Schall und Rauch von Ryu-Stoepsel (Which path will you choose?) ================================================================================ Kapitel 26: ------------ Mit einem Schlag saß Elphaba aufrecht im Bett. Ihr eigenes Geschrei hatte sie geweckt. Die ersten Sekunden war ihr Blick noch verschwommen, doch dann klärte er auf. Sie schaute auf das Ziffernblatt der Wanduhr und erkannte schwach: 1:35 Uhr. „Verdammt!“, fluchte Elphaba. Sie wusste, diesmal hatte es geklappt mit dem Traum. Aber ihre Erinnerungen waren nebelig. „Verdammt, verdammt, verdammt!“, fluchte sie und sprang aus dem Bett. Sie rannte ins Bad und stellte sich vor den Spiegel, ihr eigenes Gesicht vor Augen: „Elphaba Thropp, beruhige dich und komm runter! Erinnere dich… In ihrem Kopf hallte ein leiser Satz wieder, der mit jedem Herzschlag lauter wurde… ‚Elphaba Thropp… Elphaba Thropp… erinnere dich… dich… dich… Elphaba Thropp… dich… Elphaba Thropp… Ich liebe dich, Elphaba Thropp…’ „Glinda!“, hauchte Elphie tonlos. Ihre Augen wurden vor Angst riesengroß und einige Sekunden stand sie starr vor dem Spiegel, als die Erinnerungen an den Traum über sie hereinfielen: Glinda und sie, ein Kuss, dieser Blondschopf… Ihre Lippen formten eigenständig ein Wort: „Ramón…“, spuckte Elphaba fast aus. Als sie den Zusammenhang zwischen dem Traum und diesem Mann verstand, fühlte sie, wie große Fäuste auf sie einschlugen und in ihre Magengrube boxten, sodass sie sich vor Schmerz krümmte und auf die kalten Badezimmerfliesen fiel. Als die Übelkeit abebbte und die Schmerzen nachließen, verfluchte die grüne Hexe ihre starke Psyche, die offensichtlich große Macht über ihren Körper hatte. Beinahe hätte sie sich übergeben, doch noch gerade rechtzeitig gewann sie die Kontrolle über das grüne Etwas zurück. Schnell rappelte sich Elphaba auf, riss sich das Nachthemd über den Kopf und schlüpfte schnell in ein Leinenkleid mit Gewand. Dann hielt sie inne. Elphaba wusste nicht genau was passiert war, aber sie ahnte, dass Glinda in Gefahr war. Ihr Herz wusste es, ihr Verstand war alles andere als überzeugt. ‚Es war doch nur ein Traum…’, dachte sie verwirrt. Die grüne Frau war nie eine Quelle der Spontaneität gewesen. Immer, bevor sie handelte, war die Hexe sicher gegangen, auf was sie sich einließ und für wen sie etwas tat. Und das schon seit frühster Kindheit. Ihre Instinkte schrieen nach Gewissheit. „Sieh in die Glasschale!“, konnte Elphaba ihren Verstand förmlich schreien hören. „NEIN!“, brüllte sie entschlossen, riss sich das Nachthemd vom Körper und stülpte sich ein schwarzes Leinenkleid über. Es kostete sie mehr, als es Worte ausdrücken könnten, nicht in die Glasschale zu sehen. Denn Elphie ahnte, sie kämpfte um Sekunden. Dann schnappte sie sich ihren Besen und wollte das Fenster öffnen, doch als sie ihre Hände an den Griff legte und leicht daran zog, flog es auf und die Heftigkeit des Schwungs ließ die dünne Frau ein paar Meter zurückfliegen. Mit einem dumpfen Geräusch prallte sie gegen die Standuhr und ihr Ellbogen schlug an der Raufasertapete auf. Schmerzend rieb Elphaba sich Kopf und Gelenke. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie in die Nacht heraus und hörte nun zum ersten Mal bewusst das laute Donnergrollen und den prasselnden Regen. „Was um alles in Oz?!“, stöhnte Elphaba, halb vor Erstaunen mit gemischter Verzweiflung und halb vor Schmerz, welcher ihr langsam den Rücken hoch kroch. Sie rutschte ein kleines Stück nach vorne, von der Wanduhr weg, um die Quelle des Schmerzes ausfindig zu machen. Also drehte sie sich um und erkannte, dass sie mit voller Wucht gegen den kleinen Schlüssel am Unterkasten der Uhr geknallt war. Dann setzte der automatische Mechanismus ein; der Verstand übernahm den Körper. Elphaba sah, wie ihre grüne Hand den Schlüssel umdrehte, die Schranktüre öffnete und die Glasschale herauskramte. Sie selber konnte ihre Worte nicht hören, jedoch fühlte sie, wie ihr Mund sich bewegte und ihre Hände über der Schale kreisten. Das Fenster schlug unter den kräftigen Windböen im fortschreitenden Takt gegen die Wand und die Wassertropfen glichen einem wütenden Bienenschwarm, der andauernd versuchte, in das Zimmer zu gelangen, es aber nie weiter als ein paar Meter schaffte. Elphaba saß in einem Winkel, in welchem sie zu ihrem Glück nicht nass werden konnte und summte weiter. Als endlich nach einer endlos scheinenden Zeit das Bild von Glinda in der Glasschale auftauchte, hielt Elphaba inne in ihren Bewegungen. Sie wurde bleich und spürte einen stechenden Schmerz in der Herzgegend, als sie die zierliche Blondine entweder schlafend oder ohnmächtig in den Armen zweier Männer sah, die sie zur Treppe hinaufschleppten. All das hätte keine Gefahr bedeutend müssen – ein normaler Abend nach einer ausgelassenen Feier – … wenn nicht Madame Akaber am Treppenansatz gestanden hätte… Mit einem Satz stand Elphaba aufrecht in ihrem Zimmer. Die Präsenz der Makaber-Akaber erklärte für Elphaba natürlich auch dieses anomale Wetter. Verzweifelt dachte sie nun darüber nach, wie sie es schaffen sollte, dort hinauszufliegen ohne wirklich nass zu werden. In Windeseile zog sie sich ihre dicke Strumpfhose für besonders kalte Tage an, darüber die einzige Hose, die sie besaß. Über diese Hose streifte sie noch ihre kniehohen Lederstiefel, womit ihre unteren Körperregionen soweit abgesichert waren. Schnell griff sie nach einem eng anliegenden Pullover, streifte ihn über und steckte den Saum in den Hosenbund. Darüber zog sie einen Rollkragenpullover und dann noch eine Lederjacke mit Halsansatz. Den Reisverschluss zog sie bis an ihr Kinn zu und drehte mit einer gekonnten Bewegung ihre Haare in einen Dutt. Dann suchte sie sich hektisch ein großes Halstuch aus der Schrankschublade und band es sich um Mund und Nase. Mit einem dicken Knoten befestigte sie das Tuch am Hinterkopf. „Wo ist der verdammte Sonnenhut?