The Exam Called Life von Aranori ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Aufgabe #1: Charakteranalyse – Finde heraus, wer du bist! Das letzte Jahr eines Lebensabschnitts ist ein ganz besonderes. Man beginnt zu planen, wie es in Zukunft weitergehen soll, reflektiert die letzten Jahre und stellt sich vor allem die Frage: was ist das Bild, was ich von mir gezeichnet habe? Hatte ich zu Beginn eine Intention? Und wenn ja: was wollte ich erreichen? Habe ich mich verstellt, um den Leuten zu gefallen? Wollte ich einfach nur ich selbst sein? Oder habe ich es geschafft, aus meinen alten Verhaltensmustern auszubrechen und neue Seiten an mir kennen zu lernen? Aber was das Wichtigste ist: habe ich jetzt noch die Chance, alles grundlegend zu ändern? Solche inneren Monologe sind normal für junge Leute, die kurz vor der Vollendung ihrer Schulzeit stehen. Denn was da draußen wartet, ist das wirkliche Leben. Das, wovor die eigenen Eltern einen immer warnen. In der Hoffnung, ihre Sprösslinge wurden in der Lehranstalt richtig auf den Ernst des Lebens vorbereitet. Unsere Geschichte beginnt an einem warmen Tag Ende August, irgendwann in den späten Siebzigern. Die Sonne schickte ihre gleißenden Strahlen hinab auf die Straßen von St. Canard, auf denen sich bereits zahlreiche Gestalten tummelten. Junge Männer schwitzten in ihren schwarzen Anzügen, während sie im Stechschritt in Richtung U-Bahn liefen. Ihre wichtig anmutenden Aktentaschen schwangen im Takt der Schritte vor und zurück. In den Parks fuhren Mütter ihre Kleinkinder in Buggys spazieren, andere Leute führten ihre Hunde aus oder nutzten die letzten Minuten vor Arbeitsbeginn noch mit der Lektüre der Tageszeitung. Und die allgemeine Hektik der Großstadt setzte sich in gleicher Intensität bei den Schülern der St. Canard High School fort. Es war der erste Tag nach den Sommerferien, und die Jungen und Mädchen der Schule machten sich ebenso überstürzt wie ihre älteren Mitmenschen auf den Weg in ihre Bildungsanstalt. Besonders auf dem Abschlussjahrgang lag nun der allgemeine Fokus des Interesses. Wer würde es am Ende des Jahres auf die meisten Auszeichnungen bringen, wer würde es nicht schaffen, den Abschluss zu erlangen? Diese Fragen stellten sich nicht nur die unteren Jahrgänge und die Lehrer, sondern auch die besorgten Mitglieder des Abschlussjahrgangs. Eine von ihnen saß gerade im Schulbus und schaute besorgt aus dem Fenster. Ihre ausgebeulte Tasche, die vor lauter Büchern fast aus den Nähten platzte, lag auf dem Schoß. Der Kopf des Rattenmädchens war an die Scheibe gelehnt und ruckelte im Takt sachte hin und her. Außer ihr befanden sich im Bus nur Schüler der jüngeren Jahrgänge, sie war die einzige Oberstufenschülerin. Was würde das wieder für ein verhaltenes Kichern von ihren Mitschülern geben, wenn sie vor der Schule ausstieg und über das Pflaster zur Tür lief. Die Jungs würden schmunzelnd den Kopf schütteln und die Mädchen würden sie mit abschätzenden Blicken mustern und etwas von „graue Maus“ und „Freak“ murmeln. Vielleicht würde man ihr auf dem Weg zum Klassenraum noch ein paar Kommentare hinterher rufen oder ihr ein Bein stellen, aber keinesfalls würde jemand am Spind auf sie warten, wie es bei den anderen Mädchen der Fall war. Eleanor Johansson hatte keine Freunde. Nun begann also das letzte Jahr in ihrer verhassten Schule. Und die Schule schien auch sie zu hassen. Denn wie sonst sollte man den Status beschreiben, den Eleanor als Vorzeigestreberin einnahm? Sie, die von allen wegen ihres Aussehens gehänselt wurde und die von Intelligenzallergikern umgeben war. War es denn so uncool, sich Gedanken über seine Zukunft zu machen, sich für Naturwissenschaften und Sprachen zu interessieren und sie als Hobbys in die Freizeit zu integrieren? Ja, war es denn schlimm, gerne zur Schule zu gehen? (Natürlich nicht der Leute wegen, sondern um sich zu bilden.) Mit einem Ruck blieb der Bus stehen. Das Rattenmädchen war ganz versunken in seine Gedanken gewesen, dass es überhaupt nicht bemerkt hatte, dass sie inzwischen an der High School angekommen waren. Sie seufzte und stand lustlos von ihrem Platz auf, nicht ohne von einem Tross Siebtklässler angerempelt zu werden, die kreischend auf die Tür zu und hinaus ins Freie rannten. Eleanor konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Diese Kinder waren so unbeschwert, für sie gab es noch nicht so etwas wie Statussymbole. Und sie mussten sich in kein festes Rollengefüge zwängen. Mit ihren 17 Jahren hatte Eleanor es viel schwerer. Im Gegensatz zum großen Rest ihres Jahrgangs besaß sie noch keinen Führerschein (warum auch? Autos verschmutzten doch nur die Umwelt!) und hatte auch keine Freunde, die sie mitnehmen konnten. Somit war sie auf den Bus angewiesen und erntete dafür tagtäglich Spott und Gelächter. Auch heute war es nicht anders. Sie hörte sie schon, als sie ihren Fuß auf die erste Trittstufe der Ausgangstür setzte. „Guckt mal, wer da kommt! Huhu, Eleanor!“ Die anderen Mädchen johlten und pfiffen, aber Eleanor sah nicht hin. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Sie beschleunigte ihre Schritte und versuchte, die Farbe ihres Gesichts so neutral wie möglich zu halten. Das schrille Lachen hallte ihr hinterher, bis sie die Tür zum Hauptgebäude geöffnet hatte und dahinter verschwunden war. Das Rattenmädchen blieb stehen und atmete aus. Eigentlich sollte sie doch darüber stehen und sich nach all den Jahren nichts mehr daraus machen. Ja, eigentlich sollten sie inzwischen den Mut angesammelt haben, sich zu wehren. Aber das hatte Eleanor nicht. Bereits in ihren frühsten Kindertagen hatten ihre Eltern ihr eingebläut, den Erwartungen der anderen nachzukommen. Erst danach kämen ihre eigenen Bedürfnisse. Und da es die Erwartung ihrer Mitschüler zu sein schien, dass sie sich belustigend benahm, sah sie geringe Chancen, aus diesem Muster auszubrechen. Es war noch ziemlich früh, und Eleanor war allein im kühlen, schützenden Bauch der Schule. Sie linste nach draußen. Tatsächlich: ihre Klassenkameradinnen wagten sich jetzt noch nicht hinein. Viel lieber wollten sie ihren Freundinnen, den Jungs und sowieso der Welt da draußen ihre neuen Sonnenbrillen präsentieren, die sie sich im Frankreich-Urlaub gekauft hatten. Sie sah Preena Lot, das beliebteste Mädchen ihres Jahrgangs und klare Anwärterin für den Titel der Abschlussballkönigin, wie sie mit ausschweifenden Handbewegungen ihren staunenden Freundinnen vermutlich von ihrem exklusiven Cluburlaub erzählte. Na und, dachte Eleanor, ich war dieses Jahr in Ägypten! Da würdest du dich nie hintrauen, aus Angst, dein Make-up könnte verlaufen! Aber was sie da gemacht hatte, war ja auch nicht interessant für ein Mädchen ihres Alters. Sie war sich zumindest sicher, dass sie so schnell keines kennen lernen würde, dass sich für ein Ausgrabungs-Camp begeistern konnte. Eleanor wandte ihren neugierigen Blick von Preena ab und machte sich daran, in den Unweiten ihrer Tasche nach ihrem Stundenplan zu suchen. So gut ihr Gedächtnis war: sie konnte sich nicht merken, welche Stunde auf welche folgte. Die ersten beiden Stunden an diesem Tag waren Französisch. Na super, ich darf die Gesellschaft der werten Damen noch ein wenig weiter ertragen, dachte Eleanor geringschätzig. Sie beschloss, die verbleibende Zeit bis zum Stundenbeginn in der Mädchentoilette zu verbringen. Dort konnte sie sicher sein, dass sie niemand stören würde. Glücklich, auf dem Weg niemandem begegnet zu sein, stieß Eleanor die Tür zu den Toiletten auf und besetzte intuitiv eine Kabine in der Mitte. Die letzte in der Reihe wäre dann doch zu auffällig gewesen. Sie schloss die Tür hinter sich ab und setzte sich auf den Deckel, die Tasche auf dem Schoß. Sie starrte hinunter auf die Kacheln und versuchte, Muster aus den Flecken auf dem schlecht geputzten Boden zu erkennen. Das half sonst wunderbar, die negativen Gedanken aus dem Gedächtnis zu wischen. Aber heute wollte es nicht so recht klappen. Eleanor musste zugeben, dass es sie zu sehr beschäftigte, ob sich in diesem Jahr noch mal was tun würde. Sie rechnete nicht damit, besonders viele Freundschaften zu schließen, aber sie erhoffte sich dennoch, den anderen etwas Sympathie abgewinnen zu können. Denn, um ehrlich zu sein: sie waren doch nun alle erwachsen genug, um sich mit etwas mehr Respekt zu begegnen. „Nein“, meldete sich nun eine Stimme in Eleanors Kopf, „warum sollte sich ausgerechnet jetzt etwas ändern?“ Verdammt, warum musste sie nur immer so negativ denken? Eleanor schüttelte den Kopf, um ihr Unterbewusstsein zum Schweigen zu bringen. Mit einem Knall öffnete sich die Tür zu den Toilettenräumen und eine Gruppe giggelnder Mädchen kam herein. Sie konnten sich kaum einkriegen. Das Rattenmädchen versteifte sich vor lauter Anspannung und konnte gerade noch seine Tasche davor retten, von seinem Schoß auf den Boden zu rutschen und somit seine Anwesenheit zu verraten. Sie zog die Beine an, legte die Tasche leise obenauf und lauschte. „Habt ihr sie gesehen?“, kreischte eines der Mädchen. Unverkennbar, das war Preenas Stimme. Und klar war Eleanor auch, dass über sie gesprochen wurde. „Klar! Eine Beleidigung fürs Auge solchen Ausmaßes kann man doch nicht übersehen!“, entgegnete eine weitere, etwas rauere Stimme. Sie gehörte Celeste. Das Rattenmädchen biss sich auf die Unterlippe. Celeste war so ziemlich das einzige Mädchen, zu dem Eleanor einst so etwas wie eine engere Bekanntschaft aufgebaut hatte. In der 8. Klasse hatte Eleanor neben ihr gesessen und der jungen Ente bei ihrer Matheschwäche geholfen. Celeste hatte es ihr mit ihrer Aufmerksamkeit und gelegentlichen Konversationen gedankt. Doch leider hatte sich aus dieser Konstellation nie eine richtige Freundschaft erwachsen. Denn mit Beginn der Pubertät hatte sich Celeste schlagartig verändert. Jungs waren auf einmal der Mittelpunkt ihres Lebens, sie schien alles nur noch darauf auszurichten, dem anderen Geschlecht zu gefallen. Das hatte selbstredend Preenas Interesse an ihr geweckt. Die hatte bereits in der 7. Klasse schon diverse Freunde gehabt. Eleanor wunderte sich immer wieder, dass ihr ihr jetziger Freund Hamilton nicht langweilig wurde. Auf jeden Fall war mit dieser Wende die angehende Freundschaft – wenn man sie denn so bezeichnen konnte – zwischen Eleanor und Celeste vorbei. „Die Gute ist wohl irgendwie in den Fünfzigern hängen geblieben“, setzte Preena an. „Ich meine, habt ihr gesehen, wie sie wieder rumgelaufen ist? Macht sie eigentlich keiner darauf aufmerksam, dass wir zeitlich schon ein bisschen vorangeschritten sind?“ Ein zischendes Geräusch war zu hören. Sie schien sich Haarspray auf ihre kunstvolle Frisur zu sprühen. „Vielleicht solltest du diese Aufgabe übernehmen“, schlug Hannah vor. Sie war eine von denen, die sich ständig jemandem unterordneten, weil sie keine eigene Meinung hatten und anderen das Handeln überließen. „Keine schlechte Idee ...“, antwortete Preena. Es gab eine längere Pause. Eleanor konnte die Gehirne der Mädchen vor ihrer Tür quasi arbeiten hören. Schließlich sagte Preena: „Ich glaube, ich habe da auch schon eine Idee, wie wir das anstellen können.“ Ihre Stimme klang bittersüß, als sie sprach. Eleanor lief ein Schauer über den Rücken. Preena war ihre größte Peinigerin, und all ihre Scherze waren äußerst schmachvoll und im schlimmsten Fall auch noch schmerzhaft. Eleanor hörte das bösartige Kichern der Mädchen, es kroch unter dem Türspalt durch wie ein giftiges Gas und schnürte ihr die Kehle zu. Immerhin wusste sie nun, dass die Mädchen etwas planten. Aber was es war, sollte sie nicht erfahren, denn die Truppe machte sich geräuschvoll auf den Weg nach draußen. Das war das Stichwort für Eleanor, sich aus ihrer unbequemen Körperhaltung zu lösen. Sie stellte ihre eingeschlafenen Füße langsam auf dem Boden ab und seufzte. Sie hätte es sich ja denken können: es würde auch im letzten Schuljahr kein Tag vergehen, an dem sie nicht irgendwelche Demütigungen über sich ergehen lassen musste. Sie fragte sich nur, wie die Begrüßung ihrer Mitschülerinnen aussehen könnte. Geräuschlos schloss Eleanor die Tür wieder auf und trat hinaus. Sie seufzte erneut und bewegte sich auf die Waschbecken zu. Sie stellte das Wasser an und ließ das kühle Nass über ihre Hände rinnen. Wie wohltuend dieses Gefühl war, als könnte sie einen Teil ihrer Sorgen einfach den Abfluss hinabschicken. Eleanor schloss die Augen kurz und drehte den Hahn wieder zu. Als sie die Augen wieder öffnete, erschrak sie: bis zu jenem Moment hatte sie es vermieden, in den Spiegel zu schauen. Jetzt erst erkannte sie, wie alt sie aussah. So sehr setzte ihr der psychische Stress schon zu? Schnell löste sie ihren Dutt, fuhr sich durch die rotbraunen Locken und drehte die Haare wieder zusammen. Eleanor strich ihre Klamotten glatt, nahm ihre Brille ab und rieb sich die Augen. Als sie die Brille wieder auf ihre lange Nase setzte und sich erneut musterte, empfand sie ihre äußere Erscheinung zumindest für zumutbarer als zuvor. Sie versuchte sich noch an einem Lächeln, das allerdings ziemlich schief ausfiel, und verließ den Raum. Kapitel 2: ----------- „La situation sociale variait rapidement ...“ Es fiel Eleanor an diesem ersten Morgen nach den Ferien schwer, sich zu konzentrieren. Nicht etwa, dass sie zu wenig geschlafen hätte oder weil sie nicht vorbereitet genug gewesen wäre - nein. Es war etwas anderes, das sie beschäftigte. Und sie glaubte zu wissen, was es war. Sie hörte permanentes Gegacker aus den hinteren Reihen. Preena und ihre Freundinnen schienen sich ihrer Überlegenheit über Eleanor bestens zu erfreuen. Sie wagte es, sich zu ihren Gegenspielerinnen umzudrehen. Tatsächlich: die Mädchen amüsierten sich köstlich und warfen ihr bemitleidende Blicke zu, die sagen sollten: „Seht euch das arme Mauerblümchen an! Diese Witzfigur, dieses armselige Geschöpf!“ Celeste ahmte Eleanors missmutiges Gesicht nach, während Preena hastig etwas auf ein Blatt Papier kritzelte. Was sollte das nun wieder werden? „Mademoiselles, attention!“ Die Ermahnung ihrer Französischlehrerin fruchtete sofort bei Eleanor. Sie wandte sich augenblicklich wieder der Tafel zu. Ein letztes unterdrücktes Prusten war von hinten zu hören, bevor für den Rest der Doppelstunde Ruhe einkehrte. In der großen Pause kämpfte sich Eleanor durch die Schülermassen, den langen Korridor entlang bis zu ihrem Spind. Sie hoffte insgeheim, heute nichts Unangenehmes darin vorzufinden. In Erwartung des Schlimmsten kniff sie dennoch beim Öffnen der Tür die Augen fest zusammen und versuchte, dasselbe mit ihrer Nase anzustellen. Denn die bösen Überraschungen warteten meist in Form eines ekligen Geruchs oder eines schleimigen Gegenstandes, der ihr auf den Kopf plumpste. Aber nichts geschah. Überrascht inspizierte Eleanor jeden Winkel ihres Spinds, konnte aber nichts Besorgniserregendes ausmachen. Sie zuckte mit den Schulter und schloss die Tür wieder. Ihr Herz klopfte deutlich schneller. Am Nachmittag würde sie sich erst einmal hinlegen und etwas Entspannendes machen. In ihrem Biologiebuch lesen zum Beispiel. Auf dem Weg zum nächsten Klassenraum begegneten ihr wieder allerlei bekannte und verhasste Gesichter und Eleanor wartete bei jedem auf den perfekt platzierten Ellenbogen, der sich im Vorübergehen in ihre Rippen oder ihre Schulter bohren würde. Mit gesenktem Kopf, ihre Tasche an sich gepresst wie ein Schutzschild, bahnte sie sich ihren Weg. Als sie sich auf ihren Stuhl im Mathekursraum niederließ, zählte sie im Kopf nach, wie viele blaue Flecke sie heute wieder würde versorgen müssen. Nach und nach füllte sich der Raum, ab und an drang ein „Hi, Eleanor!“ an ihr Ohr. Sie schenkte diesen nicht nett gemeinten Floskeln keine weitere Beachtung. Eleanor richtete ihren Blick stattdessen auf die große Uhr über der Tafel. Nur noch wenige Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Dann würde der Lärmpegel sinken und das aufkommende Pulsieren in ihrem Kopf lindern. „Aua!“ Das Rattenmädchen konnte einen Ausdruck des Schmerzempfindens nicht unterdrücken. Sie rieb sich den Hinterkopf und sah sich um, nach dem Gegenstand suchend, der sie getroffen hatte. Es war ein Faulenzer. Die Jungs in der hinteren Reihe prusteten los, als sie Eleanors verstörtes Gesicht erblickten. Sie hatte ja schon viel erlebt, aber es hatte noch nie jemand Sachen nach ihr geworfen. Jedenfalls nicht so harte Dinge. Das Mädchen flehte den Minutenzeiger der Uhr an, sich schneller voran zu bewegen. „Hey, was ... ?“ Dieses Mal rollte das Medium der Attacke in Eleanors Blickfeld. Es war eine leere Plastikflasche. Ihre Reaktion rief erneute Lachanfälle in den hinteren Reihen hervor. War das der Plan, von dem Preena und ihre Freundinnen gesprochen hatten? Nein, das konnte nicht sein. Von ihnen saß keine in Eleanors Mathekurs, es waren allesamt Jungs, die sich gerade über sie kaputtlachten. Und zu ihrer Enttäuschung waren einige dabei, deren Ausgeglichenheit und Gefasstheit sie immer geschätzt hatte. Nun waren also auch die letzten einigermaßen vertrauenswürdigen Personen ihres Jahrgangs zu der gegnerischen Seite übergelaufen. Eleanor war verzweifelt. Was habe ich nur falsch gemacht?, fragte sie sich, als ihr ein weiterer Gegenstand an den Kopf geschleudert wurde: eine Schere. Waren die denn jetzt total bekloppt??? Als Eleanor sich in ihrem Stuhl ganz klein machte, um den Angreifern eine geringere Angriffsfläche für den soeben eingesetzten Regen aus Papierkügelchen zu bieten, merkte sie, dass ihr ein Zettel am Rücken klebte. Na klar, diese Idioten brauchten ja auch eine schriftliche Einladung! Entnervt riss sich Eleanor die Notiz von der Bluse und las: „Hilfe, mein Gehirn sitzt in einem Schraubstock namens 'Frisur' fest! Bitte helft mir, ihn zu lösen!“ „Geh mal zum Friseur, du Alien!“, kam die sehr qualifizierte Bemerkung von ihren Klassenkameraden. Das dumpfe Zorngefühl, das sich in Eleanor aufgebaut hatte, hatte leider keine Gelegenheit, sich zu entladen. Denn in jenem Augenblick betrat ihr Mathelehrer, Mr. Simmons, den Raum. Aber einen Gefühlsausbruch ihrerseits würde es in der Angelegenheit wohl nie geben. Eleanor war – ihrem eigenen Empfinden nach zu urteilen - über die Jahre emotional abgestumpft. „Miss Johansson, würde sie bitte die Schweinerei vor ihrem Pult entfernen?“, murmelte Mr. Simmons, ohne seine beste Schülerin anzusehen. Eleanor nickte stumm, stand auf und bückte sich, um den Müll aufzulesen. Sie zitterte vor Wut und das Klopfen in ihrem Kopf wurde stärker. Zum Glück hatten die anderen aufgehört zu lachen. Die restliche Stunde kroch im Schneckentempo dahin. Auch dieses Mal fiel es Eleanor schwer, dem Geschreibsel an der Tafel einen tieferen Sinn beizumessen. Mr. Simmons schien dies nicht zu entgehen, denn nach dem Unterricht gebot er Eleanor per Handzeichen, zu einem Gespräch zu bleiben. Als alle anderen Schüler den Raum verlassen hatten, schloss Mr. Simmons die Tür und setzte sich wieder an sein Pult, die ratlose Eleanor vor sich. Sie blickte ihn erwartungsvoll an, aber er vermied es, sie anzusehen. Fand gar ihr eigener Lehrer sie abstoßend? „Miss Johansson, gibt es ein Problem? Möchten sie über irgendetwas mit mir sprechen?“ Seine Stimme klang lustlos, geradezu gelangweilt. Er schien seinen pädagogischen Pflichten nicht mal halbherzig nachkommen zu wollen. Und genau das war der Grund, weshalb sich Eleanor ihm auch nicht anvertrauen wollte. Daher log sie: „Nein, es gibt keine Probleme.“ „Sind sie sich sicher?“, hakte er nach. Für die Bruchteil einer Sekunde flackerten seine Augen über Eleanors Gesicht. „Sie sind mir bereits im vergangenen Schuljahr mit ihrer angestrengten Mimik aufgefallen. Irgendetwas scheint sie zu bedrücken, und ich möchte ihnen nur anbieten, dass wir ihnen als Schule helfen.“ „Es ist wirklich nichts“, beteuerte Eleanor. Sie bezweifelte allerdings, dass er ihr glaubte, denn sie spürte, wie sich die Röte auf ihre Wangen legte. Mr. Simmons ließ den Blick über die leeren Pulte schweifen. Er seufzte. „Nun gut, wenn sie es mir nicht sagen wollen, kann ich ihnen auch nicht helfen. Ich wünsche ihnen nur für ihr späteres Leben, dass sie die Dinge etwas lockerer sehen.