Schall und Rauch von Ryu-Stoepsel (Which path will you choose?) ================================================================================ Kapitel 38: ------------ Londaro: http://gillian-leigh.deviantart.com/art/Schall-und-Rauch-Londaro-1-97799357 ______________________________ Kapitel 38 Elphaba sah zu, wie Glinda sich auf die Decke fallen ließ und anfing, eine Banane zu schälen. Sie stand dort und sah zu, wie die blonde Frau genüsslich aß und dann Elphaba signalisierte, sie solle endlich kommen. Doch die Hexe drehte sich von Glinda weg und zum Ufer hin. Nach ein paar Schritten stand sie kurz vor dem glitzernden Wasser und ließ sich auf die Knie sinken. Dann stützte sie sich mit ihren Händen am unmittelbaren Rand ab und lehnte sich über die Wasseroberfläche. Ihre Haut war noch immer menschlich. Nicht eine Spur Grün war auf ihrem Gesicht zu sehen. Ihre Schultern hatten denselben Farbton, nur ihre Augen und ihr Mund brachten etwas Farbe ins Spiel. Das lange schwarze Haar umrahmte sanft ihr Gesicht und lief glänzend über ihre Schultern. Um ihren Hals funkelte noch immer die blaue Träne und Elphie fragte sich in diesem Moment, was dieser Stein eigentlich für eine Bedeutung hatte. Das Wasser war ruhig. Nicht eine einzige Welle rollte an den Rand und so konnte die Hexe sich sehr genau mustern. Ihre langen dunklen Wimpern umrahmten die braunen Augen. ‚Quoxwaldeichenbraun…’, schmunzelte sie in Erinnerung an Glindas Worte. Noch immer konnte sie es nicht fassen, dass sie entgrünifiziert war. Irgendwie fühlte sie sich merkwürdig, wenn sie sich so sah. Es fühlte sich an, als hätte sie ein Stück Identität verloren… Sie löste die linke Hand vom Boden, während sie all ihr Gewicht auf die rechte Hand verlagerte. Dann streckte sie den Arm aus, sodass ihre Handfläche beinahe die Wasseroberfläche berührte. Noch nie hatte sie ihre Hand in Wasser getaucht. Sie wusste nicht, wie es sich anfühlte, wenn ein Körperteil komplett vom Wasser umschlossen wurde. Das Wasser glitzerte so verführerisch, als sie mit einem Mal sah, wie sich ein anderes Bild auf dem Wasser spiegelte. Blonde Locken standen nun im scharfen Kontrast zu ihrem rabenschwarzen Haar. Blaue Augen funkelten aufgrund des Wassers noch stärker als sonst. Elphaba lächelte dieses Spiegelbild an und es lächelte zurück. Vorsichtig nahm sie ihre Hand vom Wasser und setzte sich auf ihre Waden. Dann ließ sie ihren Blick über den See gleiten. Glinda stand genau hinter ihr und legte die zartgliedrigen Finger auf die zarten, aber dennoch muskulösen Schultern, die genau dort anfingen, wo Glindas Hände aufhörten. Die Hexe hatte ihre Hände auf die eigenen Oberschenkel gelegt und fühlte nun, wie die weichen Finger begannen, ihre Schultern und ihren Nacken zu massieren. Sie schloss die dunklen Augen und seufzte: „Das tut gut…“ „Nicht wahr? Du bist auch sehr verspannt. Es ist wohl alles etwas viel für dich.“ „Für dich nicht?“, fragte Elphaba mit geschlossenen Augen. „Natürlich. Doch, ja… Aber ich glaube, dass du schwierigere Dinge zu verarbeiten hast, als ich.“ Die Hexe nickte nur leicht und eine angenehme Stille setzte ein. Als Glinda aus Versehen die Kette berührte, pendelte die Träne auf Elphabas Brustkorb leicht hin und her. Ohne die Augen zu öffnen, umfasste Elphaba den Anhäger mit ihrer linken Hand und fragte: „Glinda, was ist das hier eigentlich für eine Kette?“ Irgendwie hatte sie den Eindruck, diese Kette schon einmal gesehen zu haben. „Das ist eine Träne der heiligen Aelphaba…“, antwortete Glinda ruhig und ließ Elphabas Schultern in einer Art Vorahnung los. Wie sie richtig vermutet hatte, drehte Elphaba sich schlagartig um und starrte Glinda entsetzt an. Noch immer saß sie auf ihren Waden und die Gedanken schwirrten zu schnell durch ihren Kopf. „Was?“, fragte sie geschockt, konnte aber nichts weiter sagen. Ihre Gedanken kreisten immer weiter und schienen sich erst langsam aufzureihen. „Ich habe dir ja erzählt, dass diese Kette mir gezeigt hat, was ich mit dir tun muss. Ich glaube wohl, dass ich dieses kleine Detail ausgelassen habe…“ „Ausgelassen…“, schnaufte die Hexe. „Nun, das erklärt wohl einiges. Die Träne und der Trank – beides aus der Höhle oder zumindest der Umgebung von der heiligen Aelphaba. Du weißt, was man über die Tränen sagt?“ „Ja..“ Elphaba nickte. „Sie besitzen magische Kräfte. Es gibt nur wenige davon, wenn ich mich nicht irre, in ganz Oz nur sieben Stück. Und jede Träne besitzt eine andere Kraft.“ „Genau!“ Nun nickte Glinda und setzte sich vor Elphaba auf den Boden. Sie fühlte sich unwohl, von oben herab auf ihre Freundin zu schauen. Mit einem Mal fiel Elphaba wieder ein, wo sie diese Kette schon einmal gesehen hatte… Oder zumindest eine solche Träne. „Glinda…“, fragte sie beinahe stimmlos und sah dabei der Frau direkt in die eisblauen Augen. „Woher hast du diese Kette?“ „Sie war ein Geschenk… Von Ramón. Er wollte mich wohl offensichtlich beeindrucken und jetzt kann ich mir ja auch denken, aus welchem Grund.“ „Großer Oz…“, stöhnte Elphie und wurde blass. „Was ist denn?“, fragte Glinda erschrocken. Die beiden hatten noch immer nicht über die Vorfälle in der besagten Nacht gesprochen und zwar weil Elphaba chronologisch vorgehen wollte. Sie war hin und her gerissen. Sollte sie nun schweigen oder Glinda ihre Vermutung mitteilen. Elphaba konnte nicht anders: „Diese Kette gehört Akaber.“ Die Worte waren nüchtern ausgesprochen worden, dennoch erschütterten sie beide Frauen bis aufs Mark. „Was redest du da?“ Glinda lief ein kalter Schauer über den Rücken. Die Hexe fühlte, dass sie Glinda jetzt unmöglich alles erzählen konnte, was in dieser Nacht passiert war. Denn diese schlimmen Stunden waren ihr noch zu fest im Gedächtnis eingebrannt und mit jedem Gedanken daran überkam sie eine Welle der Übelkeit. „Glinda…“, begann Elphaba, beinahe flehend, „… ich werde dir später die ganze Geschichte genau erzählen. Aber da ich nun schon angefangen habe, erkläre ich dir diese eine Sache. Aber bitte, bitte frag nicht weiter. Ich bin noch nicht bereit dafür…“ Die blonde Frau merkte, dass ihre Freundin gerade sehr mit sich kämpfte. Sie zitterte und die dunklen Augen flehten förmlich. „Ich werde dich nicht drängen, Elphie.“ Das war alles, was Glinda sagte. „Diese Kette…“, begann Elphaba und tastete unglücklich nach dem Verschluss, „… hat dir also Ramón geschenkt… Als ich in der Nacht in deinem Zimmer war und dann mit dir geflohen bin, habe ich eindeutig gehört, dass Ramón Akabers Sohn ist. Oz weiß, ob ich mich irre, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es seine Stimme war, die Akaber ‚Mutter’ genannt hat.