“, fluchte sie nuschelnd durch den beinahe verbundenen Mund. Der Hut war nicht aufzufinden. Nur eine alte Kappe. ‚In der Not muss die auch reichen!’, sagte sich die grüne Hexe und zog die Kappe auf den Kopf. Der Dutt gab genug Halt, um nicht die Kappe bei einer Böe davon wehen zu lassen. Schnell zog sie sich die Lederkapuze soweit es der Kappenschirm zuließ und band sie mit einem festen Knoten in der Mitte zu. ‚Fast geschafft!’, dachte das nun schwarze Wesen und schon war sie mit einem Sprung neben ihrem Bett um die auf dem Nachttisch liegende Brille anzuziehen. Aus der Schublade des Nachttisches kramte sie noch ihre Lederhandschuhe und endlich war sie soweit. Komplett in Schwarz eingehüllt schnappte sie sich ihren Besen, flüsterte ein paar Worte und flog durch das Fenster in den strömenden Regen. Kaum war sie außerhalb der schützenden Turmmauern, erfasste sie eine starke Windböe und beinahe wäre sie vom Besen gefallen. Ihr Herz pochte wie wild. ‚Das ist reiner Selbstmord!’, gestand sie sich ihre Angst ein, doch durch den Schirm der Kappe und ihre leicht gesenkte Kopfhaltung kam noch nicht mal ein Tröpfchen des Regens an die noch freie Haut im Gesicht. Elphaba wusste nicht, was in diesem Moment in ihrem Körper vorging. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich freiwillig dem Wasser ausgesetzt oder sonst irgendeiner wirklich großen Gefahr. Und nun war sie in Lebensgefahr. Das wusste sie. Aber auch wusste Elphaba, dass nicht nur sie in Lebensgefahr schwebte. ‚Glinda…’, echote es immer wieder in dem grünen Kopf. Auch wenn Elphaba ahnte, dass es etwas mit Glinda zu haben musste, warum sie gerade durch die nasse Hölle flog – abgesehen von der Lebensgefahr. Es war noch etwas anderes da. Doch Elphaba hatte keine Zeit, in einem solchen Augenblick darüber nachzudenken. Sie merkte, ihre Oberschenkel langsam feuchter wurden, obwohl der Ledermantel sonst eigentlich immer lang genug gewesen war. Plötzlich wurde Elphaba von einer kräftigen Böe erfasst. Sie klammerte sich an ihrem Besen fest, schob ihren Hintern zum Ende des Stiels und legte sich flach auf die Stange, sodass ihr Bauch den Stiel berührte. Erneut erwischte sie eine Böe, doch anstatt ihr Gleichgewicht aus der Bahn zu werfen, trieb diese Böe sie nur noch schneller an. ‚In der Dunkelheit kann ich ja kaum etwas erkennen!’, ärgerte sich Elphaba, als plötzlich das grüne Leuchten der Smaragdstadt in nicht mehr allzu weiter Ferne vor ihr zu sehen war… Nachdem die beiden Männer Glinda aus der Kutsche gezogen hatten, öffnete Aylin ihnen die Eingangstür: „Rein mit dem blonden Bastard!“, fauchte sie. „Aber, aber, mein Kind!“, kam es tadelnd vom Treppenansatz her. Die drei Köpfe flogen nur so in diese Richtung, als sie die Stimme vernahmen. „Verzeihung!“, murmelte Aylin eingeschüchtert. Sie wurde immer wieder beim Anblick von Madame Akaber in ihre Jugendzeit zurückgesetzte und fühlte sich unbeholfen und dumm. Auch, wenn Makaber-Akaber nun etwas von ihrer Substanz verloren hatte und eher wie eine platte Flunder aussah, hatte sie keinen Deut an Autorität verloren – ganz im Gegenteil: Die Zeit im Gefängnis hatte sie zwar Unmengen Pfunde verlieren lassen, aber anscheinend war für jedes verlorene Pfund an Gewicht eines an Macht dazu gekommen. „Bringt sie mal her zu uns!“, befahl Madame Akaber, die mit Londaro noch immer am Treppenansatz verweilte. Orez und Ramón gehorchten und hievten Glinda, die noch immer bewusstlos in den Armen der Männer lag, hinüber zu der Befehlshaberin. „Glinda, mein Kind…“, flüsterte die platte Flunder zärtlich und strich ihr mit den Handknöcheln vorsichtig über die Wange. Die knochigen Hände wanderten hinunter an Glindas Hals bis hin zu ihrem Ausschnitt, in welchem sie Träne der heiligen Aelphaba ruhte. Mit dem Zeigefinger fuhr Madame Akaber geistesabwesend über den Anhänger der Kette. Als Londaro sich räusperte, zog die Flunder ihre Hand ruckartig zurück und befahl: „Bringt sie in ihr Zimmer, dann ruft mich. Ich habe noch eine Rechnung zu begleichen. Danach gehört sie dir, Ramón. Aber bedenke unsere Vereinbarung.“ Ramón nickte, wie könnte er vergessen, dass er ‚Glinda die Gute’ heute Nacht noch umbringen sollte. Dann stiefelten die beiden Männer mit der Frau in ihren Armen in Richtung Glindas Zimmer… Elphaba hatte sich nun an das Gedrücke und Geschubse des Windes gewöhnt und in dieser neuen Haltung bestand auch keine Gefahr mehr, dass sie vom Besen fiel. Jedoch merkte die grüne Hexe, dass das Unwetter stärker wurde, je näher sie der Smaragdstadt kam, welche nun schon groß und grün vor ihr auftauchte. Krampfhaft versuchte Elphie, ihre Oberschenkel mit den Unterarmen zu bedecken und die merkwürdige Position, die sie auf ihrem Besen eingenommen hatte, ermöglichte ihr dies. Als sie abermals nach vorne blickte, konnte sie schon die Umrisse des Palastes erkennen und die Stadtmauer war genau unter ihr. Plötzlich merkte Elphaba, wie die Magie aus ihrem Besen wich. Panisch versuchte sie, sich zu konzentrieren, doch das blöde Ding wollte partout nicht mehr gehorchen. Einen Schrei unterdrückend und rapide an Höhe verlierend, blickte Elphaba sich um. ‚Was mach ich denn jetzt?’, fragte sie sich hilflos und in Angst versunken. Schließlich saß sie auf einem Besen in nicht gerade ungefährlicher Höhe, der nun rapide an Flugkraft und Höhe verlor. „Erzählen Sie bitte weiter, Londaro.