“ Hatte sich Eleanor verhört? Sie und die Dinge locker nehmen? Das sollte wohl ein schlechter Scherz sein! Wenn es wirklich keinem Lehrer auffiel, dass sie auf übelste Weise seit Jahren traktiert wurde, dann war diese Schule wirklich eine traurige Anstalt, die sich nicht zu wundern brauchte, wenn sie traurige Gestalten hervorbrachte. Vor den wirklich schwerwiegenden Problemen wurden die Augen gerne verschlossen. Aber warum beschwerte Eleanor sich eigentlich? Sie nahm die ihr angebotene „Hilfe“ ja nicht an. „Sie dürfen gehen“, beendete Mr. Simmons das Gespräch und machte eine hinausdeutende Handbewegung. Eleanor nahm dieses Angebot dankend an und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Der restliche Schultag wartete mit weiteren unangenehmen Geschehnissen auf. Mehrmals wurden Eleanor Füße in den Weg gestellt, über die sie jedes Mal erfolgreich stolperte, sie wurde angerempelt und es war ihr nicht unbewusst, dass hinter ihrem Rücken ständig auf sie gezeigt wurde. Kurz vor Schulschluss, als sie ihren Spind nochmals aufsuchte, um einige Bücher darin zu verstauen, fand sie darin auch die Überraschung, auf die sie den ganzen Tag „gewartet“ hatte: ein Regen aus Papierkügelchen ergoss sich über ihren Kopf, wahrscheinlich die Überreste aus dem Matheunterricht. Eleanor fragte sich jedes Mal, wie es den anderen gelang, das ganze Zeug in ihrem Spind zu deponieren. Sie mussten von irgendwoher einen Ersatzschlüssel haben. *~*~* Als sie die Haustür aufschloss, schlug ihr schon der schleimhautzerfressende Geruch entgegen, den ihre Mutter als „Parfüm“ bezeichnete. Eleanor hielt den Atem an und beeilte sich, die Fenster im Erdgeschoss zu öffnen. „Mom?“, rief sie, doch es kam keine Antwort. Das war abzusehen gewesen. Ihre Mutter trieb sich wieder einmal herum, entweder bei ihren Freundinnen oder bei irgendeinem zwielichtigen Typen, den sie beim Bowling kennen gelernt hatte. Erleichtert ließ Eleanor ihre Tasche zu Boden sinken. Sie hatte schon seit Jahren keinen guten Draht mehr zu ihrer Mutter und ihre Abwesenheit war ihr daher herzlich egal. Seit langer Zeit hatte Eleanor das Gefühl, dass ihre Erzeugerin sich nicht mehr um ihre einziges Kind scherte. Und sie schien sich ebenso wenig aus ihrem Ehemann zu machen. Eleanors Vater war ein hochdotierter Professor an der St. Canard University und ein sehr erfolgreicher Forscher auf dem Gebiet der Molekularbiologie. Sie hatte ihn bewundert, seit sie denken konnte: für seinen hohen Intellekt, für die aufopferungsvolle Hingabe, die er seiner Arbeit entgegenbrachte, sowie für seine unglaublich warmherzige Art, mit Menschen umzugehen. Und gerade die schien der Grund dafür zu sein, weswegen Eleanors Mutter ihr eigenes Haus mied. Ihr Mann war ihr über die Jahre langweilig geworden, er arbeitete ständig und konnte ihr – außer finanzieller Sicherheit – nicht mehr das bieten, was sie brauchte: ungeteilte Aufmerksamkeit. Denn es gab schließlich noch Eleanor. In den Augen ihrer Mutter war sie als kleines Kind ja noch ganz niedlich gewesen, aber mit den Jahren hatte sie sich in einen ebenso verklemmten Spießer verwandelt wie ihr Vater. Und seine gutmütige Art nutzte Eleanors Mutter jetzt schamlos aus. Die junge Ratte wusste, dass sie von Seiten ihrer Mutter ungewollt gewesen war, aber dieses Wissen stimmte sie schon seit Langem nicht mehr traurig. Schließlich zeigte ihr der Großteil der Welt da draußen auch ein ums andere Mal, dass sie unerwünscht war. Und da ihr Vater sehr viel unterwegs war und Eleanor niemanden hatte, den sie als „Freund“ bezeichnen konnte, konnte sie sich niemandem anvertrauen. Dabei hätte Eleanor ihre Mutter und deren Ratschläge vor allem in den letzten Jahren unbedingt gebraucht. Denn es gab so viel, worüber sie sich bis dato den Kopf zerbrach, was ihr schlaflose Nächte bereitete. Zum Beispiel die Sache mit den Jungs: wie verhielt man sich einem männlichen Wesen gegenüber richtig? Eleanor konnte sich noch gut an ein „Gespräch“ zwischen sich und ihrer Mutter erinnern, als sie sich zum ersten Mal für einen Jungen begeistert hatte. Da war sie 14 gewesen und hatte den Kapitän der Basketballmannschaft, Anthony Mitchell, angehimmelt. „Mom“, hatte sie damals gesagt, „es gibt da was, über das ich mit dir reden möchte.“ „Nicht jetzt, ich hab zu tun“, hatte ihre Mutter versucht, sie abblitzen zu lassen. Sie war gerade dabei gewesen, in diversen Modemagazinen zu blättern und kleine Bestellkärtchen vom Versandhaus auszufüllen. „Aber Mom, es ist mir wirklich wichtig!“, hatte Eleanor gedrängelt. Ihre Mutter hatte vom Zeitschriftenstapel aufgesehen, ihre Tochter mit einem genervten Blick fixiert und geantwortet: „Hast du keine Freundinnen, mit denen du über deine so genannten 'Probleme' sprechen kannst?“ Diese Antwort hatte Eleanor unheimlich getroffen, und so hatte sie nur ein trauriges „Nein“ zwischen den Lippen hervorpressen können. Ihre Mutter war sich natürlich der Tatsache bewusst gewesen, dass ihre Tochter nicht mit anderen Mädchen „abhing“ und schnaubte daher nur verächtlich. Schließlich hatte sie sich doch zu einem gelangweilten: „Um was geht es denn?“ durchringen können. „Um ...“, hatte Eleanor gestottert, „na ja, es ... ähm ... gibt da ... so e-einen Jungen ...“ Ihre Mutter hatte sich prompt an dem Kaffee verschluckt, den sie gerade hatte trinken wollen. Sie hatte geräuschvoll gehustet, sich mehrmals auf die Brust geklopft und ihre Tochter mit einer Mischung aus Belustigung und Argwohn angeschaut. „Wie bitte?! Mein liebes Fräulein, bist du nicht noch etwas zu jung dafür? Und außerdem: du solltest erst mal ein paar grundlegende Dinge ändern, bevor du dich in solche gefährlichen Gebiete vorwagst!“ „Genau darüber wollte ich ja mit dir reden!“ Es war Eleanor schon immer unbegreiflich gewesen, wie unbekümmert ihre Mutter mit den Sorgen ihres Kindes umging. „Was willst du denn wissen?“ Eleanors Mutter hatte beim Aussprechen dieser Frage geschmunzelt. Sie genoss es immer wieder aufs Neue, ihrer Tochter auf diesem Gebiet überlegen zu sein. „Ja, also ... wie man diesen gewissen Jemand auf sich aufmerksam macht ...“ „Nun“, Eleanors Mutter hatte sich genüsslich auf der Couch geräkelt, um es sich bequemer zu machen, „du solltest dich zu erst einmal anders anziehen. Du siehst ja aus wie deine Großmutter!“ Solche und ähnlich aufbauende Ratschläge waren jedes Mal gekommen, wenn Eleanor ihre Mutter in Sachen Jungs um Rat gefragt hatte. Meist hatten sie darauf abgezielt, dass Eleanor sich auf das Niveau ihrer Mutter herunterlassen und sich wie ein Flittchen benehmen müsste. Angewidert hatte sie dann jedes Mal das Wohnzimmer verlassen, während ihre Mutter sich in ihren Ausführungen immer weiter hochgeschaukelt hatte, bis sie sie stets mit demselben Satz beendete: „So läuft's nun mal im Leben, Kleines!“ Kapitel 3: ----------- Eleanor lag auf ihrem Bett und dachte angestrengt nach. Die Hände waren zu Fäusten geformt, die sie ein paar Zentimeter über ihrer Stirn zusammenpresste, bis es weh tat. Sie hatte ernsthaft versucht, sich mit Lesen abzulenken und, nachdem das nicht geklappt hatte, die Glotze eingeschaltet. Doch auch das hatte nichts genützt. So hatte sie sich also auf ihr Zimmer verkrochen und betrachtete nun eingehend ihre spärlich eingerichteten vier Wände. Neben ihrem Bett gab es lediglich zwei kleine Kommoden, in denen sie ihre Klamotten aufbewahrte (gewissenhaft gebügelt, natürlich), und ihren großen Schreibtisch, auf dem die Utensilien fein säuberlich in ansprechenden Winkeln zueinander ausgerichtet waren. Ach ja: die Wände waren selbstredend zugezimmert mit allerlei Regalen, auf denen sich Eleanors Bücher türmten – Bücher über Naturwissenschaften, fremde Kulturen und Geschichte. So etwas wie Romane besaß sie nicht. Wozu auch, was sollte sie damit? Die waren doch eh alle realitätsfremd. Eleanor wandte den Blick von ihrem Zimmer ab und löste ihre Fäuste voneinander. Sie stand auf, um das Fenster zu öffnen und frische Abendluft einzulassen. Draußen duftete es nach Regen. Der sich verdunkelnde Himmel bestätigte ihre Vermutung, dass es bald womöglich gewittern würde. Wunderbar. Etwas, auf das sich Eleanor freuen konnte. Just in diesem Moment vernahm sie Geräusche von unten. Jemand schloss die Tür auf und kam herein. „Eleanor, Schatz, bist du da?“, erklang eine männliche Stimme. Es war ihr Vater. Aber was machte er so früh zu Hause – noch dazu an einem Montag? Eleanor lief auf den Flur hinaus und stellte sich ans Treppengeländer. „Hej Pappa!“, begrüßte sie ihn freudig und lächelte. Sie war es gewohnt, ihn „Pappa“ und nicht „Dad“ zu nennen. Zumindest, wenn sie unter sich waren. Sie ging die Stufen hinab und umarmte ihren Vater. „Hej“, murmelte er, „na, wie war dein erster Schultag?“ „Ach, ganz in Ordnung“, schwindelte Eleanor. Sie hatte ihrem Vater nie erzählt, dass sie in Wahrheit schon seit Ewigkeiten schlecht behandelt wurde und sie sich jeden Tag aufs Neue quälen lassen musste. Sie wollte ihn nicht belasten. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass er andere, schwerwiegendere Probleme hatte als sie. Und tatsächlich löste er sich von ihr und fragte mit glasigem Blick: „Wo ist deine Mutter?“ Eleanor schluckte schwer und bemühte sich, neutral zu klingen, als sie antwortete: „Ich weiß es nicht.“ Ihr Vater schüttelte kaum merklich den Kopf und schlurfte in die Küche. Er war nach der Arbeit stets so erledigt, dass er sich trotz seines noch jungen Alters wie ein gebrechlicher Mann bewegte. Eleanors Vater war gerade einmal 35. Dank der dunklen Ringe unter seinen Augen und der zahlreichen grauen Strähnen in seinen dunkelblonden Haaren würde man ihn aber erheblich älter schätzen. Und es war nicht nur die Arbeit, die ihn so ausnahm. Der entscheidende Faktor war seine Ehefrau. Eleanors Vater war Schwede, in der Hafenstadt Trelleborg geboren und mit seinen Eltern im Alter von 8 Jahren in die USA ausgewandert. Während seine Eltern die neue Sprache recht langsam gelernt hatten, hatte er sich innerhalb weniger Jahre einen großen Wortschatz angeeignet und sprach mittlerweile fließend Englisch, ganz ohne Akzent. Er war, wie seine Tochter, eine strebsame Person und nicht wirklich jemand, den man der Kategorie „Frauentyp“ zuordnen würde. Demnach hatte er sich sehr gewundert, dass er eine so gut aussehende junge Frau wie Eleanors Mutter hatte anziehen können. Und genauso war es seinen Mitschülern ergangen: sie hatten nicht schlecht gestaunt, als er eines der beliebtesten Mädchen der Schule zum Abschlussball ausgeführt hatte. Noch größer war aber der Schock gewesen, der sich auf den Gesichtern der gaffenden Neider beim Anblick ihres gewölbten Bauches abgezeichnet hatte. Eleanors Mutter war zu jenem Zeitpunkt im fünften Monat schwanger gewesen, und kurz nach dem Schulabschluss hatte sie ihren Freund geheiratet. Eleanors Vater hatte bereits einen lukrativen Job angenommen, der es ihm erlaubt hatte, während des Studiums seine kleine Familie zu versorgen, und der ihm im späteren Leben viele weitere Türen geöffnet hatte. Eleanors Mutter hatte keine Ausbildung abgeschlossen, geschweige denn begonnen. Sie genoss es, im gemachten Nest zu sitzen, diese Erkenntnis hatte Eleanor schon früh erlangt. Sie bezweifelte sogar, dass es von Seiten ihrer Mutter eine Heirat aus Liebe gewesen war, sondern einzig und allein eine kühl kalkulierte Angelegenheit. Denn eines musste man ihrer Mutter lassen: gerissen war sie, und wenn sie etwas wollte, wusste sie genau, wie sie es bekam. Und wie es in letzter Zeit aussah, wollte sie eine aufregende Abwechslung von ihrem monotonen Hausfrauendasein in Form von zahlreichen Männerbekanntschaften. Eleanor hatte die böse Vorahnung, dass es selbst ihrem Vater irgendwann auffallen würde. Vielleicht kriselte es bereits und sie hatte es einfach noch nicht mitbekommen. In ihrer Familie wurde einfach sehr wenig miteinander kommuniziert. Eleanors Vater zog seinen Kittel aus und legte ihn über eine Stuhllehne, bevor er sich auf demselben unter Stöhnen niederließ. „Sei so gut und mach mir einen Tee, ja?“, bat er seine Tochter. Eleanor nickte stumm und machte sich am Wasserkessel zu schaffen. Sie öffnete die Schranktür über ihrem Kopf und nahm ein Döschen mit schwarzem Tee heraus. Ostfriesischer Tee, laut Aufschrift, aus Deutschland. Sie kippte etwas von dem duftenden Gemisch ins Tee-Ei und legte es neben die Lieblingskanne ihres Vaters. Er war leidenschaftlicher Teetrinker und suchte gerne auf Flohmärkten nach neuen Errungenschaften. Das Wasser im Kessel begann zu kochen. Eleanor nahm ihn vom Herd und goss die heiße Flüssigkeit in die Kanne, bevor sie das Tee-Ei eintauchte. „7 Minuten“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihrem Vater, den sie jedes Mal erinnern musste, das Tee-Ei zu entfernen, damit er sich sein Entspannungsgetränk nicht versaute. Sie stellte die Kanne und einen Becher vor ihrem Vater ab und war schon auf dem Weg hinaus, denn sie wollte ihn nach seinem Tag nicht mit ihrer Anwesenheit beim Abschalten stören. Doch seine Stimme brachte sie zum Stehen: „Bitte, bleib doch noch ein bisschen bei mir. Ich verbringe so wenig Zeit mit dir.“ Eleanor drehte sich wieder um. Diese Einladung nahm sie gerne an. Er hatte ja auch Recht: viel hatten sie nicht voneinander. Also setzte sie sich ihm gegenüber. „Was gibt’s, Pappa?“, fragte sie. Ihr Vater schwieg eine Weile, nahm seine Brille ab und rieb sich die müden Augen. „Ich möchte mich einfach ein wenig mit dir austauschen. Weißt du, es kommen schwere Zeiten auf uns zu.“ Eleanor starrte ihn fragend an und entgegnete: „Wie meinst du das? Was ist denn los?“ Ihr Vater schwieg. Er sah hinaus auf den dunklen Himmel. In der Ferne war ein leises Donnergrollen zu hören. „Die Universität hat uns die Forschungsgelder gestrichen.“ Es entstand eine peinliche Pause. „Was? Warum?“ Eleanor war wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen, als ob sie sofort aufbrechen wollte, um das Problem zu lösen. Ihr Vater erhob sich langsam und legte seine Hände auf die Schultern seiner aufgekratzten Tochter. Mit sanfter Gewalt drückte er sie wieder auf ihren Stuhl zurück. „Glaub mir, das wüsste ich auch gern“, antwortete er, ging zum Kalender, der an der Wand hing, und hob die Blätter für den August und den September an. „Anfang Oktober muss ich mein Labor geräumt haben“, fuhr er fort. „Sie wollen mich nicht mehr haben.“ Eleanors Kinnlade klappte herunter. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. „Sie ... feuern dich ...?“ Es kostete sie einige Überwindung, diese Frage zu stellen. Ihr Vater nickte nur und bewegte sich auf die Spüle zu. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Arbeitsfläche und ließ die Schultern hängen. „Das ist schrecklich. Nach allem, was du für sie getan hast!“, rief Eleanor aus. Sie ging zu ihrem Vater hinüber und umarmte ihn von hinten. Sie hatte ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt. „Was wirst du denn dann machen?“, fragte sie und konnte nicht verhindern, dass ihr eine Träne über die Wange rollte. Ihr Vater drehte sich in der Umarmung und hob das Gesicht seiner Tochter liebevoll an, um ihr in die Augen sehen zu können. Er wischte ihre Träne fort und versuchte sich an einem tröstenden Lächeln. „Wir werden sehen“, flüsterte er und drückte Eleanor an sich. „Jag älskar dig.“ Ich liebe dich. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Es war nicht übertrieben zu sagen, dass Eleanor dieser eine Satz ungemein aufmunterte. Sie mochte ihre zweite Muttersprache sehr und sprach sie selbst liebend gern. Da ihre Mutter jedoch kein Schwedisch verstand, mussten die beiden den Gebrauch sehr stark einschränken. „Jag älskar dig också“, antwortete sie leise. Draußen grummelte es. Die Uhr über der Tür tickte ungewöhnlich laut, so als wolle sie mit dem Geräuschpegel des Gewitters konkurrieren. Eleanor sah auf die Zeiger. „Pappa, ich glaube, dein Tee ist mittlerweile bitter geworden.“ *~*~* Ein gleißender Blitz zerfurchte den tiefschwarzen Himmel vor Eleanors Fenster. Nur Sekunden später war der Donner zu hören, ein lauter Knall, der die Scheiben erzittern ließ. Der Regen prasselte auf das Glas wie die Trommelschläge einer Exekution. Eleanor liebte Gewitter. Dieses Naturschauspiel war für sie äußerst faszinierend: das Zusammenspiel der Geräusche, der Duft des Regens und vor allem die unglaubliche Kraft, mit der sich die Elektrizität freisetzte und vermögens war, tote und lebende Materie gleichermaßen in Sekundenschnelle zu vernichten. Sie öffnete das Fenster und der Wind strich ihr um die Nase. Sie atmete tief diesen wohltuenden Geruch ein und fühlte sich zum ersten Mal an diesem Tag wirklich wohl – und frei. Es ließ sie nicht kalt, dass ihr Vater bald arbeitslos sein würde – vorausgesetzt er fand innerhalb der nächsten Wochen keine andere Anstellung. Und wenn sie ehrlich war, glaubte Eleanor auch nicht an einen sofortigen Erfolg, denn die Labore suchten vor allem junge und flexible Wissenschaftler, die frisch von der Uni ins Arbeitsleben einstiegen. Nein, keine negativen Gedanken, verbot sie sich. Um sich abzulenken, dachte sie noch einmal zurück an die Beziehung ihrer Eltern. Für Eleanor war es unvorstellbar, in ihrem Alter bereits werdende Mutter zu sein. Sie sah an sich hinunter und stellte sich vor, ihr Bauch hätte die typische Form einer Schwangeren. Das Rattenmädchen erschauderte und schüttelte energisch den Kopf, um auch diesen Gedanken aus ihren Gehirnwindungen zu vertreiben. Mal abgesehen davon, dass sie noch viel zu jung war – da hatte ihre Mutter ausnahmsweise einmal Recht gehabt, als sie sie gewarnt hatte: „Mach nicht denselben Fehler wie ich!“, wobei Eleanor natürlich gewusst hatte, welche Aussage hinter diesem Satz steckte. Wie dem auch sei: mal abgesehen davon, dass sie noch zu jung war, stellte sich ihr die unausweichliche Frage, ob irgendein Mann sich eines Tages in sie verlieben würde. Momentan sah es jedenfalls finster aus. Verdammt, es musste sich etwas ändern! Wenn Eleanor nicht den Anschluss verlieren wollte, musste sie handeln. Ein Blitz schlug in den Apfelbaum im benachbarten Garten ein und setzte die Baumkrone in Brand. Und auch in Eleanors Kopf flammte etwas auf. Was, wenn sie es einfach ausprobierte? Wenn sie sich etwas lockerer gab, wenn sie die Interessen der anderen Mädchen zu teilen begann, etwas mehr Wert auf ihre Wirkung aufs andere Geschlecht und ihr Äußeres legte und die Schule ein wenig hintenan stellte? Schaden konnte es nicht. Im Endeffekt war es so etwas wie ein Experiment, und außerdem: was hatte Eleanor zu verlieren? Mit einem selbstzufriedenen Grinsen knallte sie das Fenster zu und machte sich bettfertig. Sie würden es schon noch allen zeigen! *~*~* Ein lautes Scheppern schreckte Eleanor aus dem Schlaf hoch. Sie richtete sich schlagartig von ihrer Matratze auf und tastete nach der Nachttischlampe. Sie knipste das Licht an und sah auf die Uhr: es war halb Vier in der Früh. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen und wunderte sich, wer oder was zu dieser nachtschlafenden Zeit noch solchen Krach machte. Das Gewitter war doch sicher vorübergezogen. Eleanor lauschte in die Stille hinein. Von unten waren leise Geräusche zu hören: schleifende Schritte und ein kaum erkennbares Stöhnen. War das etwa ...? „Carolyn, wo um alles in der Welt bist du gewesen? Weißt du, wie spät es ist?“, drang die anklagende Stimme ihres Vaters an Eleanors Ohr. Offensichtlich war ihre Mutter soeben von ihrer Tour wiedergekehrt. „Was kratzt 'n dich das?!“, polterte sie. Oh nein, dachte Eleanor, sie ist betrunken. Das konnte ja was werden. „Ganz einfach, ich habe mir Sorgen gemacht!“ Er klang jetzt nur noch nervös. Eleanor wusste, dass es unanständig war, ihre Eltern zu belauschen und noch schlimmer: sie zu beobachten. Aber die Neugierde war stärker, und so schwang sie sich vorsichtig aus dem Bett, schlich sich auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer und lugte auf dem Flur vorsichtig um die Ecke nach unten. „Ooooh, 's tut mir Leid! Wie kann ich das nur wieder gutmach'n?“, flötete Eleanors Mutter. Sie gluckste, zog ihren Mann zu sich heran und drückte ihre Lippen auf seine. Sie küsste ihn gierig und fuhr ihm durch die Haare. „Hör auf damit!“, zischte er. „Außerdem: wenn du weiterhin so laut bist, weckst du Eleanor auf!“ „Mir doch egal“, säuselte Eleanors Mutter. „Soll 'ie Kleine doch ruhig mitbekomm', was ich gleich mit dir anstell'n werd' ... Da lernt s'e wenigstens noch was!“ Sie streifte sich verheißungsvoll die Jacke von den Schultern und drängte ihren Mann ins Schlafzimmer. Er konnte sich gerade noch am Türrahmen festhalten. „Du weißt doch nicht mehr, was du da sprichst!“ Eleanors Mutter zog eine Schnute und machte große Augen. Sie spielte am Kragen seines Pyjamas. „Was is'n los, Martin? Bin ich dir etwa nich' mehr gut genug?“, fragte sie gespielt naiv. „Du willst mich wohl veralbern!