“ Endlich hatte sie Verschluss gefunden und öffnete ihn nun. Der Ekel vor dieser Kette war nun beinahe greifbar und bewusst hatte Elphaba das Detail ausgelassen, dass sie Accursia Akaber niedergeschmettert hatte. „Madame Akaber… hat einen SOHN?“ Nun war es Glinda, die völlig erstaunt und entsetzt dreinblickte. Erst war sie durcheinander, doch dann ordneten sich auch ihre Gedanken schlagartig: „Soll das etwa heißen, dass Akaber ihrem Sohn die Kette gegeben hat, um mich damit zu ködern?“ „So etwas in der Art, ja…“, nickte Elphie und ließ sich von ihren Waden auf die Erde gleiten. Glinda, noch immer geschockt, tat das gleiche. „Aber ich glaube, ich habe sie dabei gestört, ihr Eigentum wieder an sich zu nehmen…“, schmunzelte die Hexe nun und hoffte, die Situation etwas aufheitern zu können. Sie hatte dabei nicht bedacht, dass Glinda sich an nichts erinnern konnte. „Du meinst, sie war in meinem Zimmer? BEI MIR?“ Die blonde Frau erbleichte schlagartig. ‚Verdammt!’, fluchte Elphaba innerlich und nahm dabei endlich die Kette vom Hals. Dann legte sie die Träne zwischen sich und Glinda. Unschuldig glitzerte das Blau in der Sonne. Glinda starrte auf das am Boden liegende Schmuckstück, als sie Elphabas Worten lauschte: „Ja, sie war da, als ich dich… gerettet habe. Ihr verdankst du auch die Kratzer.“ Bei den Worten strich die blonde Frau gedankenabwesend über ihre geheilte Wange. „Was hat sie gesagt?“ Glindas Worte klangen tonlos. „Was hat sie gesagt?“, fragte sie nun heftiger und sah Elphaba wütend an. Die Hexe hatte diese Nacht noch nicht Revue passieren lassen und konzentrierte sich nun stark. Sie wollte sich auf Akabers Worte fokussieren und schloss die Augen. Erst dann murmelte sie: „Sie hat darüber gesprochen, dass du an allem Schuld gewesen wärst. Du hättest mich zu sehr beeinflusst, denn ansonsten wäre ich nun an ihrer Stelle. Ich wäre nun auf ihrer Seite… oder so etwas und du bist der Grund, warum alles für sie so schrecklich geworden ist….“ Elphaba brach plötzlich ab. Ihre Augen rissen mit einem Mal weit auf und sie hörte auf zu atmen. Glinda sah es nicht, sie starrte immer noch auf die Kette und dachte, Elphaba wäre mit ihrer Erzählung fertig. Wütend griff sie nach der Kette und brummte: „Dieses Ding ekelt mich an! Soll es dahin zurückkehren, wo es hergekommen ist!“ Dann riss sie ihren Arm in die Höhe und wollte die Kette ins Wasser werfen und schaute Elphaba dabei an. Erschrocken schrie Glinda auf, als sie Elphaba sah. Die Kette fiel ihr aus der Hand und die blonde Frau musste sich mit den Händen abstützen, um nicht dem Drang zu folgen, von Elphaba wegzurutschen. „Oh mein namenloser Gott!“, schrie sie beinahe aus und hielt sich eine Hand vor den aufgerissenen Mund. Elphaba hatte keine Ahnung, was in Glinda gerade vorging. Sie war selber gerade am Boden zerstört. „Ich bin Ramóns Halbschwester!“, würgte Elphaba beinahe hervor. „Elphie, du bist wieder grün!“, stöhnte Glinda erschrocken im gleichen Augenblick. Ramón war sehr zufrieden über seinen Deal mit Orez, dennoch war er auch sehr in Eile. Heute Abend würden noch die anderen der ‚Mächtigen Fünf’ eintreffen: Stella, Adlerauge und… seine Penelope. Er hatte keine Ahnung, woher seine Mutter die ersten beiden Frauen kannte, doch Penelope kannte er noch aus seiner Jugendzeit. Als seine Schwester damals versucht hatte, Glindas Bett niederzubrennen, musste Accursia sie auf eine Erziehungsschule für schwer traumatisierte und/oder schwer erziehbare Jugendliche schicken. Ramón hatte Aylin anfangs kaum besucht. Der blonde Mann ließ den Erinnerungen freien Lauf, als er auf dem Weg zu Londaros Büro war. Vorher war es das Büro von Mutter Meredith gewesen. Ohne zu klopfen trat er ein und sah, dass der Sekretär nicht alleine war. „Ah, Ramón! Wie passend!“, empfing der dunkelhaarige Mann ihn und bot ihm einen Platz an. „Hast du kurz Zeit? Ich kläre gerade mit unserem neuen Freund hier, wie wir vorgehen wollen.“ Dabei deutete er auf Fiyero, der zum Gruß grinsend nickte. Der noch immer in der Tür stehende Mann wehrte jedoch dankend ab: „Nein, danke. Ich habe absolut keine Zeit. Es müssen noch viele Vorbereitungen getroffen werden, bevor die bissigen Biester alle ankommen. Ich wollte nur schnell sicher gehen, dass ihr auch ohne mich vorankommt.“ Bei der Alliteration ‚bissige Biester’ musste Londaro, als auch Fiyero grinsen. Der Sekretär hatte den Scheuch gerade erst über die neue Regierungsform in Oz aufgeklärt. „Wir kommen wunderbar zurecht. Fiyero hier ist ehemaliger Gardehauptmann der ozianischen Armee. Das erleichtert uns einiges.“ „Endlich einmal gute Nachrichten! Ich werde zu später Stunde herkommen und erwarte deinen Bericht auf meinem Schreibtisch.“ „Verstanden“, nickte Londaro. „Gut!“, schloss Ramón ab und ließ die Tür wieder zugleiten. Dann stiefelte er etwas besser gelaunt in sein Büro. Auf seinem Schreibtisch lagen drei Akten, auf denen die Namen der bissigen Biester standen, seine Mutter und Aylin ausgenommen, da die beiden ohnehin schon hier waren. Es war Ramóns Aufgabe, die Zimmer zu verteilen und sicher zu stellen, dass alles vorhanden war, was die Damen angemerkt hatten. Außerdem musste er den Ablaufplan für den morgigen Tag noch vor der Dunkelheit seiner Mutter vorlegen. Er stand also unter mächtigem Zeitdruck, denn er hatte noch ungefähr fünf Stunden, bis die Sonne in Oz untergehen würde. Seufzend ließ er sich in seinen ledernen Sessel fallen und nahm die erste Akte zur Hand. Sie war schwerer und dicker als erwartet, doch als er den Namen las, war er nicht länger verwundert. „Stellaione Alert…“, seufzte er unmotiviert. Er hatte wirklich keine Lust, die Arrangements für diese Dame zu machen. Wenn er dem Gerede der Leute trauen würde, dann müssten die Vorbereitungen für Stella über eine Woche dauern… Also warf Ramón alle drei Akten an den Rand seines großen Schreibtisches und nahm sich eine unbeschriebene Pergamentrolle. Vorsichtig rollte er sie auf und schrieb als Titel: „Tag der Vergeltung“. Darunter schrieb er in Stichpunkten den Tag so auf, wie er und Accursia ihn geplant hatten. Er sollte mit einem gemeinsamen Frühstück beginnen, bei welchem Stella gewiss nichts essen würde. Erstens, weil das Frühstück um sieben Uhr in der Früh stattfinden sollte und zweitens, weil er Stellaione noch nie hatte essen sehen. Bei diesem frühen Zusammentreffen sollte dann politischer Klatsch ungefähr eine Stunde besprochen werden. Seine Mutter fand, es wäre eine gute Überleitung, um dann im großen Konferenzsaal mit den wirklich wichtigen Dingen zu beginnen. Ramón hatte vorgeschlagen, bis in den späten Nachmittag hinein an dem gemeinsamen Regelwerk zu arbeiten, bis ungefähr 18 Uhr. Als Argument hatte er die äußerst feministische Seite hervorgebracht und seine Mutter daran erinnert, dass sie in zehn Stunden versuchen wollte, mit vier