“, forderte Madame Akaber den Sekretär zur gleichen Zeit auf. Sie waren von Glinda und den Männern unterbrochen worden, also setzte er dort an, wo er eben innegehalten hatte: „Es dauerte nicht lange, bis beide mehr als benommen waren und ich geleitete sie raus zum Eingang. Dort warteten schon unsere Leute, die dann die beiden, nun schon ohnmächtigen Frauen mitgenommen haben. Sie werden, wie Sie es gewünscht haben, im smaragdischen Gefängnis festgehalten. Aber es wird erst heute früh passieren, dass sie wieder zu sich kommen.“ „Das reicht mir völlig aus!“, nickte Madame Akaber, „Haben Sie vielen Dank. Ihr haben exzellente Arbeit geleistete! Sehe ich Sie morgen in der Früh?“ „Aber gewiss doch!“, nickte Londaro, wünschte noch eine gute Nacht und verschwand in der Dunkelheit des Ganges. Die Flunder blickte ihm noch kurz nach und zog dann das Mädchen, welches sich vorsichtig neben sie gestellt hatte, zu sich heran und legte den rechten Arm auf ihre Schulter. Seufzend sagte sie: „Aylin, meine Kleine. Wie gut, dass ich mich damals deiner angenommen habe! Du wirst eine prächtige Wetterhexe werden! Das, was wir beide da heute Abend zusammengebraut haben – das hat noch kein Ozianer jemals erlebt. Und eine solche Präzision in der Zeit habe ich auch selten vollbracht! Und dieser Bann um die komplette Stadt erst! Ich bin unglaublich stolz auf dich, wie auch auf uns beide.“ Aylin nickte und wollte gerade antworten, als sie die Stimme ihres Bruders vernahm, der nun oben auf dem Treppenansatz aufgetaucht war: „Es wäre dann soweit, Madame.“ „Fantastiös!“, murmelte die Wetterhexe und ließ Aylin los. Dann stapfte sie die Stufen hoch, ging nickend an Ramón und Orez vorbei und schloss Glindas Zimmertür hinter sich, als sie eingetreten war. „Oz im Ballon!“, flüsterte Elphaba, „Hilf mir!“, als sie mit dem Besen abstürzte. Sie befand sich nicht in Schwindelerregender Höhe, aber dennoch weit genug über dem Boden, dass es ihr einiges zugesetzt hätte, wäre sie senkrecht von ihrem Besen hinunter zum Boden gefallen. Die grüne Hexe hatte jedoch zu viel Schwung und so raste sie mir fallender Geschwindigkeit und Höhe geradewegs auf ein Haus zu. Schnell wechselte sie die Stellung auf dem Besen: Mit beiden Händen hielt sie sich am Stil fest und machte einen leichten Buckel. In sekundenschnelle stellte sie beide Füße auf den Besenstab. Das Haus kam rapide näher. Elphaba wusste, sie hatte keine Zeit mehr. Mit einem festen Tritt war sie vom Besen geglitten, hatte den Kopf eingezogen und knallte mit lautem Krach auf das harte Flachdach des Hauses auf. Über ihre linke Schulter, die schmerzend aufgeprallt war, rollte sie sich ab. Der Besen flog durch die Luft und fiel irgendwo hinter dem Haus auf die Straße. Die grüne Hexe hatte jedoch zu viel Schwung und überschlug sich einmal zu viel – das Dach war zu Ende. In letzter Sekunde griff Elphaba nach der Regenrinne und bekam sie zu packen. Ihr Mantel rutschte etwas den Arm hinunter und entblößte ein kleines Stück von ihrem Unterarm – dort, wo die Handschuhe aufhörten. Sofort brannten sich die Wassertropfen wir heiße Kohlen in ihre Haut. Reflexartig ließ sie die Regenrinne los und stürzte hinab, Beine und Arme wedelnd nach Halt suchend von sich gestreckt. „Komm mit Ratschlägen! Schlägen! Hexen hängen!“, schnatterte Chistery fröhlich vor sich hin, als er durch das Schloss hüpfte. Der Regen nervte ihn, er wäre viel lieber draußen gewesen. „Elphaba!“, krächzte er und schob den Riegel der Zimmertür zurück. „Hexe?“ Chistery sah sich suchend im Zimmer um. Auf allen vieren watschelte er bis zum Bett wollte darauf hüpfen. Der Windstoß jedoch blies ihn ein Stück weiter zurück, als er hochsprang und er landete auf seinem Affenhintern. Verärgert plapperte der Affe: „Scheiß! Scheiß! Oz im Ballon!“ Trotzdem hatte er das leere Bett gesehen und umrundete es nun, um auch sicher zu gehen, ob seine Besitzerin auch wirklich nicht mehr zu Hause war. Eben hatte sie doch noch geschlafen? Menschen sind komisch, hatte der Affe schon lange festgestellt. Aber noch komischer waren Zauberer und Hexen oder Dinge, die sich wie Menschen benahmen, aber in Wirklichkeit aus Stroh oder Zinn waren. Nun stand das Äffchen auf der anderen Seite des Bettes, von welcher normalerweise eine grüne Hand baumelte. Doch nichts war dort. Als es plötzlich blitzte und donnerte, fuhr der Affe vor Schreck herum und starrte das offene Fenster an. Als er den fehlenden Besen in der Ecke und die unachtsam liegen gelassene Glasschale auf dem Boden bemerkte, stelle er laut und aufgeregt fest: „Glinda. Glinda!!“ Dann hoppelte er auf allen Vieren zur Glasscheibe, hob sie auf und brachte sie in ein – seiner Ansicht nach sicheres – Versteck, hoch oben im Gewölbe des Westturms. Denn dieser komische Mensch aus Stroh würde das tolle glasige Ding bestimmt vor Wut zerstören. Vom Schmerz noch ganz benommen und vom Sturz noch halb ohnmächtig, rubbelte Elphaba vorsichtig die Stelle ihres Unterarms trocken, der sich fast durchgebrannt anfühlte. Sie war mitten in einem riesigen Rosenbusch gelandet. ‚Was für ein Glück, dass es gilikinesische Rosen sind!’, dachte sie, während sie sich aufrappelte. Gilikinesische Rosen hatten keine Dornen. Unter anderen Umständen hätte sich die grüne Hexe gefragt, was dornenfreie Rosen denn für Rosen wären, aber dazu hatte sie weder Zeit noch Muße. Sie musste weiter. Also krabbelte sie unter dem Busch hervor. Das Leder ihres Mantels war beim Sturz an der linken Schulter gerissen, als