“, lachte er. „Du treibst dich Tag und Nacht herum und erwartest von mir, dass ich springe, wenn du pfeifst?!“ Eleanors Mutter schnalzte mit der Zunge und hauchte: „Ja.“ Ihr Mann verzog angewidert das Gesicht, stieß sie von sich und sagte: „Du bist doch nicht mehr ganz bei Trost!“ Daraufhin drehte er sich um, verschwand im Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu. „Fein!“, röhrte Eleanors Mutter. „Schlaf ich halt auffer Couch, wenn mein eigener Mann! - keine Zärtlichkeiten mehr m-mit mir austausch'n will!“ Sie bückte sich nach ihrer Jacke, was beinahe in einem Sturz auf die blanken Fliesen endete, und torkelte dann fluchend ins Wohnzimmer. Eleanor war peinlich berührt angesichts dieser Szene. Sie fragte sich, ob sie eines Tages genauso sein würde, getrieben von Verzweiflung und nicht erfüllten Bedürfnissen. Sie tapste vorsichtig zurück in ihr Zimmer und sandte ein Stoßgebet zum Himmel mit der Bitte, dass dieser Zustand nie eintreten möge. Kapitel 4: ----------- Am Morgen erwachte die junge Ratte mit schrecklichen Schmerzen im Unterleib. Instinktiv hielt sie sich beim Aufrichten den Bauch und schwang ihre Beine aus dem Bett. Eleanor hatte die restliche Nacht nach der Rückkehr ihrer Mutter skurrile Alpträume gehabt. Was genau alles passiert war, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Was ihr aber im Gedächtnis hängen geblieben war, war ihre Mutter, die ihr gewaltsam die Kleider am Leib zerfetzt, ihre Tochter vor einen Spiegel platziert und gekreischt hatte: „Sieh dich an! Schau genau hin! Du bist jetzt eine Frau!“ Dann hatte sie der schluchzenden Eleanor die Hände vom Gesicht gerissen und sie gezwungen, ihren entstellten nackten Körper anzusehen. Eleanor hatte geschrien, vor Ekel und Selbsthass, und ihre Mutter dafür verflucht, dass sie ihre Gene an sie weitergegeben hatte. Dass sie ihr das Leben geschenkt hatte. Ihr wurde augenblicklich schlecht und sie beeilte sich, ins Bad zu gelangen. Dort beugte sie sich übers Waschbecken und wartete ab, dass der Brechreiz vorüberging. Schweiß rann über Eleanors Stirn. Sie keuchte in kurzen Stößen auf und versuchte, ihre Gedanken auf etwas Beruhigendes zu fokussieren. Sie dachte daran, wie sie in den Sommerferien so oft auf der Wiese im Park gelegen und die Wolken beobachtet hatte. Das half, der Knoten in Eleanors Bauch löste sich. Sie schluckte, wandte sich vom Waschbecken ab und streifte sich das Nachthemd über den Kopf. Noch etwas wackelig auf den Beinen betrat sie die Dusche und stellte das Wasser an. Wie gut das kühle Nass tat ... Als sie das Bad verließ, mit einem Handtuch um den Körper und einem weiteren um die tropfnassen Haare gewickelt, hörte sie bereits das Klimpern von Geschirr unten in der Küche. Ihr Vater würde das Frühstück zubereiten, denn ihre Mutter war an diesem Morgen höchstwahrscheinlich nicht dazu in der Lage. Und tatsächlich: als Eleanor nach unten kam, wuselte ihr Vater bereits zwischen Tisch und Küchenzeile hin und her. „Guten Morgen, Eleanor!“, begrüßte er seine Tochter. „Was möchtest du essen?“ Er klang hitzig und grinste breit. Es war ein schlechter Versuch, die Geschehnisse des vergangenen Tages zu verdrängen. „Müsli“, antwortete Eleanor kurz angebunden. Sie beschloss, dass es besser war, ihn nicht auf seine unglaubwürdig gute Laune anzusprechen. Innerhalb von Sekunden hatte ihr Vater eine Schale mit allem gefüllt, was seine Tochter gerne mochte, und stellte sie vor ihr ab. „Guten Appetit!“, rief er ein wenig zu laut und gab ihr obendrauf einen Nasenstüber. „Pappa?“, setzte Eleanor misstrauisch an. Ihr war das Verhalten ihres Vaters alles andere als geheuer. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ „Klar!“, antwortete er, fast schon entrüstet. Er legte Eleanors Hand auf den bereitgelegten Löffel, schloss ihre Finger um den Griff und führte sie zum Müsli. „Jetzt iss schon.“ Eleanor gehorchte sofort. „Ich habe lange nachgedacht gestern Abend, weißt du, und ich habe mich entschlossen, die verbleibenden Wochen im Labor bestmöglich zu nutzen. Es bringt ja auch nichts, jetzt schon schwarz zu sehen.“ Er lehnte sich zurück und lächelte seine Tochter zuversichtlich an. Er war ein verdammt guter Schauspieler, wenn es darauf ankam. Während Eleanor aß, verfolgte ihr Vater jede ihrer Bewegungen. Sie mochte das überhaupt nicht, ließ ihn aber gewähren. Als sie die Schale von sich wegschob und sich über den Tisch beugte, um ihm mit einem Kuss für das leckere Frühstück zu danken, hielt er sie an den Schultern fest und schaute ihr tief in die Augen. „Ich hoffe, du weißt, dass ich dich über alles liebe und dass du mich unheimlich stolz machst.“ Seine Augen glänzten, er war den Tränen nahe. Eleanor ging um den Tisch herum zu ihm und drückte ihn fest. „Das weiß ich, danke, Pappa. Ich liebe dich auch.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, nahm ihre Schultasche in die Hand und winkte ihm zum Abschied. „Viel Spaß!“, wünschte er ihr noch und lächelte. Dieses Mal kam es von Herzen. Den werde ich haben, dachte Eleanor. In dieser Aussage lag in der Tat ein bisschen Wahrheit. *~*~* Als sie den Schulhof betrat, tummelten sich bereits massenhaft Schüler auf dem Rasen. Vor allem die Mitglieder ihres Jahrgangs saßen oder lagen ausgestreckt auf dem Grün und genossen die warmen Sonnenstrahlen. „Hey, Eleanor!“ Natürlich war es keinem ihrer Peiniger entgangen, dass sie das Pflaster entlang zum Eingang schlenderte. „Na, hat's gestern schön bei dir eingeschlagen?“, krakeelten sie. Es war schulbekannt, dass Eleanor bei Gewitter die Einzige war, die sich in der Pause nach draußen traute, „um der Natur nahe zu sein“. Sie hob die Hand zum Gruß, würdigte aber niemanden eines Blickes. Diese Geste hatte zur Folge, dass die relative Mehrheit der Anwesenden auf der Wiese wie wild zu gackern begann. Eleanor kümmerte es nicht. Sie stieß die große Eingangstür auf und verschwand im Inneren der Schule. Wie gestern war auch heute niemand im Korridor anzutreffen und Eleanors Spind enthielt keinen Müll oder ähnlich liebenswürdige Hinterlassenschaften ihrer Mitschüler. Das war sicher nur die Ruhe vor dem Sturm, aber Eleanor wusste, wie sie sich vorzubereiten hatte. Sie tauschte Bücher aus und zückte ihren Block und einen Bleistift gerade in dem Moment, als die Glocke draußen den nahenden Unterrichtsbeginn einläutete. Die Haupteingangstüren flogen auf und die Jungen und Mädchen der St. Canard High School machten sich auf den Weg in ihre Klassenräume. Eleanor kauerte hinter einem Trophäenschrank und wartete. Sie brauchte nicht lange auszuharren, denn Preena und ihre Clique waren unter den Ersten, die sie passierten. Sie ließ den Mädchen etwas Zeit und folgte ihnen dann in sicherem Abstand. Eleanor konnte hören, was sie besprachen. „Sag mal, Preena, was wirst du zu Anthonys Party anziehen?“, fragte Hannah neugierig. Sie hoffte wohl, ein paar nützliche Tipps aufschnappen zu können. Das war auch Eleanors Absicht: sie würde Notizen sammeln, die ihr aufzeigen sollten, was sie an sich ändern konnte und was sie lieber bleiben ließ. Nur würde sie dem ganzen noch ein wenig intellektuelle Würze verleihen. Denn immerhin war es in erster Linie ein „Experiment“. „Ist doch logisch: etwas, was die Jungs so richtig anheizt!“, prahlte Preena. „Ich hab mir in Italien so ein todschickes Kleid gekauft, da werdet ihr Augen machen!“ Sie hob stolz die Nase in die Luft. „Erzähl, wie sieht es aus?“, bettelte Hannah. „Heiß!“ Preena genoss es, die oberste Hierarchiestufe in ihrem Freundeskreis einzunehmen und dass die anderen Mädchen zu ihr aufsahen. „Oh, Preena, jetzt werd doch mal genauer!“, quengelte nun auch Celeste. „Wie könnte denn ein solches Kleid aussehen?“ Preena klang, als ob sie ein paar Kindergartenkindern die grundlegenden Prinzipien des Sex-Appeals zu verdeutlichen versuchte. „Rot!“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Preena nickte und fügte selbst hinzu: „Und es betont an den richtigen Stellen meine Reize.“ Die Mädchen pfiffen bewundernd. Eleanor kritzelte fleißig auf ihren Block. Sie war nicht dumm, sie wusste, dass die meisten Jungs aufs Äußere achteten. Aber es ging ihr momentan eher darum, sich die Bewegungen der Mädchen zu verinnerlichen und einen groben Überblick über ihren Klamottengeschmack zu bekommen. Die eingestreuten Kommentare über Anthonys Party und wer alles da sein würde (darüber diskutierte die Clique nämlich gerade) waren nur nützliche Nebeninformationen. Außerdem hatte sie ja nicht vor, so „offenherzig“ wie Preena herumzulaufen. Sie würde schon eine intelligente Mischung schaffen. „Meint ihr, unsere Jahrgangsnullen kommen auch?“, fragte Preena gehässig. Sie wusste die Antwort ihrer Mädels bereits, wollte sich aber in ihrer Meinung bestätigt wissen. „Ach Quatsch!“ Celeste und Hannah winkten ab. „Nie und nimmer! Die sind doch gar nicht eingeladen.“ „Oh stimmt, ihr habt Recht. Wie schade ...“ Preenas helle Stimme durchschnitt die Luft wie ein zuckersüßes Schwert. Das reichte, Eleanor ließ die Mädchen ziehen. In ihrer Ambition hatte sie allerdings überhaupt nicht bemerkt, dass sie im völlig verkehrten Teil der Schule gelandet war. Sie war im zweiten Stock und musste für den Physikunterricht zurück ins Erdgeschoss. Zu allem Überfluss sagte ihre Uhr auch noch, dass sie auf dem besten Wege war, zum ersten Mal in ihrem Leben zu spät zu kommen. Eleanor fluchte und machte sich hastig auf den Weg nach unten. Sie flog die Stufen geradezu hinunter und achtete nicht weiter darauf, wo ihre Füße sie hintrugen. So geschah es, dass sie über ihre eigenen Schuhe stolperte und - als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre - auch noch jemanden mit sich riss. Bevor sie den eintretenden Schmerz überhaupt lokalisieren konnte, rappelte Eleanor sich hastig auf, klopfte sich den Staub von den Kleidern und wandte sich erst dann ihrem Opfer zu. Es war ein Junge, etwa in Eleanors Alter, und – wie sie – eine Ratte. Er lag auf dem Rücken, alle Viere von sich gestreckt, das Buch, was er bei sich getragen hatte, auf seinem Bauch. Er stöhnte leise und rieb sich den Kopf. „Oje, entschuldige bitte!“, sprudelte sie los. „Ich war total in Gedanken versunken und hab gar nicht realisiert, dass ich ja eigentlich hier im Erdgeschoss Unterricht habe und war so in Eile -“ „Halb so wild“, unterbrach er sie. Eleanors Gegenüber richtete sich langsam auf, erhob sich vom Fliesenboden und rückte sein Jackett zurecht. „Ich hoffe, dir ist nichts passiert.“ Er betastete nochmals seine eigene Stirn und sah sie dann besorgt an. Seine Augen waren aufgeweckt und wissbegierig, wohingegen seine Körperhaltung eine ähnliche Schüchternheit vermittelte wie die ihrige. Er bückte sich, um sein Buch aufzuheben und machte sich dann daran, dasselbe mit Eleanors verstreuten Notizblättern zu tun. „Nein, nein!“, rief sie gehetzt und meinte damit nicht ihren Zustand, sondern das Geschriebene. Sie kniete sich hin und beeilte sich, alle Blätter zusammenzuklauben, bevor er die Gelegenheit dazu hatte. Eleanor verstaute alles schnell in ihrem Block und stopfte ihn in ihre Tasche. Dann fiel ihr Blick auf das Buch, das der Junge in der Hand hielt. „Du hast auch Physik?“, erkundigte sie sich. „Äh ... ja, richtig.“ Für einen Moment schwiegen beide. Dann dämmerte es ihnen zeitgleich, dass sie bereits einige Minuten zu spät waren. Sie tauschten einen schockierten Blick aus und rannten ohne ein weiteres Wort gemeinsam die letzten Meter bis zum naturwissenschaftlichen Trakt der Schule. Eleanor klopfte zaghaft an die Tür und öffnete sie. Ihr trat augenblicklich die Schamesröte ins Gesicht, als sie den Raum betrat. „Ich habe ja schon viel erlebt, aber dass meine beiden besten Schüler zu spät zum Unterricht erscheinen, das ist eine Premiere!“ Mr. Kingsley, ihr Lehrer für Naturwissenschaften, warf den beiden Zuspätkommern einen eisigen Blick zu. Der gesamte Kurs hatte sich umgedreht und begann zu kichern. Eleanor, die Vorzeigeschülerin, war unpünktlich – und dann auch noch in Begleitung eines Jungen. Das würde wieder Zündstoff geben! Die beiden begaben sich mit hängenden Köpfen zu den zwei letzten freien Plätze in der hintersten Reihe und setzten sich. Mr. Kingsley machte gerade einen Eintrag ins Kursbuch. Eleanor schluckte schwer. Ihre Wangen pulsierten immer noch. „Es tut mir Leid, dass ich dich aufgehalten habe“, entschuldigte sich der Junge. Er machte einen ziemlich unglücklichen Eindruck. Eleanor winkte ab. „Mach dir nichts draus. Aber sag mal: wie kommt es, dass ich dir noch nie begegnet bin? Ich meine-“ Sie warf einen flüchtigen Blick nach vorne, ob Mr. Kingsley sie hören konnte. Der war glücklicherweise damit beschäftigt, allerlei Arbeitsaufträge an die Tafel zu schreiben. „Ich meine, wir sind in einem Jahrgang, haben bisher aber keine Kurse gemeinsam gehabt. Und du bist mir auch in den Pausen nie aufgefallen.“ „Nun, ich schätze, ich bin genauso unsichtbar wie du“, räumte er ein und lächelte. Eleanor wusste sofort, was er damit sagen wollte. „Darf ich ... ähm ... wissen, wie du heißt?“, fragte er schüchtern. Sein Gesicht wurde rot. „Natürlich. Ich heiße Eleanor Johansson. Und du?“ Er reichte ihr die Hand. „Es freut mich, dich kennen zu lernen, Eleanor. Ich bin Elmo, Elmo Sputterspark.“ Eleanor nahm seine Hand dankend an und schüttelte sie. Sie hatte das Gefühl, endlich einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. Kapitel 5: ----------- Elmo Sputtersparks Alltag in der St. Canard High School war seit dem Tag, an dem er zum ersten Mal einen Fuß in die Schule gesetzt hatte, von Demütigungen und Torturen geprägt gewesen. Als leidenschaftlicher Naturwissenschaftler hatte er zwar immer die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler auf sich gezogen, aber stets in negativer Hinsicht. Tagtäglich musste er die Kommentare der anderen ertragen, die ihn als „Streber“ und „Freak“ bezeichneten – an ihren freundlicheren Tagen. In den Pausen auf dem Flur musste er ständig aufpassen, wo er hintrat und hinschaute, denn so gut wie alles war Anlass genug, ihn durch die Gegend zu schubsen oder ihn zu beschimpfen. Als Junge hatte Elmo ein noch schwereres Los gezogen als Eleanor, denn sowohl das weibliche als auch das männliche Geschlecht (und gerade letzteres) gingen permanent auf ihn los. Mindestens einmal am Tag landete er mit dem Kopf voran in einer beliebigen Mülltonne oder sein Gesicht wurde - meist mithilfe des ein oder anderen Fußes - gezwungen, Bekanntschaft mit dem gekachelten Boden zu machen. Die größte Angriffsfläche bot aber Elmos Aussehen: er war nicht sehr groß gewachsen, hatte aber umso größere Hände und Füße, seine Gesichtsfarbe tendierte zu grau und die Unsicherheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Dürr“ war für die Bezeichnung seiner Körperstatur noch ein Kompliment, und sein Kleidungsstil war mehr als gewöhnungsbedürftig, sah er doch mehr wie ein Bänkerlehrling oder ein Wirtschaftsstudent (mit – wohlgemerkt – schlecht sitzender und farblich unmöglich aufeinander abgestimmter Kleidung) als wie ein Schüler aus. Und seine Haare ... die waren in seinen Augen eine einzige Katastrophe. Sie waren schulterlang, dunkelbraun und so ungehorsam, dass es ihm nie gelang, sie zu bändigen. Davon abgesehen machte sich Elmo nicht viel aus seinem Erscheinungsbild, war sich aber gleichzeitig bewusst, dass es ihm zumindest bis ans Ende seiner Schulzeit Spott und Häme bescheren würde. Er hatte allerdings auch keine Lust, jetzt noch etwas daran zu ändern; er hatte sich an seinen Status bei den Mitschülern gewöhnt. Und plötzlich, ganz unerwartet, war da dieses Mädchen aufgetaucht. Eleanor war ihr Name, und sie schien dasselbe Leid ertragen zu müssen wie er. Tatsächlich hatte er schon mehrmals persönlich mitbekommen, wie sie von anderen Mädchen psychisch fertig gemacht worden war - und in der Beziehung war Elmo froh, kein Mädchen zu sein. Mädchen konnten wahnsinnig grausam sein. Er hatte sich damals geschämt, sich nicht für sie eingesetzt und sie verteidigt zu haben. Aber insgeheim hatte er gespürt, dass jeder von ihnen seinen stummen Kampf allein austragen musste. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Nun hatte er sie offiziell kennen gelernt und sie auf Anhieb sympathisch gefunden. Sie machte sich nicht über ihn lustig, hatte einen enormen Intellekt und dieselben Interessen wie er. Elmo und Eleanor hatten sich nach Physik in der großen Pause ganz wunderbar unterhalten, und er genoss es, endlich mit einer Person sprechen zu können, die mit ihm auf einer Wellenlänge war. Als er an diesem Nachmittag nach Hause ging, war er bester Laune. Elmo konnte sich durchaus vorstellen, dass zwischen den beiden eine Freundschaft entstehen konnte. *~*~* Auch Eleanor ging es ganz vorzüglich, als sie sich daheim auf ihr Bett fallen und den Tag Revue passieren ließ. Alles lief wie gedacht. Die Mädels auszuhorchen war einfacher gewesen, als sie gedacht hatte. Und Elmo getroffen zu haben, war bestimmt kein dummer Zufall gewesen. Es hatte ihren Tag perfekt gemacht, denn sie und er waren Seelenverwandte. Da gab es überhaupt keinen Zweifel. Aber sie wollte ihn nicht in ihren Plan einspannen. Da musste sie ganz alleine durch. Und der nächste Schritt war bereits getan. Kurz vor Schulschluss hatte ein quietschbunter Zettel am schwarzen Brett Eleanors Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Er hatte für die Cheerleader der Schule geworben und verkündet, dass das Vortanzen für die Bewerber in 6 Wochen stattfinden würde. Eleanor hatte nicht lange gezögert und ihren Namen auf die Anmeldeliste geschrieben. Das Auswahlkomitee würde einen Koller bekommen, allen voran Preena, die Vorsitzende war. Aber sie waren dazu verpflichtet, allen Teilnehmerinnen dieselbe Chance einzuräumen, denn das Vortanzen und die Trainings wurden betreut. Wenn Preena also ein krummes Ding drehen wollte, würde es einer der Lehrer mitbekommen. Ein zufriedenes Grinsen stahl sich auf Eleanors Gesicht. Sie wusste, dass es ein langer und steiniger Weg werden würde. Sie besaß so gut wie keine Kondition, von gymnastischem Talent gar nicht zu sprechen, und sie hatte ungefähr die Grazie eines fußkranken Giraffe. Aber das Gegenteil war erlernbar, und wenn es etwas gab, was Eleanor beherrschte, dann war es das Aneignen von Fähigkeiten durch theoretisches Wissen. Sie holte ihren Notizblock hervor und breitete die Blätter vor sich aus. Sie schob sie hin und her, sodass sich unterscheiden ließ zwischen den einzelnen Aufgaben und den Anwendungsgebieten. Eleanor hatte eine Menge Arbeit vor sich: sie musste lernen, wie man sich schminkte und das Beste aus seinen Haaren herausholte, neue Klamotten kaufen, ihre Kondition trainieren und gymnastische Übungen machen und das tun, wovor sie sich am meisten fürchtete: flirten üben. Das hatte sie noch nie gemacht und sie verstand das Konzept auch nicht wirklich. Wenn ihr jemand ein Kompliment machte (was selten genug vorkam), wusste sie nicht viel damit anzufangen. Und nun sollte sie den Spieß umdrehen. Aber es brachte nichts, sich bereits jetzt um den Ausgang der Aktion zu sorgen. Sie war ihnen intellektuell allen überlegen, und solange sie auch so handelte, war Eleanor auf der Gewinnerseite. Sie ging hinüber zu ihren Kommoden, zog die Schubladen auf und hob ihre gesamte Wäsche auf einmal heraus. Sie ließ sie auf den Boden fallen und begutachtete sie argwöhnisch. In gewisser Weise hatten die Mädchen ja Recht: Eleanor konnte es sich so langsam angewöhnen, etwas modischer herumzulaufen. Nicht mehr so prüde und hochgeschlossen, nein: sexy, aber nicht zu freizügig. Sie sortierte sorgfältig alles aus, was nicht in ihr neues Schema passte. Was übrig blieb, war ein kleiner Haufen einfarbiger Shirts und ein Kleid, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Und auch wenn dieses Kleidungsstück älter war als Eleanor selbst, gefiel es ihr sehr: es war schwarz, mit weißen Polkadots, knielang und wurde im Nacken mit einer Schleiße verschlossen. Sie hatte es bisher noch nie getragen, freute sich aber umso mehr auf die Premiere. Nach dieser Ausmistungsaktion stand Eleanor vor der letzten Schublade, deren Inhalt sie sich bis zum Ende hatte aufsparen wollen: ihre Unterwäsche. Sie atmete tief ein und entleerte die Schublade ebenfalls auf den Boden. Es war schwierig für Eleanor, sich mit diesen Kleidungsstücken auseinanderzusetzen, da sie in direktem Bezug zu ihrem Körper standen - und sie hatte ein ziemlich angespanntes Verhältnis zu selbigem. Er hatte sich lange Zeit gelassen, ehe er beschlossen hatte, dass es