegenüber genauso ein Geheimniskrämer wie mir. Eher gibt der sich doch die Kugel, als ihr zu gestehen, dass er mit seinem Gitarristenkumpel geknutscht hat. Zweimal sogar. Und sie dann mit demselben Mund nur wenige Minuten darauf immer und immer wieder ebenfalls geküsst hat. Gewissermaßen könnte man sogar behaupten, dass Miho und ich uns auf diese Weise ebenfalls indirekt... Jetzt wird mir wirklich speiübel. Bevor mir der große Brocken an der Spitze meiner Kippe noch auf die Hose plumpst, asche ich lieber hastig neben mir ab. Mal ehrlich, Kaorus ersten Kuss, den im Aufzug, kann ich ja irgendwo sogar noch nachvollziehen. Vielleicht hat er wirklich gedacht, wir könnten in die Tiefe und zu Tode stürzen. Wer weiß schon, was tatsächlich in der Birne von diesem Groschenromancasanova vor sich geht. Vielleicht wollte er auch nur mal sehen, wie das so ist. Einen anderen Mann zu küssen. Mich zu küssen. Aber den zweiten Kuss? Mit dem er mich im Hotelgang ohne Vorwarnung überrumpelt hat, um mir wortwörtlich über den Mund zu fahren und mich damit zum Schweigen zu bringen. Was hatte der zu bedeuten? Toshiyas harter Ellenbogen bohrt sich zwischen meine Rippen und reißt mich jählings aus meinen Gedanken, die mal wieder drauf und dran sind sich ins Abstruse abseilen zu wollen. "Was?", zische ich schmerzverzehrt, die Zigarette zwischen meine Lippen klemmend, um einen letzten kräftigen Zug von ihr zu nehmen, ehe ich sie ausdrücke. "Fans auf drei Uhr." "Fans auf was, bitte?!" "Drei Uhr." Ich will mich umgucken, doch es ist bereits zu spät. Durch die getönten Gläser meiner Sonnenbrille sehe ich eine Gruppe junger Frauen geradewegs auf uns zu staksen. Zwischen ihnen ein einziger Typ, dessen Alter ich beim besten Willen nicht schätzen kann. Vielleicht ist er Anfang zwanzig, vielleicht auch schon Ende dreißig. Einer von diesen Kerlen halt. Viel Zeit, um mir auch noch über diesen Schwachfug das Hirn zu Brei zu zerdenken, bleibt mir allerdings nicht mehr, denn da stehen sie auch schon zu fünft vor uns und strahlen uns an. Die am jüngsten wirkende Frau zwirbelt nervös am Saum ihres Rockes herum, wohingegen sich zwei der mutigeren in den Vordergrund gedrängelt haben und Toshiya und mich direkt konfrontieren. Für Unbeteiligte muss das Geschehen um uns herum ein bisschen so aussehen, als hätten uns diese Leute hier eingekesselt, um uns ordentlich eins auf die Fresse zu hauen. Aber sie fragen nur nach Autogrammen und Fotos. Konzentriert versuche ich dem aufgeregten Geblubber der Damen zu folgen. Gar nicht so einfach, wenn einem die Birne von der Sonne kross und braun gebraten wird und man in seinem eigenen Saft langsam vor sich hin schmort. Ihr Englisch ist akzentfrei, aber ihre Worte überschlagen sich nahezu vor Freude darüber uns ausgerechnet an diesem Ort über den Weg gelaufen zu sein. Ich kann ihnen kaum folgen. Meinen Namen auf einen unserer Merchartikel zu schreiben, schaffe ich hingegen gerade noch so. Wir machen Fotos und ich setze mein schönstes Lächeln auf, erinnere mich aber im gleichen Moment wieder daran, dass mir möglicherweise immer noch was vom Cheeseburger zwischen den Zähnen hängt und schraube meine Strahlkraft vorsichtshalber ein, zwei Stufen zurück. Während Toshiya wohlwollend lächelnd seine Unterschrift auf eine Umhängetasche krakelt und sich dabei mit dem Typen unterhält, werfe ich einen verstohlenen Blick zurück zu der Stelle, wo Kyo vorhin seine Fotos geschossen hat. Ich bin nicht mal sonderlich erstaunt, ihn nirgends entdecken zu können. Ein paar Schnappschüsse, Signaturen und geschüttelte Hände später schlendern die Fünf überglücklich wieder davon. Niemandem scheint aufgefallen zu sein, dass neben Toshiya und mir nicht zwei, sondern drei Getränke stehen. Jetzt will ich aber wirklich nicht länger hier bleiben. Womöglich laufen wir sonst noch Gefahr, dass die Fans uns einen weiteren Besuch abstatten oder gar mit neuen Leuten zurückkehren. Wie Wespen, wenn's irgendwo was abzuschnappen gibt. Ich sammel meine Sachen ein, schnappe mir Kyos Eistee und zögere noch bei seinen angefressenen Pommes. "Das war nicht so unangenehm wie befürchtet", höre ich Toshiya neben mir seufzen und gleichzeitig mit seinen ineinander verhakten Fingerknöcheln knacken. Auch er klaubt nun seinen Müll und seine Einkäufe zusammen. "Zum Glück." Schwungvoll schultere ich meine Tasche. "Lass uns Kyo suchen und dann 'nen Abflug von hier machen. Hat sich natürlich mal wieder schön verdrückt, der Herr." Toshiya kratzt sich an der Wange. "Weit kann er ja nicht sein." Unschlüssig sehen wir uns um, versuchen irgendwo zwischen all den hochgewachsenen Ausländern unseren verschollenen Sänger zu erspähen. "Vielleicht auf der anderen Seite des Springbrunnes?" Auf Toshiyas Vermutung hin setzen wir uns in Bewegung, vorbei an den gefühlsduseligen Pärchen, der Familie mit den tollwütigen Kindern und so einigen Touristen, die wir teils weitläufig umgehen müssen, um nicht unfreiwillig in soeben gemachte Erinnerungsfotos hereinzuplatzen. Doch selbst nachdem wir den Brunnen einmal komplett umrundet haben, fehlt nach wie vor jede Spur von Kyo. "Tja... Ab morgen dann doch Instrumentalband?" Ich stopfe unseren Abfall in einen Eimer. "Das bringst du Kaoru dann aber bei." "Warum ausgerechnet ich?" "Auf dich ist er doch eh immer wütend, das macht den Kohl dann auch nicht mehr fett." "Kaoru ist nicht immer wütend auf mich." Toshiya zuckt nur lässig mit den Schultern und grinst schief. Mir wird das langsam zu bunt. Ich schwitze, mir ist übel, muss mir hier wieder dumme Sprüche reinziehen, Kyo hat uns im Stich gelassen, und höchstwahrscheinlich ist das Foto von mir und dem Käse zwischen meinen Zähnen mittlerweile schon im Internet viral gegangen. Ohne noch lange zu fackeln, suche ich Kyos Nummer aus meiner ellenlangen Kontaktliste heraus und klebe mir das Handy ans Gesicht. "Ich rufe ihn jetzt an." Das monotone Tuten des Freitons im Ohr blinzele ich der Sonne entgegen. Der Himmel beginnt sich allmählich gelb zu färben. Es klingelt nicht lange und Kyos Stimme meldet sich am anderen Ende. "Hhh?" "Alter, wo zum Henker steckst du?" "...in Sicherheit." "Und wo ist das?", blaffe ich ihn durchs Telefon an. Was folgt ist Stille, doch im Hintergrund höre ich deutlich