sie sich so brutal abgerollt hatte. Nun klaffte eine offene Stelle dort, anstatt des schützenden Gewands. So gut es ging, drückte Elphaba die Stelle zu. Dann suchte sie ihren Besen. Er lag keine zehn Meter weiter auf der Straße – unter einer Straßenlaterne. Noch stand sie schützend im Dunkeln und da sie so oder so eine schwarz-vermummte Gestalt war, hatte sie kaum die Befürchtung, erkannt zu werden. Dennoch schaute sie erst nach links, dann nach recht und abermals nach links, bevor sie losrannte, um den Besen aufzuheben. Sie stieg auf, doch nichts tat sich. Fluchend sah sie sich um. Sie hatte doch keine Ahnung, wo sie nun war… Als Madame Akaber Glindas Zimmertür hinter sich schloss, kam Ramón den Gang zurück und stellte sich vor die Tür, neben Orez. Einige Minuten standen sie schweigend nebeneinander. Der eine, weil er hören wollte, was im Inneren des Raumes vor sich ging und der andere, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Als jedoch der eine nichts hören konnte und der andere eine Formulierung für sein Gedachtes gefunden hatte, sagte Ramón: „Also, pass auf…“ Orez hob aufmerksam seinen Kopf. Daraufhin senkte Ramón seine Stimme und flüsterte: „Wenn Accursia mit Glinda fertig ist, dann bist du dran. Ich habe es dir versprochen und du wirst es heute Nacht bekommen….“, zerknirscht hielt Ramón inne. Normalerweise benutzte er Akabers Vornamen nicht, aber er musste noch ein Band zwischen sich und Orez aufbauen, damit er die noch ausstehende Forderung halbwegs autoritär über die Lippen bekam. Der Angesprochene nickte nur, mit einem scheuen Lächeln um die Augen. Ramón hatte dem Dummkopf natürlich verschwiegen, dass Glinda noch heute Nacht ermordet werden sollte – und zwar von ihm höchst persönlich – blond und blond. ‚Was für eine Komposition…’, dachte er gelüstend. Endlich hatte Ramón die Worte gefunden, um seine Forderung zu artikulieren: „Wenn du fertig bist, lass sie liegen, so wie sie ist. Ich kümmere mich um den Rest.“ Zufrieden mit sich selber, grinste Ramón. Er fand, dass es sich nicht danach angehört hatte, als würde er Glinda den zweiten Männerbesuch in der Nacht bescheren. Doch das hatte er natürlich vor. Orez war sich nicht sicher, was er von diesem Befehl zu halten hatte. Sein Plan war gewesen, morgen in der Frühe neben Glinda aufzuwachen. Er fragte verdutzt: „Um was kümmerst du dich?“ „Oooorez…“, erklang eine genervte Frauenstimme hinter ihnen. Sie hatten Aylin nicht kommen gehört und wendeten sich erschreckt in ihre Richtung. Aylin grinste sie an und säuselte Orez ins Ohr: „Wenn du mit einem Mal zwischen den Beinen der halbtoten Hirnlosen nicht genug hast, sag mir nur Bescheid. Mein Gehirn hat auch schon lange keine Nahrung mehr bekommen, falls du verstehst, was ich meine… Weißt du, man wird nämlich dumm, wenn man keinen Sex hat. Sieh dir doch unser blondes Weibchen da drinnen an. Von Vögelleien mit Weibsbildern wird man nicht schlau…“ „Du lieber Oz..“, stöhnte Ramón, der nur einen Bruchteil von dem Gewisper seiner Schwester mitbekommen hatte. ‚Wie kann ein einzelner Mensch SO vulgär und abartig sein?’, fragte er sich immer wieder. Angewidert wendete er sich von den beiden ab. Orez hingegen schaute die hübsche Frau verwundert an. Er verstand nicht, worum es gerade ging. „Ich will doch aber nur Glinda.“, murmelte er geschockt. Genervt verdrehte Aylin die Augen und schubste ihn gegen die Wand. Dann stellte sie sich hinter ihren Bruder und legte beide Arme verschränkt über seine Schultern. Mit ihren Händen rieb sie ihm die Brust und flüsterte ganz leise: „Und was ist mit dir, mein Bruderherz?“ Nun war sie echt zu weit gegangen, doch Ramóns Wut erlosch, als er ihre Alkoholfahne roch. Hart nahm er ihre Hände von seiner Brust, drehte sich zu ihr um und quetschte ihre Handgelenke. Sie schrie auf: „Ramóóón! Lass loooos… Du tust mir weeeh!“ „Geh schlafen, du kleine … Geh einfach schlafen! Und lass uns in Ruhe!“, maulte er sie an, dann ließ er ab von ihr. Mit Tränen in den Augen lief sie den Gang entlang, hinein in die Dunkelheit. Orez sah den blonden Mann verwirrt an. Ramón starrte zurück. Als der Wachmann beschämt den Kopf senkte und abwartend dastand, stellte Ramón beruhigt fest, dass der Trottel vor ihm die Frage von vorhin vergessen hatte. Elphaba konnte nicht lange zögern, sie wusste, die Zeit war momentan ihr größter Feind. Im strömenden Regen stand sie mitten auf der Straße, blickte wild nach links und rechts und entschied sich dann, zur nächsten Kreuzung zu rennen. Sie wendete sich nach links und rannte los. Glücklich und auch verwundert darüber, dass ihr Regenanzug den Sturz bis auf die Schulter überlebt hatte. ‚Ein normaler Mensch müsste doch Schmerzen empfinden!’, wunderte sie sich, als sie auf die Kreuzung lief. Doch was sie nicht wusste – ihr Adrenalinspiegel war zu hoch. All’ ihre Schmerzen schienen sich außerhalb ihres Körpers zu befinden. Und da – als die Häuser aus ihrem Blickfeld wichen, ragte vor ihr in den dunklen Nachthimmel grün schimmernd der Palast vor ihr in die Höhe. Der Himmel war ein atemberaubendes Phänomen – hässlich und Furcht einflößend, aber so einzigartig, dass es ihr die Sprache verschlug. Normalerweise verlief der Wetterzyklus in Oz im Kreis, was bedeutete, dass alle Wolken im Zirkel über das Land dahin wanderten. Meistens blieben sie jedoch im Süden zwischen den Tälern und Bergen in Quadlingen hängen, wo sie sich ausregneten. Dies erklärte auch die häufigen Dürreperioden im Osten. Doch nun sah es so aus, als hätte der Sturm sich von Osten und Westen in der Mitte des Landes – genau über der