an der Zeit war, sich zu verändern. Eleanor konnte sich gut daran erinnern, dass sie die anderen Mädchen in der Umkleide immer beneidet hatte angesichts ihres unterentwickelten Körpers. Sie hatten gejammert, wenn ihre Tage sie wieder heimgesucht hatten, stolz ihre neuen BHs herumgezeigt oder auch die eine oder andere auffällige kleine Tablette. Eleanor hatte bei all dem nicht mitreden können und war wie immer die Außenseiterin gewesen. Doch von einem Tag auf den anderen hatte alles begonnen, sich zu verändern. Als Eleanors Körper aus seinem 16-jährigen Winterschlaf erwacht war, hatte er sofort damit angefangen, reichlich Östrogene für den Rest ihres Leben zu produzieren. Es war, als hätte Eleanors körperlich erwachsenes Ich nur in einem Kokon darauf gewartet, mit einem möglichst imposanten Auftritt ausschlüpfen zu dürfen. Das zierliche, schlaksige Mädchen hatte zunächst um den Hüftbereich Kontur angenommen. Ihre Taille hatte sich herausgebildet und einen interessanten Kurvenverlauf hinterlassen, der mit ihren Beinen harmonierte. Eleanors Rücken, der im Kindesalter eine ungesunde Krümmung vorgewiesen hatte, hatte sich begradigt. Die leicht geschwungene Linie ihrer Wirbelsäule ließ ihren Hintern leicht, aber nicht aufdringlich, hervortreten. Er war klein, hatte aber das, was die Mädchen in ihrem Jahrgang als erstrebenswerte „Apfelform“ bezeichneten. So seltsam weiblich das alles schon war, die meiste Sorge hatte ihr der Bereich zwischen Bauch und Hals bereitet – und er tat es immer noch. Manchmal hatte Eleanor das Gefühl, es wohne ein Monster in ihrer Brust, das versuchte, sich einen Weg nach draußen zu boxen. Und das Monster hatte im vergangenen Jahr ganze Arbeit geleistet. Es war unheimlich und ekelerregend mit anzusehen, wie das Wachstum ihres Busens voranschritt. Er war nicht riesig, aber er hatte mittlerweile trotzdem eine recht üppige Größe erreicht. Die arme Eleanor kam mit dem Kauf neuer BHs gar nicht mehr hinterher und vor dem Sportunterricht beeilte sie sich stets, eine der Ersten zu sein, die umgezogen waren. Sie wusste genau, dass sie sonst den Mittelpunkt ausmachen würde, und das wollte sie um jeden Preis vermeiden. Deshalb trug sie immer und überall etwas weitere Klamotten, damit niemand auf die Idee kam, sie auf ihre Figur anzusprechen. Es war für sie furchtbar schwer zu begreifen, dass sie kein Kind mehr war, sondern eine Frau – noch dazu eine, die einen Körper besaß, der dem eines Models würdig war. Aber es nützte alles nichts. So sehr Eleanor ihren Körper verabscheute: sie musste lernen, ihn von nun an zu ihren Gunsten einzusetzen. Auch wenn das bedeutete, dass sie sich erst mal in Gefilde begeben musste, die weit unter ihrem Niveau lagen. Eleanor ließ also auch bei ihrer Unterwäsche keine Gnade walten und legte alles beiseite, was ihr nicht mädchenhaft genug erschien. Die aussortierten Klamotten packte sie allesamt in eine Kiste, die sie sicher unter ihrem Bett verstaute. Wie befreiend es war, sein altes Leben hinter sich zu lassen. *~*~* Elmo saß an seinem Schreibtisch und brütete über den Hausaufgaben. Es war schon lange nicht mehr passiert, dass er ein physikalisches Problem nicht auf Anhieb lösen konnte. Wenn er genauer nachdachte, war das noch nie der Fall gewesen. Er legte den Stift beiseite, lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster. Was war es nur, das so sehr an seinen Nerven nagte, dass er nicht mehr in geraden Bahnen denken konnte? Hamilton String, dessen Lieblingsopfer er war, war heute ausgesprochen mild zu ihm gewesen. Vielleicht hatte er einfach seinen gönnerhaften Tag gehabt. Vielleicht hatte es aber auch daran gelegen, dass er und Preena sich in der Mittagspause in die Haare gekriegt hatten. Weswegen sie sich gestritten hatten, wusste Elmo nicht. Es ging ihn schließlich nichts an. Außerdem hatte er über die Jahre gelernt, in Bezug auf die beiden seine Ohren auf Durchzug zu stellen. So bekam er einerseits die ständigen Streitereien nicht mit und andererseits prallten somit auch die ganzen Beleidigungen an ihm ab. - Nein, seine Zerstreutheit hatte einen anderen Grund. War es vielleicht so etwas wie aufkommende Prüfungsangst? Es dauerte zwar noch ewig bis zu den Abschlussklausuren, aber könnte es nicht sein, dass ihm das zu schaffen machte? „Blödsinn!“, protestierte die kleine Stimme in Elmos Kopf, die ihn ein ums andere Mal zurechtwies, wenn er zweifelte. „Du wirst alle Prüfungen mit Bravour bestehen und im schönsten Falle noch als bester Schüler, den diese Bildungsanstalt je hatte, in die Schulchroniken eingehen!“ So überheblich das klang: Elmo musste der Stimme Recht geben. Er würde mit einer gegen Null strebenden Wahrscheinlichkeit scheitern. Er begab sich mitsamt seines Hockers zum Fenster und blickte hinunter auf die Straße. Nichts los, wie immer. Doch, Moment – was war das? Da kam jemand gelaufen – nein gejoggt. Und irgendwie hatte Elmo das Gefühl, die Person zu kennen. Als sie sich nahe genug heranbewegt hatte, sah er, dass es Eleanor war. Er erschrak und wich augenblicklich vom Fenster zurück. Wusste sie, dass er hier wohnte? Er riskierte einen Blick nach draußen. Sie schien das Haus nicht weiter zu beachten, sondern joggte einfach weiter. Ihre Schritte federten ziemlich stark, wahrscheinlich widmete sie sich dieser sportlichen Betätigung nicht allzu oft. Elmo atmete erleichtert aus, erwischte sich aber dabei, dass er ihr hinterhersah, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Kapitel 6: ----------- „Cheerleader?“ Eleanor nickte stolz und konnte ein Erröten ihrer Wangen nicht verhindern. „Wow!“ Elmo nickte anerkennend – und ihm ging ein Licht auf: „Ach, deswegen bist du gestern Abend noch so motiviert durch die Gegend gejoggt!“ Eleanors Gesicht wurde bleich. Woher wusste er das? Ihr Gesichtsausdruck schien alles zu sagen, denn er fügte schnell hinzu: „Ich wohne unten am Fluss. Ich hab dich gesehen.“ Eleanor biss sich auf die Unterlippe. Sie hatten sich gerade erst kennen gelernt, und schon hatte sie sich in eine peinliche Situation hineinbugsiert. Gerade erst waren die Formalia zwischen ihnen geklärt. Jeder wusste nach dem ausgiebigen Gespräch am ersten Tag ein bisschen über die Vorlieben und Abneigungen des anderen Bescheid, und Elmo hatte sich sehr interessiert gezeigt, als Eleanor erwähnt hatte, dass sie Halbschwedin war. Er war sehr aufgeregt gewesen und hatte ihr das Versprechen abgerungen, ihm einmal ein wenig Schwedisch beizubringen. Eine Basis des Vertrauens schien geschaffen zu sein. Doch so gern Eleanor ihr kleines Geheimnis mit Elmo teilte, es war ihr peinlich, dass er sie gesehen hatte. Sie vermied es, ihn anzusehen, wusste aber gleichzeitig, dass er auf eine Reaktion wartete. „Sehen wir uns in der Mittagspause draußen?“, fragte sie schließlich. „Von mir aus gern“, antwortete Elmo und zuckte mit den Schultern. Er würde sonst eh irgendwo allein herumsitzen. Eleanors Gesellschaft war da reichlich angenehmer. „Gut, dann bis später“, nuschelte Eleanor und verschwand im Klassenraum gegenüber. Elmo nickte zustimmend, verwarf aber das Bedürfnis, ihr zum Abschied zu winken. Es wäre für seine Mitschüler zu offensichtlich gewesen. Schließlich durchbohrten ihre neugierigen Blicke ihn sowieso schon. *~*~* In der Mittagspause machte sich Eleanor schnurstracks auf den Weg nach draußen. Sie ging eiligen Schrittes über die große Wiese zum Sportplatz und auf die Tribünen zu. Unter den Sitzreihen, zwischen den Stahlträgern auf einem niedrigen Querbalken sitzend, wartete Elmo auf sie. Wahrscheinlich hatte er nach Störenfrieden Ausschau haltend ausgeharrt, denn sein angespannter Gesichtsausdruck klärte sich erst auf, als er sie erblickte. „Hi!“, begrüßte er seine Mitschülerin und korrigierte seine Haltung, in dem Bemühen, möglichst locker zu wirken. Eleanor lächelte verlegen und ließ sich neben ihm nieder. Schweigend holte sie ihre Wasserflasche und eine mit Folie abgedeckte Schüssel aus ihrer Tasche. „Entschuldige, aber ich hab einen tierischen Hunger“, verkündete sie, holte noch eine Plastikgabel hervor und rupfte die Folie von dem Behältnis. Es enthielt Salat. Insgeheim hoffte sie, Elmo mit ihrer Nachricht möglichst lange ruhig zu halten. Aber bevor sie sich den ersten Bissen in den Mund stecken konnte, hatte er bereits einen Spruch parat. „Du nimmst es wohl wirklich ernst, hm?“ Eleanor ließ die Gabel sinken. Sie hätte es wissen müssen. Elmo war niemand, der sich mit einer einfachen Aussage zufrieden gab, solange er weitere Informationen dahinter witterte. Und er würde nicht locker lassen, ehe er nicht das klitzekleinste Detail wusste. In Eleanors Kopf zeigte eine unsichtbare Hand auf sie – sie fühlte sich unweigerlich an sich selbst erinnert. Daher brachte es auch nichts, sauer auf ihn zu sein, dass er sie gestern beim Joggen gesehen hatte. Sie hätte ebenso gut an Preenas Haus vorbeilaufen können, ohne es zu merken. Also gab sie sich einen Ruck und richtete ihre grünen Augen auf ihn. „Ja, in der Tat“, seufzte sie. Er musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle und wieder zurück. „Aber du bist doch schon so schlank.“ Es war ihr peinlich; sie konnte seinen inspizierenden Blick auf ihrem Körper spüren und drückte reflexartig das Salatschüsselchen an sich, um ihm die Sicht auf ihren Busen zu versperren. Es war kindisch, wie verklemmt sie sich gab, und sie schalt sich selbst dafür. Es gehörte doch zu ihrem Plan, mit ihrem Körper nicht so hart ins Gericht zu gehen, und dennoch: in Gegenwart einer Person wie Elmo fiel es ihr wahnsinnig schwer, überhaupt damit anzufangen. „Ja, aber ich muss auf meine Linie achten“, rechtfertigte sie sich kleinlaut. Wie bescheuert das klang! „Wenn du dir nur Verbote erteilst, wirst du viel eher das Gegenteil erreichen“, konterte er. Das entwaffnete Eleanors Argument sofort. Sie schlug die Augenlider nieder und stocherte in ihrem Essen herum. Elmo würde trotz des Vertrauens, das sie ihm schenkte konnte, nicht erfahren, warum sie das alles tat – noch nicht. Sie fühlte sich noch nicht in der Lage dazu. Und außerdem würde er es wohl auch nicht nachvollziehen können. „Ich mach dir einen Vorschlag: ich geb dir was von meinem Essen ab und du lässt mich mal von dem Salat probieren. Der sieht nämlich lecker aus“, meldete er sich plötzlich wieder zu Wort. Eleanors Wangen nahmen schon wieder ein vielsagendes Rot an. „Danke ...“, murmelte sie. Sie hatte ihn selbst gemacht und Elmos Lob tat ihr gut. „Was hast du denn dabei?“, fragte sie neugierig und beugte sich zu ihm hinüber. „Curryreis mit Garnelen“, antwortete er und hielt ihr seinerseits ein Schälchen hin, das er aus seiner Tasche geholt hatte. „Ist zwar nicht mehr warm, aber schmeckt trotzdem sehr lecker.“ Eleanor nahm mit ihrer Gabel ein wenig von dem duftenden Essen auf und schob es sich in den Mund. Es schmeckte vorzüglich. Ihr verzücktes Gesicht brachte Elmo zum Grinsen. „Du kannst ruhig alles haben“, bot er ihr an. „Da sind genug Proteine drin, sodass du dir um deine Figur keine Sorgen machen brauchst.“ Sie schauten sich an und lachten zeitgleich los. Wie erfrischend und unkompliziert eine Unterhaltung mit Elmo war! Mit seiner höflichen und freundlichen Art ließ er Eleanor alles Andere um sich herum vergessen: den Stress zu Hause, das Gepiesacke in der Schule und die Gedanken, die sie sich in Hinsicht auf ihren Plan machte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Eleanor das Gefühl, dass sie etwas mehr als die bloße Bekanntschaft mit einem Mitschüler teilte. Elmo war nicht einfach nur da, nein: er war für sie da. Er war ein Freund. *~*~* Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Eleanor hätte nie gedacht, dass sie sich mal auf etwas Anderes in der Schule würde freuen können als auf den Unterrichtsstoff. Doch Elmo gab ihr einen Anlass. Es verbesserte ihre Stimmung jedes Mal, wenn sie ihn in den Pausen sah und mit ihm reden konnte. Sie musste zwar immer aufpassen, dass sie nicht so viel Aufsehens machte, um Preena und ihre Mädels nicht auf den Plan zu rufen. Aber so weit sie es beurteilen konnte, klappte das recht gut, denn die vergangenen Tage hatten sich alle ruhig gestaltet. Etwas zu ruhig, für Eleanors Geschmack, aber sie war glücklicherweise nicht so blauäugig zu glauben, dass es derart friedlich weitergehen würde. Im Gegenteil: ihre Peiniger würden es mit ihren Späßen auf die Spitze treiben, wenn sie von dem Bündnis, der sich entwickelnden Freundschaft zwischen Eleanor und Elmo erfuhren. Die beiden waren deshalb bemüht, sich nur an Orten zu treffen, die die anderen nicht oder nur selten zu Schulzeiten aufsuchten und achteten in den Korridoren der Schule darauf, nicht zu häufig zusammen gesehen zu werden. Es war definitiv möglich, dass es unter der Fassade bereits brodelte, dass Gerüchte im Umlauf waren, die beiden seien ein Paar, oder ähnlich abstruse Dinge. Verliebt waren die beiden nun wirklich nicht ineinander. Aber Gerüchte brachten bekanntlich die gemeine Eigenschaft mit sich, dass die Opfer immer zuletzt von ihnen erfuhren und dass das Dementieren die Verbreiter selten davon abbrachte, weiter an die Unwahrheit zu glauben. Vor allem dann nicht, wenn Eleanor oder Elmo der Dreh- und Angelpunkt waren. Aber Eleanor wusste, wie sie den vermeintlichen Ausbruch des Gerüchte-Vulkans unterbinden konnte. Es war an der Zeit, ihrem Plan ein Gesicht zu geben. Da das Vortanzen und damit der Beginn der heißen Phase ihres Plans in knappen vier Wochen anstand, musste Eleanor dringend Erledigungen in der Stadt machen. Um nicht erkannt zu werden, band sie ihre Haare zu einem legeren Pferdeschwanz zusammen und setzte eine Sonnenbrille auf, die sie sich aus der Kommode ihrer Mutter geborgt hatte. Sie zog zum Shoppen auch nicht ihre altbackene Bluse und den viel zu langen Rock an, sondern ein einfaches, grünes Shirt und eine verwaschene Jeans. Beides hatte sie ebenfalls den Schränken ihrer Mutter entnommen. Sie würde es in ihrem besoffenen Kopf eh nicht merken. Eleanor betrachtete sich eingehend im Spiegel und fällte ein positives Urteil über ihr Äußeres. Zum Einkaufen war es allemal gut genug. Sie kratzte ihr Erspartes zusammen und machte sich mit einem leicht mulmigen Gefühl, aber trotzdem voller Vorfreude, auf den Weg. Als Eleanor am Abend wiederkam, war sie um etliche neue Klamotten reicher und um ebenso viel Geld ärmer. Sie stellte den Berg an Tüten vor sich ab, um die Haustür leise aufzuschließen. Sie ging davon aus, dass zumindest ihr Vater daheim war, und der würde sie bis aufs Äußerste ausfragen, warum sie ihr Geld so verschleuderte. Eleanor drehte den Schlüssel leise im Schloss und schlüpfte mitsamt ihrem Einkauf ins Haus. Sie zog die Tür hinter sich zu, schulterte die großen Tüten, nahm die kleineren in die Hand und schlich auf die Treppe zu, als sie hinter sich eine durchdringende Stimme vernahm: „Wo bist'n du eingebrochen?“ Eleanor fluchte leise und drehte sich, so gut es ging, um. Da stand ihre Mutter in der Wohnzimmertür und legte die Stirn in Falten. Ihre Augen fokussierten keinen bestimmten Punkt, und der Ethanolgeruch, der von ihr ausging, verriet Eleanor auch, warum. „Ich war einkaufen“, korrigierte das Mädchen seine Mutter. Eigentlich konnte sie ja froh sein, dass diese in anderen Sphären schwebte. So würde sie morgen schon nichts mehr von dieser Szene wissen. „Mit welchem Geld denn? Hat dein lieber Pappa das alles finanziert?“ Eleanors Mutter funkelte ihre Tochter böse an. Sie glaubte offenbar, das ihr Mann ihr den Geldhahn zudrehen würde. Eleanor fragte sich, warum das eigentlich nicht schon längst geschehen war. Sie schüttelte den Kopf und machte sich daran, die Stufen hochzusteigen, doch ihre Mutter hielt sie am Handgelenk fest. „Zeig doch mal, wassu da Schönes hast!“, lallte sie. Eleanor riss ihren Arm los und sah ihre Mutter mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel an. „Lass mich!“, zischte sie und wandte sich wieder der Treppe zu. Ein schwerer Fehler. Ihre Mutter wirbelte sie mit einer ungeahnten Kraft auf dem Absatz herum und packte sie grob an den Schultern. Eleanor ließ erschrocken eine ganze Menge Tüten fallen. „Jetzt pass mal auf, Fräulein! Wir beide sind keine besten Freundinnen, und wir werden es auch nie sein!“ Ihre Worte brannten sich wie ätzende Säure in Eleanors Ohren. Ihre Mutter schüttelte sie und schrie: „Aber ich bin verdammt noch mal deine Mutter und du hast mir Respekt entgegenzubringen!!!“ Sie hob ihre rechte Hand, holte zum Schlag aus. Eleanor kniff in Erwartung der Ohrfeige die Augen zusammen und hoffte, dass der Alkohol ihrer Mutter keine zusätzliche Schlagkraft verpasst hatte. Doch es geschah nichts. Sie hörte nur ein unterdrücktes Fluchen der scheußlichsten Art. Eleanor öffnete die Augen. Ihre Mutter war in ihrer Pose erstarrt, festgehalten von ihrem Ehemann. Der blanke Hass sprach aus ihren Augen, mit denen sie ihre Tochter wie eine Irre anstierte. „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?!!“, brüllte Eleanors Vater. Er hatte Mühe, mit seiner sich windenden Frau zu kämpfen. Sie spuckte ihm als Antwort nur ins Gesicht. Ungeachtet dessen handelte er aus dem Affekt, drängte sie zum Schlafzimmer und schubste sie hinein. Er zog rasch die Tür zu und schloss ab. „Lass mich sofort hier raus!!!“ Ihre Stimme überschlug sich. Sie hämmerte an die Tür und rüttelte wie besessen am Türknopf. „Ich zeig dich an! Ich zeig euch BEIDE an!!“ „Werd erst mal wieder nüchtern!“, entgegnete Eleanors Vater erbost. Er lehnte sich gegen die Wand und atmete laut aus. Eleanor, die die ganze Zeit wie versteinert dagestanden hatte, stellte die übrigens Taschen ab, ging zu ihrem Vater und umarmte ihn innig. „Danke“, flüsterte sie. Er küsste seine Tochter auf den Kopf und streichelte ihre Haare. Aus dem Schlafzimmer war ein Splittern zu hören. Entsetzt starrte Eleanor auf die Tür. „Lass sie“, beruhigte ihr Vater sie. „Soll sie Sachen durch die Gegend schmeißen. Ich lasse nicht zu, dass sie dich schlägt.“ Er wischte sich mit dem Ärmel die Spucke seiner Frau aus dem Gesicht und schenkte seiner Tochter einen liebevollen Blick. Eleanor schmiegte sich noch ein wenig mehr in die Umarmung. „Was ist, wenn sie versucht, durchs Fenster ...“ „ ... abzuhauen?“, beendete ihr Vater den Satz. „Durchs Fliegengitter? Dafür braucht sie ein Messer.“ Eleanor dachte kurz darüber nach, ob es besser gewesen wäre, ihre Mutter aus dem Haus zu werfen als zu riskieren, dass sie das Mobiliar auseinandernahm. Aber sie hätte nur die Flucht ergriffen und wäre zu einem ihrer Typen abgehauen, wo sie die gesamte Nacht zugebracht, sich noch weiter betrunken und sich noch weiter hochgeschaukelt hätte. „Macht endlich die Tür auf!!“, kreischte Eleanors Mutter. „Ich weiß, dass ihr noch da draußen rumlungert!“ „Beachte sie nicht.“ Eleanors Vater gab seiner Tochter noch einen Kuss auf die Stirn. „Sie wird sich schon wieder einkriegen.“ „Aber ich ... habe Angst vor ihr ...“, gestand Eleanor. Wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht nur Angst vor ihr, sondern auch um sie. Was, wenn ihre Mutter sich im Rausch etwas antat? „Mach dir keine Sorgen, Kleines. So lange ich da bin, wird dir nichts passieren.“ Eleanors Vater ließ von ihr ab und bedeutete ihr, nach oben zu gehen. Sie nickte, sammelte ihre Tüten vom Boden auf und hastete die Stufen nach oben und in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür ab, ließ den gesamten Einkauf auf den Boden plumpsen und warf sich auf ihr Bett. Unten tobte ihre Mutter weiter. Dieses Scheusal, dachte das Rattenmädchen und boxte gegen das Kopfende des Bettes, bis die Knöchel wehtaten. Dabei rutschte der kleine, alte Teddy, den Eleanor seit ihrer Kindheit besaß, auf sie zu, bis er ihren Kopf berührte. Es war, als ob er tröstend einen seiner Stummelarme um sie legen wollte. „Hey Murphy“, sie wandte ihm das Gesicht zu und streichelte seine fusselige Wange. Seit sie ihn hatte, tröstete der Bär sie, wenn sie traurig war. Ihr Vater hatte ihn ihr einst mitgebracht und ihr die Bedeutung seines Namens und seine Funktion genau erklärt. „Es gibt ein Gesetz, das sich 'Murphys Gesetz' nennt“, hatte er gesagt. „Es besagt, dass alles schiefgehen wird, was nur irgendwie schiefgehen kann.“ „Aber warum heißt er dann 'Murphy'? Ist er ein unglücklicher Bär?“, hatte das Rattenmädchen ihn verwirrt unterbrochen. „Nein, im Gegenteil. Lass es mich dir erklären: der Name ist als Symbol gedacht. Immer wenn du Schwierigkeiten hast, wenn du traurig bist oder an dir zweifelst, dann redest du mit Murphy. Sag ihm, was dich bedrückt. Er kann dir zwar keinen guten Rat geben oder dich umarmen, aber er wird dir zuhören. Und das ist das Wichtigste. Zusammen könnt ihr Murphys Gesetz brechen.