anderen Frauen ein politisches Konzept für eine lange Zeit aufzubauen. „Mutter… fünf sture Frauen in einem Raum beschäftigen sich mit nur einem Thema: Politik! Wenn du das in zehn Stunden schaffst…“, hörte Ramón noch immer seine eigenen Worte. Auf den Plan für seine Mutter und die anderen Frauen notierte er dann eine zehn Stunden lange Sitzung mit einer halben Stunde Mittags- und einer halben Stunde Teepause. ‚Es sind ja schließlich Frauen…’, dachte er seufzend. Wieder konnte er einen Grund zu seiner Liste hinzufügen, warum er Frauen in staatlichen Positionen nicht leiden konnte: Sie brauchten unvorstellbare Extras, erwarteten immer umwerfenden Service und redeten die Hälfte der Zeit eben NICHT über Politik. Und einigen konnten sie sich sowieso nie. Sie waren nur gut als Symbol für die Bevölkerung. Aber zu nichts weiter. Danach plante der blonde Mann eine Stunde für jede der Biester ein, damit sie ‚sich frisch machen konnten’ und ließ bei dem Gedanken einen verächtliches Schnaufen hören. Um 19 Uhr sollte dann die Versammlung auf dem Marktplatz sein. Ganz Oz war durch die Neuigkeitenblätter darüber informiert worden, um die seine Schwester sich gekümmert hatte. Schon gestern hatte man den Eindruck von einer Massenbevölkerung erhalten, sobald man nur einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte. Jeder Ozianer war neugierig und Ramón schätzte, dass mindestens 1/3 der ganzen Bevölkerung morgen dort sein würde. ‚20:30 Uhr – Rede von Accursia Akaber’, schrieb er als nächstes auf und danach wurde jeder der anderen Frauen noch ein kurzes Statement vor der Versammlung zugeschrieben. Ganz unten auf die Rolle kritzelte Ramón in Schnörkelschrift den letzten und auch einzigen Satz: „Nach der öffentlichen Bekanntgebung findet ein großer Ball hier im Palast statt und alle wichtigen Politiker werden anwesend sein. Es ist jeder wundervollen Dame einzeln überlassen, wann, wo oder wie sie den Abend beenden möchte. Gebt mir Fünf, Ramón Akaber“ Seine Mutter hatte darauf bestanden, dass dieses ‚Gebt/Gib mir Fünf!’ die neue Redewendung in Oz sein sollte. Der Spruch ‚Oz zum Gruße’ sei zu sehr veraltet, so war ihr Argument. Ramón fand diese Floskel sehr ungewöhnlich und hatte auch noch nie davon gehört, aber seiner Mutter schien sie bekannt zu sein. Als er sich erkundigt hatte, war ihre Antwort „Das kommt aus einer anderen Welt…“ gewesen und der junge Mann wurde das Gefühl nicht mehr los, dass es etwas mit seinem Vater zu tun hatte… Auf dem Weg zu seiner Mutter dachte er über all diese Dinge nach und warf die Pergamentrolle andauernd in die Luft und fing sie wieder auf. „Verzeihung, Monsieur Akaber!“, wurde er von einer sich verbeugenden Wache vor der Tür seiner Mutter abgefangen und die Rolle fiel zu Boden. „Eure Mutter, Monsieur, ist gerade unpässlich.“ „Was soll das bedeuten?“, fragte Ramón verwundert. „Sie äußerte den dringenden Wunsch, von niemandem mehr bis zum Morgengrauen gestört zu werden.“ Ramón wurde wütend. Was fiel seiner Mutter ein? Sie wusste doch genau, dass die Pläne noch weitergeleitet werden mussten. „Soll das bedeuten, sie wird die Damen heute Abend nicht mehr empfangen?“, schnauzte er verärgert und hob die Pergamentrolle wieder auf. „So ist es, Monsieur. Die Aufgabe hat sie Ihnen übertragen.“ „MIR?“, entfuhr es Ramón etwas zu laut und der Wachmann zuckte zusammen. „Und wann sollte ich davon erfahren?“ „Die Madame versicherte mir, dass Ihr noch vorbeikommen würdet. Und nun seid Ihr hier.“ Dem Wachmann war gar nicht wohl in seiner Haut und Ramón sah, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Geschickt drückte sich der schlaksige Mann an dem Wachposten vorbei und hämmerte mit seiner linken Faust gegen die Tür, während er mit der rechten noch immer die Pergamentrolle hielt: „Mutter!“ „Monsieur, ich bitte Sie!“ „Mutter!!!“ „Ich will nicht handgreiflich werden müssen! Monsieur!“ „MUTTER!?“ Mit dem dritten Schrei von Ramón packte der Wachmann ihn unsanft am Arm und schob ihn von der Tür weg. „Was ist?“, hörten nun beide Männer Accursias Stimme durch das dicke Holz. Ramón riss sich los und ging langsam wieder den Schritt nach vorne. „Hier sind deine Papiere!“, sagte er laut und deutlich. Als unverkennbar zu hören war, dass die Tür geöffnet werden würde, wies Ramón den Wachmann, der abermals seinen Arm ergriff, mit einer Handbewegung zurecht. „Mutter, was soll…“, setzte der blonde Bursche an, als die Tür sich einen Spalt öffnete und das Gesicht seiner Mutter zu sehen war. Erwartend streckte sie ihre Hand aus und er gab ihr die Rolle ohne eine weitere Frage. „Verzeihung!“, hauchte er, drehte sich um und lief den Flur zurück. Bevor Madame Akaber die Tür schloss, warf sie dem Wachmann einen vielsagenden Blick zu, dem sich daraufhin der Magen umdrehte. „Sie hat geweint…“, flüsterte Ramón fassungslos und schüttelte seinen Kopf. „Sie hat geweint…“ Er konnte sich nicht entsinnen, seine eigene Mutter je weinen gesehen zu haben. Nicht einmal nach dem Tod ihres zweiten Mannes. „Gideon?“ Elanoras Stimme war eher ein Flüstern. „Ela?“, kam die Antwort in ein und derselben Stimmlage. „Soll ich dir sagen, was Kwen mir zugeflüstert hat?“ „Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach. Will ich es denn wissen?“ „Ich weiß es nicht. Ich wollte es auch nicht wissen und ich wünsche mir gerade, dass er es nie gesagt hätte.“ Gideon Hochborn kannte seine Frau gut genug, um aus der so leisen Stimme dennoch etwas Weinerliches herauszuhören. „Was flüstert ihr denn da hinten?“ Elaines Stimme klang verärgert. Sie saß am weitesten entfernt von den anderen und hoffte, dass das keinen weiterführenden Grund hatte. „Entschuldigung.“, sagte Elanora nun etwas lauter. „Wollt ihr alle wissen, was Kwen gesagt hat?“ „Schweigen hilft uns in dieser Situation bestimmt nicht.“ Es war Meredith, die müde geantwortet hatte. „Also gut…“, begann Ela und zitierte dann Kwens Worte, wobei sie wieder eine Welle von aufsteigender Übelkeit überkam. „Diese Bastarde!“, schimpfte Gideon und jeder konnte hören, dass er jenseits von ‚sauer’ war. „Übersetzt heißt das: Sie ist noch nicht tot und wir sind nicht ohne Grund hier. Dass wir leben, bedeutet, sie wollen noch etwas von uns.“, sagte Meredith nüchtern, was Elanora wütend machte. „Wie kannst du so ruhig sein? Meine Tochter soll sterben! Ich will einfach nur wissen, wo sie ist und was sie mit ihr machen.“ Mit viel Willenskraft schluckte Glindas Mutter ihre Tränen herunter. „Wenn wir jetzt die Nerven verlieren, bringt uns das auch nichts.“ „Was bringt uns deine tolle Schlussfolgerung denn?“, keifte Elanora. „Ela…“, sagte Gideon beschwichtigend. „Zeit. Sie bringt uns Zeit. Es ist noch nicht zu spät.