Smaragdstadt – getroffen. Die Wolken verliefen in einer geraden Bahn, erst fingen sie flach an, aber exakt in der Mitte ragten riesige Wolkenberge vom Himmel herab. Jemand musste den Wind und die Richtung gelenkt haben. ‚Doch eine Person kann den Wind auch nur in eine Richtung lenken… Hier waren ZWEI Wetterhexen am Werk!’, stellte die grüne Hexe beunruhigt fest. Zu allem Überfluss also, wurde die Gefahr nur noch größer, aber das half Elphaba Thropp nun auch nicht mehr. Sie musste weiter! ‚Nur zwei oder drei Straßen noch…’, schätzte sie erleichtert ab und setzte zum Sprint an, als es erneut blitzte und krachend donnerte. Accursia Akaber schloss Glindas Zimmertüre hinter sich. Das Licht brannte und ihre Augen mussten sich erst von der Dunkelheit des Flures an die Helligkeit dieses Raumes umstellen. Blinzelnd sah sie sich um: ein heller Teppichboden mit passendem Schreibtisch, dazu ein pinker Plüschstuhl. Ein verachtendes „Tze…“ entwich Accursias Lippen beim Anblick dieses Mädchenhaften Accessoires. Und dann das rosafarbene Himmelbett, in welchem Glinda lag. Madame Akaber, nun an die Helligkeit gewöhnt, ging hinüber zum plüschigen Schreibtischstuhl und schob ihn zum Ende des Bettes. Vorsichtig ließ sie sich hinein fallen. ‚Vor einem Jahr hätte ich nicht in ein solches Stück Mobiliar gepasst!’, schmunzelte sie sehr selbstzufrieden. Die Gewichtsabnahme hatte auch bewirkt, dass sie beinahe ungesehen oder unerkannt durch die Stadt hatte spazieren können. Nur ein einziges Mal war sie etwas unvorsichtig gewesen und so ein betrunkener Penner hatte sie im Ozma-Park angequatscht. Sie hatte ihm eine Flasche smaragdischen Rum gekauft und war dann in der Statue verschwunden, nachdem sie sichergegangen war, dass der Obdachlose wohlig und besoffen auf der Parkbank eingeschlafen war. „Auria, du driftest ab!“, ermahnte sie sich selber laut. Im Gefängnis hatte sie es sich angeeignet, mit ihrem Spiegelbild oder eben mit sich selber zu sprechen, da ein solcher Ort nicht gerade von Sozialismus geprägt gewesen war. Es hatte nur der berühmte ‚Unter-der-Hand-Sozialismus’ existiert. „Nun, Damsell Galinda…“, sprach sie die durchnässte Blondine an, „Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“ Glinda regte und bewegte sich nicht. „Damsell Galinda?!“, murrte Akaber nun lauter. „Glinda, zum Donnerwetter noch mal!“ Madame Akabers Schrei wurde beantwortet durch einen krachenden Donnerschlag. „Oh Oz…“, seufzte sie nun etwas enttäuscht, „Das hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt. Wie viel Opium hat mein dummer Neffe dir denn da nur gegeben? Du bist ja wort-wörtlich ab von der Welt.“ Unentschlossen, was sie nun tun sollte, trommelte Accursia im regelmäßigen Takt mit ihren langen Fingernägeln auf der Stuhllehne herum. Keuchend stand Elphaba nun am Tor des großen Palastes. Als sie sich umblickte, stellte sie fest, dass ein hoher Zaun das gesamte Grundstück abschirmte. Sie wollte schon über den Zaun klettern – es zumindest versuchen – als ihr Verstand sich mal wieder meldete und die Hexe dazu brachte, erst einmal zu probieren, ob das Tor vielleicht nicht abgeschlossen war. Sehr pessimistisch drückte Elphaba die Klinke der Personentür hinunter – die Klinke an der Kutschetür hatte sie gar nicht erst versucht – und zu Elphabas Erstaunen sprang die Türe mit leisem Quietschen auf. ‚Entweder’, dachte die Hexe, ‚war jemand sehr unvorsichtig und ungenau oder man geht davon aus, ungestört zu bleiben… Mit dem Besen in der linken Hand huschte die schwarz vermummte Gestalt durch die offene Tür und rannte so leise es ihr möglich war und im Schatten versteckt den Weg bis hin zum Palast hinauf. Der riesige Gebäudekomplex lag in seiner ganzen grünen Pracht dunkel vor ihr. Noch immer stand sie im Schatten und spähte in die Dunkelheit. Ihr war es kaum möglich, etwas zu erkennen. Im schwachen Licht der Eingangsbeleuchtung konnte sie zwei prachtvolle Kutschen erkennen. Doch nur vor einer Kutsche waren noch zwei Gäule gespannt, die vor Müdigkeit – oder war es Angst? – ihre Hälse übereinander gelegt hatten. Es sah aus, als würden sie sich gegenseitig halten. Zu Elphabas mehr oder minder Vorteil blitzte es auf, als sie erneut versuchte, irgendetwas ausfindig zu machen. In der Sekunde des Lichts konnte sie nichts und niemanden sehen, was bedeutet: Sie sah, dass niemand dort war, außer ihr. Eigentlich hatte sie sich auf einen vollständig umstellten Palast eingestellt, ‚… aber diese Angelegenheit soll wohl nicht die allgemeine Bekanntschaft machen…’, dachte die grüne Hexe bitter. Endlich traute sie sich aus ihrem Schattenversteck heraus und lief auf die weite Grasfläche, sodass sie möglichst viele Fenster sehen konnte. ‚Bitte, bitte, hab kein Zimmer im fünften Stock!’, flehte Elphie zu niemandem. Der regen machte ihr zu schaffen, denn durch den Wind war es kaum möglich, den Kopf so zu heben, dass eben kein Tropfen ihr zwischen Brille und Stirn geweht wurde. Dennoch wusste Elphaba, es wäre unmöglich, durch das Gebäude zu Glinda zu gelangen. In der Glasschale hatte sie vier Menschen gesehen und einer davon war ihre Glinda gewesen. Aber irgendetwas sagte ihr, dass vier nicht die endgültige Zahl war. Erneut versuchte die ehemalige ‚Damsell’ Elphaba, ihren Kopf zu heben um möglicherweise das richtige Zimmer ausfindig machen zu können. Doch wie heiße Glut traf sie ein Wassertropfen an der Schläfe und reflexartig senkte sie wieder ihr Haupt. „Verdammt!