“ Damals hatte Eleanor die Bedeutung des Teddys nicht erfasst. Sie war ein schlaues Mädchen, aber sie hatte nicht eingesehen, warum ein Plüschtier ihr Wohlbehagen spenden sollte, wenn sie menschliche Nähe brauchte. Mit zunehmendem Alter hatte sie jedoch erkannt, worum es ihrem Vater gegangen war: Menschen können einem aus einer bestimmten Situation heraus manchmal nicht den Trost und die Aufmerksamkeit spenden, die man wirklich benötigt. Und wenn Eleanor in ihrer jetzigen Situation darüber nachdachte, machte das alles mehr Sinn denn je. Ihr Vater war nicht imstande, ihren Sorgen und Nöten die rechtmäßige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Er war im Unterbewusstsein immer viel zu sehr mit seiner Ehefrau beschäftigt und mit den Problemen, die sie hatten. Man konnte fast behaupten, mit der Übergabe des Teddys sei eine sich langsam erfüllende Prophezeiung in Gang getreten. Eleanors Vater hatte noch nicht absehen können, was auf seine Familie zukommen würde. Aber irgendetwas hatte ihn gedrängt, sich im Voraus bei seiner Tochter für alle Fehler zu entschuldigen, die er zukünftig begehen würde. Kapitel 7: ----------- Als Eleanor aufwachte, war ihr Gesicht in ihrem Kissen vergraben. Sie brachte sich in eine aufrechte Position und rieb sich die wunden Augen. Ihre Brille, die in einem komischen Winkel von ihrer Nase abstand, legte sie auf den Nachttisch. Sie war gerade zu dem Schluss gekommen, dass es wohl die Erschöpfung gewesen war, die sie hatte einschlafen lassen, als es sachte an der Tür klopfte. „Eleanor, Schatz, darf ich kurz reinkommen?“ Es war ihr Vater. Wer auch sonst? Ihre Mutter würde nach so einem Anfall mit Sicherheit nicht ohne Weiteres zu ihr kommen. Es klopfte erneut. Aber Eleanor antwortete nicht. Im Moment wollte sie niemanden sehen. „Bitte, mach auf.“ Die Stimme ihres Vaters klang flehend, nahezu verzweifelt. Eleanor bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen und daher beeilte sie sich, ihrem Vater zu öffnen. Sie kickte die Einkaufstaschen beiseite, damit er nicht hinübersteigen brauchte. „Setz dich“, murmelte sie und machte eine Handbewegung in den Raum hinein. Eleanors Vater nahm die Einladung an und setzte sich auf ihr Bett. Er strich mit der Hand über das Kissen. Er hatte einen sechsten Sinn, was das Befinden seiner Tochter anging. „Ich weine auch viel, weißt du“, gab er zu. „Das nächste Mal komme ich gleich zu dir, wenn ich spüre, dass es dir schlecht geht. Wir müssen in solchen Momenten zusammenhalten.“ Das Rattenmädchen konnte sich gar nicht daran erinnern, geweint zu haben, doch er schien ein schlechtes Gewissen zu haben. Eleanor sah den unglücklichen Ausdruck auf seinem Gesicht und setzte sich neben ihn. Sie nahm seine Hand und drückte sie fest. Er sprach weiter: „Es tut mir Leid, dass ich nicht immer für dich da sein kann.“ Die letzten Worte waren zu einem kaum hörbaren Säuseln geworden und schmerzten Eleanor ungemein. „Pappa ... “, begann sie. „Du kannst nicht immer für mich da sein. Das weiß ich, und das brauchst du auch nicht zu sein. Eines Tages werde ich eh ohne deine Unterstützung und guten Ratschläge auskommen müssen.“ Auch diese Einsicht tat weh, und Eleanor glaubte einen Anflug von Verbitterung in den Augen ihres Vaters zu sehen. Lass mich mit dieser Furie nicht allein, las sie darin. „Wenn deine Mutter wieder ansprechbar ist, werde ich Tacheles mit ihr reden. Das wird schon alles wieder werden.“ Er sah seine Tochter an, als ob er fragen wollte: „Ich hab doch Recht, oder?“ Eleanor schwieg. Er war tatsächlich so naiv und gab dem Guten in ihrer Mutter immer noch eine Chance. Er musste sie wirklich sehr lieben. Eleanor wollte die Illusion ihres Vaters nicht zerstören, rang aber mit sich, ihm die Wahrheit vor Augen zu halten. Er musste doch mittlerweile verstanden haben, dass sie ihm fremdging! Sie nahm all ihren Mut zusammen, um ihn darauf anzusprechen und öffnete den Mund, doch er war schneller. „Ich denke, eine Eheberatung könnte uns weiterhelfen“, brach es aus ihm heraus. Überzeugt klang er jedoch nicht. Eher wie ein Verrückter, der die Wächter seiner Gummizelle davon überzeugen wollte, dass er bei klarem Verstand war. Eleanor schämte sich für diesen Gedanken, aber es war nun einmal Fakt: die Liebe machte manchmal aus den rationalsten Menschen blinde Idioten. „Ich glaube nicht, dass ihr noch etwas aus eurem jetzigen Zustand machen könnt.“ Jetzt war es raus. Eleanors Vater sah seine Tochter fassungslos an und fasste sie an den Schultern. „Wenn man nur an etwas glaubt und noch dazu ein wenig Gottvertrauen hat, dann kann man es schaffen!“, widersprach er. „Merk dir das!“ Es war hoffnungslos, er sah es nicht ein. Zu einer Beziehung gehörten immer zwei, und der eine Teil der Familie Johansson hatte kein Interesse mehr an der großen Liebe, nur am Geld. Eleanor war enttäuscht von der eingefahrenen Meinung ihres Vaters und löste sich von ihm. „Bitte lass mich jetzt allein“, murmelte sie. „Gut“, seufzte er und erhob sich. „Aber du wirst sehen: ich habe Recht.“ Er verließ das Zimmer und schloss die Tür. Eleanor glaubte an Gott, aber sie war ebenso davon überzeugt, dass dieser – wie sie - die Trennung ihrer Eltern als die beste Lösung ansah. *~*~* In der nächsten Woche legte Eleanor den Fokus ihrer Bemühungen darauf, in der Schule nicht zu angespannt oder ermattet zu erscheinen. Sie wollte nicht schon wieder Hilfe angeboten bekommen, die ihr im Endeffekt eh nichts brachte - außer die Empfehlung, einen Therapeuten aufzusuchen, der sie vor einem drohenden Trauma bewahren sollte. So gut Eleanor es gelang, sich vor den wenigen Menschen zu verstellen, mit denen sie aktiv zu tun hatte: bei Elmo brachte es nichts. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas ganz arg faul war mit ihr. Und da er sie gerne trösten und unterstützten wollte, sprach er sie direkt auf seine Vermutung an. „Was ist los mit dir?“ Die beiden saßen wieder einmal an ihrem mittlerweile angestammten Platz unter den Tribünen. Eleanor tat so, als wüsste sie nicht, wovon er sprach und drehte sich gelangweilt eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Dutt in die Außenwelt verirrt hatte, um den Finger. „Was soll schon los sein? Mein Kopf ist voll mit Unterrichtsstoff, den ich zu ordnen versuche, sonst nichts.“ „Das ist er immer.“ Elmo gab sich mit ihrer Antwort augenscheinlich nicht zufrieden. „Irgendetwas anderes stresst dich. Ist es was Persönliches?“ „Und wenn es das wäre, würde es dich nichts angehen, wie der Begriff bereits impliziert!“, antwortete Eleanor schnippisch. Elmo schrak zusammen. So gereizt hatte er sie in der kurzen Zeit, die sie sich jetzt kannten, noch nicht erlebt. „Es tut mir Leid“, räusperte sich Eleanor. „Das hab ich nicht so gemeint.“ „Schon OK. Ich möchte nur, dass du weißt, dass du mit mir über so was ... deine Probleme ... äh, ich meine ... du kannst mit mir reden“, stammelte er. Eleanor kicherte. Manchmal war er wirklich herzallerliebst. „Danke“, sagte sie und strahlte ihn an. Es tat gut, Elmo als Freund zu haben. *~*~* Am Wochenende war Eleanor allein zu Hause. Ihr Vater hatte es doch wirklich geschafft, ihre Mutter in einem nüchternen Moment zu einer Sitzung bei einem Eheberater zu überzeugen. Sie hatte erst ziemlich lang protestiert, was das alles solle, es ginge ihnen doch allen gut. Der sarkastische Unterton in ihrer Stimme war schwer zu überhören gewesen (ja, Eleanor hatte wieder einmal gelauscht). Nach einigem Hin und Her und weil ihr schlussendlich die Gegenargumente ausgegangen waren, hatte sie sich breitschlagen lassen. Eleanors Eltern würden erst am Sonntag wieder heimkehren, also hatte sie genug Zeit, sich intensiv mit ihren Einkäufen auseinanderzusetzen, die sie seit dem Eklat vergangene Woche außer Acht gelassen hatte. Eleanor verteilte den Inhalt der Tüten auf ihrem Bett. Es waren allerlei Jeans darunter, auch einige Röcke, aber kürzere, figurbetontere. Außerdem hatte sie neue Unterwäsche gekauft und jede Menge hübsche Oberteile, die ebenfalls ihrer Figur schmeichelten. Es hatte Eleanor einige Überwindung gekostet, sich immer wieder vor dem Spiegel in der Umkleidekabine auszuziehen und sich die ausgewählten Kleidungsstücke überzustreifen. Auf die Kassenbons wollte sie lieber keinen zweiten Blick mehr werfen. Sie befürchtete, dass ihr schlecht werden könnte. Mitsamt dem Stapel an Klamotten tapste Eleanor ins Bad. Sie legte alles, unterteilt in Kategorien, vor sich ab und stellte sich vor den großen Ganzkörperspiegel. Eleanor warf einen letzten Blick auf ihr altes Ich, winkte sich symbolisch sogar noch einmal zu, wobei ihre Lippen wortlos „Adieu“ formten. Dann legte sie ihre Brille ab und begann, sich ihrer Kleidung zu entledigen. Als sie schließlich in Unterwäsche dastand, hielt sie inne. Das Wichtigste war, ihren Körper endlich zu akzeptieren. Eleanor schloss die Augen, atmete tief ein und wieder aus. Sie legte Hand an den Verschluss ihres BHs an und öffnete ihn, streifte sich dann ihren Slip ab und befreite als Letztes ihre Haare aus der strengen Frisur. Die rotbraunen Locken folgten der Gravitation und bedeckten ihre Schultern. Eleanor schaute an sich hinab. Sie drückte den Rücken durch, um ihre Haltung zu begradigen. Es hatte einen erschreckenden Effekt auf die Wirkung ihres Busens, aber sie zwang sich, hinzusehen. Sie würde fortan mit dieser (zugegebenermaßen gesunden) Haltung Vorlieb nehmen müssen. Eleanor stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete sich aus verschiedenen Winkeln im Spiegel. Es stimmte: in der stereotypen Auffassung der Gesellschaft hatte sie einen recht gut proportionierten Körper. Ihre Haut war straff und fest und die Farbe ihres kurzen Fells hatte eine gesunde Färbung. Ihr Gesicht war ebenmäßig, ein Allerweltsgesicht zwar - nichts, was man eines Tages auf einem renommierten Modemagazin wiedersehen würde - aber ansehnlich. Ihre Haare waren gepflegt und sauber, ihre Zähne gerade (mal abgesehen von den für Nagetiere typisch vorspringenden beiden in der oberen Zahnreihe) und weiß. „Freunde dich mit deinem Körper an!“, befahl eine Stimme in ihrem Kopf. Eleanor wusste aber nicht, wie. „Fühl ihn!“, hallte es durch ihr Gehirn. Eleanor schluckte und strich sich zaghaft mit den Fingern über die Wangen, die Lippen, den Hals. Sie wanderten weiter nach unten, um den Hals herum und über die Schultern. Eleanor spürte den leichten Widerstand ihres Fells. Es fühlte sich noch alles recht harmlos an. Als sie aber mit den Händen ihren Busen erreichte, stockte sie. Wenn sie jemand so sehen konnte ... „Na los, mach weiter!“ Die kleine Stimme war beinahe aufgeregter als sie selbst. „Jetzt wird es doch erst richtig interessant!“ Eleanor zitterte vor Angst, vor Aufregung. Ihre Hände strichen langsam über ihre Brüste und verharrten zwischen ihnen. Sie waren fest, aber anschmiegsam - und warm. Eleanor konnte ihr Herz spüren, wie es auf und ab sprang. Sie begann, die Berührungen als angenehm zu empfinden. Ihre Finger krabbelten über ihren Bauch, über Hüften und Taille und auf die Rückseite zu ihrem Hintern. Auch die Beine und Füße fühlten sich von den Berührungen ihrer Hände geschmeichelt. Als sie sich aus ihrer gebückten Haltung aufrichtete, durchliefen kleine Schauer ihren Körper, die bewirkten, dass ihr Fell sich sachte aufstellte. Eine Stelle hatte sie aber außen vor gelassen. „Du bist noch nicht fertig ... “, meldete sich die Stimme in lockendem Singsang. Eleanor hatte besonders große Angst vor dem, was nun kommen sollte, nein - musste. Selbstredend hatte sie ihren Körper in der Pubertät schon erforscht, aber es hatte ihr großes Unbehagen bereitet. Vor allem, der empfindlichen Stelle zwischen ihren Beinen nahe zu kommen. Aber sie hätte nur halbe Arbeit geleistet, wenn sie jetzt aufhörte. Also schob sie zitternd die rechte Hand ihren Oberschenkel entlang, bis sie diesen geheimnisvollen Ort erreichte. Er war warm und ein wenig feucht. Sie führte ihre Finger weiter zwischen die Beine und strich vorsichtig einmal ganz hinüber. Ein angenehmes Prickeln durchzuckte Eleanors Körper. Beschämt zog sie schnell ihre Hand weg. Das sollte doch keine Selbstbefriedigung werden! „Hör endlich auf, so prüde zu denken! Du nimmst deinen Körper das erste Mal richtig wahr, das gehört dazu!“ Die Stimme hatte Recht, und die Erkenntnis legte sich über Eleanor. Sie positionierte sich in ihrer Ausgangshaltung vor dem Spiegel und schaute sich an. Ganz ohne Beben in der Stimme, vollkommen selbstbewusst, sagte sie: „Ich bin attraktiv.“ Das Spiegelbild lächelte, ein warmes, erleichtertes Lächeln war das. Eleanor hatte es geschafft: ihr Körper war nicht mehr das abstoßende Ding, das ihren Kopf und ihr Gehirn durch die Gegend trug. Er war von nun an ein Teil von ihr. Kapitel 8: ----------- Am Montag Morgen saß Elmo auf der „Streberbank“, der einzigen Bank vor dem Haupteingang der St. Canard High School, die nie von den „coolen“ Schülern in Anspruch genommen wurde. Sie war für Leute wie ihn reserviert, und es war bei näherer Betrachtung klar, warum: sie stand unter einer großen Kastanie und diente mehr als Zielscheibe für die Früchte des Baumes und als Toilette für die Tauben als als Sitzgelegenheit. Mit den Jahren hatte er gelernt, den Geschossen der Natur zum richtigen Zeitpunkt auszuweichen. Für seine Mitschüler war es aber nach wie vor ein belustigendes Schauspiel, ihn unentwegt hin- und herrutschen zu sehen. Elmo schaute zur großen Uhr über dem Eingang. Eleanor war ziemlich spät dran. Sie hatten verabredet, dass sie ohne ein Wort an ihm vorbeigehen, er einige Minuten warten und dann aufstehen würde, um ihr in den naturwissenschaftlichen Trakt zu folgen. Dort würden sich sich treffen und sich über ihre Wochenenden austauschen. Es war ziemlich paranoid, sich so vehement vor den Mitschülern zu verstecken, aber an einer Schule wie der ihrigen, wo es vor Trotteln nur so wimmelte, war es die gescheiteste Lösung. Ein Schatten legte sich über den Jungen. Er erwartete nichts Gutes und hob zögernd den Kopf. Doch da stand nur Drake Mallard, der selbsternannte Schuldetektiv. Elmo hatte nichts gegen ihn, mochte aber seine arrogante Art nicht leiden. Zumindest hänselte der Erpel ihn nicht, und das war ein kleiner, wenn auch ein schwacher Trost. „Hi, Elmo!“, erklang seine vor Selbstgefälligkeit triefende Stimme. „Wie geht’s dir?“ „Gut“, antwortete Elmo skeptisch. Er wunderte sich, dass der Erpel sich auf einmal großartig um ihn scherte. „Schön, das zu hören.“ Drake schaute sich unauffällig nach allen Seiten um und flüsterte dann: „Darf ich mal kurz unter vier Augen mit dir sprechen?“ „Das tust du doch bereits“, bemerkte Elmo. Drake machte abweisende Gesten. „Nein, nicht hier. Irgendwo, wo wir unter keinen Umständen gestört werden können.“ „OK, was willst du von mir?“, fragte Elmo misstrauisch und zog eine Augenbraue hoch. Es folgte ein betretenes Schweigen. „Nun ...“, begann Drake schließlich und kratzte sich verlegen am Schnabel. „Mich interessiert, was zwischen dir und Eleanor läuft.“ Elmo glaubte nicht, was er da hörte. Mal abgesehen davon, dass Eleanor und er nur befreundet waren: woher wusste Drake davon? War er ihnen etwa nachgeschlichen? Ähnlich sah es ihm ja. Und noch eine Frage brannte ihm auf der Zunge, also sprach er sie aus: „Interessiert es dich oder die anderen da hinten?“ Elmo zeigte über Drakes Schulter zu Hamilton und seinen Kumpels, die neugierig die Hälse in ihre Richtung reckten. Er wusste genau, dass Drake ebenfalls kein großes Ansehen unter den Schülern genoss und sich durch gezielte Informationenbeschaffung über andere so etwas wie Sympathie erkaufen wollte. In Elmos Augen war er eines Detektivs nicht im Geringsten würdig, im Gegenteil: Drake war ein schmieriger kleiner Spitzel, bei dem kein Geheimnis sicher war. Elmo vermutete sogar, dass er es war, der den anderen einen Floh in Bezug auf ihn und Eleanor ins Ohr gesetzt haben könnte. „Glaubst du etwa, ich gehe los und erledige die Drecksarbeit der anderen?“ Drake lachte nervös auf. „Nein, ehrlich, ich möchte es gerne wissen.“ Er suchte einen sauberen Fleck auf der Bank und ließ sich darauf nieder, nicht ohne das Gesicht trotzdem zu einer Fratze zu verziehen. Er legte einen Arm um die Schulter des Rattenjungen und setzte ein Lächeln auf, das vertrauenswürdig wirken sollte, aber offensichtlich falsch war. „Warum um alles in der Welt bist du so scharf darauf, dich mit mir abzugeben?!“, rief Elmo wütend und stand auf. „Ist es, weil du Probleme in Mathe hast? Ich gebe dir gern Nachhilfe, aber du brauchst keinen dämlichen Vorwand, um mich darum zu bitten!“ Was redete er da eigentlich für einen Schwachsinn? Die Szene zwischen den beiden Jungs schien die Aufmerksamkeit von Hamiltons Clique weiter anzustacheln, denn sie begannen hinter Elmos Rücken aufgeregt zu tuscheln. Er achtete nicht weiter darauf, sondern konzentrierte sich auf Drake. Der junge Erpel öffnete den Schnabel, wahrscheinlich um eine entschuldigende Floskel von sich zu geben, visierte jedoch plötzlich nicht mehr seinen Gegenüber, sondern einen Punkt über dessen Schulter an. Sein Mund stand nun weit offen, seine Augen hatten einen ehrfurchtsvollen Ausdruck angenommen. Bevor Elmo sich fragen konnte, was denn nun schon wieder los war, erklang eine weibliche Stimme hinter ihm. „Gibt es ein Problem bei euch?“, fragte sie. Elmo drehte sich langsam um und sah sich mit den grünen Augen einer jungen Rattendame konfrontiert. Sie hatte einen erhabenen, aber dennoch gütigen Gesichtsausdruck und schaute die Jungs abwechselnd in Erwartung einer Antwort an. Von Drake war nur ein gurgelndes Geräusch zu hören, als würde jemand versuchen, ihn zu ertränken. Er sprang von der Bank auf und wich ein paar Schritte zurück, nicht ohne sich die Erscheinung noch einmal genau zu verinnerlichen. Dann drehte er sich um und rannte auf den Eingang der Schule zu, sich in kurzen Abständen immer wieder umschauend, was zur Folge hatte, dass er ziemlich schmerzhaft mit den Glastüren kollidierte. Hamilton und seine Kumpels brachen in Gelächter aus. „Wow, ich hätte nie gedacht, dass ich mal so ein Aufsehen erregen würde!“, meldete sich Elmos Gegenüber wieder zu Wort. Erst jetzt erkannte er sie - und er konnte Drakes Reaktion augenblicklich nachvollziehen. Er schlug sich erschrocken die Hände vor den Mund, seine Augen weiteten sich. „Ach du Schreck ...“, flüsterte er kaum hörbar. Er traute seinen Augen nicht. „E-eleanor ...?“ Sie nickte und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Elmo schüttelte den Kopf. Er war total perplex. „Was ist denn mit dir passiert?“, fragte er, seine Stimme deutlich höher als gewollt. Sie hatte eine Totalveränderung an sich vorgenommen. Sie trug keinen strengen Dutt mehr, sondern offene Haare. Ihre Brille war auch verschwunden; wahrscheinlich war sie Kontaktlinsen gewichen. Die ehemals wilden Augenbrauen waren in Form gezupft, die Wimpern nachgetuscht und die Lippen mit einem zarten Roséschimmer überzogen. Auch bei der Kleidung schien sie ihr altes Konzept über den Haufen geworfen zu haben. Sie trug eng anliegende Klamotten: ein grünes Polo-Shirt mit dünnen weißen Querstreifen, einen weißen Faltenrock, der ihr bis zu den Knien reichte und ebenfalls weiße Schnürsandalen. Sie wirkte viel erwachsener und selbstbewusster als je zuvor und ihr Körper verströmte eine Weiblichkeit, die selbst Elmo nicht unberührt zurückließ. Er erwischte sich dabei, wie er sie anstarrte und schämte sich sofort für sein unreifes Benehmen. „Na, was sagst du?“, fragte Eleanor gespannt. „Warum?“, platzte es aus ihm heraus. Zu einer anderen Antwort sah er sich nicht imstande. „Ich dachte, es sei an der Zeit, mein Leben mal ein wenig umzukrempeln“, antwortete sie, in einem so beiläufigen Ton, als würde sie über das Wetter sprechen. „Hä?“, kam Elmos unheimlich intelligente Entgegnung. Eleanor verdrehte die Augen. Was war denn daran so schwer zu kapieren? „Schau mal“, sagte sie, „ich hatte einfach keine Lust mehr darauf, wie eine graue Maus herumzulaufen.“ Darauf fiel ihm nichts ein. Er ließ den Kopf hängen und sank auf die Bank zurück. Kleine Grüppchen von Schülern liefen an den beiden vorbei, alle mit vor Staunen und Fassungslosigkeit offen stehenden Mündern. Der gesamte Schulhof schien allmählich zu realisieren, dass es das hässliche Entlein Eleanor war, das sich als der schöne Schwan entpuppte, der da vor der „Streberbank“ stand. „Was ist los? Sag doch was!