das leise Plätschern von Musik, ein Gewirr aus Stimmen und etwas, das verdächtig wie ein Klirren von Küchenutensilien klingt. "Bist du... im Starbucks, Alter?!" Toshiya glotzt mich an. "Ich wollt 'n Kaffee, Mann." "Und ich schlepp dir auch noch deinen Fraß hinterher..." "Warte kurz." Ich höre eine Frauenstimme, Rascheln und Knarzen, dann wieder Kyo. "Mhm, thank you." Hinter meiner Sonnenbrille machen meine Augäpfel eine 360 Grad Drehung. "Ich komm zurück. Sind sie weg?" "Du hast dich echt verpisst." "Was glaubst du denn?" "Wir stehen an diesem Tor, wo wir vorhin durchgegangen sind." "Ich weiß Bescheid." Ich lege auf, ohne mich zu verabschieden. Neben mir verpasst Toshiya gerade einem Schotterstein einen schlappen Kick mit der Innenseite seines neuen Schuhs. "Also doch keine Instrumentalband." Bis zu Kyos Rückkehr vertreiben wir uns die Zeit damit am Handy zu hängen. Während ich bei Google Maps unsere Route zurück zum Hotel heraussuche, scrollt er abwesend durch Instagram. Erst als mir Kyo fünf Minuten später eine braune Papiertüte unter die Nase hält, sehe ich von meinem Display auf. "Ich hab Brownies mitgebracht." Ich nehme die Tüte und sehe hinein. Ein herrlich schokoladiger Geruch steigt aus ihr empor. "Danke... Toshiya hat deinen Eistee." Das Getränk wechselt zu seinem rechtmäßigen Besitzer, und sobald Toshiya wieder eine Hand frei hat, nutzt er diese auch gleich um unverzüglich in die Brownietüte hineinzugrabbeln. "Ich weiß gar nicht, was du immer hast", schmatzt er, den Mund voller Gebäck. "Nicht alle Fans hier drüben sind Hyänen." Anstatt zu antworten, lässt Kyo die Aussage einfach unkommentiert im Raum stehen und schreitet an uns vorbei. "Gehen wir? Ich bin müde." "Und dann holst du dir einen Kaffee?" Mir wäre Bier jetzt lieber, aber Alkohol hat derzeit Hausverbot im Club der Magensäfte. Zumindest für heute Abend. "Einen Kaffee holt man sich um wach zu werden", sagt Kyo trocken, während wir die Straßenseite wechseln. "Oder um die ganze Nacht kein Auge zu zu drücken." Von Kyo, der jetzt mit zwei Getränken bewaffnet ist, kommt nur ein Achselzucken zurück. "Mein Biorhythmus ist sowieso im Arsch." Wir schlängeln uns durch die aufgeheizten Gassen der Shoppingmeile zurück zu unserem Hotel. Anders als auf dem Hinweg schlendern wir nun nicht mehr. Jeder von uns scheint es kaum erwarten zu können, sich auf seinem Zimmer endlich alle Klamotten vom Leib zu reißen, unter die Dusche zu springen und sich im kühlen Nass die Sonnenstrahlen von der Haut zu spülen. Somit sind unsere Schritte jetzt länger und vor allem auch zügiger. Irgendwie scheinen wir uns gemeinschaftlich nonverbal auf allgemeines Schweigen geeinigt zu haben, denn zwischen uns ist es, bis auf gelegentliche Richtungsangaben und kurzangebundene Bemerkungen, ziemlich ruhig geworden. Kaum noch einen Katzensprung von unserem Hotel entfernt, fällt mir wieder ein, wie ich vorhin meine allerletzte Kippe feuerbestattet habe. Entweder schnorre ich mich jetzt wieder bei jemand anderem durch oder besorge mir selber welche, damit ich zumindest die Nacht überstehe. Direkt um die Ecke ist ein Kiosk, ein Abstecher dorthin würde höchstens ein paar Minuten dauern. Außerdem schmecken mir meine eigens ausgesuchten Zigaretten immer noch am besten. Ich seufze. "Geht schon mal vor. Ich geh noch mal schnell in den Laden hier." Kyo nickt knapp, den Kaffeebecher an die Lippen gesetzt, und tigert an mir vorbei. "Nacht", sagt er, obwohl es draußen noch taghell ist. "Verlauf dich nicht", flötet Toshiya mir mit baumelnder Einkaufstüte zu, die Hand zum Abschied gehoben. Beide laufen sie unbeirrt weiter in Richtung Hotel. Sowie ich die Schwelle der automatischen Schiebetüren überschreite und den Kiosk betrete, überkommt mich schlagartig Schüttelfrost. Der Ladenbesitzer muss die Klimaanlage den ganzen Tag über auf volle Pulle laufen gehabt haben. Hier drinnen herrschen Temperaturen wie am Nordpol. Selbst im Kühlregal, aus dem ich mir eine Flasche Wasser mopse, ist es wärmer. Der Verkäufer an der Kasse beobachtet mich aus dem Augenwinkel mit hochgezogenener Augenbraue, als ich mich vor Kälte kurz schütteln muss. Ich stelle mein Wasser auf den Tresen, erkläre ihm welche Zigaretten ich gerne hätte und krame mein Portemonnaie hervor. Über den Fernseher in der Ecke flimmert gerade eine Sportübertragung. Mit meinen Einkäufen, Gänsepelle und auf der Haut zu Eis erstarrten Schweißtropfen verlasse ich den Laden wieder. Hinaus in die schwüle Hitze des Sommerabends. Seltsamerweise fühle ich mich hier draußen auch nicht viel wohler. Wenn ich aber daran denke, dass ich gleich noch mehrere Stockwerke hoch laufen muss, motiviert mich das zugegebenermaßen trotzdem nicht sonderlich endlich auf mein Zimmer zu kommen. Ich schraube meine Flasche auf und nehme einen Schluck im Gehen. Ob das Wasser überhaupt in meinem Magen ankommt? Fühlt sich eher so an, als würden meine Poren es auf direktem Wege wieder nach draußen spucken. Ich verstaue die Flasche in meiner Tasche. Am anderen Ende der Straße kommt das Gebäude zum Vorschein, in dem wir heute nächtigen werden. Es ist ein mehrstöckiger modern anmutender Kasten, dessen eine Seite verglast und die andere weiß gemauert ist. Hinter der verglasten Front befinden sich das Hotelrestaurant und lichtdurchflutete Tagungsräume. Hinter jedem rechteckigen Fenster im schneeweißen Stein liegt ein Zimmer. In einigen von ihnen brennt bereits schwaches Licht, im Restaurant hingegen ist man direkt zu Festtagsbeleuchtung übergegangen. Stromsparen sieht anders aus. Mein Blick fällt auf das Fenster, von dem ich glaube, dass es zu Kaorus Zimmer gehört. Unmöglich zu sagen, ob er sich gerade darin aufhält. Vielleicht ist er ebenfalls ausgegangen, vielleicht sitzt er auch mit dem Laptop auf dem Schoß auf seinem Bett. Oder zupft an seiner Gitarre rum. Spielt vielleicht wieder solche, wie Toshiya sie nannte, weichgespülte Melodien. Mit diesem nichtssagenden Ausdruck auf dem Gesicht. So wie im Bus heute. In mir regt sich ein Gefühl des Unmuts. Aus der Gewohnheit heraus, nicht, weil ich tatsächlich einen Grund dazu hätte Unmut zu verspüren. Beinahe wünschte ich, Kaoru würde heraus kommen und mir einen Grund dazu geben mich über ihn zu ärgern. Aber ich komme dem Hotel