“ Meredith war wirklich erschöpft und hatte keine Kraft mehr, ihre Aussagen argumentativ zu untermauern. „Es… es tut mir leid, Meredith. Aber die Sorgen einer Mutter sind… sie sind…“ „Ich verstehe schon. Keine Entschuldigung notwendig, Elanora.“ „Was meinen Sie, was wollen die Bastarde noch von uns?“, fragte Gideon an Meredith gewandt. „Ihre Frau und ich haben uns in Anbetracht der Situation dazu entschieden, die Förmlichkeiten mal abzulegen. Das Angebot gilt auch für Sie.“, bot Meredith an. „Angenommen.“ „Zurück zu deiner Frage: Ich weiß es nicht. Ich kann dir nicht sagen, warum wir noch hier sind…“ In dem Moment wurde die schwere Tür wieder geöffnet und das Licht blendete die rothaarige Frau wie zuvor. Blinzelnd sah sie ins Licht und zischte Gideon dann zu: „… aber vielleicht wissen wir es gleich.“ „Oh Oz.“, seufzte Accursia, „Wie sehr ich dich dafür hasse.. und MICH erst…“ Nachdem Fiyero das Zimmer verlassen hatte, waren die Erinnerungen von früher über sie hereingebrochen. „Oh Gott, ich liebe dich so sehr, Accursia Livia Akaber!“ „Ich liebe dich auch, Oskar Zoroaster Phadrig Isaak Norman Henkle Emmanuel Ambroise Diggs!“ „Du weißt aber schon, dass du die einzige Person in allen Welten bist, die meinen ganzen Namen kennt und auch behalten kann?“ Er hatte gelacht und sie liebevoll angesehen. „Ja, Emmanuel, das weiß ich und es bedeutet mir sehr viel. Aber sag, Liebster, von welchen Welten sprichst du immerzu und zu welchem Gott betest du? Zum namenlosen Gott?“ „Ach, Livia. Das ist zu kompliziert und das weißt du. Ich komme nicht aus Oz, aber weil du meine Welt nicht kennst, kannst du es nicht verstehen. Das hatten wir doch alles schon mal.“ „Das weiß ich doch auch, aber ich will den Mann, den ich liebe, gerne verstehen… Kannst du mir denn wenigstens die Glaubensfrage beantworten?“ Damals hatte sie ein wenig enttäuscht drein geblickt und etwas geschmollt. „Der namenlose Gott. Ja, so könnte man das sagen…“ Danach hatten sie geschwiegen. Accursia Akaber stand vor dem großen Fenster und starrte in die Smaragdstadt hinaus. Emmanuel und sie hatten große Pläne gehabt und er hatte sie einfach im Stich gelassen. Nach all den Jahren waren ihre Erinnerungen noch so lebendig, als wäre es gestern gewesen. Normalerweise war sie auch in der Lage, ihre emotionalen Ausbrüche soweit zu steuern, dass sie nicht so unpassend auftraten. Doch in Fiyeros Worten hatte sie ihre eigene Geschichte gehört und kurz darauf hatte sie alles noch einmal durchlebt. Sie zitterte am ganzen Leib, obwohl die Sonne warm durch das Fenster schien. Ihre langes, graues Haar trug sie offen und reichte bis zur Hüfte. Sie fror so entsetzlich, aber diese Kälte kam von ihrem Inneren aus. Langsam schloss sie die Augen und hob ihre Hände in die Höhe. Dann spreizte sie ihre Finger und begann deutlich zu sprechen: „Meine Gefühle von Innen nach Außen, weht durch das Land dort draußen.“ Immer und immer wieder murmelte sie diesen Satz und beschwor damit dunkle Wolken an den Himmel. Erst als sie spürte, dass die Sonne nicht mehr schien, ließ sie ihre Arme sinken und öffnete die grauen Augen. Dichte Wolken hingen über der Stadt und sie nickte zufrieden. So sah es auch in ihrem Inneren aus. ‚Das Volk von Oz soll mit ihrer zukünftigen Herrscherin mitfühlen! Das wird ihnen eine verfrühte Lehre sein!’, dachte sie verbittert und beschloss dann, den aufgeschriebenen Plan ihres Sohnes einmal durchzugehen, um dann direkt schlafen zu können. ‚Morgen…’, machte sie sich Mut, ‚Morgen werde ich an Emmanuels Stelle treten und alle Erinnerungen an ihn auslöschen. Im Volk von Oz, in meinen Kindern und in mir selber!’ „Was bin ich?“, fragte Elphaba perplex, als Glinda verstört fragte: „Was bist du?“ Ohne auf Glindas Frage zu achten, drehte sich Elphaba wieder zum See um und starrte auf ihr Bild, welches sich im Wasser spiegelte. Das Bild zeigte ihr eine Frau mit rabenschwarzen Haaren, quoxwaldeichenbraunen Augen und smaragdgrüner Haut. „Oh Glinda..“, hauchte sie. Tränen stiegen in ihr auf und sie konnte sich nicht mehr kontrollieren. Es war alles zu viel für sie und die schockierenden Ereignisse schienen kein Ende zu nehmen. Schluchzend saß sie noch immer über das Wasser gelehnt und die Tränen trafen mit leisen Tropfgeräuschen auf die Wasseroberfläche. Glinda setzte sich auf ihre Knie und zog Elphaba sanft zu sich heran. Dann setzte sie sich wieder auf den Hintern und spreizte die Beine, sodass der grüne Körper Platz hatte und Elphabas Hinterkopf auf ihrer rechten Schulter ruhte. Sie schlang einen Arm um Elphabas Schultern, den anderen um die schmale Hüfte und wiegte die grüne, zitternde Frau in ihren Armen hin und her. „Lass alles raus, Elphie. Lass es raus…“, flüsterte Glinda ihr immer wieder ins Ohr und strich ihr im Wechsel über die Haare oder die Tränen aus dem Gesicht. „Das kann alles nicht wahr sein…“, wimmerte die Hexe immer wieder und bekam vor lauter Schluchzern kaum noch Luft. „Shhhh, shhh…“, machte die blonde Zauberin immer wieder beruhigend und hörte nicht auf, die verletzliche Frau in ihren Armen hin und her zu wiegen. Jetzt erst hatte Glinda begriffen, warum Elphaba noch nicht über diese Nacht hatte sprechen wollen. Sie hatte die Erinnerungen verdrängt und nur weil Glinda nun nachgefragt hatte, war Elphaba wieder alles eingefallen. Die innere Stimme der grünen Frau musste sie davon abgehalten haben, sich an wichtige Details zu erinnern. Als die blauen Augen die von Elphaba suchten, erschrak sie beinahe beim Anblick der strähnig roten Wangen. Plötzlich war Glinda klar, was ihr die ganze Zeit so merkwürdig vorgekommen war. Sie wusste, dass Elphaba im Moment in einem sehr schlechten Zustand war – zumindest emotional und sie hoffte innig, dass ihre Schlussfolgerung richtig war. „Elphaba…“, sagte sie ruhig und drückte den grünen Körper sanft von sich. „Elphaba, sieh mich an.“ Die Hexe drehte sich um und wischte sich eine Träne aus dem schmerzenden Augenwinkel. „Vertraust du mir?“, fragte Glinda geradeaus und erntete dafür einen verwirrten Blick, aber auch ein seichtes Nicken. „Gut. Schließ bitte die Augen und öffne sie erst wieder, wenn ich es sage.“ Ohne ein Wort schloss Elphaba die Augen und fühlte Glindas weiche Hand auf ihrer brennenden Wange. Die blonde Schönheit griff bedacht in Elphabas Kleidtasche, was die Hexe flüchtig zucken lies. Kurze Zeit später atmete sie jedoch schon wieder ruhiger und Glinda begann, die Flüssigkeit aus dem blauen Fläschchen vorsichtig auf den roten Spuren in dem grünen Gesicht zu verteilen. Als sie fertig war, ließ sie das Fläschchen wieder in Elphabas Tasche gleiten und griff dann nach der Kette, die hinter ihr im Gras lag. Elphaba fühlte, wie Glindas Unterarme ihren Hals streiften und erst dachte sie, Glinda hätte die Arme um ihren Hals gelegt. Doch dann fühlte sie etwas Kaltes auf ihrem Brustkorb und ihr wurde klar, dass es nur die Kette sein konnte. „Glinda, nein…“, nuschelte sie, machte jedoch keine Anstalten, sich zu wehren. „Shhh, shhh… Vertrau mir, bitte.