“, forderte sie den Rattenjungen auf. Er schluckte und rang sich zu einer Antwort durch, von der er befürchtete, dass sie nichts Gutes nach sich ziehen würde: „Ich verstehe es immer noch nicht, Eleanor. Das bist doch nicht du!“ Und tatsächlich versteinerte sich ihr Gesicht schlagartig. Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete, und als sie es tat, war ihre Stimme kalt wie Eis. „Du denkst also, dass ich jetzt ein intrigantes Biest werde, bloß weil ich mich ein wenig hübsch mache? Und ich dachte, du wärst jemand, der nicht nur nach dem Äußeren urteilt!“ „Warte, du verstehst mich falsch ...“, versuchte er, sich zu wehren. „Nur damit du es weißt, Elmo: ich tue das nicht für dich oder für einen der anderen, sondern einzig und allein für mich selbst!“ Mit diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um. Es stimmte ja: er konnte und wollte ihr das alles nicht verbieten. Doch fragte er sich ernsthaft, zu welchem Zweck sie das tat. Denn so richtig kaufte er ihr die Geschichte nicht ab. Eleanor ging schwebenden Schrittes auf den Eingang der Schule zu und erntete dabei von allen Seiten bewundernde Blicke von den Mädchen und lüsterne Blicke von den Jungs. Kein Wunder: ihr Hintern schwang leicht hin und her. Elmos Bild seiner einzigen Verbündeten im Kampf gegen den Schulterror war in den Grundfesten erschüttert worden. *~*~* Eleanor saß im Englischunterricht und konnte – wie so oft in letzter Zeit – keinen klaren Gedanken fassen. Sie war überrascht gewesen, wie die Schülerschaft auf ihre Veränderung reagiert hatte. Wie gaffend und schockiert ihre Blicke gewesen waren, fand sie mehr als faszinierend. Solch einfacher Mittel bedarf es also, um von einen Tag auf den anderen nicht mehr gepiesackt zu werden, dachte sie. Aber ganz zufrieden war sie nicht, auch wenn ihr ihre derzeitige Position reichlich Genugtuung und sogar ein bisschen Machtgefühl verliehen hatte. Sie hatte sich eine positivere Reaktion von Elmo erhofft. Eleanor hatte erwartet, dass er den Grund für ihre Verwandlung erahnen würde, ihn nachvollziehen konnte. Klar, sie hatte ihm nicht ausdrücklich gesagt, dass es ein Experiment sein sollte. Aber er war doch schlau genug, um zwischen Realität und Spiel zu unterscheiden ... ? Jemand tippte Eleanor auf die Schulter. Es war Cody, der hinter ihr saß. Er hielt einen zusammengefalteten Zettel in der Hand. Seine Lippen formten die Worte: „Von Preena.“ Das Rattenmädchen nahm den Papierfetzen an, faltete ihn auseinander und las: „Komm in der großen Pause zur Caféteria.“ Sie drehte sich nach hinten um und suchte Preenas Blick, doch die war ausnahmsweise mal mit dem Unterricht beschäftigt und schaute nicht zurück. Was konnte sie nur wollen? Eleanor wog ab, ob sie hingehen sollte. Es konnte ja nichts von Bedeutung sein, was Preena zu sagen hatte. Aber es würde ein schlechtes Licht auf Eleanor und ihr neues Image werfen, wenn sie nicht erschien. Also beschloss sie, das Wagnis einzugehen. *~*~* In der Pause versuchte sie zunächst, Preena vor der Tür abzufangen, aber sie war bereits verschwunden, als Eleanor von ihrem Platz aufstand. Also machte sie sich daran, Preenas Aufforderung zu folgen und fand sich wenige Minuten später vor der Caféteria ein. Jeder zweite Schüler, der vorüberging, grüßte sie oder nickte ihr anerkennend zu. Eleanor strafte sie alle mit Nichtbeachtung. Sollte sie doch eingebildet wirken. Es war immer noch besser, als sich voreilig auf jemanden einzulassen, der sonst hinterrücks über sie zu lästern pflegte. Eleanor musste nicht lange auf Preena warten. Wie üblich war sie in Begleitung ihrer Mädels unterwegs. „Komm mit“, sagte sie, ohne die junge Ratte überhaupt zu grüßen. Sie hielt die Tür zum Speisesaal auf. Eleanor war verwirrt. Bevor sie jedoch weiter darüber grübeln konnte, drückten sie bereits Hannahs und Celestes Hände in den Innenraum und schließlich an die kahle Wand hinter der Tür. Doch sie ließen nicht von ihr ab. Ein mulmiges Gefühl baute sich in Eleanor auf. Sie hätte es wissen müssen: mit ihrer größten Gegenspielerin würde sie niemals auf einen grünen Zweig kommen. „Was fällt dir eigentlich ein?“, fauchte Preena und trat ganz nah an Eleanor heran. Sie konnte ihren Atem riechen, der nach Kaugummi duftete. „Du kommst hier einfach so anspaziert und meinst, meinem Freund schöne Augen machen zu können, was?“ Das Rattenmädchen war wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte überhaupt nichts Schlimmes getan, geschweige denn etwas Böses im Schilde geführt. Aber anscheinend hatte sie Preena neidisch gemacht. Das war zwar geplant gewesen, aber das Ausmaß hatte Eleanor unterschätzt. Preena war zwar noch kleiner als sie selbst, aber zu einer Gemeinheit fähig, die ihresgleichen suchte. Außerdem verfügte sie über ein riesiges Ego und ihre Handlangerinnen. Eleanor war also ziemlich unterlegen. „Ich warne dich!“ Preenas Augen wurden immer kleiner, bis sie nur noch bösartige Schlitze waren. Eleanor schluckte schwer und schaute hilfesuchend umher. Ihr Kopf wurde augenblicklich von Hannah herumgerissen, sodass sie gezwungen war, den kleinen Giftzwerg vor sich anzusehen. „Was hast du vor?“, knurrte das Mädchen. Eleanor antwortete nicht. Ein fataler Fehler. Preenas Hand war so schnell, dass das Rattenmädchen sie gar nicht kommen sah. Erst als sie den brennenden Schmerz auf ihrer Wange spürte, verstand sie, dass sie soeben geschlagen worden war. „Schlampe!“, kreischte Preena und holte erneut aus. Dieses Mal ballte sie ihre kleine Hand zur Faust und zielte damit auf den Unterleib des zierlichen Mädchens. Eleanor schloss die Augen und biss vorsorglich die Zähne so fest aufeinander, wie sie konnte. Doch der Schlag traf sie nicht. Stattdessen hörte sie Preenas Stimme fluchen: „Lass mich sofort los! Ich bin noch nicht fertig mit ihr!“ Eleanor spähte vorsichtig zwischen ihren zusammengekniffenen Augen hindurch und glaubte nicht, was sie da sah. Preena war nun ihrerseits in den Schwitzkasten genommen worden und trat wie eine Furie um sich. Und wer sie festhielt, war Anthony, Eleanors Schwarm. Jetzt war sie völlig durcheinander. „Ihr beiden!“, bellte er Hannah und Celeste an. Die beiden Mädchen ließen Eleanors Handgelenke frei und hoben ihre eigenen Hände blitzschnell in die Höhe, als ob Anthony mit einer Pistole auf sie zielen würde. Sein Kopf ruckte in Richtung Tür. Das war Zeichen genug für Preenas Freundinnen, das Weite zu suchen. „Und nun zu dir.“ Er beugte sich ganz nah zu dem wutschnaubenden Mädchen in seinen Armen hinunter. „Wenn ich dich oder deine blöden Freundinnen noch einmal dabei erwische, wie ihr Eleanor bedroht, dann lernt ihr mich richtig kennen!“ Seine letzten Worte waren ein dunkles Knurren, das Preena die blanke Angst ins Gesicht trieb. Er ließ sie los und sie zupfte sich schlotternd ihre Kleidung zurecht. „Wir sehen uns.“ Sie warf einen letzten hasserfüllten Blick in Eleanors Richtung und beeilte sich, aus Anthonys Einflussbereich abzuhauen. „Alles OK mit dir?“ Er war auf Eleanor zugegangen und stützte sie. Sie zitterte wie Espenlaub. „Es geht schon“, murmelte sie. In ihrem Kopf pochte es und ihre Handgelenke fühlten sich taub an. „Du hast Glück gehabt, dass ich gerade in der Nähe war“, sagte er. „Ja“, antwortete das Rattenmädchen wahrheitsgemäß. „Danke.“ „Gern geschehen.“ Anthony lächelte. Eleanor hatte ihn schon lange nicht mehr richtig angeschaut. Er war ein Hund von großer, gut gebauter Statur. Sein Gesicht war trotz seiner 18 Jahre ziemlich jungenhaft, aber seine zerzausten braunen Haare und die verschmitzte Mimik verliehen ihm etwas Verschrobenes, Erwachsenes. Und auch wenn er normalerweise einer derjenigen war, die sich über sie lustig machten – er hatte nie aktiv an einem der Scherze mitgemacht, die ihr gegolten hatten. Vielleicht war es diese Tatsache gewesen, die sie damals dazu gebracht hatte, sich in ihn zu verlieben. Und sie konnte nicht verleugnen, dass sie ihn immer noch anziehend fand. „Sag mal“, begann er, „hättest du Lust, am Samstag zu meiner Party zu kommen?“ Eleanor klappte die Kinnlade runter. „Ich?“, fragte sie verblüfft. „Aber ... aber, ich passe doch gar nicht zu euch. Und außerdem werden doch Preena und ihre Freundinnen bestimmt auch da sein ... “ „Mach dir um die mal keine Sorgen. Die bekommen nachher noch eine offizielle Ausladung. Und dich würde ich wirklich gerne am Wochenende bei mir sehen“, fügte Anthony hinzu. Er grinste verschmitzt – und Eleanor schmolz dahin. „Gerne“, seufzte sie. „Fein! Ab 21 Uhr – du weißt, wo ich wohne?“ „Äh ... ja, klar ... “, stammelte sie. Das war zwar gelogen, sie wollte aber nicht blöd dastehen. Seine Adresse ließ sich ja schnell herausfinden. „Gut, Eleanor. Dann sehen wir uns.“ Er geleitete sie zur Tür hinaus, bevor er sich mit einem Handkuss von ihr verabschiedete. Im Bauch des Rattenmädchens explodierte ein Kokon mit Tausend kleinen Schmetterlingen. Am Wochenende würde das Kleid ihrer Großmutter Premiere feiern dürfen. Kapitel 9: ----------- Elmos Bemühungen, an Eleanor heranzukommen, scheiterten kläglich. Jedes Mal, wenn er sie auf dem Flur traf und den Mund öffnete, um etwas Entschuldigendes hervorzubringen, wandte sie ihren Kopf nur beleidigt ab. Mehr noch: er hatte das Gefühl, dass sie vor ihm weglief. Er wusste ja, dass seine Bemerkung über Eleanors neues Äußeres nicht besonders taktvoll gewesen war, aber dass sie sich nun so vehement weigerte, ihn in ihre Nähe kommen zu lassen, verstand er beim besten Willen nicht. Sie musste doch sehen, dass es ihm Leid tat und – was noch viel wichtiger war – dass sein Verhalten für seine Peiniger ein gefundenes Fressen war. „Gib dir keine Mühe, sie anzugraben!“, würde es dann von irgendwoher schallen. Somit war Elmo nun nicht nur der Oberstreber, sondern auch noch ein primitiver Klammeraffe. So kam er sich zumindest vor, und ein ums andere Mal fragte er sich, warum er eigentlich weiterhin versuchte, mit Eleanor zu sprechen. Was ihn aber am meisten verstörte war, dass sie des öfteren in der Gesellschaft von Leuten gesehen werden konnte, die sie früher nicht einmal mit dem Allerwertesten angesehen hätten. Sie standen um sie herum als wäre sie eine Attraktion, ein seltenes Tier in einem Zoo. Wahrscheinlich würde sie in wenigen Wochen wieder genauso uninteressant sein wie zuvor, aber die derzeitige Aufmerksamkeit schien ihr ein Gefühl von Überlegenheit zu geben, auch - oder eher: ganz besonders - über Elmo. Jedes Mal, wenn sie mit einem der Mädchen an ihm vorüberging – natürlich ohne ihn eines Blickes zu würdigen – hörte er, wie sie sich über die Party von Anthony Mitchell unterhielten. Was um alles in der Welt wollte sie da? Und wie war sie an eine Einladung gekommen? Hatte dieser dämliche Kerl etwa ein Auge auf sie geworfen? Elmo kannte sich gut aus, was das Denken solcher Typen anging. Schließlich hatte er Tag für Tag mit ihnen zu tun! Kaum kreuzte ein halbwegs attraktives Wesen in ihrem Bewegungsradius auf, wollten sie es erobern, für sich haben. Wie eine Trophäe herumzeigen. Und Eleanor war attraktiv genug, um Anthony auf sie anspringen zu lassen. Elmo glaubte sogar, ihn schon mehrmals dabei beobachtet zu haben, wie er ihr schmachtende Blicke hinterhergeworfen hatte. Er machte sich ernsthaft Sorgen um seine einzige Freundin. Nicht nur weil sie Gefahr lief, sich in die Fänge eines strohdummen Muskelprotzes zu begeben, nein: Elmo hatte vor allem Angst, dass sie allmählich unter Anthonys Einfluss oder dem der anderen verdorben werden könnte. Aber wie sollte er sie beschützen? Heimlich zur Party kommen, sich irgendwo ungesehen verschanzen und die Lage im Auge behalten? - Nein, mal abgesehen davon, dass es unmöglich war, auf dem Weg dorthin nicht erkannt zu werden (selbst in Verkleidung): wie sollte er einschreiten, wenn Eleanor etwas zustoßen sollte? Er, der schmächtig war und die Zuversicht einer Fliege hatte, die sich im Todeskampf mit einer Spinne befand. Sie würden ihn auseinandernehmen. Manchmal, wenn ihn seine Fantasie übermannte, stellte Elmo sich vor, wie es wohl wäre, übernatürliche Kräfte zu besitzen. Aber das war eine alberne, kindische Vorstellung – und noch dazu schlicht unmöglich. Es war sinnlos. Ihm fiel beim besten Willen keine Möglichkeit ein. Außerdem, wenn er ehrlich war: es war eine Intervention in Eleanors Privatsphäre. Es ging ihn nichts an, was sie am Wochenende trieb und mit wem sie zusammen war. Er war schließlich nicht ihr Vater. Elmo konnte nur hoffen, dass sie ihren Verstand angeschaltet ließ und das Richtige tat. *~*~* Als Eleanor am Samstag Morgen erwachte, hatte sie immer noch ein wohliges Kribbeln im Bauch. Sie war wahnsinnig aufgeregt, nicht nur wegen Anthony, sondern auch wegen der vielen anderen Leute, die da sein und sie in ihrem Kleid würden bewundern dürfen. Sie wusste, dass sie trotz allem vorsichtig sein musste. Aus dem, was sie aufgeschnappt hatte, ging es auf solchen Partys immer ziemlich zur Sache – vor allem, was den Konsum von Alkohol und die Konsequenzen daraus anging. Und auch wenn Preena und ihre Freundinnen kein Problem mehr darstellen würden (Eleanor war Zeugin gewesen, wie Anthony ihnen „freundlich“ mitgeteilt hatte, dass sie sich selbst wieder ausgeladen hatten) – das Rattenmädchen würde stets die Augen offen halten müssen. Aber sie war zuversichtlich, dass sie diese Herausforderung würde meistern können. Beim Frühstück fragte sie ihren Vater beiläufig, ob er sie am Abend zur Party fahren könnte. Sie war ein wenig ärgerlich über sich selbst, dass sie mit dieser Frage nicht schon früher herausgerückt war, denn zunächst sah ihr Vater sie nur verblüfft an. „Was willst du denn auf so einer Party?“, fragte er und nahm einen extra großen Schluck aus seiner Teetasse. Auch an Eleanors Mutter, die in den Tagen nach der Eheberatung erstaunlich ruhig und – Gott sei Dank – die ganze Zeit nüchtern gewesen war, ging das Anliegen ihrer Tochter nicht spurlos vorbei. „Genau, junges Fräulein! Was hast du auf so einer Veranstaltung zu suchen?“ Sie zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. Eleanor glaubte, einen Sehnsuchtsschimmer in ihren Augen zu erkennen, der schrie: „Nimm mich mit!“ „Ich bin eingeladen worden, ganz einfach“, beantwortete sie die Fragen ihrer Eltern und zuckte mit den Schultern, so als wäre es üblich, dass sie am Wochenende ausging. Ihr Vater runzelte die Stirn und murmelte: „Ich weiß nicht. Du bist doch gar nicht der Typ dafür.“ „Dad!“, rief Eleanor etwas zu laut aus. Sogleich sank sie in sich zusammen. „Ich meine“, begann sie, „warum sollte ich nicht hingehen? Dann habt ihr mal einen Abend Ruhe vor mir.“ „Ach Schatz, das ist doch Quatsch!“, entgegnete ihr Vater und schüttelte den Kopf. „Red doch nicht so was! Wir sind gern mit dir zusammen und -“ „Das weiß ich, Dad“, schnitt Eleanor ihm das Wort ab, „aber denkst du nicht, dass ich mal was Neues ausprobieren sollte?“ Ihr Vater schwieg. Eleanors Mutter hingegen starrte ihn erwartungsvoll über den Rand ihrer Kaffeetasse an. Sie wollte augenscheinlich nichts zu dem Thema beisteuern. „Na schön“, lenkte er schließlich ein. „Aber benimm dich, ja?“ „Aber klar doch!“ Eleanors Herz machte Freudensprünge. Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihre Mutter, die weiterhin desinteressiert mit dem Löffel in ihrem Kaffee rührte. Sollte sie doch ihre Tochter beneiden. Sie hatte so oder so sehr verstört gewirkt angesichts der Verwandlung ihres Kindes – im Gegensatz zu ihrem Mann. Der hatte erstaunlich locker reagiert und seiner Tochter gesagt, wie hübsch sie doch sei. Er hatte es akzeptiert. Eleanors Mutter dagegen hatte ihr nur missbilligende Blicke zugeworfen. Sie konnte es nicht ertragen, dass jemand in ihrem unmittelbaren Umfeld mehr Aufmerksamkeit durch Äußerlichkeiten auf sich zog als sie. Das Rattenmädchen hatte das Verhalten seiner Mutter mit Genugtuung aufgesogen wie ein Schwamm. Es hatte ihr zusätzliche Bestätigung gegeben. So langsam aber sicher fühlte sie sich in ihrer neuen Gestalt richtig wohl. *~*~* Nachdem sich die schwierig anmutende Angelegenheit, ihren Vater ums Fahren zu bitten, als harmlose Nichtigkeit herausgestellt hatte, blickte Eleanor dem Abend voller Vorfreude entgegen. Bereits am späten Nachmittag verschanzte sie sich wieder ins Badezimmer und gönnte sich ausgiebige Entspannung in der Wanne. Das heiße Wasser umschmeichelte ihren Körper und spülte alle Sorgen der vergangenen Tage hinfort. Sogar Elmo. Sollte er doch weiterhin die Augen vor der Wahrheit verschließen! Wenn er Eleanor nicht so akzeptieren konnte, wie sie jetzt war, dann sollte er es sein lassen. „Der Gute muss erst mal erwachsen werden“, sagte Eleanor zu sich selbst und pustete den Schaum vor ihrer Nase zur Seite. Dieses Mal hatte sie kein schlechtes Gewissen, als sie abwertend über ihn dachte. Als sie aus der Wanne stieg, lag ihr Kleid bereits säuberlich gefaltet auf der Fensterbank. Eleanor trocknete sich sorgfältig ab, knotete sich das Handtuch um den Körper und machte sich mit einem zweiten daran, die überschüssige Flüssigkeit aus ihren Haaren zu entfernen. Dann griff sie zur Haarschaumdose auf dem Bord über dem Waschbecken und sprühte einen großzügigen Klacks davon auf ihre Hand. Sie knetete die klebrige Masse in ihre Locken und machte sich als Nächstes daran, sich einige wenige große Lockenwickler in die Haare zu drehen. Die Wartezeit verbrachte Eleanor damit, Akzente in ihrem Gesicht zu setzen. Sie tuschte zunächst ihre Wimpern und freute sich, dass sie endlich den Dreh raus hatte (anfangs hatte sie sich regelmäßig in die Augen gestochen). Danach machte sie sich an die ebenso schwierige Aufgabe, Kajal aufzutragen. Aber auch das klappte ohne Zwischenfälle. Innerlich juchzte Eleanor. Das konnte ja nur ein gutes Ergebnis werden und demnach ein genauso erfolgreicher Abend! „Welchen Lidschatten nehme ich nur?“, murmelte sie. Bei ihrem Einkaufsbummel hatte sie ihr gesamtes Kleingeld für eine Farbpalette ausgegeben, die für den Rest ihres Lebens reichen würde. Sie entschied sich für einen Naturton, der nur ein wenig heller war als ihre Fellfarbe. Eleanor trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. Es sah wirklich gut aus. Zuletzt spitzte sie die Lippen und bemalte sie mit einem roséfarbenen Lipgloss, in den sie sich verliebt hatte. Auch nach diesem Schritt begutachtete sie sich – ja, da genügte. Nun war es an der Zeit, sich um den Zustand der Haare zu kümmern. Es ziepte leicht, als das Rattenmädchen die Wickler löste. Sie versuchte krampfhaft, sich nicht auf die Lippen zu beißen. Nach getaner Arbeit kämmte Eleanor ihre erstarrten Locken leicht aus. Mit großzügigen Bewegungen führte sie ihre Hände durch die Haare und versuchte, sie in eine verspielte, aber nicht billig wirkende Form zu bringen. Abwechselnd schubste sie einzelne Strähnen in die Stirn und strich sie wieder weg. Als sie endlich ein zufriedenstellendes Ergebnis erreicht hatte, griff sie flugs zur Haarspraydose und dieselte sich mit dem Zeug ein. Sie bat Mutter Natur um Vergebung, dass sie der Umwelt damit keinen Gefallen tat, ebenso wie für die Tatsache, dass sie sich mit dem Auto zur Party fahren ließ. Aber die Gute würde da sicher ein Auge zudrücken. Zumal das Rattenmädchen sich fragte, wie es um alles in der Welt in diesem Kleid Fahrrad fahren sollte. Eleanor korrigierte die Konstellation ihrer Haarsträhnen noch einmal und sprühte noch etwas mehr Spray auf. Sie musste husten; das Zeug war wirklich teuflisch. Nachdem sie sich fertig herausgeputzt hatte, war es endlich so weit. Eleanor nahm das Kleid auf und faltete es sorgfältig auseinander. Sie hielt es sich an und fragte sich gespannt, wie das Endergebnis wohl aussehen würde. Also ließ sie das Handtuch zu Boden fallen, stieg in das Kleid, zog es hoch und band sich eine Schleife im Nacken. Als Eleanor den Blick zum Spiegel wandte, blieb ihr der Atem stehen. „Wow ...“, flüsterte sie. Sie war überwältigt. Das Kleid passte wie angegossen. Sie zog die schwarzen Pumps an und richtete ihre Haare ein letztes Mal. Eleanor konnte sich einen Laut der Begeisterung nicht verkneifen, der durch ihre Aufregung zu einem unterdrückten Quieken verkam. Als letzten Schliff besprühte sie sich mit einem leichten Parfum, das dezent nach Vanille duftete. Ein letzter Blick in den Spiegel und Eleanor war bereit, der Welt da draußen zu zeigen, wozu das hässliche Entlein fähig war. *~*~* „Dad!