immer näher und natürlich ist weit und breit kein Kaoru zu sehen. Die einzige Person im unmittelbaren Umkreis ist eine junge Frau, die vor den Doppeltüren des Eingangs auf jemanden zu warten scheint. Hinter dem üppig blühenden Busch auf dem Vorplatz hätte ich sie um ein Haar übersehen, doch das Weiß ihrer luftigen Rüschenbluse strahlt in diesem Licht nur allzu verräterisch. Sie muss gehört haben wie sich meine Schritte ihr langsam nähern, denn auf einmal wendet sie sich zu mir um. Schwarzes Haar umrahmt ihr herzförmiges Gesicht. Zwei riesengroße Onyxe starren mich entsetzt daraus an, als hätte sich soeben die lodernde Hölle zwischen uns aufgetan. Mein träges Gehirn braucht eine Sekunde um zu schalten. "Miho...?" Ihr erster Instinkt ist Flucht. Hastig, verschreckt, wirbelt sie wieder herum, versucht sich verzweifelt hinter ihrer seidigen Haarpracht zu verstecken, als hätte ich sie nicht längst schon erkannt, und versucht sich an mir vorbei zu schlängeln. Doch ich bin schneller, bekomme ihr schmales Handgelenk zu fassen und halte sie fest. "Miho", setze ich an. Ihre zarte Stimme fällt mir sogleich ins Wort. "Bitte lassen Sie mich los." Von mir selbst und meinem eisernen Griff erschrocken, lasse ich sie so plötzlich wie ich sie gepackt habe wieder los. Sie sieht mich nicht an, läuft aber auch nicht mehr vor mir davon. In mir beginnt sich ein Sturm zusammenzubrauen. "Was machst du hier?" Statt mir zu antworten, graben sich ihre Finger nur tiefer in ihre Handtasche. "Ich verstehe nicht... Solltest du nicht im Flieger nach Hause sitzen?" "Bitte lassen Sie meinen Freund..." Ihre Stimme ist so leise, dass ich sie kaum verstehen kann. "Was?" "Bitte lassen Sie meinen Freund in Ruhe!" Die Tasche fest umklammert, verbeugt sie sich so tief und schwungvoll vor mir, dass ich erst befürchte, sie würde vor mir zu Boden stürzen. Mein Körper ist wie zu Bernstein erstarrt, will sich nicht rühren, kann sich nicht erlauben noch einmal nach ihr zu greifen und so kann ich nur tatenlos zusehen, wie sie an mir vorbei schwirrt wie ein aufgeschreckter Schmetterling. An einer Straßenecke verschwindet ihre zierliche Gestalt zwischen den wuchtigen Körpern anderen Passanten. Eine Weile lang sehe ihr nach, in der Hoffnung sie würde es sich anders überlegen und zurückkehren. Aber sie taucht nicht mehr auf. Als sich die Hoteltüren öffnen und das Gebäude ein laut gackerndes, Arm in Arm gehendes Pärchen hinter mir ausspuckt, reißt mein Blick endlich ab. Doch in meiner Magenkuhle wogt nach wie vor eine aufgewühlte See. Ich betrachte meine Handfläche. An ihr kann ich sie noch immer fühlen. Ihre Haut. So zart und weich, fast wie Wachs. War sie wirklich hier? Und was um aller Welt hat sie hier verloren? ____________ To be (or not to be) continued. Kapitel 15: Holzwege. --------------------- Wenn man mich heute danach fragen würde, wie ich gestern ins Bett gekommen bin, wüsste ich wohl keine Antwort darauf. Irgendwie muss mich mein Körper wie auf Autopilot die Treppen hinauf in mein Zimmer getragen haben. Augenscheinlich muss er mich systematisch entkleidet und unter die Dusche und wieder heraus befördert haben, sonst wären die wild verstreuten Kleidungsstücke, die angetrockneten Pfützen auf den Glaswänden, dem Fliesenspiegel, dem Boden, die benutzen Handtücher und die ausgerissenen Haare in ihnen wohl kaum zu erklären. Wie mein Gehirn mein Fleischgefäß vollkommen geistesabwesend wie einen humanoiden Laufroboter gesteuert hat, ganz ohne jegliche Trunkenheit, ist mir selbst ein Rätsel. Zwar habe ich die Nacht zuvor nicht sonderlich viel geschlafen, aber als hundemüde hätte ich mich gestern auch nicht bezeichnet. Ich stehe vorm Spiegel in meinem Badezimmer und rasiere mich. Ob ich gestern womöglich einen Sonnenstich hatte? Muss man davon nicht kotzen? Riechen tut es hier jedenfalls nicht nach Kotze. Nur nach Käsefuß aus den Schuhen im Nebenraum. Ich lege den Rasierer beiseite und beäuge mein frisch erglattetes Gesicht. Nein, vielleicht hatte ich nur eine Kurzschlussreaktion. Wer rechnet denn auch damit einer Person zu begegnen, die sich eigentlich am anderen Ende des Planeten aufhalten sollte? So muss es Kyo ergangen sein, als seine Ex plötzlich vor ihm in der Bar stand. Wie aus dem Orbit geschleudert. Kein Wunder, dass da was Seltsames mit den Synapsen abgeht. Ich krame mein Aftershave hervor. Wieso ist sie hierher gekommen? Wegen Kaoru? Aber warum ist sie dann weggelaufen? War sie vorher bei Kaoru? Oder war sie nur wegen mir hier? Weiß er überhaupt, dass sie hier ist? Vielleicht sollte ich mal mit ihm darüber reden. Aus dem Spiegel blinzeln mir zwei kleine Augen entgegen. Reden... Mit Kaoru reden. Können wir später reden? Unter vier Augen. Alleine. Vielleicht in meinem Hotelzimmer? Aus den kleinen Augen werden auf einmal Vollmonde. Beinahe fällt mir das Aftershave ins Waschbecken. Ich kann nicht glauben, dass ich das vergessen habe. Meine Hand zittert. Von all den Dingen, die mein dämliches Hirn vergessen muss, muss es ausgerechnet das sein?! Ich lasse alles stehen und liegen und schlittere ins Schlafzimmer. Irgendwo zwischen all diesem Krimskrams muss mein Handy liegen. Wo ist es hin? Vorhin hab ich doch noch die plärrenden Weckfunktion mit wildem Draufrumtatschen zum Schweigen gebracht. In meiner Hast reiße ich mehrere Dinge vom Nachttisch. Mein Brillenetui segelt zu Boden, der Inhalt einer Dose überteuerter Pfefferminzbonbons verteilt sich kullernd auf dem Teppich. Als ich alles kreuz und quer beiseite geschoben habe, ohne fündig zu werden, entdecke ich im Augenwinkel mein Handy halb zugedeckt neben meinem Kopfkissen. Wie im Fieber entsperre ich den Bildschirm. Verpasste Nachrichten... Verpasste Anrufe... Hat Kaoru versucht mich zu erreichen? Ich scanne meine Notifikationen ab. Eine lange Textnachricht mit organisatorischem Zeug. Eine Erinnerung von Herrn Masuda, dass ein Musikmagazin uns für ein Interview haben will. Der Gitarrist unserer Vorband, der fragt, ob er meine Nummer weitergeben darf. Toshiya, der mir um 2:18 Uhr ein Bild eines verwirrt dreinblickenden Huskys mit den Worten haha das bist du lololol geschickt hat. Eine 0:02 Sekunden lange Sprachnachricht von Kyo. Kein Sterbenswörtchen, nicht eine Silbe, kein einziger