“ Glinda drehte den Verschluss zu und setzte sich wieder vor Elphaba. Dann nahm sie Elphies Hand in die ihre und streichelte sie angespannt. Elphaba schien, als wäre eine Ewigkeit vergangen, als Glinda nach einigen Minuten ihren Namen sagte. „Elphaba, sieh mich an.“ Sie tat wie ihr geheißen und wusste nicht, was Glinda vorhatte. Die blauen Augen strahlten, doch eine Träne bahnte sich einen Weg und lief die rosige Wange hinunter. Zärtlich legte nun die Hexe ihre Hand auf Glindas Wange und strich die Träne mit ihrem Daumen weg. „Glinda, was…“, begann sie verblüfft, als ihre hautfarbene Hand ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. „Schau dich an.“ Glinda deutete auf den See. Sie konnte Elphabas Schmerz nicht länger ertragen. Sie fühlte ihn beinahe genauso stark und sie konnte in den braunen Augen fast genauso lesen, wie in einem Buch. Zögernd drehte sich die Hexe um und schaute abermals auf ihr vom Wasser gespiegeltes Bild. „Das Geheimnis der Träne, Elphaba. Ihre magische Kraft. Solange du sie trägst, hast du eine normale Hautfarbe.“ „Das kann doch nicht wahr sein! Wozu das alles?“ Die Hexe drehte sich um und sah fragend in die blauen Augen. Ihre Stirn war in Falten gelegt. „Ich dachte, die heiligen Tränen unterstützen keine Manipulationen oder Täuschungen? Ich dachte, dass jede der sieben Tränen nur eine der sieben Wohltaten unterstützen würde: Liebe, Freundschaft, Schutz, Gesundheit und Loyalität, Liberalität, Solidarität?“ „Da weißt du wieder mehr als ich..“, Glinda lächelte leicht. „Aber das passt gut ins Bild. Es dient nicht zur Täuschung.“ „Bitte, Glinda, wovon redest du?“ Elphaba machte ein gequältes Gesicht. „Elphie, hat es dir weh getan, als du meine Träne weggewischt hast?“ „Was?“ „Ob es dir weh getan..“ „Nein, nein, hat es nicht!“ Nun war die Hexe ohne Zweifel frustriert. „Hör mir zu, Elphaba.“, sagte Glinda nun beruhigend. Als sie sich sicher war, dass Elphaba etwas ruhevoller war, sprach sie weiter: „Diese Träne um deinen Hals ist dann entweder die Träne für Gesundheit oder Schutz. Ich würde eher zu Letzterem tendieren. Der Regen hätte dich beinahe ums Leben gebracht. Der Trank aus der blauen Flasche ist wässrig. Wenn nicht sogar das Wasser aus diesem See… Und es hat dir nichts anhaben können. In Kombination mit der Kette wurde die Magie freigesetzt und wann immer du nun die Kette anziehst, kann Wasser dir nichts mehr anhaben und wenn du die Kette nicht trägst, heilt der Trank die Wunden.“ „Das glaubst du doch wohl nicht im Ernst!“, stieß Elphaba aus. „Ich glaube es schon, aber ich weiß es nicht.“, antwortete Glinda ruhig. „Aber es macht doch Sinn. Deine Hautfarbe wechselt, wenn du diese Kette trägst und vorhin, als ich auf der anderen Seite des Sees geweint habe, hast du mir schon einmal meine Tränen weggewischt, ohne Schmerzen zu haben, wie mir schien. Und du hast selber geweint… Als du das mit deinem Vater erfahren hast. Und keine deiner Tränen hat eine wunde Stelle hinterlassen, oder?“ „Das stimmt…“, gab Elphaba zu. Ihr war es überhaupt nicht aufgefallen, was sie ihrem Gefühlschaos zuschrieb. „Siehst du. Und beide Male warst du nicht grün! Im Umkehrschluss würde das bedeuten, die Kette schützt dich.“ Die Hexe konnte darauf nichts erwidern. Das klang alles viel zu absurd. Wie konnte man einfach so die Hautfarbe wechseln? „Elphaba…“, riss Glinda die Freundin aus ihren Gedanken. „Probier es mal aus.“ „Hm?“ Die dunklen Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. „Da!“, Glinda deutet auf den See. „Probier es mal aus.“ „Ich soll meine HAND ins WASSER stecken?“, rief Elphie verstört aus. Glinda zuckte nur mit den Schultern und deutete mit einer Handgestikulierung an, dass es nicht ihre Sache wäre, das zu entscheiden. „Na schön… Na schön!“, brummte Elphaba und drehte sich zum See um. Glinda war sofort neben ihr und sah gespannt zu. Wenn ihre Theorie nicht stimmte, würde Elphaba sich schwer verletzen… Vorsichtig ging die Hexe wieder in die Position, in welcher sie eben über dem See gesessen hatte und streckte abermals ihre linke Hand über das Wasser. Sie atmete einmal tief durch, bevor sie ihren Zeigefinger senkte, sodass er leicht die Wasseroberfläche berührte. Aus alter Gewohnheit riss sie den Finger reflexartig wieder in die Höhe, als sie das feuchte Nass spürte. Glinda sog neben ihr zischend die Luft ein: „Tut es weh?“ „Nein…“, flüsterte Elphaba erstaunt und wiederholte das Ganze noch einmal. Die blonde Frau neben ihr konnte dieses Szenario kaum mit ansehen. Sie erinnerte sich noch an pikante Situationen, in denen Elphaba sich panisch vor Wasser geschützt hatte. Vorsichtig tunkte diese nun ihren ganzen Finger ins Wasser und wedelte damit herum. „Großer Oz…“, stöhnte sie, als sie fühlte, wie das Wasser ihren Finger umschloss. „Oz, Lurline und der namenlose Gott…“, wisperte Glinda fassungslos neben ihr. Als Nächstes tunkte Elphaba ihre ganze Hand ins Wasser. Jedoch nur kurz und wartete gespannt ab. „Nichts… Nicht mal ein leichtes Brennen…“, murmelte sie versunken und tauchte erneut die Hand ins Wasser. Langsam bewegte sie ihre Hand im Wasser hin und her und zog immer größere Bahnen. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie den Widerstand des Wassers fühlte und war fasziniert. Dann zog sie ihre Hand aus dem Wasser und schüttelte die Tropfen ab. „Das war unglaublich.“ „Nein“, wandte Glinda ein, „Das IST unglaublich.“ Behutsam lehnte die Hexe sich nach hinten und zog die langen, dünnen Beine unter ihrem Körper hervor. Erst tauchte sie ihre Fußspitzen, dann ihren Fuß und dann ihre Beine bis hin zu den Knien ins Wasser ein. Dabei gab sie Geräusche von sich, bei denen Glinda sich nicht sicher war, ob sie positiven oder negativen Ursprungs waren. Aber da Elphie anscheinend keine Schmerzen hatte, nahm sie Ersteres an. Also setzte sie sich genau wie die Hexe ans Ufer und ließ ihre Beine ins Wasser gleiten. „Das fühlt sich so unglaublich toll an, Glinda….“, raunte sie. Glinda schwieg. Sie wollte unbedingt wissen, ob es stimmte, was Elphaba eben erst behauptet hatte. Ramón konnte doch unmöglich ihr Halbbruder sein! Doch die Zauberin riss sich weiterhin zusammen. Sie wusste, dass Elphaba erst eines nach dem anderen verarbeiten musste. So saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander, während Elphaba mit dem neusten Element in ihrem Leben herumexperimentierte. Sie klatschte mit ihren Fingerspitzen auf der Wasseroberfläche herum, wackelte mit ihren Zehen unter Wasser und ließ Wassertropfen von ihren Fingerspitzen auf Nase, Mund und Augen fallen. Elphaba war dankbar für Glindas Schweigen. Sie wusste genau, der Freundin musste diese eine Frage auf der Zunge brennen. Nach einem tiefen Seufzer begann sie, leise zu sprechen: „Nachdem Akaber all diese Sachen eben gesagt hatte, begann sie, Dinge aus ihrer Vergangenheit zu reflektieren. Ganz nach dem Motto: „Was wäre, wenn du ihre Pläne nicht durchkreuzt hättest?