“ Das Rattenmädchen sah auf die Uhr. Kurz vor Neun, wie schnell die Zeit vergangen war! Sie huschte die Treppe hinunter und kam eher unelegant auf den Fliesen zum Stehen. Ihr Vater trat aus dem Wohnzimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Er starrte seine Tochter an, sein Mund öffnete sich vor Staunen. Er nahm sie bei der Hand und drehte sie im Kreis. „Du siehst toll aus“, sagte er. Eleanor lächelte zutiefst bewegt. Im Hintergrund konnte sie die Nasenspitze ihrer Mutter sehen, die sich hinter der angelehnten Wohnzimmertür versteckt hatte. Wenn möglich, wurde ihr Grinsen noch breiter. Ihr Vater hielt ihr die Tür auf und verbeugte sich wie ein Butler. Eleanor musste angesichts so viel charmeurhaften Getues kichern. Aber es gefiel ihr. *~*~* Anthonys Haus lag nur einige Blocks von Eleanors Heim entfernt, aber es war sicherer, gebracht zu werden – und es sah besser aus. Eleanor lehnte sich zu ihrem Vater hinüber und küsste ihn auf die Wange. „Danke, Pappa! Ich ruf dich dann an“, sagte sie und wollte die Tür öffnen, doch ihr Vater hielt sie an der Schulter fest. Er schaute urplötzlich missmutig drein. „Sag mal“, begann er, „trägst du denn keinen BH?“ Eleanor zuckte kaum merklich zusammen. Es stimmte, aber sie wollte ihn nicht verunsichern. Also löste sie sich mit leichter Gewalt von ihm und antwortete mit einem versöhnlichen Lächeln: „Doch, keine Sorge! Ich hab dich lieb!“ Mit diesen Worten öffnete sie die Tür und schwang sich nach draußen. Sie konnte nicht mehr hören wie ihr Vater murmelte: „Pass auf dich auf, Kleines ...“ Kapitel 10: ------------ Die Mitchells waren eine wohlhabende Bänkerfamilie, und das sah man ihrem Haus auch an. Es war riesig und hatte einen überdimensionierten Garten vor und hinter dem verwinkelten Gebäude, aus dem Musik drang. Eleanor schlängelte sich zwischen den parkenden Autos durch, die allesamt Anthonys Kumpels gehörten. Eines sah schicker und teurer aus als das Nächste. Wie gut, dass niemand sie in dem alten Capri ihres Dads gesehen hatte. Der säuberlich gepflasterte Weg zum Haus war von kunstvoll geschnittenen Pflanzen umsäumt, aus denen das matte Licht kleiner bunter Partyleuchten schien. Es sah mehr als einladend aus. Eleanor erklomm die Steinstufen zum Eingang, das schöne schmiedeeiserne Geländer betrachtend, und positionierte sich mittig vor die Tür. Sie richtete ihre Frisur und klingelte. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr geöffnet wurde. „Hi, Eleanor! Schön, dass du hier bist!“ Da stand Anthony mit einem warmen Lächeln im Gesicht, das blütenweiße Hemd salopp aus den Jeans gezupft. Bevor sie überhaupt antworten konnte, sprach er weiter: „Komm doch rein!“ Er hielt ihr die Tür weiter auf, damit sie eintreten konnte. Eleanor war geplättet von dem Luxus, der ihr von allen Seiten entgegenglänzte. Alles war auf Hochglanz poliert: sie bewegte sich auf einem weißen Marmorboden, von der Decke hing ein opulenter Kronleuchter und die kleinen Möbel waren aus feinstem Holz. Von der großen Diele, deren Wände mit allerlei Gemälden behangen waren, führte eine ausladende Treppe ins obere Stockwerk. Ein Pärchen, das sich ebenfalls im Eingangsbereich des Hauses tummelte, warf neugierige Blicke nach oben. Als sie ihre Füße gemeinsam auf die unterste Stufe setzten, dröhnte Anthonys gebieterische Stimme durch den Raum: „Na na na, wollt ihr das wohl sein lassen? Da ist Tabuzone!“ Erschrocken wichen die beiden von der Treppe zurück, als ob der Läufer auf den Stufen versucht hätte, sie zu beißen. Mit einem entschuldigenden Grinsen in Anthonys Richtung und einem gezischten „Ich hab's dir doch gesagt!“ von Seiten des Mädchens verschwanden sie im Wohnzimmer. Anthony schüttelte den Kopf. „Die denken, die dürften überall Kinder machen, sogar auf dem Klo“, seufzte er. Eleanor zwang sich zu einem zustimmenden Lächeln. Sie fand seine Ausdrucksweise etwas gewöhnungsbedürftig. Außerdem war sie ein wenig schockiert über die Tatsache, dass anscheinend schon mehrere Gäste versucht hatten, irgendwo hier im Haus intim miteinander zu werden. „Du siehst unglaublich aus“, bemerkte Anthony und riss Eleanor damit aus ihren Gedanken. „Danke“, hauchte sie und errötete. Sie ließ sich von ihm ins Wohnzimmer führen. Von hier kam die Musik, und hier saßen und standen auch die meisten Gäste. Sie quatschten laut, um die Musik zu übertönen, kreischten und lachten. Es war ein dissonantes Durcheinander aus Stimmen. Die Mädchen und Jungs, die nicht sprachen, lagen zusammengekuschelt auf den kleinen Sofas oder ersetzten die gesprochene Konversation durch Küsse. Draußen auf der Terrasse konnte Eleanor noch mehr Leute ausmachen. Dort wurde geraucht und einige Mädchen ließen sich ohne größeren Widerstand von den Jungs in voller Montur in den Pool schmeißen. „Sekt?“, fragte Anthony. Er hielt ihr ein Tablett hin, das voll war mit eleganten Sektkelchen. „Nein, danke“, winkte sie ab, „hast du Cola da?“ „Klar!“, nickte er, etwas enttäuscht. „Warte hier, ich hole dir welche.“ Eleanor hatte Gelegenheit, die Gesamtlage etwas genauer zu analysieren. Seine Frage nach ihrem Getränkewunsch hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass nahezu jeder Gast ein Glas mit der sprudelnden Flüssigkeit bei sich trug oder vor sich auf dem Tisch stehen hatte. Und wo keine Gläser standen, tat sich das Partyvolk an Flaschen gütlich, in denen sie Bier vermutete. Sie war empört und enttäuscht zugleich. Sie hatte zwar kein ruhiges Herumsitzen in kleiner Runde erwartet, aber dass so hemmungs- und sorgenlos mit Alkohol umgegangen wurde, störte sie doch ungemein. Zumindest hielt sich die Ausgelassenheit noch in dem Maße in Grenzen, dass sie sich keine Sorgen darum machen musste, von einer wild tanzenden Meute zertrampelt zu werden. Anthony erschien wieder an ihrer Seite, mit einem großen Glas Cola in der Hand. „Versprichst du mir, wenigstens um Mitternacht mit anzustoßen?“, fragte er und schaute erwartungsvoll drein. Wenn es so etwas wie den berüchtigten Hundeblick gab, dann beherrschte er ihn. Aber Eleanor blieb hart. Sie schüttelte den Kopf. „Ach, komm schon!“, drängelte Anthony. „Ein kleines Schlückchen kann dir nicht schaden.“ „Mal sehen“, sagte sie. Das war eine unverbindliche Antwort, die ihn zufrieden zu stellen schien. Er zog sie mit sich auf ein freies Sofa und lächelte sie dabei übertrieben an. Machte sie ihn etwa unsicher? Es folgten einige schweigsame Minuten, in denen beide überall hinschauten, nur nicht in das Gesicht des anderen. Grund genug, die nervige kleine Stimme in Eleanors Kopf auf den Plan zu rufen. „Was soll das denn bitte?“, herrschte sie das Mädchen an. „Er sitzt neben dir, ihr seid unter euch. Tu was!“ „Ähm ...“, begann nun ihre richtige Stimme, „... schön habt ihr es hier.“ Verlegen nippte sie an ihrer Cola. Das fing ja gut an! „Ja“, stimmt Anthony ihr zu und streckte seine langen Arme aus. Als er sie wieder senkte, legte sich einer davon auf Eleanors Schulter. Die Berührung ließ sie erschauern. „M-magst du mir mal den Garten zeigen?“, stammelte sie. Sie brauchte tatsächlich etwas frische Luft, aber auch Zeit, um seine übermäßige Anhänglichkeit zu verarbeiten. Es war ihr außerdem nicht entgangen, dass die beiden immerzu von den anderen beobachtet wurden. Getuschelt wurde höchstwahrscheinlich auch wieder. Aber etwas Gutes hatte Anthonys ständige Anwesenheit: es würde sich niemand mit einer feindseligen Absicht an Eleanor herantrauen. *~*~* Der Garten hinter dem Haus war noch prachtvoller als der Vorgarten. Die Beete waren überladen mit riesigen Rosensträuchern, die in voller Blüte standen, und anderen bezaubernden Blumen. Dazwischen ragten verschnörkelte Laternen aus der Erde, die Eleanor an die typische Straßenbeleuchtung in Paris erinnerten. Es sah aus wie im Märchen, so unwirklich. Um sich zu vergewissern, dass es kein Traum war, berührte sie eine der zahlreichen Rosenblüten. Sie war weich wie Seide und verströmte einen Duft, den sie an einer so zierlichen Schöpfung der Natur nie vermutet hätte. „Gefällt es dir?“ Anthony stand dicht hinter ihr und schaute ihr über die Schulter. Sie befanden sich abseits der kreischenden Gäste, die sich weiterhin zum Spaß in den Pool warfen. „Ja, sehr“, antwortete sie leise. „Es ist wunderschön hier.“ „Das freut mich.“ Es herrschte eine Stimmung, die Eleanor nicht beschreiben konnte. Es lag Romantik in der Luft, die beiden standen allein, geschützt vor den Blicken der anderen, und doch war es eine beklemmende Situation. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Aber war es nicht am besten, einfach abzuwarten? Anthony schien dasselbe zu denken. Er betrachtete die Flasche in seiner Hand und stellte fest, dass sie leer war. „In deinem Glas ist auch nichts mehr“, sagte er und nahm es dem Rattenmädchen ab. „Ich hol uns noch was. Du kannst dich ja derweil noch weiter umsehen.“ Mit einem herzerweichenden Lächeln drehte er sich um und marschierte stolzen Schrittes aufs Haus zu. Eleanor bemerkte, dass er ganz leicht wankte. Er war auf jeden Fall angeheitert, und sie hoffte, dass er den Beginn seines Geburtstages noch einigermaßen mitbekommen würde. Wie vorgeschlagen schlenderte sie weiter durch den atemberaubenden Garten und ließ die zart beleuchtete Farbenpracht auf sich wirken. Sie hatte sich gerade einem interessanten Arrangement von Chrysanthemen zugewandt, als es vor ihr in den Hecken raschelte. In Erwartung einer streunenden Katze beugte Eleanor sich weiter vor, um die Quelle des Geräusches zu erkunden. Doch statt eines Stubentigers schlugen sich urplötzlich drei ihr wohlbekannte Gestalten durch die Büsche: Preena, Celeste und Hannah. Eleanor stieß einen spitzen Schrei aus und machte sich zur Flucht bereit, doch die Mädchen waren schneller. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte Hannah schon ihre Arme ergriffen, während Celeste sie zeitgleich an den Füßen packte und damit vom Boden riss. „HIL-!“, rief Eleanor, doch Preenas Hand legte sich blitzschnell auf ihren Mund. Die junge Ratte versuchte, ihrer Todfeindin in die Finger zu beißen, aber deren andere Hand klatschte ihr so heftig ins Gesicht, dass ihr der Mut dazu verging. „Du kleines Miststück hast ordentlich Spaß auf der Party, die eigentlich unsere Showbühne sein sollte, hm?“ Preenas Stimme hatte einen bedrohlichen Ton angenommen. Voller Hass blickte sie auf das verängstigte Mädchen hinunter. „Mir wird schlecht, wenn ich dich nur ansehe. Läufst hier herum, als wärst du das Anbetungswürdigste, was dieser Planet je gesehen hat. Sind die überhaupt echt oder hast du da was reingestopft?“ Ohne dass sie Eleanor antworten ließ, hatte Preena schon ihre kurzen Finger ausgestreckt und sie auf den Busen ihrer Gefangenen gelegt. Sie drückte zu, so fest, dass das Rattenmädchen vor Schmerz in Preenas Hand stöhnte. Sie kickte aus, wollte sich mit ihrem Absatz aus Celestes Griff freitreten, aber es gelang ihr nicht. Verzweiflung stieg in ihr hoch. Wo war Anthony? „Wenn wir schon nicht auf dieser Party sein dürfen, dann machen wir einfach unsere eigene. Und rate mal, wer unser Überraschungsgast ist ...“, flötete Preena. Was um alles in der Welt hatten sie vor? „Na los, komm mit! - Ach, ich Dummerchen!“ Sie sah Eleanor bemitleidend an und fügte hinzu: „Unsere Majestät muss ja getragen werden!“ Sie nickte ihren Freundinnen zu und sie hoben die wehrlose Ratte vom Boden an und auf die Hecke zu. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass doch endlich Hilfe herbeieilen möge. „Was beliebt es eurer Majestät, auf ihrer Party zu tun? Vielleicht ein Sektlein schlürfen, während sie ihrer Gefolgschaft dabei zusieht, wie sie sich vor dem Hofstaat zum Narren macht?“, spie Preena. „Oder möchtet ihr lieber in einer geselligen Runde von Jünglingen begafft werden?“, schlug Hannah vor und kicherte nervös. „Oder wie wäre es -“ Weiter kam Celeste nicht, denn ein beachtlicher Schatten hatte sich über die Mädchen gelegt und ließ eine Stimme ertönen, die allen Anwesenden - einschließlich Eleanor - das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Wo wollt ihr denn hin?“ Sie schaute auf und die Erleichterung legte sich augenblicklich über sie: es war Anthony. Gott sei Dank, dachte sie. Er stellte seine Bierflasche und das Glas mit Cola ab und schritt langsam auf die seltsame Kidnapping-Szene zu. Eleanor wurde unsanft fallen gelassen. Dankbar sah sie ihren Retter an, doch der hatte nur Augen für Preena und ihre Freundinnen. Er schwankte immer noch etwas, und seine Stimme war erheblich lauter als noch zu Beginn des Abends, als er die Mädchen anblaffte: „Was habt ihr auf meinem Grundstück zu suchen?! Hab ich euch nicht verboten, herzukommen?!?“ Die Drei stotterten unzusammenhängende Wortfetzen und zeigten dabei mit den Händen auf die jeweils anderen beiden, so als wollten sie jegliche Schuld von sich schieben. „RUHE!“, schrie Anthony. „Das ist meine letzte Warnung an euch! Wenn ich euch noch ein einziges Mal dabei erwische, wie ihr Eleanor zu nahe kommt, dann könnt ihr eure letzten Gebete sprechen!! Und jetzt schwingt eure verdammten Ärsche aus meinem Garten!!!“ Er griff nach seiner Bierflasche und zielte damit in die Richtung der Mädchen. Sie kreischten unkontrolliert los, waren sich aber nicht einig, ob sie wieder durch die Hecke oder durch den Garten verschwinden sollten. Anscheinend ging Anthony das alles nicht schnell genug, denn er holte aus und schmiss seine Flasche auf die hysterischen Mädchen. „VERPISST EUCH ENDLICH!!!“, brüllte er aus vollem Hals. Diese Aufforderung verstand Preena, denn sie rannte los und zerrte ihre Kumpaninnen mit sich, so schnell sie konnte. Anthony atmete schwer, als er sich mit hochrotem Gesicht zu Eleanor umdrehte. Sie hatte die ganze Szene fassungslos mit angesehen und konnte auch jetzt, als die Gefahr gebannt war, kein Wort von sich geben. Der Schock saß zu tief. „Du brauchst ab Montag einen Bodyguard in der Schule“, sagte Anthony und schaute das sprachlose Mädchen neben sich selbstzufrieden an. Er war ganz offensichtlich erbaut von seiner Rettungsaktion, doch Eleanor war immer noch nicht zu einer Reaktion fähig. Ihre Gefühle spielten vollkommen verrückt. Sie sollte ihm dankbar sein, ihm in die Arme fallen, ihm vielleicht einen leidenschaftlichen Kuss geben, der ihn in seiner Heldenposition bestätigte, aber das erschien ihr nicht richtig. Sie war wie erstarrt angesichts der Aggressivität, die Anthony unter Alkoholeinwirkung an den Tag legte. Reagierte er gar immer so, wenn ihn etwas aufregte? „Alles OK?“, fragte er, als er ihr kreidebleiches Gesicht sah. Eleanor schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf. Sie fühlte sich arg unwohl. Nicht nur wegen des plötzlichen Auftauchens von Preena und ihren Freundinnen, sondern auch wegen Anthonys Ausraster. Er machte ihr Angst. Immerhin war er ein Riese und konnte selbst in nüchternem Zustand austeilen, wie Eleanor ja bereits in der Schule erfahren hatte. Schnell nahm sie einen großen Schluck aus dem Glas, das er ihr wieder aufgefüllt hatte. Selbst das Getränk schmeckte in diesem Moment scheußlich. „Lass uns lieber wieder reingehen“, sagte Anthony und hickste. „Das wird dich ablenken.“ Kapitel 11: ------------ Vorbei an der Terrasse, die sich mittlerweile geleert hatte, gingen sie wieder ins Innere des Hauses, wobei Eleanor das Schlurfen ihres Schwarms nicht entging. Drinnen war es nun um Einiges voller; es mussten noch viel mehr Leute zur Party gekommen sein. Wie spät war es eigentlich? Sie ließ sich auf einen freien Sitzplatz plumpsen und legte die Hand an die Stirn. Sie fühlte sich schwindelig. Die ganzen Geschehnisse heute Abend waren zu viel für sie, allen voran Anthonys uneinschätzbares Verhalten. Neben ihr saß, zu ihrer Überraschung, Drake Mallard, der in der Menge aus coolen und neureichen Leuten noch verlorener wirkte als sie selbst. „Was machst du denn hier?“, fragte sie ganz unverblümt. Moment mal - was war eigentlich in sie gefahren, dass sie so mit den Leuten sprach? Früher war sie doch immer diejenige gewesen, die auf angesagten Veranstaltungen fehl am Platz gewesen war. „Dasselbe wie du, schätze ich mal“, antwortete er trocken. Er sog einen Schluck seines Cocktails durch den pinken Strohhalm im Glas ein und sah das Rattenmädchen vielsagend an. „Und was soll das sein?“, fragte sie. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was er meinte. „Na, die Lage peilen.“ „Aha“, entgegnete sie. Und ihr kam ein Gedanke: „Du meinst nicht eher 'schauen, was für lukrative Infos ich wieder aufschnappen und weitervermarkten kann'?“ Drake sah sie gekränkt an. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber wieder und stand stattdessen kopfschüttelnd auf, nicht ohne Eleanor noch einmal einen verständnislosen Blick über die Schulter zuzuwerfen. Was hatte sie denn nun wieder falsch gemacht? Sie schaute in ihr Glas, als ob ihr die trübe braune Soda eine Antwort geben könnte. Vor dem Plattenspieler flippten die Leute aus, als ein Lied von The Clash kam. Die angetrunkene Menge begann den von Eleanor gefürchteten wilden Ausdruckstanz. Sie warfen sich gegeneinander wie die Geisteskranken und grölten den Text mit. Sie wusste, dass Anthony diese Band sehr mochte und hatte deshalb erwogen, ihm eine Platte von ihnen zu schenken. Doch er hatte ihr im Vorfeld gesagt, dass er kein Präsent von ihr erwartete. Ihre bloße Anwesenheit auf der Party sei ihm Geschenk genug, hatte er gesagt. Das hatte Eleanor so sehr geschmeichelt, dass sie nicht weiter daran gezweifelt hatte, dass bei ihm Interesse für sie bestand. Wie sie aber inmitten der vollkommen abgedrehten Leute saß und von irgendwo weit her dumpf eine Vase auf dem Boden zerschellen hörte, war sie sich ihrer Gefühle für Anthony nicht mehr sicher. Unweigerlich kroch in ihr die Befürchtung hoch, dass er sie nur als Aushängeschild benutzen wollte. Es war wohl an der Zeit, ihren Vater anzurufen. Eleanor würde diesen Teil ihres Experiments als unglücklich verlaufen verbuchen, hatte sich doch kaum jemand aktiv mit ihr abgegeben und hatte sie sich in Anthonys Gegenwart mehr schlecht als recht gefühlt. Apropos schlecht: in ihrer Magengegend rumorte es ganz grässlich. Kein Wunder: sie hatte seit dem Mittagessen nichts mehr zu sich genommen und nur Unmengen von diesem herb-süßen Brausezeugs, das sich noch Cola schimpfen durfte, getrunken. Als Eleanor sich erhob, um das Telefon zu suchen, musste sie aufpassen, nicht vornüber zu fallen. Der Fußboden vor ihr wollte nicht so recht zu einer gerade Linie werden. Sie wollte sich gerade wieder niederlassen, da wurde sie auch schon am Arm vom Sofa weg und in Richtung der wummernden Musik gezogen. Anthony hatte sie gepackt und drückte sie mit seiner freien Hand an sich. Die andere hielt eine Flasche. Das wievielte Bier war das wohl? „Das is' mein Lieblingslied!“, brüllte er in ihr Ohr. „Das müssen ma gebühr'nd würdig'n!“ Und schon begann er, das arme Rattenmädchen durch die Gegend zu wirbeln. Das tat ihrem Magen gar nicht gut, er rebellierte. „Hör auf!!“, flehte sie, aber Anthony hörte sie nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, die richtigen Töne zu treffen. Sie versuchte, sich von ihm loszueisen, aber sein Griff um ihre Taille war so fest wie eine Schraubzwinge. Eleanor kämpfte gegen das jojohaft auftretende Brechgefühl an, bis das Lied vorbei war. „Anthony“, versuchte sie es nun erneut, „mir ist schlecht, lass mich bitte los!“ „Oh, tu' ma Leid“, lallte er. Er war endgültig betrunken. Das Rattenmädchen löste sich von ihm und torkelte, benommen von der lauten Musik und den Alkoholgerüchen, die wie eine Dunstwolke über dem Raum lagen, aus dem Wohnzimmer. In der Diele saßen ein paar Mädchen aus ihrem Französischkurs auf dem Boden und kitzelten Drake Mallard aus. „Ist dir schlecht, Drakey? Wenn du kotzen musst, dann lass es raus!“, lachten sie. Inwiefern dem strampelnden Erpel das helfen sollte, sich seines Mageninhalts zu entledigen, vermochte Eleanor nicht zu überlegen. Dazu war sie zu unkonzentriert. Wo zum Henker war das Telefon? „'Ey Eleanor, gleich isses soweit! Komm wieder rein.“ Anthony legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie zu sich um. Seine Augen visierten einen Punkt in Höhe ihres Haaransatzes an. „Was? Anthony, ich möchte nach Hause. Mir ist speiübel“, wandte das Rattenmädchen ein. „'S is' gleich Mitternacht! Du willst doch nich' etwa verpass'n, wie wir reinfeiern?