Pixel von Kaoru. Mein Herz sinkt zwei Etagen tiefer. Hat er mich auch vergessen? Oder schlimmer noch: Ist er jetzt so wütend auf mich, dass ich ihn versetzt habe, dass er sich aus Trotz nicht bei mir meldet?! Mir hätte gestern Abend ja auch was zugestoßen sein können. Die letzten Personen, die mich lebendig gesehen haben, waren Kyo und Toshiya. Und das war draußen, auf offener Straße. Niemand, der mich kennt, hat mich zurück auf mein Hotelzimmer gehen sehen. Jemand hätte mich entführt haben können! Ich hätte gefesselt und geknebelt auf der schmutzigen Ladefläche eines weißen Vans liegen oder mit dem Gesicht nach unten im Hafenbecken treiben können oder... Pause. Stopp. Dies ist nicht die Zeit, in den Zug nach Paranoia einzusteigen. Und auch nicht der Moment, mich kopflos in etwas hineinzusteigern. Nein, diesmal nicht. Es reicht. Diesmal werde ich versuchen das Ganze logisch anzugehen. ~*~*~ Doch an diesem Morgen meint es das Schicksal nicht gut mit mir und meiner Logik. Egal an welcher Ecke ich Kaoru begegne, immer ist er in irgendein Gespräch verwickelt oder umringt von einer Schar von Leuten, die ihm weder von der Pelle rücken wollen noch meinen permanenten Stierblick von der Seite zu bemerken scheinen. "Wenn Blicke töten könnten...", murmelt Toshiya sogar irgendwann schaudernd neben mir, als wir beim Frühstück sitzen und ich seit gefühlt mehreren Minuten stumm und unbarmherzig auf einem belegten Brötchen herumkauend mit starrem Blick in Richtung Kaoru und Fanclub vielleicht zwei Mal geblinzelt habe. Dabei bin ich überhaupt nicht wütend auf Kaoru. Nur auf alle um ihn herum, die ihn belagern als sei er eine mittelalterliche Festung hinter deren Mauern sich Gold und Edelsteine verstecken. Und ich kann es ihnen nicht mal verübeln, wenn Kaorus Lächeln allein wie das Funkeln eines unbezahlbaren Diamanten ist und das dazugehörige sonore Lachen sich anfühlt, als würde man in ein mit warmer Milch und Honig gefülltes Becken eintauchen. Während unsere versammelte Frühstücksgemeinschaft drauf und dran ist den Speisesaal zu verlassen, wittere ich meine Chance. Immer noch von dem Grüppchen bestehend aus Mitgliedern unserer Vorband und unserem Staff umzingelt, lässt sich Kaoru in deren Mitte aus dem Raum hinaustreiben. Unterdessen versuche ich mir einen Weg zu ihm zu bahnen. Meine Hand will gerade wie die Kralle eines Greifautomaten nach seinem Handgelenk schnappen, da höre ich Herrn Masuda mit gedämpfter Stimme nach ihm rufen und Kaoru wendet sich von mir ab, ohne von mir Notiz genommen zu haben. Entmutigt lasse ich die Hand wieder sinken. Das ist die Sache, wenn man mit einer großen Mannschaft umherreist: man ist nie so wirklich allein. Und immer will irgendwer was von einem. Und um mal allein zu sein, müssen entweder widrige Umstände eintreten oder ein Wunder geschehen. Gestern hätten wir allein sein können. Gestern hätte uns niemand mehr stören können. Aber gestern ist vorbei. ~*~*~ Zwar bleibt bis zum Auftritt heute Abend viel noch Zeit, aber anders als die relativ entspannten und ungehetzten Tage zuvor, greift jetzt wieder die brutale Realität des Tourlebens. Unser Zeitplan ist vollgestopft. In der Nacht soll es direkt weiter zur nächsten Stadt gehen und somit müssen auch unsere Hotelzimmer bis zum Mittag verlassen und unsere gesamte Crew ausgecheckt sein. Nachdem ich mein Zeug mehr schlecht als recht zurück in Koffer und Taschen gestopft habe, schleppe ich es mit zusammengebissenen Zähnen über die Treppe nach unten ins Foyer. Dort herrscht bereits reges Treiben. Natürlich wollen außer uns noch andere Leute ihre Abreise antreten. Unter den von unserer schieren Personen- und Gepäckanzahl sichtlich genervten Reisenden befinden sich auch ein paar wenige, die uns neugierige Blicke zuwerfen und von deren Gesichtern viele Fragen abzulesen sind. An diese Blicke gewöhnt, rolle ich meinen Koffer laut klackernd über den marmornen Boden rüber zu Shinya und Toshiya, die vor einer makellos glänzenden Fensterfront gelangweilt auf ihrem Gepäck sitzen, weil alle hoteleigenen Sitzgelegenheiten bereits besetzt sind. Ich tue es ihnen gleich. In dem Moment, wo mein Hintern den Deckel meines Koffers zum Ächzen bringt, schaut Shinya von seiner Lektüre auf. "Guten Morgen", krächzt er, obwohl wir uns bereits beim Frühstück gesehen haben. "Guten Tag", erwidere ich, weil es beinahe Mittagszeit ist. "Wo ist Kaoru?" Beim Eintreten ins Foyer habe ich bereits die gesamte Umgebung nach ihm und seinen schmalen Schultern abgescannt, konnte ihn aber nirgends entdecken. Nicht ausgeschlossen, dass es ihm heute Morgen ganz recht ist, mir nicht über den Weg laufen zu müssen. Oder sich vor mir zu verstecken. "Noch nicht hier." Na toll. Missbilligend mit der Zunge schnalzend beginne ich meine Haare mit den Fingern durchzukämmen. Ganz toll. Jetzt wäre doch einer der wenigen Augenblicke, in denen ich ihn vielleicht noch kurz zur Seite ziehen könnte, um mich zumindest ungestört und ungehört bei ihm für mein gestriges Nichterscheinen zu entschuldigen. Und ihn außerdem zu fragen, warum er sich nicht bei mir gemeldet hat. Das wurmt mich auch mit sattem Magen noch. Immerhin hätte mir ja wer weiß was zugestoßen sein kön-- Mir schießen die Tränen in die Augen. Bei der letzten schwungvollen Bewegung hat sich mein Armband in einer Strähne in meinem Nacken verheddert. Ein riesiges Büschel meiner seidigen Haarpracht hängt ausgerissen am versilberten Verschluss. Fluchend vor mich hin grummelnd mache ich mich daran es wieder davon abzuzupfen. Shinyas Hand berührt mich am Unterarm. "Hm?", murre ich und lasse die einzelnen Haare einfach neben mir auf den Boden fallen. "Hm?!", murre ich erneut, weil er mir keine Antwort gibt. Als ich aufblicke, steht Kaorus Gestalt in Großformat - live und in Farbe und in bunt - vor mir. In aller Seelenruhe stellt er seine Tasche ab und hockt sich neben uns hin, als wäre das das Normalste von der Welt, als wäre ich nicht nach wie vor der absolute Albtraum seines Wachzustandes. "Wer von euch hat nachher Lust ein Interview zu geben? Kyo hat mir schon eine Abfuhr erteilt." Eine betörende Wolke, eine Mischung aus Aftershave, Seife und Kaorus ganz eigenem Körpergeruch wabert zielstrebig zu mir herüber. Unwillkürlich atme ich