“ Sie schluchzte und weinte und ich konnte kaum irgendetwas verstehen. Ich hörte, dass es um Liebe ging. Um die Liebe ihres Lebens – der Zauberer von Oz - und das du es wohl alles zerstört hättest. Und dann sagte sie so etwas in der Art wie: ‚Und wenn du nicht gewesen wärst, dann hätte ich ihm gesagt, dass Ramón sein Sohn ist!’ … Das fiel mir aber auch erst eben wieder ein und darum kann ich nun mit Sicherheit sagen, dass ich WEIß, dass Ramón der Sohn von Akaber ist… und eben vom Zauberer. Und wenn es stimmt, dass der Zauberer auch MEIN Vater ist, dann…“ Plötzlich versagte ihre Stimme und sie konnte nicht mehr weiter sprechen. Glinda führte ihren Satz nickend zu Ende: „… dann ist Ramón dein Halbbruder, weil ihr den gleichen Vater habt.“ „Was für eine grauenhafte Vorstellung…“, murmelte die Hexe. „Wenn ich fragen würde, ob es stimmt, dass Ramón etwas mit der ganzen Sache hier zu tun hat, würdest du die Frage dann mit ‚Ja’ beantworten?“, Glinda sah Elphie fragend an. „Ja, aber Glinda, bitte, ich kann jetzt nicht noch…“ „Schon gut, schon gut! Ich frage ja nicht!“, grinste die blonde Schönheit nun und versuchte, vom diesem bedrückenden Thema ab zukommen. Sie konnte warten nicht leiden, aber wenn das hieß, Elphaba würde dies alles dann besser verarbeiten, so würde sie sogar sehr gerne noch etwas warten. Seufzend ließ sich Ramón wieder in seinen schwarzen Ledersessel fallen und starrte auf die drei Akten am Rande seines Schreibtisches. ‚Wer nur zuschaut, verrichtet keine Arbeit…’, erinnerte er sich an den Lieblingssatz seiner Lehrerin und langte hinüber zu dem Stapel. Ramón blätterte jede Akte kurz durch, um die Ankunftszeiten zu vergleichen. Da jede der Frauen aus einem ganz anderen Teil des Landes kam, war es unmöglich, dass sie alle zur selben Zeit eintrafen. Adlerauge sollte schon in zwei Stunden ankommen, Penelope eine Stunde später und Stella erst kurz vor Mitternacht. Bei dem Gedanken, Stellaione Arlet zu erklären, dass sie dann in weniger als sieben Stunden wieder aufstehen musste, wurde es dem blonden Mann schon ganz anders. Mit einem erneuten Seufzer nahm er sich Adlerauges Akte vor, in der Hoffnung, dass eine Frau aus Quadlingen keine großen Ansprüche an einen Drei-Tages-Aufenthalt hegte. Adlerauges Mappe war die dünnste von allen. Er schlug sie auf und überflog nur kurz ihren Lebenslauf, welcher in jeder Mappe obenauf lag. „Oh, Shizzer Akademie, 7 bis 10 nach Oz!“, las er erstaunt. Ramón fand diesen Zufall beinahe schon etwas lustig und schmunzelte, als er auf die zweite Seite blätterte, welche die Überschrift ‚Generelle Abneigungen’ trug. Verdutzt zog Ramón seine blonden Augenbrauen in die Höhe, als er las: ‚Katzen oder KATZEN’. Es war das einzige, was auf dieser Seite stand und unten befand sich noch eine kleine Anmerkung: ‚Es dürfen sich weder Katzen, noch KATZEN in Meisterin Adlerauges Nähe befinden!’ Genervt blätterte er weiter und war froh, als Seite drei – Allergien – unbeschriftet war. Das nächste Blatt befasste sich mit der Raumgestaltung und hier waren ausdrückliche Forderungen festgehalten worden: ‚Meisterin Adlerauge wünscht den größten Raum, den Sie haben; Meisterin Adlerauge will keinen Teppichboden – Fliesen wären praktisch, Holzboden ist auch akzeptabel; Meisterin Adlerauge verlangt mindestens ein großes Fenster; Meisterin Adlerauge wäre von einem großen Gewölbe sehr angetan – Ende’ Kopfschüttelnd blätterte er weiter und war erleichtert, dass noch jede Forderung erfüllbar war. ‚Luxuriös ist das wohl kaum…’, dachte Ramón verwundert, ‚…aber so ganz klar im Kopf ist sie bestimmt nicht!’ Irgendwie war er auf diese Person schon sehr gespannt und diese Spannung steigerte sich mit der nächsten Seite, denn Seite fünf hielt die Essenwünsche fest: ‚Körner, Kerne, getrocknete Früchte und Mäuse’ „Mäuse?“, rief Ramón angeekelt aus. „Das ist ja ekelhaft!“ Er nahm sich vor, mit dieser Frau nicht zu flüstern und erst gar nicht in die Nähe ihres Atmens zu gelangen. Auch auf der letzten Seite, die sich mit den generellen Forderungen beschäftigte, stand nicht viel. Der blonde Mann wusste nicht so recht, was er davon halten sollte, das Adlerauge jeden Morgen, Mittag und Abend eine Bodenreinigung verlangte. Und warum sie es ablehnte, wenn die Dienerschaft helle Farben trug, war ihm auch ein Rätsel. ‚Vielleicht hat sie einen Sauberkeitsfimmel oder so was…’, grübelte er, als er nach Peer rief. Dieser erschien sofort in der Tür: „Monsieur, Sie haben gerufen?“ „Allerdings. Hiermit teile ich dir Adlerauge zu. Sie wird als erste hier eintreffen und du wirst ihr ab diesem Zeitpunkt als persönlicher Assistent dienen. Hör genau zu und befolge die Anweisungen ohne Fragen.“ Peer nickte erleichtert. Fokko, Jytte und er hatten darum gebetet, nicht Stellaione als persönlicher Assistent oder persönliche Assistentin dienen zu müssen und er war jetzt aus dem Schneider. „Jawohl, Monsieur!“, nickte der dunkelhaarige, junge Diener. Ramón begann ohne Umschweife: „Zu allererst wirst du den großen Schlafsaal im Nordflügel vorbereiten. Nur eines der 23 Betten soll sich noch dort befinden, wenn sie ankommt. Überprüfe dann den kompletten Flügel auf Katzen oder ähnliche Tiere. Generell auf Tiere, außer Mäuse. Die lässt du leben. Danach gibst du dem Koch ihre Essenswünsche weiter, welche ich dir hier per Hand notiert habe.“ Ramón reichte ihm die Liste und Peer unterdrückte jegliche Mimik, als er das Wort ‚Mäuse’ las. „Während dieser Tage wirst du nur schwarze oder dunkelblaue Hemden tragen. Oh, das hätte ich ja bald vergessen…“, bemerkte der blonde Mann, als er abermals die Akte überflog. „Das Gewölbe soll staubkörnchenfrei sein. Und lass Dorle wissen, sie soll drei Mal am Tag den Saal wischen.“ „Das Gewölbe? Wie soll ich da hoch…“ „Es ist mir egal, wie du das anstellst. Nun geh, du hast zwei Stunden.“ Nickend verließ Peer den Raum und war sich nicht mehr sicher, ob Stellaione diejenige mit den meisten oder merkwürdigsten Ansprüchen war. Fokko und Jytte warteten um die Ecke und er ging mit einem Schulterzucken und einem gemurmelten: „Adlerauge…“ an ihnen vorbei. Nach ein paar Minuten wurde Fokko in das Büro gerufen: „Fokko, ich teile dir hiermit Penelope zu. Richte ihr den hellen Raum im Westflügel her. Sollten keine farbigen Gardinen dort vorhanden sein, tausche sie aus. Teile dem Koch mit, dass sie gegen Nüsse aller Art allergisch ist. Als letzten Punkt wünsche ich, dass du ihr jeden Morgen ein Gänseblümchen ans Bett stellst – MIT Wurzel. Das ist von größter Wichtigkeit. MIT Wurzel!