“ Wenn sie ehrlich war, konnte ihr die ganze Party mittlerweile gestohlen bleiben. Aber sie war in ihrem Zustand zu schwach, um sich gegen Anthonys Kraft zu wehren. Also ließ sie sich wieder ins Wohnzimmer zerren. Dort standen alle Gäste im Kreis versammelt. Wie viele es waren, konnte und wollte Eleanor in ihrem verwirrten Kopf nicht nachzählen. Sie blieb in der vorderen Reihe stehen und schaute Anthony dabei zu, wie er in die Mitte marschierte. Seine Freunde johlten, alle hielten Sektgläser in den Händen, und keiner konnte sich mehr hundertprozentig gerade auf den Beinen halten. „Leute, in genau 30 Sekunden isses soweit!“, rief Daniel, Anthonys bester Freund, in die Runde. Eleanor wurde ebenfalls ein Glas Sekt in die Hand gedrückt. Gedankenverloren schaute sie es an. „10! ... 9! ... 8! ...“, zählten nun alle. Die Sekunden schienen endlos. „...2! ... 1! ... 0!“ Das ohrenzerfetzende Schreien, das jetzt einsetzte, gab dem Rattenmädchen den Rest. In ihrem Kopf schien etwas zu explodieren. Es schmerzte höllisch. Als sich auch noch ein Regen aus Champagner auf ihre Haare ergoss, war ihre Laune endgültig im Keller. Sie war kurz davor, aus lauter Wut aufzuschreien und die ganze Gesellschaft als hirnloses, widerwärtiges Gesindel zu beschimpfen, aber sie hielt sich zurück. Der Kreis um Anthony, der vergnügt an der Champagnerflasche süffelte, löste sich auf. Ob sie wollte oder nicht: Eleanor musste ein letztes Mal mit ihm sprechen, um zu erfahren, wo das Telefon war. Also ging sie auf ihn zu und tippte ihm auf die Schulter. Er drehte sich zu ihr um, und als seine Augen sie (mehr oder weniger) erfassten, schlang er einen Arm um sie und rief: „Eleanor! Schön, dassu da bist!“ „Ja ... herzlichen Glückwunsch ...“, murmelte sie. „Hör zu, ich -“ „Danke, danke, du bisn Schatz!“, tönte er. Es reichte. Mit all ihrer Kraft drückte sie seinen Arm von ihrer Schulter und sah ihn ernst an. Sein Gesicht verschwamm immer mehr vor ihren Augen. „Zeig mir bitte, wo das Telefon ist. Ich möchte nach Hause!“, sagte sie, so bestimmend, wie ihre wackelige Stimmlage es zuließ. „Och, warum denn? Jetzt wird's doch erst richtig lustig!“, protestierte er. „Tut mir Leid, ich kann nicht mehr!“ Warum rechtfertigte sie sich eigentlich? „Wennde müde bist, kannste dich gern oben hinlegen und später mit uns weiterfeiern.“ „Nein, Anthony ...“ Lieber Gott, bitte mach, dass alles aufhört, sich zu drehen ... „Eleanor ...“ „Ich hab 'Nein' gesagt!“ Er seufzte tief und säuselte: „Na gut, wennde unbeding' wills' ...“ Der hünenhafte Hund nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her. Er ging mit ihr auf die Treppe zu. Der Aufstieg gestaltete sich als schwieriges Unterfangen für Eleanor. Sie konnte kaum abschätzen, wo die eine Stufe aufhörte und wo die nächste anfing. Also nahm Anthony sie kurzerhand auf den Arm und trug sie nach oben. Aus dem Augenwinkel meinte Eleanor unten in der Diele Daniel zu erkennen, der anerkennend beide Daumen hochhielt. Oben angekommen stieß Anthony eine Tür auf und legte das erschöpfte Mädchen auf einem Bett ab. Höchstwahrscheinlich war es sein Zimmer. Sie richtete sich auf – den Drang, sich zu übergeben, zurückkämpfend – und wartete darauf, dass er ihr das Telefon reichte. Doch er ließ sich Zeit. Zunächst verschloss er die Tür, dann machte er sich an seinem Schreibtisch zu schaffen. Sie konnte ein leises Klimpern hören. Bevor sie sich über die Herkunft und den Verursacher des Geräusches Gedanken machen konnte, hatte Anthony sich zu ihr auf die Bettkante gesetzt und starrte sie mit verklärtem Blick an. „Was ist nun?“, fragte Eleanor erwartungsvoll. Ihre Stimme zitterte. Sie hatte ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache, denn es sah ganz und gar nicht danach aus, als ob er ihr ermöglichen wollte, zu Hause anzurufen. Anthonys Blick, der plötzlich etwas Festes angenommen hatte, wanderte an ihrem Körper hinab. „Weißte eigentlich, wie heiß du aussiehst?“ Er nahm ihre Hand und hauchte ihr einen Kuss auf die eiskalten Finger. Eleanor zog die Hand weg und rutschte von ihm fort, aber er robbte ihr hinterher, bis sie schließlich gegen das Kopfende des Bettes gelehnt war. „Wo kommt eig'ntlich dein Nachname her? Jooooohaaannnnnnnssssooonnnnnn ...“ Er betonte jede Silbe so gedehnt, dass ihr sein widerlicher Atem ins Gesicht schlug. Sie wollte gerade antworten, dass ihn das doch gar nicht interessierte, da ergriff Anthony ihre Schultern und zog sie zu sich heran. Das Nächste, was Eleanor spürte, waren seine Lippen, die sich auf ihre legten. Sie war so überwältigt, dass sie vergaß, sich gegen ihn zu wehren. Sie ließ es geschehen, schloss sogar die Augen. Es war ihr allererster Kuss, aber eigentlich hatte sie ihn sich schöner vorgestellt. Anthony war fordernd und sog sehr stark an ihren Lippen. Es war überhaupt nichts Leidenschaftliches, nichts Schönes daran, und als seine Zunge versuchte, in ihren Mund einzutauchen, begann Eleanor erneut, sich von ihm wegzudrücken. Er missverstand diese Geste aber anscheinend als Aufforderung nach mehr, denn er schlang seine Arme um ihre Hüfte und strich dann mit einer Hand über ihre Wirbelsäule, während die andere ihren Weg an Eleanors Oberschenkel hinauf suchte. Sie strampelte, und schließlich schaffte sie es, sich aus seinem eisernen Griff zu lösen. „Was wird das?!“, keuchte sie außer Atem. Sie starrte erst ihn an und sah dann auf den Boden. Eine Rumflasche war in ihr Blickfeld gekullert. Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Deshalb hatte ihre Cola so einen komischen Nebengeschmack gehabt, deshalb war sie seit geraumer Zeit nicht mehr fähig, gerade zu laufen und klar zu denken: Anthony hatte ihrem Getränk Alkohol beigefügt, um sie gefügig zu machen. Diese Erkenntnis und der Ärger über ihre Naivität wirkten wie ein Schwamm, der den benebelnden Schleier vor ihren Augen mit einem Wisch entfernte. „Was das wird?“, wiederholte Anthony ihre Frage. „Dein Geburtstagsgeschenk für mich.“ Eleanors Augen weiteten sich vor Schock und ihr Mund klappte fassungslos auf. Er hatte das alles also von vornherein geplant. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und flüsterte: „Warum?“ Er schien nicht zu erkennen, worauf ihre Frage abzielte, denn er antwortete nur: „Weil du mich total scharf machst.“ Mit diesen Worten wanderte seine Hand wieder an ihrem Körper entlang und bewegte sich nun auf ihren Busen zu, während die andere sich an der Schleife in ihrem Nacken zu schaffen machte. Mit einem Ruck zog er und löste den Knoten. Eleanor schrie entsetzt auf und konnte gerade noch verhindern, dass die herabfallenden Träger sie entblößten. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Anthonys Kopf gab ein ungesundes Geräusch von sich, als er nach hinten flog. Eleanor nutzte die Schrecksekunde aus, rutschte vom Bett und schlüpfte rasch in ihre Pumps, die ihr bei ihren Befreiungsversuchen von den Füßen geglitten waren. „HASTE SIE NOCH ALLE?!!“, brüllte Anthony, als er sich wieder gefangen hatte. Sein Gesicht sprach Bände. Anscheinend hatte ihm noch nie ein Mädchen eine derartige Abfuhr verpasst. Es war wutverzerrt, und wo sie ihn getroffen hatte, zeichnete sich eine breite rote Schliere ab. „Das sollte ich dich fragen!“ Auch Eleanor war richtig in Rage. „Ich hab dir vertraut! Ich dachte, du wärst nicht so wie die anderen Idioten! Aber da hab ich mich wohl getäuscht!!“ Mit Tränen in den Augen verknotete sie die Träger ihres Kleides wieder im Nacken und entriegelte die Tür schnell. Doch Anthony hielt sie zurück. „Wo willste hin? Wir sind noch nich' fertig!“, knurrte er. „Doch, sind wir! Lass mich endlich gehen!!“ Sie schlug seine Hand weg. „Ach, und ich dachte, du wolltest noch telefonier'n ...“, höhnte er. Wieder reagierte er schneller, als Eleanor gerechnet hatte: seine Hand legte sich um ihren Hals und drückte zu. Sie japste nach Luft, als er versuchte, sie zurückzuschubsen. „Wirst schon sehen, wases heißt, mir 'nen Wunsch zu verwehr'n“, zischte er ihr zu. Panisch trat Eleanor um sich. Wenn sie sich nicht befreien konnte, würde er sie vergewaltigen. Tu etwas!, befahl ihre innere Stimme. Also konzentrierte sie sich auf ihre Füße, holte aus und trat mit ihrem Schuhabsatz zwischen seine Beine. Es wirkte: Anthony stieß einen Schrei aus, krümmte sich und sank in sich zusammen. „Du ... dreckiges ... kleines ...“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Wag es nicht, mich mit deinen minderwertigen Ausdrücken zu beschimpfen!“, spie Eleanor ihm entgegen, immer noch mit den Tränen kämpfend. Er langte nach ihren Füßen, aber sie wich aus und machte, dass sie weg kam. Sie polterte die Treppe hinunter, so schnell sie konnte, riss die Haustür auf und stürmte nach draußen in die kalte Nachtluft. Eleanor meinte, Anthony hinter sich toben zu hören, und als sie sich umdrehte, sah sie, dass er sie verfolgte. Sie fluchte, er würde sie kriegen. Also zog sie kurzerhand die Schuhe aus, nahm sie in die Hand und lief weiter.. „Bleib stehen!“, hallte Anthonys Stimme die Straße herunter. Doch Eleanor wagte es nicht, sich noch mal umzudrehen. Sie rannte weiter, rannte um ihr Leben. Die Tränen nahmen ihr die Sicht, und so achtete sie nicht auf die vielen kleinen Steine und Ästchen, die sich in ihre Fußsohlen bohrten. Alles, was sie wollte, war, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Kapitel 12: ------------ Nach ein paar Blocks verlangsamte Eleanor ihren Spurt und warf einen zaghaften Blick über die Schulter. Anthony folgte ihr nicht mehr, aber sie lief trotzdem weiter. Sie hatte Seitenstiche und atmete stoßweise ein und aus, doch die Angst trieb sie voran. Nach weiteren endlosen Minuten hatte sie ihre Straße erreicht, und da sie sich hier in Sicherheit wähnte, blieb Eleanor stehen. Sie stützte sich auf den Knien ab, die vom Rennen zuckten, und schnappte nach Luft. Sie hätte es ahnen müssen, bereits als sie den ersten Schluck von der Cola genommen hatte. Wie hatte sie nur so dumm sein können zu glauben, Anthony interessiere sich für sie? Für ihn zählten keine Gefühle. Er war genau so ein durchtriebener Macho, ein geltungssüchtiger Dreckskerl wie die meisten anderen Jungs in ihrem Jahrgang. Alles war Teil eines perfiden Plans gewesen, eine Falle, in die das Rattenmädchen blauäugig hineingetappt war. Zu den physischen Schmerzen in ihrem Körper gesellte sich nun ein heißer Stich in ihrer Seele. Vertrauen war so ein wichtiges Gut, aber es wurde so häufig schamlos ausgenutzt, um andere Menschen zu verletzen. Eleanor wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und verrieb damit ihr Make-up, das durch seine scharfen Ingredienzen weitere Tränen hervorrief. Erschöpft schleppte sie sich die letzten Meter die Straße hinauf bis zu ihrem Haus. Wahrscheinlich machte sich ihr Vater schon riesige Sorgen, und wenn er sah, dass sie allein nach Hause gekommen war, würde er ihr womöglich auch noch eine Standpauke halten - ganz egal, wie verheult sie war. Die unteren Räumen waren allesamt erleuchtet. Zögernd stand Eleanor vor der Tür. Da sie keinen Schlüssel dabei hatte, musste sie wohl oder übel klingeln. Doch die Tür sprang von allein auf, und wie erwartet hörte sie eine laute Stimme. Aber der Besitzer war nicht ihr Vater, sonder ihre Mutter. „Wie kannst du es wagen?!?“, zeterte sie. „Hältst mich tage- und wochenlang hin – und jetzt so was!“ Es passierte blitzschnell. Eleanors Mutter, die beim Öffnen der Tür ihre Anschuldigung in Richtung Küche gekräht hatte, drehte sich blitzschnell zu ihrer Tochter um, schlug ihr mit der flachen Hand heftig ins Gesicht und schubste sie dann in die Küche, wo ihr kreidebleicher Vater zusammengekauert auf einem Stuhl saß. Doch ehe Eleanor kapierte, was überhaupt los war, mussten sich beide ducken. Ein Teller kam geflogen und verfehlte sie und ihren Vater nur knapp. Er krachte gegen die Fensterbank und zerplatzte laut in Scherben. Unter dem Küchentisch lagen ebenfalls Scherben, der Farbe nach zu urteilen von einer Weinflasche. Na super, ein Rückfall. „Dad, was ... ?“, begann sie, doch ihr Vater winkte nur ab und hielt sich die Ohren zu, als hoffte er, sich so aus der Küche teleportieren zu können. Eleanor biss sich auf die Unterlippe und tauchte unter dem Tisch hervor. Ihre Mutter hatte sich mit noch mehr Tellern bewaffnet, doch bevor sie einen weiteren nach ihrer Tochter oder ihrem Mann schleudern konnte, war das Rattenmädchen schon auf sie zu gesprungen und hielt sie an beiden Handgelenken fest. „MOM!“, schrie sie wutentbrannt. „Was um alles in der Welt ist hier los?!!“ Sie erschrak selbst vor der Lautstärke, die ihre Stimme angenommen hatte, und so erging es auch ihrer Mutter: für einen Moment schien sie zusammenzuzucken. „Dein Vater ist arbeitslos, Eleanor!“, antwortete sie gehässig, fast schon ein bisschen triumphierend - als ob sie endlich einen Grund gefunden hätte, sich von ihm trennen zu können. Da sie aber keine Spur der Verwunderung oder des Schreckens im Gesicht ihrer Tochter sah, kniff sie die Augen zusammen und fragte mit eisiger Stimme: „Seit wann weißt du das?“ „Lange genug. Ich hoffe, du warst wenigstens so ehrlich und hast ihm dein kleines Geheimnis auch erzählt!“ Erwartungsvoll schaute Eleanor erst ihre Mutter und schließlich ihren Vater an, der inzwischen – immer noch kreidebleich – aus seinem Versteck gekrochen war. „W-wovon sprichst du?“, stammelte er. Es war ein Trauerspiel. Machte die Liebe ihn wirklich so blind oder wollte er es nicht wahrhaben? Eleanor liebte ihren Vater und tat alles, um ihn nicht enttäuschen oder verletzen zu müssen, aber es konnte einfach nicht mehr so weitergehen. Wie lange wollte ihre eh schon arg zerrüttete Familie denn noch in einer einzigen Lüge leben? Also ließ Eleanor die Bombe platzen und sagte: „Sie geht fremd.“ „Was?“, keuchte ihr Vater und schlug sich die Hände vor den Mund. Wenn es auch nur irgendwie möglich war, wich noch mehr Blut aus seinem Gesicht. Er glich einem Geist. „Pah, du Trottel hast doch nicht etwa geglaubt, dass ich noch irgendwas für dich übrig hätte? Du warst doch immer nur in deine Arbeit versunken! Das war alles, was für dich zählte: deine Arbeit und deine verklemmte kleine Tochter!“ Es überraschte Eleanor nicht, dass ihre Mutter so reagierte – und schon gar nicht, dass sie sie allein als „seine“ Tochter bezeichnete. Eleanors Vater schlug die Augen nieder und blickte betreten zu Boden wie ein gescholtenes Kind. „Warum bist du noch bei mir geblieben?“, fragte er so leise, dass er kaum zu verstehen war. „Warum? Du fragst dich allen Ernstes noch warum?“ Nun war es Eleanor, die die Fassung verlor. „Sie wollte dein Geld! Das war alles, was sie brauchte! Dein Geld und die Freiheit zu tun und zu lassen, was sie wollte!“ Wie vom Donner gerührt hörte ihr Vater zu. Er legte den Kopf in die Hände – und lachte. Es war kein lautes Lachen, eher ein unterdrücktes Kichern. Er hob den Kopf wieder und offenbarte ein ungläubiges Grinsen. „Du hast mich all die Jahre nur ausgenutzt ...“, sagte er, an seine Frau gewandt. „Und ich war so kleingeistig, dir zu vertrauen. Wie gut, dass wenigstens Eleanor den Durchblick hat.“ „Bist du jetzt fertig?“, fragte Eleanors Mutter gelangweilt. Sie täuschte ein Gähnen vor und sah ihn mit herablassendem Blick an. Er erhob sich langsam von seinem Stuhl, ging auf seine Frau zu und nahm ihre Hand. Er legte sie in seine und betrachtete sie mit einem verträumten Blick. Dann nahm er seine andere Hand zu Hilfe und streifte ihr den Ehering ab. Dasselbe tat er an seiner Hand. „Ab heute sind wir geschiedene Leute“, sagte er trocken und knallte beide Ringe auf die Arbeitsplatte. In Eleanor regte sich nichts. Ihr Vater wollte die Ehe auflösen. Aber sollte sie das nicht eigentlich glücklich stimmen? Sollte sie nicht froh sein, dass sie ihre Furie von Mutter endlich los sein würde? Nein, im Gegenteil. Entgegen ihrer Erwartung rissen die Worte ihres Vaters ein tiefes Loch in ihre Seele. Auch wenn sie sich gewünscht hatte, dass die unglückliche Dreierkonstellation, die sich einst zu unerinnerbaren Zeiten „Familie“ genannt hatte, zerbrechen würde: es war schwer zu glauben, dass es nun soweit war. Alle Erinnerungen, die sich besonders einprägsam in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten, spulten sich vor Eleanors Augen ab wie ein Film. Ihre Einschulung in die Grundschule, als beide Eltern noch gleichermaßen stolz auf ihre Tochter gewesen waren. Die Geburtstagskuchen, die ihre Mutter ihr früher gebacken hatte. Ihre erste Menstruation, bei der ihre Mutter sie getröstet hatte. Und dann: ihre genervte Mutter, die sich die Sorgen ihres Kindes nicht anhören wollte. Ihre desinteressierte Mutter, die den lieben langen Tag mit ihren Freundinnen am Telefon quatschte, anstatt sich um ihr Kind zu kümmern. Ihre Schlampe von Mutter, die innig küssend mit einem anderen Mann an der Straßenecke vor Eleanors Schule stand. Ihre neidische Mutter, die die Verwandlung ihrer Tochter zur Frau mit ansehen musste. Die neidisch auf den schulischen Erfolg ihrer Tochter war. Neidisch ... „DU IDIOT!!“ Das Rattenmädchen erschrak. Ihre Mutter stand dicht vor ihrem Vater, zitterte und – waren das Tränen in ihren Augen? „Du ignoranter, kurzsichtiger Idiot ... “, sagte sie mit tonloser Stimme. „Mach, dass du hier raus kommst“, entgegnete Eleanors Vater unglaublich ruhig. Sein Augenausdruck war unergründlich. „MARTIN! Bist du wirklich so blind?“ Sie begann zu schluchzen. „Weißt du eigentlich, was du mir all die Jahre angetan hast?“ Das Rattenmädchen meinte zu wissen, was sie meinte: sie fühlte sich vernachlässigt. Nicht genug beachtet. Es erging Mutter und Tochter ähnlich. „Ich kann machen, was ich will! Du beachtest mich nicht! Du hast nur Augen für deine Arbeit und den verklemmten Spießer, zu dem du unsere kleine Tochter gemacht hast!!“ Mehr Tränen rollten über ihr Gesicht. Etwas in Eleanor krampfte sich zusammen. Nicht die Bezeichnung „verklemmter Spießer“ tat ihr weh, sondern die Tatsache, dass ihre Mutter offenbar um sie weinte. Und dass sie ihren Vater beschuldigte, ihr geringes Selbstwertgefühl forciert zu haben. „Warum hast du mich dann nie unterstützt?“, platzte es nun aus Eleanor heraus. „Warum warst du so-“ Sie stockte. Moment ... ihre Mutter wollte mehr Aufmerksamkeit und rächte sich, indem sie selbst die ihr nahe stehenden Personen verletzte ... „Spiel nicht länger die Unschuldige. Ich habe mich viel zu lange von dir auf den Arm nehmen lassen, Carolyn“, begann Eleanors Vater wieder. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Kennst du das Sprichwort?“ In seinem Gesicht zeichnete sich immer noch nichts ab, keine Emotion. Keine Enttäuschung, kein Entsetzen, nicht einmal Wut. Es machte dem Rattenmädchen Angst. „Und jetzt verschwinde endlich.“ „Martin, hör mir zu“, schluckte Eleanors Mutter. „Verschwinde ...“ „Aber-“ „VERSCHWINDE!!!“ Sie verstummte wie ein Fernseher, bei dem man den Ton abgestellt hatte, rührte sich aber nicht. Was dann passierte, konnte keine der beiden Frauen ahnen: Eleanors Vater sprang auf seine Ehegattin los, drückte sie zu Boden und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Eleanor stieß einen Schreckensschrei aus und schlug sich die Hände vor den Mund. „MUSS – ICH – ETWA – NOCH – DEUTLICHER – WERDEN?!“, brüllte ihr Vater und verpasste seiner Frau bei jedem Wort einen weiteren Schlag. Ihr Kopf flog hin und her wie der einer leblosen Puppe. Sie brachte kaum einen Laut hervor. „DAD, HÖR AUF!“ Die Stimme des Rattenmädchens überschlug sich. Sie hastete auf den tobenden Mann zu und versuchte, ihn von ihrer Mutter herunterzuzerren, deren Nase bereits blutete. „LASS MICH! SIE HAT ES VERDIENT!“, schnauzte er. Seine Augen hatte jegliche Wärme verloren. Aus ihnen sprach nur noch der pure Hass. Eleanor wich von ihm zurück. Das war nicht er, der da sprach, das war nicht ihr Vater. Sie stolperte rückwärts zur Tür. Sie musste hier raus. Dringend. „Wo willst du hin?“, krächzte er. Sie schwieg, machte noch ein paar Schritte zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Eleanor ...“ Ihre Mutter nutzte die Pause, die ihr Mann eingelegt hatte, und sah ihre Tochter an. Ihr Gesicht war mit Blut besprenkelt und feucht von den Tränen, die ihr unentwegt die Wangen hinabliefen. Sie schnappte nach Luft und ihre Lippen zitterten, als sie sagte: „Es tut mir so Leid ...“ Es zerschnitt dem Rattenmädchen das Herz. Was sollte sie tun? „Lauf ...“ hustete ihre Mutter. Nein, das war nicht richtig. Sie musste helfen. „LAUF!“, krächzte sie erneut, und Eleanor gehorchte, lief aus dem Haus und in die Nacht hinein. Sie lief, so schnell ihre wunden Füße sie tragen konnten. Sie hatte kein Ziel, sie wollte nur weg. Weg von diesem Haus, das sich in die Hölle verwandelt hatte, weg von ihren Eltern, die zu Dämonen geworden waren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)