tief ein, fülle meine Lungen damit, bis mir ganz schwummrig von diesem Duft wird und Kaorus Worte wie ein auf dem Boden zerschellendes Puzzle in meinen Gehörgängen verhallen. Wo gerade wieder die altbekannte Aufmüpfigkeit in mir hochkochen wollte, ist diese nun mit einem Mal vollständig verpufft. Fortgerissen von einem Sturzbach aus Erinnerungen starre ich entgeistert auf Kaorus Lippen, die sich in Erwartung auf eine Antwort leicht geschürzt und schon fast zu einem Kussmund geformt haben. "Na? Keine Freiwilligen?" "Für welches Magazin war das noch mal?" "Metal Vision." "Ach ja. Klar, warum nicht. Vielleicht nicht ganz verkehrt, um vor dem Auftritt noch ein bisschen Zeit totzuschlagen." Toshiya kann ein Gähnen kaum unterdrücken. "Perfekt. Dann leite ich das weiter." Kaoru und seine Duftwolke ziehen an mir vorbei. Ich schaue zu Shinya herüber. Shinya schaut nur stumm zurück. "Häh?", sage ich in den Raum hinein. Verwundert kratzt sich Toshiya an der Wange. "Hast du deine Nachrichten heute Morgen nicht gelesen?" "...flüchtig." Vielleicht war ich heute Morgen mit anderen Gedanken beschäftigt. "Das Doppelinterview", sagt Toshiya, als müsse der Groschen jetzt bei mir fallen, und schlägt träge ein Bein über das andere, aber der Groschen schwebt weiterhin in der Luft. "Doppelinterview?" Ich krame in meinem Kurzzeitgedächtnis, versuche mich an meinen Posteingang zu erinnern, erinnere mich aber nur an meine Entrüstung über Kaorus Funkstille in eben diesem. "Moment mal, es gibt ein Doppelinterview?" "Ja?" "Und du bist dabei? Und wer ist dann der andere? Kaoru, oder was? Und warum fragt er nicht mich?" "Warum hast du dich nicht einfach freiwillig gemeldet?" Toshiyas Gegenantwort ist so sachlich, so naheliegend, ich kann nicht mal ausflippen. Anstatt verstrahlt vor mich hinzu schmachten, jedes Mal, wenn Kaoru mir zu Nahe kommt und seine bloße Anwesenheit mir die Sinne vernebelt, hätte ich ihm auch ruhig aufmerksam zuhören können. Immerhin ist es ja nicht so, als hätte er mich von vorneherein von etwas ausgeschlossen. Ich gehe meine Nachrichten noch mal durch. Tatsächlich steht es da schwarz auf grau, die Information von Herrn Masuda zu dem Interview. Wie konnte mein Gehirn das nur so ausblenden? Ich ringe mit mir selbst und meinem Stolz. Ich könnte Toshiya darum bitten mit mir zu tauschen. Schließlich erweckt er nicht gerade den Eindruck, als würde er sich sonderlich um diesen Pressetermin reißen. Andererseits scheint Kaoru ohnehin nicht besonders viel daran zu liegen mich dabei zu haben, sonst hätte er mich doch direkt gefragt, oder? Über die Köpfe der anderen hinweg halte ich nach Kaoru Ausschau. Ein paar Meter von mir entfernt entdecke ich ihn einmal mehr in ein Gespräch mit jemand anderem verwickelt. Als unsere Truppe zusammengetrommelt wird und wir in Reih und Glied unter lautem Geklapper und Geratter das Hotel in Richtung Bus verlassen, drehen sich die Zahnräder in meinem Kopf noch immer so, als würden sie Sand zu noch feinerem Sand zermahlen. ~*~*~ Eins steht fest: Ich muss unbedingt mit Kaoru reden. Ich kann jetzt nicht einfach so tun, als wäre das Kussdebakel im Aufzug nie passiert und zur geregelten Tagesordnung übergehen. Ich muss endlich wissen, was zur Hölle er sich dabei gedacht hat. Was zur Hölle er sich dabei gedacht hat diese Büchse der Pandora in mir zu öffnen. Öl in mein Feuer zu gießen. Einen Ertrinkenden zurück aufs Schiff zu ziehen, nur, um ihn dann erneut ins offene Meer zu stoßen. Ich muss ihn zu fassen kriegen. Allein. In einem ruhigen Moment. Aber natürlich gestaltet sich das eingepfercht in eine schaukelnde Tourbusbüchse genauso schwierig wie man es sich vorstellt. Während der Fahrt ist es nahezu unmöglich sich ernsthaft zu unterhalten, und angekommen an der Konzerthalle nimmt der allgemeine Wahnsinn sofort wieder seinen festgelegten Lauf. Ausladen, aufbauen, Soundcheck, Lightscheck, ... Wenn Kaoru mal in Reichweite ist, nie für lange und niemals ohne jemand anderen am Rockzipfel. Unmöglich ihn bei Seite zu ziehen. Nicht, dass man das, was zwischen uns ist - oder vielleicht auch eben nicht ist - mal eben so kurz zwischen Tür und Angel klären könnte. Zu diesem Zeitpunkt wäre mir jedoch alles recht, um wenigstens ein bisschen Zeit mit ihm zu verbringen. Wenigstens ein Gefühl dafür zu bekommen, wie er gerade zu mir steht. Verdammt, hätte ich gewusst, dass es sich bei dem Pressetermin um ein Interview mit zwei Personen handelt, hätte ich mir auf keinen Fall durch die Lappen gehen lassen, dicht an dicht mit Kaoru auf hohle, schon tausend mal gehörte Nullachtfünfzehn Fragen zu antworten. Aber das Innenleben meines Kopfes weist mittlerweile erschreckende Parallelen zu einem Messihaushalt auf. Wichtige Informationen werden einfach achtlos irgendwo hingeschmissen, liegen überall verstreut, und wenn ich sie brauche, finde ich sie zwischen dem ganzen Schrott nicht mehr. Und je mehr Zeit verstreicht, desto fuchsiger werde ich nur. Selbstverständlich hielt es Kaoru nicht für nötig mich explizit zu fragen, ob ich mitkommen möchte. Nicht auszudenken, wenn ich anstelle von Toshiya zugesagt hätte und er sich mit mir hätte rumplagen müssen. Meine eigene Dummheit anderen in die Schuhe zu schieben, bringt mich auch nicht weiter. ~*~*~ Ich lasse mich vom regen Geschehen um mich herum treiben. Mehr wie ein Geist als eine physisch existierende Person. Lungere backstage herum, stehe allen im Weg, weiß nicht so recht, wohin mit mir selbst. Streune in der Halle umher. Stelle mich auf den Balkon, von dem aus man die gesamte Bühne überblicken kann. Sehe mir das Beleuchtungssystem an und wie unser Techniker, die vorprogrammierte Lightshow darauf abstimmt. Beobachte wie der Merchandise-Stand aufgebaut wird. Genehmige mir hinter den Kulissen einen kleinen Snack. Rauche eine im Hinterhof. Drücke auf meinem Handy herum. Ganz egal, wo ich mich aufhalte, irgendwo fällt irgendwie immer eines meiner Augen auf Kaoru. Doch treffen sich unsere Blicke nie länger als die von zwei aneinander vorübergehenden Fremden. Mittlerweile bin ich mir unsicher, ob er mich nicht doch absichtlich ignoriert und es ihm ganz gut in den Kram passt, sich nicht mit mir beschäftigen zu müssen. Mit der aktuellen Ausgabe von Metal Vision vor