“, zischte sie, als das Brennen langsam nachließ. Beim nächsten Versuch ließ sie den Besen fallen, legte sie ihre beiden durch Lederhandschuhe geschützten Hände an die Schläfen und sie konnte ungehindert hochsehen. Zwar fühlte sie sich, als würde sie Scheuklappen tragen, doch sie wusste auch, es war die einzige Möglichkeit, überhaupt irgendetwas ausfindig machen zu können. Elphaba wünschte sich nur, dass Glinda in einem Zimmer auf dieser Seite des Palastes war. „So ein Mist!“, stöhnte die grüne Frau auf, als zwei beleuchtete Räume in ihr Blickfeld kamen. Eines war auf der untersten Etage und eines, so vermutete Elphaba, im ersten Stock mit einem kleinen Balkon. Schnell tastete sie nach ihrem Besen, hob ihn auf und lief zum erleuchteten Fenster im Erdgeschoss. Vorsichtig spähte sie in den hellen Raum. Was oder eher wen sie dort sah, ließ die sonst so gefasste Hexe drei Schritte zurückweichen und sie fiel rückwärts auf ihren Hintern. Verwirrt saß sie auf dem nassen Rasen: „Aylin… Aylin Heidenbrunn!“, stammelte sie ungläubig. ‚Dieses verdammte Puzzle bekommt immer mehr Teile!’, dachte sie verärgert, doch sie hatte keine Zeit mehr, um die fehlenden Teile zu suchen. Mit einem Sprung stand sie wieder auf den Beinen und lief auf das andere erleuchtete Fenster zu, in der Hoffnung, dort das Puzzleteil zu finden, was sie so dringend suchte. Schweigen saß Accursia an Glindas Bettende und starrte die durchnässte Schönheit mal wütend, mal aggressiv und mal träumerisch an. „GÜTIGE LURLINE!“, rief sie ungeduldig aus, „So funktioniert das nicht! Ich kann nicht länger warten. Ein Land braucht einen Führungswechsel, also wach auf, zum Henker noch mal!“ Als Antwort gab die schlafende Schönheit nur ein leises Stöhnen von sich. Vor Wut bekam Makaber-Akaber nun einen hochroten Kopf und stand wuchtig auf von ihrem Stuhl. „Auria, beruhige dich!“, ermahnte sie sich abermals. Dann ging sie um das Bett herum, sodass sie an Glindas linker Bettseite stand und fasste der nassen Blondine unter ihre Arme. Dann zog sie sie ein Stück hoch, sodass es den Anschein machte, als säße Glinda von alleine gegen das Kopfende des Bettes gelehnt. Nur der Kopf stand noch in einer verräterischen Schieflage. „Auch egal!“, entschied Akaber, „Zeit ist Macht und von dem ersten brauche ich heute noch viel um dann das andere zu erreichen!“ Vorsichtig ließ sich Accursia neben Glinda nieder. Den Rücken hatte sie zur Balkontüre gedreht und schaute ‚Glinda der Guten’ nun ins Gesicht. „Ich hoffe, dass er dir wenigstens dein Unterbewusstsein nicht auch noch weggedröhnt hat, denn du sollst meine Worte schon noch in irgendeiner mentalen Sphäre mitbekommen, mein Kind!“, setzte Accursia Akaber in mahnender Stimme an, bevor sie in einen langen Monolog verfiel: „Du fragst dich bestimmt, was der ganze Zirkus hier soll. Gut, ich werde es dir verraten. Dann wirst du die einzige sein, die wissend stirbt. Mein Geheimnis wird heute verraten und heute begraben! Wie poetisch!“ Sie lachte kurz auf. „Fangen wir am Besten vorne an: Als ich so jung war, wie meine Nichte Aylin jetzt ist, hatte ich gar nichts. Meine Familie war arm und ich musste niedere Tätigkeiten vollbringen, um uns alle am leben zu erhalten. Irgendwann fand ich den Quell meiner Kräfte und studierte sie ausgiebig. Ich brachte mir selber bei, wie, wann und wo ich das Wetter kontrollieren konnte. Daraufhin riet ich meinem Vater, in die Landwirtschaft zu gehen und wir hatten Erfolg. Unserer Familie ging es besser, doch mir persönlich nicht wirklich. Ich wollte in die Welt hinaus und sie verändern. Ich stellte mir vor, wie ich den Menschen helfen konnte durch meine Gaben. Doch als meine Eltern herausfanden, zu was ich fähig war, versuchte mein Vater mich für viel Geld zu verkaufen. Ich kann dieses Gefühl, was ich damals empfand, wirklich kaum beschreiben. Vielleicht eine Mischung aus Schmerz, Trauer, Enttäuschung, Wut und Einsamkeit.. Ja, so könnte man das formulieren. Nun denn, jedenfalls war dieses Gefühlschaos der Grund, warum ich von zu Hause weglief und mich die erste Zeit selber durchschlagen musste. Ich log, klaute und stahl, um irgendwie zu überleben. Zu dieser Zeit war ich dann ungefähr 20 Jahre alt und du, liebste Glinda, warst noch nicht mal in Planung! Dies war dann jedenfalls auch die zeit, als der Zauberer nach Oz kam. Ich hatte von ihm gehört und machte mich auf, ihn zu suchen. Damals war er noch schwach und ohne jeglichen Ruf, aber das sollte sich bald mit meiner Hilfe ändern. Ich überzeugte ihn mit ein paar einfachen Phänomenen. Hier ein Blitz, da ein Hagelsturm. Er war begeistert und ich hatte nichts und niemanden. Der Zauberer nahm mich auf und sorgte sich um mich. Wir schmiedeten Pläne bis tief in die Nacht und er gab mir mein neues zu Hause. Im gleichen Jahr wurdest du erst geboren! Vier Jahre später, als er schon ein mächtiger Mann in Oz war und die Smaragdstadt so langsam Form annahm, ließ er mich zur Direktorin ausbilden. Ich sollte die jungen Köpfe mit seiner Meinung füllen. Ich habe ihn damals angehimmelt, ja, wenn nicht sogar geliebt. Tja und ein Jahr später kam dann unser Sohn zur Welt… Er ist also ein Jahr jünger als du. Der Zauberer wusste davon nichts und ich gab den Jungen an meiner Schwester ab. Eine Zukunft hätte ich mir mit ihm nicht ausmalen können. Meine Schwester taufte ihren Sohn ‚Ramón’. So kam eines zum anderen: Ich studierte weiterhin, ließ mich ausbilden und stand unter des Zauberers Fittiche. Als ich dann meinen 30. Geburtstag gefeiert hatte, wurde in Shiz das Kolleg eröffnet und ich wurde als Direktorin dorthin versetzt. Mein Herz brach, aber ich hätte alles für … ihn getan.