“ „Das ist alles?“, fragte der rothaarige Mann verblüfft. Er war mit seiner Stupsnase und den Sommersprossen kein hübscher Anblick. Ein triftiger Grund, warum Ramón ihn für das Fräulein Griek ausgewählt hatte. „Ja, mach dich an die Arbeit. Du hast knappe drei Stunden, bis du sie in Empfang nehmen wirst.“ Fokko nickte glücklich. Er hatte ein gutes Los gezogen, was aber nun für seine Kollegin Schlechtes verheißen ließ. Er machte kehrt und teilte der lustlosen Jytte seine Zuweisung mit. „Grandios..“, murmelte Jytte sarkastisch, als Fokko sich auf den Weg an die Arbeit machte. Ramón saß in seinem Ledersessel versunken und blätterte immer wieder durch Penelopes Akte. Es stand natürlich nichts von einem Gänseblümchen darin. Er blieb an dem Foto ihres Lebenslaufs hängen und fuhr immer wieder mit dem Zeigefinger darüber, als die Erinnerungen in ihm aufsteigen: Es war ein verschneiter Tag gewesen. Seine Mutter musste sich elend gefühlt haben… Dennoch war er wie geplant mit dem Zug nach Hinter-Appelstett gefahren, um seine Schwester zu besuchen. Durch die großen Schneemassen war er den ganzen Tag unterwegs gewesen. Ansonsten dauerte die Fahrt nur fünf Stunden. Am Abend war er entnervt und erschöpft angekommen, sodass seine Schwester um einen Raum für die Nacht angefragt und auch bewilligt bekommen hatte. Sie hatte ihm jedes Mal ihr Leid geklagt, wie schwer es für sie war, so weit von ihrer Mutter getrennt zu sein. Das Leben hier, er hörte ihre Worte noch immer, sei so trist und langweilig. Militärische Erziehung und alles was dazu gehörte, um jugendlichen Willen zu brechen. Ramón war immer der Ansicht gewesen, seine Schwester würde endlich das bekommen, was sie verdiente. Denn sie und seine Mutter hatten von klein auf an ihm herumgenörgelt. Auch, wenn er älter war als Aylin, hatte seine Mutter ihr direkt deutlich gemacht, sie sei stärker, weil sie eine Frau wäre. Vom Bahnhof aus hatte er sich den Weg alleine suchen müssen, denn es war viel zu spät gewesen, sodass keines der Mädchen und keiner der Jungen aus der Anstalt mehr Ausgang hatten. Und in diesem kleinen Kaff fuhren auch nach 18 Uhr keine Kutschen mehr. Als er zwei Stunden später immer noch nicht angekommen war, akzeptierte er den Fakt, dass er sich verlaufen hatte. Dann hatte er sich unter dem nächst besten Baum niedergelassen, denn es war die einzige Stelle weit und breit gewesen, die nicht von Schnee bedeckt war. Da er nicht hatte schlafen können, hatte er das kleine Gänseblümchen gepflückt, was dort einsam und verlassen beinahe mit dem Weiß des Schnees verschmolzen wäre. Müde hatte er es immer wieder in seiner Hand gedreht, bis ihn eine Stimme aus seiner Starre geholt hatte: „Gänseblümchen bedeuten: kindliche Unschuld. Du hast sie getötet.“ Verwirrt hatte er sich nach der Person umgeschaut, von der diese tiefe, aber dennoch weibliche Stimme kommen musste. In der Dunkelheit konnte er nichts sehen. „Hallo?“ „Würdest du auch einem Kind die Seele rausreißen?“ „Wer bist du… WO bist du?“ Dem jungen Mann war ein eiskalter Schauer über den Rücken gelaufen. „HIER!“, hatte die Stimme direkt an seinem Ohr geflüstert und zwei starke Hände hatten kurz seine Schulter ruckartig berührt. Wie ein kleines Kind war er damals zusammengefahren und hatte aufgeschrien. Die Blume war aus seinen Händen gefallen. Aus Reflex hatte er fliehen wollen, doch die Hände ergriffen seine Beine und hielten sie fest. „Ich bin die Gottlose. Ich bin die Rächerin. Ich bin die Irrationale. Ich bin die Eindeutige. Ich bin deine Königin, oder auch deine Katastrophe. Das kannst du dir aussuchen.“, hatte die Stimme gesagt. „Lass mich los!“ „Entscheide dich: Königin oder Katastrophe!“ „WAS?“ „Zwei Mal ‚K’ akzeptiere ich nicht. Es passt nicht. Es sieht komisch aus.“ „Du bist irre. Lass mich los!“ „Katastrophe also?“ Bei den Worten wurde der Griff um seine Beine fester. „Nein! Nein! Bitte lass mich los.“ „Meine Königin!“ „WAS?“ „Bitte lasst mich los, meine Königin!“, äffte die Stimme ihm nach. Aus lauter Angst rezitierte er: „Bitte lasst mich los, meine Königin!“ „Wie ihr wünscht, mein König.“ Schnell hatte er seine Beine angezogen und sie schützend vor seinen Körper gestellt. Er hatte in die Richtung der Stimme gestarrt und sah nun dunkle Umrisse, die durch seine Angsttränen verschwammen. „Ich hatte dich nicht für so einen Feigling gehalten, Ramón.“ „Woher kennst du meinen Namen? Wer zum…“ „Woher! Woher! Ich weiß, wer du bist!“, hatte die Stimme dazwischen geplappert. „Du bist der Angesehene. Mein König. Der Angepasste. Der Bodenständige. Der Egoist. Der Rächer.“ „Was redest du da? Was für ein Rächer?“ Damals hatte er es mit der Angst zu tun bekommen. „Der Rächer deiner Kindheit.“ „WAS?“ „Warum rupfst du sonst einfach Gänseblümchen aus der Erde?“ „Oh Oz! Du ist irre. Bleib mir bloß vom Leib.“ „Bei der Schwester will ich deine Kindheit nicht gehabt haben.“ „Woher weißt du…“ „Aylin? Nicht wahr? Sie nervt mich ganz schön. Eine kleine Bestie.“ „Du kennst Aylin?“ „Ich muss mir mit ihr ein Zimmer teilen!“ „WAS?“ „Oh, habe ich mich etwa noch gar nicht vorgestellt? Ich heiße Penelope!“, hatte die Stimme mit honigsüßem Klang gesagt und ein Lächeln war eindeutig vernehmbar gewesen. „Kein Wunder, dass es ihr dort nicht gefällt!“ Ramóns Angst hatte sich in Wut gewandelt. „Olala, sei nicht so gemein zu mir!“ „Ich gemein zu dir? Sag mal, was erlaubst du dir eigentlich?“ „Das ist also der Dank dafür, dass ich dich abholen wollte. Ich glaube, das überlege ich mir noch mal.“ „Bevor ich mit dir irgendwohin gehe, lässt Lurline mich tot umfallen.“ „Keine Gottesnamen!“ „WAS?“ „Du befindest dich in der Anwesenheit der Gottlosen!“ „Oder der total Übergeschnappten!“ Da hatte die Stimme herzlich gelacht. „Du gefällst mir!“ „Du mir nicht!“, hatte Ramón geantwortet und sich sehnlichst gewünscht, er wäre woanders. „Verzeiht mir, mein König, wenn Euch meine Begrüßung missfallen hat. Ich nahm an, etwas Aufregung in Eurem Leben würde Euch für die Zukunft stärken.“ Die Wolken waren in diesem Moment vom Mond gewichen und das silberne Licht wurde von langen, dunklen Haaren reflektiert. Verblüfft sah er in ebenso dunkle Augen, die ihn anlächelten, genauso wie die Zähne, die so weiß wie der Schnee gewesen waren. „Hallo!“, hatte Penelope gezwinkert, als Ramón sie so angestarrt hatte. „Ich wusste gar nicht, dass du so gut aussiehst. Deine Schwester redet ja nicht gerade freundlich von dir.“ Dann hatte sie nichts mehr gesagt und auf eine Reaktion von ihm gewartet. „Wie bist du da eigentlich raus gekommen?