mir auf dem Tresen sitze ich auf einem der am Boden festgeschraubten Barhocker in der Halle und blättere lustlos durch die Seiten des Magazins. Ohne dem englischen Text oder den Artikeln viel Beachtung zu schenken, überfliege ich nur die Namen der vorgestellten Bands und sehe mir ihre Bilder an. Obwohl der Tresen kurz zuvor auf Hochglanz poliert worden sein muss, ist seine Oberfläche so zerkratzt, man könnte ihm glatt die Zukunft von seinen Furchen und Kerben ablesen. Ich klappe das Magazin zu, trommele eine Weile unschlüssig mit den Fingerspitzen einen mehr oder weniger melodischen Rhythmus auf dem Cover, bevor ich mich schließlich umdrehe und in der Halle hinter mir umschaue. Auf der Bühne sind unsere Leute noch immer fleißig am Werkeln. Jeder scheint in Bewegung zu sein, nur ich fühle mich irgendwie als würde ich auf 0.25 und 144p laufen. Ich massiere meine pochenden Schläfen. Kaoru redet jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit mit dem Tontechniker in der hintersten Ecke der Bühne. Mit verschränkten Armen stehen sie einander gegenüber und labern sich gegenseitig Knöpfe an die Backe. Worüber sie reden, kann ich von hier aus nicht ausmachen. Außerdem bin ich mir nicht mal sicher, ob sich Kaoru meiner Anwesenheit überhaupt bewusst ist. Ab und an habe ich ihm durch meine verdunkelten Brillengläser einen verstohlenen Blick zu geworfen, in der Hoffnung den richtigen Moment abpassen zu können, um ihn unter vier Augen zu sprechen. Je länger ich hier hocke, desto matschiger werde ich jedoch in der Birne. Mir dieses behämmerte Magazin noch ein viertes Mal zu Gemüte zu führen, verkrafte ich nicht mehr. Toshiya hat es mir vorhin mit den Worten "Da siehst du, was du verpasst" in die Hand gedrückt, als ich mir einen Kaffee geholt habe. Ich kann mich noch nicht ganz entscheiden, ob es eine nette Geste war mit der er mir zeigen wollte, dass mir bei diesem Schnarchblatt keine once-in-a-lifetime-Chance flöten gehen wird oder ob er mir damit sagen wollte, dass ich in Zukunft weniger geistesabwesend bei Bandangelegenheiten sein sollte. Wenn ich es mir recht überlege, klingt letzteres doch eher nach Kaoru. Fuck, was würde ich gerade dafür geben von Kaoru angemeckert zu werden. Irgendeine schnippische Bemerkung. Ein finsterer Blick. Ein Witz auf meine Kosten. Zwar haben wir uns wohl mehr oder weniger stillschweigend auf Waffenstillstand geeinigt, aber so gar nicht mit einander zu sprechen, fühlt sich merkwürdig an. Wie eine verkehrt herum angezogene Socke. Ich rücke meine Sonnenbrille zurecht. Der Tontechniker scheint endlich Anstalten zu machen sich aus dem Gespräch auszuklinken. Auch Kaorus Körpersprache kündet von Aufbruchstimmung. Meine trägen Zellen erwachen allmählich aus ihrem Dornröschenschlaf. Wie als würde er nur kurz die Uhrzeit checken, leuchtet Kaorus Handydisplay für eine Millisekunde auf und wirft einen blauen Lichtschein in sein Gesicht. Dann wendet er sich dem Bühnenausgang zu. Plötzlich strömt Adrenalin durch mich durch. Er ist unbegleitet. Keiner eiert ihm hinterher. Das ist meine Chance, mein Moment auf den ich schon den ganzen Tag gewartet habe. Ich muss schleunigst hinterher, bevor ihn wieder irgendein anderer Dullikopf in Beschlag nimmt. In meiner Aufregung katapultiere ich beim Aufstehen das Metal Vision Magazin quer durch den Raum. Ich höre es hinter mir zu Boden flattern. Nichts könnte mich im Augenblick weniger jucken. Bemüht nicht zu strammen Schrittes hinter ihm herzulaufen, steuere ich auf die Bühne zu. Ich schwinge mich hinauf und nehme den selben Ausgang wie er. Er ist noch nicht weit gekommen. Kaum ein paar Meter vor mir schlendert er nichtsahnend durch die Gänge. Alles um mich herum wirkt auf einmal wie farbentsättigt, die Leute sind zu einer unscharfen Masse verschwommen, ihre Geschäftigkeit spielt sich nur noch am Rande meines Blickfelds ab. Ich habe die Verfolgung aufgenommen. In sicherem Abstand an seine Fersen geheftet, stelle ich Kaoru zwischen den verzweigten Fluren nach wie ein Taschendieb seinem nächsten Opfer. Mehrmals stoße ich dabei beinahe mit jemandem zusammen, muss einem Typ und seiner mit Bierkästen beladenen Sackkarre in Schlangenlinien ausweichen und nur ein paar Zentimeter weiter links und meine Schulter hätte unangenehme Bekanntschaft mit der scharfen Kante einer Betonwand gemacht. Trotzdem gelingt es mir Kaoru als einzigen Farbkleks in dieser mausgrauen Umgebung fest im Blick zu behalten. Ich sehe ihn eine Treppe hinaufsteigen, die zur VIP-Lounge und den Besprechungsräumen führt und folge ihm ins Obergeschoss. Als ich oben ankomme, hat er längst das Ende des Ganges zur meiner Linken erreicht und ist drauf und dran einen Raum zu betreten. Hastig bringe ich die letzten paar Meter bis zu ihm hinter mich. Meine Hand streckt sich nach der Tür aus, die vor mir ins Schloss zu fallen droht. Doch mitten in der Bewegung gerate ich ins Stocken. Kurz bevor meine Fingerspitzen die Klinke berühren, springt mir das Piktogramm auf der Tür ins Auge. Männertoilette. Ich bleibe stehen. Unsicher, ob ich dort tatsächlich hineinmarschieren soll, trete ich auf der Stelle wie ein Ackergaul. Bestimmt hat mich jemand gesehen, wie ich Kaoru nachgelaufen bin. Unmöglich, dass keiner meinen mittelmäßigen Stalkingversuch nicht mitbekommen hat. Ihm jetzt dorthin zu folgen, käme doch sicherlich ziemlich seltsam rüber, oder? Meine Hand schwebt über der Türklinke. Anderseits kennen wir uns schon ewig. Das wäre schließlich nicht das erste Mal, dass wir gemeinsam eine Toilette aufsuchen. Aber wäre dies nicht auch der undenkbar schlechteste Ort, um sich auszusprechen? Was für einen Eindruck würde das bitte auf Kaoru machen? "Hey, ja, Entschuldigung? Könntest du kurz mal deinen Penis wegpacken, ich muss mit dir über meine Gefühle reden." Mir bleibt das hysterische Lachen quer im Halse stecken. Die Klinke bewegt sich, obwohl ich sie nicht berühre. Kaorus Gesicht erscheint genau vor meiner Nase im Türrahmen. "Heilige Scheiße, Die! Hast du mich erschreckt!" Geradezu synchron taumeln wir beide jeweils einen Schritt zurück. Ich fasse mir an mein heftig schlagendes Herz. "W-wie schnell bist du denn bitte?!", platzt es ungefiltert aus mir heraus, da sich mein Gehirn vor lauter Schock