“ Accursia biss sich auf die Lippen. Beinahe hätte sie seinen richtigen Namen verraten. Auch, wenn Glinda einen ‚abwesenden’ Eindruck machte, wollte sie nicht riskieren, dass sie als Tote zur Mutter Erde sprechen würde. „Du warst also gerade zehn Jahre alt, als ich anfing, zu arbeiten. So arbeitete ich seit sieben Jahren in diesem Beruf, als ihr beiden – du und deine grüne Freundin – meine ganze Welt auf den Kopf gestellt habt. Ich erkannte früh genug das Potential dieser Spinatdame und hoffte, wenn ich sie dem Zauberer anvertraue, wählt er sie aus und ich kann meinen Posten räumen, um wieder in den Palast zu ziehen. Nichts da. Das dumme Gör ließ sich nicht darauf ein. Ihr beiden habt einen riesen Wirbel veranstaltet und als ich euch gegeneinander ausspielen wollte, ist es mir am Ende doch misslungen. Ich war froh, dass wenigstens das Fräulein Thropp uns frühzeitig verlassen hatte vor genau einem Jahr, doch dann musstest du ja wieder mitmischen. Inzwischen schreiben wir das Jahr 25 nach Oz, was dich zu einer 25-jährigen jungen Dame macht und mich zu einer 55-jährigen … Frau. Was hat sich nicht alles verändert in dem Jahr, als die ‚Böse Hexe des Westens’ starb…“ Als Elphaba lautlos über den Rasen zu jenem beleuchteten Fenster huschte, kreisten ihre Gedanken wie wild durch den Kopf: ‚Wach mache ich hier? Was ist, wenn Ramón nur die betrunkene Glinda nach Hause gebracht hat? Ach, Blödsinn… Was sollte dann die Akaber hier? Und was um alles in Oz hat Aylin damit zu tun? Diese Brandstifterin – emotional unkontrolliertes Weib. Was mache ich, wenn ich Glinda in meinen Armen halte? Wer wird überhaupt in dem Zimmer sein? Was machen sie gerade mit ihr? Was wird mit Fiyero, wenn ich Glinda…’ Dann konnte Elphaba ihre eigenen Gedanken nicht mehr hören. Teils wegen des erneuten Donners, teils aber auch, weil ihr Herz so laut und feste Schlug, dass sie den Puls an den Halsschlagadern, auch ohne ihre Fingerspitzen darauf zu legen, fühlen konnte. „Halt jetzt die Klappe, Kopf!“, zischte sie, nachdem das Donnergrollen abgeklungen war. Endlich stand sie schräg unter dem beleuchteten Fenster, an welches ein kleiner Balkon grenzte. Erleichtert sah Elphaba pinkfarbene Gardinen in der Zugluft von draußen sehen. „Glinda…“, hauchte sie. Nun musste die grüne Hexe es nur noch schaffen, dort hinauf zu kommen. Mit prüfendem Blick sah Elphaba sich um. Links und rechts verliefen Weinranken an der Mauer hoch und diese reichten bis in den dritten Stock, schätzungsweise. Die grüne Hexe hob ihre Arme und begann, etwas zu summen: „Scala, scala da vignito!“, sie schloss die Augen und summte noch einmal. Noch bevor sie die Augen öffnete, wusste sie, dass es nicht funktioniert hatte. „So ein Mist!“, fluchte sie und trat dicht vor die Mauer. Mit ihrer rechten Hand prüfte sie die Festigkeit und die Beschaffenheit der Reben. Elphaba musste feststellen, dass zwischen den wirklich festen, mittel alten Reben auch sehr junge, rutschige und alte, morsche Reben wuchsen. Unwillig stellte Elphie fest, dass sie ihren Besen hier zurück lassen musste. Aus Sicherheit hatte sie ihn den ganzen Weg mitgeschleppt, auch, wenn er lästig war. Aber eine Hexe ohne Besen? Für Elphaba war es ihre Eintrittskarte in die Abschirmung oder eher ihre Austrtittskarte bei Gefahr. Eine wahrhaftig schnelle und sichere Variante. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig: Sie lehnte ihren Besen gegen die Mauer, genau unter dem kleinen Balkon und griff dann nach der ersten Rebe. Ihre andere Hand erfasste die zweite, sie zog sich hoch und fand mit den Füßen Halt. In diesem Rhythmus arbeitet sich die grüne Hexe an grünen Reben in schwarzer Nacht und noch schwärzerem Regen in Richtung des gelb erleuchteten Balkons hoch. Sie keuchte, doch Stück für Stück ging es aufwärts. Nach drei Metern hielt sie kurz inne, um Luft zu schnappen und griff dann unvorsichtig nach einer herausstehenden Weinranke. Plötzlich fühlte sie, wie die ergriffene Pflanze nachgab und ein Stück aus der Wand riss. Elphabas Füße glitten von der Mauer ab… Als Fiyero schon die Kirchturmspitze des nächsten Dorfes sehen konnte, stellte er erstaunt fest: ‚Nun bin ich schon zwei Stunden gewandert und noch immer habe ich keine Lösung für diese komische Forderung des Buches gefunden…’ Langsam wanderte er weiter, bis hin zu einer Scheune auf weiter Flur, die die baldige Siedlung der Menschen signalisierte. Dort angekommen legte er sich unter das Dach ins Stroh, ‚Welch’ Ironie!’, dachte er bissig und schaute durch die Holzbalken in den Himmel. Sein Gesicht war ein bisschen nass geworden und er hatte geplant, seine Fae zu späterer Stunde darum zu bitten, seine Augen und den Mund mit einem Stift nach zu ziehen. Seufzend lag er dort eine Weile. Hin und wieder blitzte es und Fiyero genoss das unsagbare Naturschauspiel. ‚Es tut so gut, Fae sicher zu Hause im bett zu wissen…’, schmunzelte er, als es plötzlich wieder blitzte. Mit diesem Blitz kam Fiyero endlich auch der ersehnte Gedankenblitz. „Natüüüürlich!“, stöhnte er, setzte sich auf und klatschte sich eine Hand gegen den Strohkopf. „Am besten wäre Ihnen mit Abstand geholfen, so sollte aber die mit betroffene Person sich um sanfte Aufmerksamkeit bemühen…“, rezitierte er murmelnd. „Sie braucht Abstand und fühlt sich bedroht, warum, weiß der Zauberer, aber das ist ja auch egal!“, die Vogelscheuche schien zu sich selbst zu sprechen, „Das bedeutete für mich, ich muss mich etwas zurücknehmen, ihr Zeit geben, nichts erwarten und physisch natürlich auch nicht zu nahe kommen. Sanfte Aufmerksamkeit… Ich mache ihr Frühstück!