“, war seine Frage nach einer kurzen Stille gewesen. Er hatte eingesehen, dass er die Frau ihm gegenüber so schnell nicht wieder loswerden würde und wollte versuchen, normal mit ihr zu sprechen. „Es gibt etwas, das nennt man Türen. Diese Erfindung ist ganz neu und beliebt hier in Hinter-Appelstett.“, hatte Penelope äußerst sarkastisch geäußert. „Oz! Ich gebe es auf!“ Ramón wollte sich erheben, doch Penelope zog ihn zurück. „Schon gut, schon gut. Ich bin ein ganz abnormales Mädchen. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“ „Abnormal und keine Angst ist ein Widerspruch in sich!“, hatte Ramón gemurrt. „Nein. Ist es nicht! Stell dir doch mal vor, alle Menschen würden nach der gesellschaftlichen Definition von ‚Normal’ leben. Was wäre das für eine Welt?“ Erstaunt hatte er sie angesehen und festgestellt, dass sie recht hatte. „So habe ich das noch nie gesehen!“ Sie hatte es ihm angetan… „Darum bin ich hier. Du hast nur eine Sichtweise in deinem Leben. Ich zeige dir eine andere!“ „Wovon redest du?“ „Ramón, du hattest dein Leben lang nur weibliche Bezugspersonen. Deine Mutter ist die Autorität in Person und landesweit gefürchtet, sowie respektiert. Niemand darf ihre Anforderungen, Gedanken, Vorstellungen infrage stellen. Du warst ihr erstes Kind, ein Junge und das, nachdem dein Vater sie verlassen hat. Die Verarbeitung dieses Verlustes hat sie an dir ausgelassen. An dir als Baby, an dir als kleiner Junge. Sie hat dich seelisch missbraucht. Als deine Schwester auf die Welt kam, wuchs sie in dieses Szenario hinein und es ist stabil bis heute. Du hast keinen Respekt vor Frauen, weil sie in deinen Augen keinen Wert haben. Warum auch? Schließlich haben sie nie etwas Wertvolles für dich getan. Du hasst autoritäre und mächtige Frauen, weil sie dir das Gefühl geben, klein, unscheinbar und machtlos zu sein.“ Während ihrer Worte war seine Stimmung ein Gemisch aus Wut, Trauer, Resignation und Frustration gewesen. „Woher willst du das wissen?“, war das einzige gewesen, was er hatte rausbringen können. „Du fragst zu viel!“ „DU sagst zu viel! Besitzt du überhaupt ein Distanzgefühl? Dass du dir…“ „Nein, besitze ich nicht. Was meinst du, warum ich in dieser Anstalt stecke?“ „ICH WAR NOCH NICHT FERTIG!“, hatte er geschrien und ihm war der Kragen geplatzt. „Dass du dir einfach so etwas raus nimmst! Du kennst mich nicht und analysierst meine Kindheit, nachdem du mich zu Tode erschreckt hast!“ Seine Worte waren laut gewesen, doch Penelope hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Als er keuchend vor ihr gesessen hatte, fragte sie: „Bist du fertig?“ „NEIN! Woher willst du so was wissen? „Du hast das Gänseblümchen in einem Winkel von 63,8° ausgerupft und es ganze 103 Mal durch deine Hand gedreht. Dabei hast du es nicht angesehen und es fallen gelassen, als ich dich erschrocken habe!“ „Das ist doch nicht dein Ernst!“ „Nein!“, hatte sie gelacht. „Aber erstens erzählt Aylin mir so einiges ohne es zu merken und zweitens liege ich drei Stunden am Tag im Luftschacht, der an den Psychotherapieraum grenzt!“ Für einen kurzen Moment hatte er ihr wirklich abgenommen, dass sie ein mathematisch-psychologisches Genie war. Aus unerfindlichen Gründen hatte auch er dann lachen müssen: „Du bist wirklich anders!“ „Endlich siehst du das ein!“ Auf ihren Zügen hatte ein freundliches Lächeln gewesen. „Gehst du nun mit?“ Dann war sie aufgestanden und hatte ihm eine Hand dargeboten. Kopfnickend hatte er dann ihre Hand in seine genommen und er hatte festgestellt, dass er durchgefroren war. „Willst du das Blümchen mitnehmen?“, hatte er gefragt. „Nein, solche Blumen sind nur schöne Leichen. Ich stelle mir keine seelenlosen Kinder in eine Vase!“ Den Rest des Weges hatten sie geschwiegen und er hatte über ihre Worte nachgedacht. Verträumt saß Ramón noch immer über das Bild gebeugt, als ihn plötzlich etwas in die Realität zurückrief. „Penelope G.R.I.E.K. ...“, murmelte er verwundert und fragte sich, warum ihr Nachname in dieser Art geschrieben worden war. „Ich bin die Gottlose. Ich bin die Rächerin. Ich bin die Irrationale. Ich bin die Eindeutige. Ich bin deine Königin, oder auch deine Katastrophe. Das kannst du dir aussuchen.“, hallte es in seinem Kopf wider und erst jetzt verstand Ramón, was ihr Nachname für eine Bedeutung hatte. Er versuchte sich auch, an ihre Worte über seine Person zu erinnern. „Der Angesehene, der König, der Angepasste. Der Bodenständige. Der Egoist. Der Rächer.“, wiederholte er im Flüsterton und fügte abermals die Anfangsbuchstaben zusammen: „Akaber!“, hauchte er erstaunt. Diese Frau hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert und die Male, die sie sich danach noch gesehen haben, konnte er an einer Hand abzählen. Nach nun mehr als sechs Jahren würde er seine Jugendliebe endlich wieder treffen. Doch plötzlich fiel im noch etwas ins Auge und er schrie auf: „Shizzer Akademie, 9 bis 11 nach Oz – Abbruch im dritten Jahr!“ Furios griff er nach der dicksten Akte – die Akte von Stellaione Alert und blätterte die erste Seite auf. Stöhnend fasste er sich an den Kopf und las: „Shizzer Akademie, 10 bis 13 nach Oz! Das darf ja nicht wahr sein!“ In seinen Gedanken hatte er kombiniert, dass sich alle drei Frauen aus ihren Studienzeiten kennen mussten. Räuspernd stand Jytte in der Tür und der blonde Mann sah wütend auf. „Was ist!?“, fuhr er sie an. „Entschuldigen Sie vielmals, Monsieur Akaber, aber ich habe nun schon eine knappe Stunde gewartet. Ich habe Angst, nicht mit den Vorbereitungen für Miss Arlet fertig zu werden.“ „Wissen Sie was?“, maulte Ramón und erhob sich von seinem Schreibtischstuhl. Die Akte hielt er noch immer in seiner Hand und kam auf Jytte zu. „Lesen Sie den Kram hier selber! Ich habe Wichtigeres zu tun!“ „Was?“, rief Jytte erschrocken aus. „Bereiten Sie alles vor und wehe, Stella beschwert sich!“ Mit diesen Worten war er auch schon zur Tür heraus und Jytte konnte ihn schimpfen hören. Als Londaro ihn einige Stunden später suchte, fand er seinen Freund in der Bibliothek. Er saß dort mitten in einem großen Haufen von Büchern und schien sehr konzentriert. „Was liest du da?“, fragte Londaro vorsichtig. „Jahresbücher.“ „Von was?“ „Shiz.“ Ramón schien in diese Bücher versunken zu sein. „Ramón?“ Der blonde Mann fuhr mit einem Buch in der Hand herum: „WAS?“ und Londaro konnte den Titel entziffern: ‚Shiz, Jahresabschlussbuch, 9 nach Oz’. „Du hast Adlerauge verpasst. Aber Penelope ist gerade angekommen und ich…“ Mit einem Sprung stand Ramón auf den Beinen und lief zur Tür hinaus. „… nahm an, dass du sie nicht verpassen willst…“, murmelte Londaro verwirrt in den leeren Raum hinein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)