noch im Leerlauf befindet. "Wie? Was meinst du?" "Hast du dir deine Hände nicht gewaschen?!" Verstört wandern Kaorus Augen zu seinen Händen herunter. "Häh?" Es dauert einige Sekunden, bis er sich meiner Anspielung bewusst wird. "Ach so..." Er räuspert sich. "Ich hab nur in den Spiegel geschaut." "In den Spiegel?" "Ja? Warum? Bist du etwa von der Spiegelpolizei?" Ich fass es nicht. Es ist unser erstes richtiges Gespräch heute und es ist an Dämlich- und Belanglosigkeit kaum mehr zu übertreffen. "Ich muss gleich zum Interview. Wollte sichergehen, dass meine Haare auch liegen." Sein verlegenes Lachen, die Art wie er sich unbeholfen die Haare übers Ohr streicht, löst schon fast Spontandiabetes bei mir aus. "Ach ja, das Interview." Nur ungern rufe ich mir das ins Gedächtnis zurück. "Sorry, du wolltest bestimmt gerade..." "Was?" "Hm?" Wie zwei Grenzdebile starren wir einander an. Es fehlt nur noch der Steppenläufer, der theatralisch zwischen uns durch den Flur weht. Kaorus Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Wolltest du nicht--?" "Kaoru-san!" Noras Stimme hallt von der anderen Seite des Ganges zu uns herüber. Bewaffnet mit einem Notizblock gestikuliert sie hektisch in unsere Richtung. Neben ihr ragt Toshiya auf wie eine dunkle Kirchturmspitze. "Komme sofort!", ruft Kaoru halblaut zurück, aber seine Augen sind noch immer auf meine Nase geheftet. Hinter seiner gerunzelten Stirn kann ich es arbeiten hören. Er weiß es. Scheiße, er weiß, dass ich ihm nachgelaufen bin. Dass ich ihn bis auf die Toilette verfolgen wollte. Auch wenn ich das nicht wirklich tun wollte! Moment mal, bilde ich mir das ein? Ist das da etwa ein Lächeln, das sich um seine Lippen kräuselt? "Ah ja, soso...", schmunzelt Kaoru vor sich hin und sieht dabei aus wie ein Kätzchen, das gerade mit Sahne gefüttert wurde. Mit befremdlicher Gemächlichkeit schiebt er sich dicht an mir vorbei. "Darüber reden wir später, ja? Versetz mich nicht wieder." Mir schießt das Blut ins Gesicht. Vielleicht läuft es mir auch aus den Augen. Oder den Ohren. Wer kann das schon sagen? Perplex, wie angewurzelt, sehe ich ihm nach, doch er dreht sich nicht mehr zu mir um. An der Seite von Nora und Toshiya verschwindet er den Gang runter hinter einer sich schließenden Tür und ich stehe hier immer noch wie der allergrößte Vollhorst an der halbgeöffneten Klotür. ~*~*~ Ich weiß nicht, was das sollte und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr qualmt mir der Schädel. Und da kokelt wahrlich schon genug Humbug vor sich hin. Ich werde einfach nicht schlau aus ihm. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schon fast behaupten, Kaoru hätte vorhin mit mir geflirtet. Aber offensichtlich ist die Hölle noch nicht zugefroren und das somit vollkommen ausgeschlossen. Ich soll ihn nicht wieder versetzen. Als ob ich das mit Absicht getan hätte! Mein Blick fällt auf die Uhr an der Wand. Mit Sicherheit ist das Interview längst vorbei. Strenggenommen ist es noch zu früh, um sich für den Auftritt in Schale zu verwerfen, aber auf meiner heutigen to-do-Liste befinden sich nun mal nicht mehr sonderlich viele unabgehakte Punkte und was Sinnvolleres weiß ich beim besten Willen nicht mehr mit mir anzufangen. Nachher komme ich nur wieder auf dumme Gedanken. Also habe ich meinen Arsch im Ankleideraum geparkt, genauer gesagt am Schminktisch, und betrachte mein Gesicht im Spiegel, das zwar optimal ausgeleuchtet ist, aber dennoch müder denn je aussieht. Aus dem Nachbarraum dringen gedämpftes Gelächter und die dröhnenden Stimmen der Mitglieder unserer Vorband zu mir herüber. Wie gerne würde ich mich jetzt zu ihnen gesellen, ein Bierchen kippen und eine ordentliche Partie Tischtennis mit ihnen auf der Platte nebenan hinlegen. Die Ablenkung könnte ich wirklich gebrauchen. Aber ich habe mir ganz fest vorgenommen auch heute keinen Alkohol zu trinken. Und ich kenne mich mittlerweile gut genug, um mir keinen Meter weit zu trauen. Ich weiß genau, sobald ich auch nur in den Dunstkreis der anderen gelange, läuft es unweigerlich darauf hinaus, dass mir irgendwer eine Flasche in die Hand drückt und ich mich wieder von den anderen mitreißen lasse, meinen Frust in Hopfenkaltschale zu ertränken. Ich zupfe ein Taschentuch aus der Schachtel neben mir und tupfe damit vorsichtig meine vom Kontaktlinseneinsetzen noch ganz feuchte Wimpern ab. Wie ich so mit geschlossenen Augen dasitze, höre ich hinter mir das Klacken der Tür. Kurzzeitig werden die Geräusche von drüben lauter. Jemand betritt den Raum. "Ich hab dir 'nen Eiskaffee mitgebracht." Die Tür fällt zurück ins Schloss und Kyo stellt etwas, das verdächtig nach einem Pappbecher klingt, vor mir auf den Tisch. Ich öffne ein Auge. "Gar nicht gemerkt, dass du weg warst." "Nur kurz nach drüben geflitzt." Lässig an seinem Getränk nippend lehnt er sich rechts von mir gegen die Tischkante. "Musste den Hintereingang nehmen. Die Hölle los da draußen." "Also hast du den unter Einsatz deines Leben für mich besorgt? Sehr aufopferungsvoll." Kyo angelt sein Handy aus seiner Gesäßtasche und schnaubt. "Ne? Find ich auch." Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Kopfschüttelnd beginne ich mit einem Schwämmchen meine kilometerlangen Augenringe abzupudern. Was vielleicht nicht äußerst sinnvoll erscheint, wenn ich mich später sowieso wieder wie ein Panda anmale. Nach und nach verschwinden die düsteren Schatten unter meinen Augen und auch die restlichen Unebenheiten auf meinem Gesicht werden Schicht für Schicht unsichtbarer. Manchmal wünschte ich, alles würde sich so leicht verbergen lassen. Aber nur, weil etwas gut verborgen ist, heißt das nicht, dass es aufhört zu existieren. Ich lege den Schwamm beiseite und meine Stirn in Falten, blicke mir selbst im Spiegel tief in die Augen. Hinter mir öffnet sich abermals die Tür. Diesmal ist es Kaoru, der zu uns hereintigert. Ohne sich wirklich zu uns zu drehen oder uns Beachtung zu schenken, steuert er direkt auf den runden Tisch in der Mitte des Raumes zu. Heimlich beobachte ich ihn aus dem Spiegel heraus. Emsig kramt er in seiner Tasche herum. Kurz blitzen eine Haarbürste mit verchromtem Griff und eine Dose Haarspray auf, dann kommt eine Menge Kleidung zum Vorschein. Neben mir beginnt sich