“, rief Fiyero nun begeistert aus. Sehr selbstzufrieden stemmte sich der ehemalige Fürst von Kiamo Ko in die Höhe und setzte seinen Weg in die Richtung fort, aus welcher er gekommen war. Die Scheuche rechnete damit, gegen 6 Uhr früh endlich wieder in Kiamo Ko zu sein. ‚Zeit genug für ein atemberaubendes Meisterwerk an Frühstück!’, dachte Fiyero mit großer Vorfreude. Orez und Ramón standen noch immer wartend vor der Türe. Unmerklich waren beide immer ein Stückchen näher zur Tür gerutscht. Merkwürdigerweise waren die Ohren der beiden Männer näher an der Türe, als der Rest ihres Körpers. „Verstehst du irgendwas?“, fragte Ramón neugierig im Flüsterton. Man hörte nur leises Gemurmel. „Wenn du mir die ganze Zeit ins Ohr brabbelst, bestimmt nicht!“, antwortete Orez ungewohnt heftig. „Nanu?“, Ramón stutzte und richtete sich wieder auf. „Was ist denn mit dir? Etwa noch was vor, heute Nacht?“ Er lachte dreckig. „Was ist eigentlich dein Problem, Ramón? Wieso habe ich das Gefühl, dass du nichts Gutes mit Glinda im Sinn hast?“ Verwirrung stand dem Wachmann ins Gesicht geschrieben. ‚Wie kann ein einzelner Mensch so dumm sein, dass es für 100 andere Leute reichen würde?’, waren Ramóns Gedanken, welcher er doch lieber für sich behielt. „Orez…“, begann Ramón schlichtend und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dieser jedoch wich zurück und maulte: „Nein! War doch alles nur Schall und Rauch, was du mir damals verkauft hast! Da bleibt nichts von zurück! Ist es nicht so?“ „Sei leise, du dämlicher Hund!“, entwich es nun doch Ramón und im nächsten Augenblick wünschte er, es nicht gesagt zu haben. Doch nun gab es kein Zurück mehr: „Ich versprach dir damals eine Nacht. Die wirst du kriegen. Und danach wird dein blondes Flittchen von mir empfangen und danach sorge ich dafür, dass sie nicht mehr aufwacht!“ Nun war es Orez, für den es zu viel war. Sein Gesicht spiegelte den inneren Kampf wieder. Seine Emotionen waren zum Überlaufen hoch gekocht und seine Muskeln klingelten und rasselten förmlich in seinem Körper. Blitzartig setzte sein Verstand aus, die niederen Instinkte gewannen Überhand und wie ein Tier stürzte sich der Wachmann auf den blonden Kerl, der doch nur ein Lügner war. Elphaba fühlte, wie ihre Füße sich durch den Fehlgriff nicht halten konnten und schloss die Augen, aber hielt mit ihrer linken Hand so fest an der anderen Rebe fest, wie sie nur konnte. Sie hatte erwartet, jeden Moment auf dem Gartenboden aufzuschlagen. Doch zu ihrem Glück war die andere Rebe stark genug und Elphaba machte sich eilig daran, wieder in Position zu kommen und kletterte dann auch noch die restlichen zwei Meter hinauf zum Balkon. Elphaba befand sich, an der Wand hängend, links neben der Brüstung und langte mit ihrer rechten Hand hinüber. Dann stellte sie auch den rechten Fuß in einen der Zwischenräume des Geländers und zog dann ihren restlichen Körper hinüber. Den linken Fuß warf sie über die Brüstung und mit einem Sprung stand sie auf dem Balkon, vor der angelehnten Balkontür. Die Gardinen im Inneren des Zimmer wehten noch immer hin und her und so war sich die Hexe sicher, dass sie im Schutz der schwarzen Nacht und den pinken Gardinen kaum von draußen gesehen werden konnte. Neugierig, mit wildem Herzklopfen sah sie hinein. Sie war auf das Schlimmste gefasst. „Was um alles in Oz…“, entwich es ihr leise, als sie Madame Akaber sah, die seelenruhig vor Glindas Bett in einem pinken Plüschstuhl saß schwieg. Aber plötzlich stand sie auf. ‚Ist das wirklich… Das ist ja nur noch die Hälfte von der uns bekannten Frau!’, schoss es der grünen Hexe durch den Kopf, aber ja, sie war es wirklich. Makaber-Akaber setzte sich auf die linke Seite des Bettes… „MIST!“, zischte Elphaba, als die Gardine in ihr Blickfeld wehte. Nach zwei oder drei Sekunden, die wie eine Stunde schienen, konnte die grüne Hexe nun Glinda erkennen. Die beiden Frauen schienen sich zu unterhalten. ‚Was wird denn das?’, Elphaba war verwirrt. Glinda sah irgendwie komisch aus: Die blonden Haare schienen ihr am Kopf zu kleben und ihr Kopf war irgendwie… ‚SIE SCHLÄFT!’ Elphaba verstand die Welt nicht mehr: ‚Was soll das denn? Verdammt…!’ Wenn Glinda damals während ihrer ‚Lernzeit’ wirklich mal gelernt hatte, war sie meistens nach einer halben Stunde eingeschlafen und hatte sie dabei gesessen, war ihr Kopf immer in diese wirklich amüsante Schieflage gefallen. Nur jetzt gerade war es alles andere als amüsant. Doch Elphaba war sich sicher: Eben hatte noch niemand im Bett aufrecht gesessen! ‚Ich muss es tun. Ich muss einfach…’, ermutigte Elphaba Thropp sich und bekämpfte ihren drohenden Panikanfall. Leise stupste sie die Balkontüre etwas weiter auf. Die Hexe brauchte keinen großen Spalt, um durchzuschlüpfen. Schließlich war sie kaum mehr als Haut und Knochen. Accursia Akaber saß mit dem Rücken zur Balkontüre, was es Elphaba um einiges erleichterte. Als Elphie durch den dünnen Spalt schlüpfte, stieß ihre Schulter leicht gegen den Türrahmen und die grüne Hexe musste einen verbitterten Schmerzensschrei unterdrückten. Tränen traten ihr in die Augen, aber sie konnte aufgrund des Sturms nicht riskieren, die Türe noch weiter zu öffnen. Sie biss die Zähne zusammen, ignorierte ein leichtes Brennen im Gesicht und schon stand sie in dem Zimmer von ‚Glinda der Guten’, damalige Damsell Galinda, Elphabas erst gehasste, dann sehr vertraute Freundin. „…Was hat sich nicht alles verändert in dem Jahr, als die ‚Böse Hexe des Westens’ starb…“, vernahm Elphaba die Worte der Madame Akaber, die irgendwie wie eine Bestätigung der eigenen Gedanken klangen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)