Kyo zu regen, das Scrollen auf seinem Handy hat ein abruptes Ende gefunden. Es verschwindet wieder in den Tiefen seiner Hose. Kyo zieht hörbar die Nase hoch und gibt mir einen Klaps auf die Schulter. "Man sieht sich", sagt er, bevor er mit undechiffrierbarer Miene den Raum verlässt. Ich blicke ihm nach. Möglicherweise hat er nur ein paar Anstandssekunden gewartet, bis er uns nicht mehr allzu auffällig alleine lassen kann. Eine Undercover-Mission war's jetzt aber auch nicht gerade. Stillschweigend luschere ich zu Kaoru herüber. Auch er hat Kyo hinterhergeschaut. Ehe sich unsere Blicke treffen können, hefte ich meine Augen zurück auf meine Puderdose. Zwar wollte ich die ganze Zeit mit Kaoru alleine sein, doch jetzt, wo wir es tatsächlich sind, beschleicht mich eine Art elektrisierende Nervosität, mit der ich so nicht gerechnet hätte. Ich sollte etwas sagen, aber ich weiß wie. Ich will etwas sagen, aber die Worte zerfallen mir auf der Zunge. Und so vergehen die Minuten scheinbar in unbehaglicher Stille, obwohl aus dem Nebenzimmer noch immer die Geräusche eines aufgebrachten Urwalds zu uns herüberschallen. Minuten, in denen ich mich äußerlich ungerührt schminke, doch aufmerksam dem Rascheln von Stoff hinter mir zuhöre. Kaoru schlüpft verdeckt vom Raumtrenner in sein Bühnenoutfit. In unbequemer, beinahe regungsloser Pose vor dem Spiegel hängend ziehe ich meine Augenbrauen nach, während diese Stille langsam ihre unsichtbaren Hände nach mir auszustrecken scheint. Mitleidlos schlingen sich ihre Finger um meinen Hals, drücken mir mit jeder zerflossenen Sekunde mehr und mehr die Luft ab. "Bist du sauer auf mich?", bricht es aus mir hervor, als ich es nicht länger ertrage. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine nicht definierbare Bewegung hinter mir im Spiegel. Neubekleidet tritt Kaoru aus dem Schatten des Raumtrenners hervor. Mit beneidenswerter Tiefenentspanntheit nähert er sich wieder seiner Tasche auf dem Tisch und wühlt erneut darin herum. "Sollte ich?" Nun fokussiert sich mein Blick doch genauer auf ihn. "Das ist keine Frage, die du mit einer Gegenfrage beantworten solltest." "Frag mich noch mal", erwidert er, ohne von seiner Tasche abzulassen oder aufzusehen. Ich stöhne genervt. Um ein Haar hätte ich mich vermalt. "Bist du sauer auf mich?" "Ja." "Was?" Klappernd lege ich den Augenbrauenstift auf den Tisch und drehe mich zu ihm um, warte auf eine Erklärung, doch da er keinerlei Anstalten macht, das noch weiterauszuführen, werfe ich nach: "Und wieso?" Hinter all den Haaren kann ich sein Gesicht nicht erkennen, aber selbst über den Tumult von nebenan hinweg höre ich noch seinen Atem, wie er zuerst tief Luft holt und diese kurz darauf wieder laut und kräftig ausstößt. Sein Brustkorb hebt und senkt sich dabei merklich. "Wo soll ich da bloß anfangen..." "Kaoru." "Ja?" "Ob du mich verarschen willst, hab ich dich gefragt." "Vielleicht." So ein Drecksack. Spielt schon wieder mit meinen Gefühlen. Manchmal könnte ich ihn echt erwürgen... "Hilf mir mal mit dem Reißverschluss." Wie als hätte er meine Gedanken gelesen, streicht er sich unvermittelt die Haare aus dem Nacken, um diese hochzuhalten, steht wartend da wie eine Anziehpuppe. Erst hadere ich mit mir, dann erhebe ich mich aber doch brummelnd und trete hinter ihn, tue, was er sagt, obwohl mein Gehirn kurz darüber nachdenkt ihn tatsächlich an Ort und Stelle zu strangulieren. Anderseits... Wie ferngesteuert greift meine Hand nach dem halbhochgezogenen Reißverschluss, zieht ihn nach unten, statt nach oben, spaltet den Stoff entzwei und entblößt Kaorus blassen Rücken bis zu seiner Hüfte. "...hoch, Die. Hoch." Ich versuche nicht mal zu verbergen, dass ich das mit voller Absicht getan habe. "Upps. Mein Fehler." Vorsichtig, um seine Haut nicht einzuklemmen, ziehe ich den Reißverschluss wieder in die entgegengesetzte Richtung, hoch bis in seinen Nacken, betrachte stumm die gerade Linie seines schlanken Halses. Es fällt mir schwer mich nicht wieder wie heute Morgen von seinem Geruch, seiner Nähe, und vor allem von seiner Wärme berauschen zu lassen. Andächtig streiche ich den Stoff über seinem Rücken glatt. In meinem Kopf sehe ich mich Dinge mit Kaoru anstellen, die weder sanft noch romantisch sind. "Die... Ich bin dir nicht sauer, dass du gestern Abend nicht aufgetaucht bist", sagt er nichtsahnend von meinen inneren Konflikten. "Echt nicht? Aber ich-" Er dreht sich zu mir um. "Lass mich ausreden." Ich verstumme. Zwischen uns liegt wieder eine Armlänge Platz. Eine kurze Distanz, doch es scheint mir wie ein Graben so tief wie ein Canyon. "Und ich glaube, du hast da gestern auch etwas falsch verstanden." "Ach. Hab ich das." "Ja, hast du." Als er erneut den Mund aufmacht, klingt seine Stimme verändert. "Denke ich." "Okay, und was wäre das?" "Naja, ich würd's dir ja jetzt zeigen, aber da du gerade eben erst meinen Reißverschluss so schön hochgezogen hast..." "Kaoru. Worum geht's?" "Ich weiß ja nicht, was du dir alles so in deinem Kopf zusammenspinnst-" Am liebsten würde ich das direkt zurückgeben. "-aber den Fleck, den du gestern Morgen auf meinem Oberkörper gesehen hast, das ist ein blauer Fleck." Ich glotze ihn an. "Kein Knutschfleck." Warum zum Teufel erzählt er mir das? "Als wir mit dem Fahrstuhl steckengeblieben sind, weißt du noch?" Als könnte ich das vergessen. "Als die ganze Kabine so geruckelt hat, da bin ich gestürzt und auf meine Sonnenbrille gefallen." Seine Hand tippt auf die Stelle auf seinem Oberkörper, dort wo sonst oft seine Sonnenbrille im Kragenausschnitt baumelt. "Oh", purzelt es mir über die Lippen. Plötzlich komme ich mir so unsagbar dumm vor. "Ja, nun. Ich wollte nur, dass du das weißt." Die Stimmen aus dem Flur werden lauter. Mit großem Gepolter schwingt die Tür auf und gleich mehrere Leute platzen zu uns herein. Ich nehme nicht mal wirklich wahr, wer genau es ist. In meinem Kopf wirbeln die Gedanken wie vom Wind aufgewühltes Herbstlaub umher. Was soll ich mit dieser neu gewonnenen Information anfangen? Was verändert sich durch dieses neu erlangte Wissen? In der vorhin noch so stillen Garderobe ist es laut und hektisch geworden. ____________ To be (or not to be) continued. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)