Bring mir dein Lachen bei von Stiffy ================================================================================ Kapitel 1: Ouvertüre -------------------- ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Genre: Shounen Ai / Yaoi Fandome: Original / Eigene Serie Kapitel: 1-15, Epilog Disclaimer: Die Charaktere und alles Sonstige gehört mir ^^ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Entstehung: Meistens habe ich bei meinen Geschichten vorher einen Plan, wie sie ablaufen soll. Dies war hier nicht wirklich der Fall. Die einzige Idee, die ich zu Beginn hatte, war die allererste Szene dieser Geschichte. Ich wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, was ich daraus machen sollte. Doch kaum hatte ich angefangen zu schreiben, konnte ich auch schon nicht mehr damit aufhören und die Ideen flossen nur so aus meinen Fingern heraus *drop* Interessanterweise verwarf ich den Plan, der sich mit der Zeit in meinem Kopf bildete, bei Kapitel 3 wieder vollkommen. Fast alles, was ich zu dem Zeitpunkt vorhatte, erschien mir plötzlich zu ausgelutscht und unpassend. Daher habe ich mir eine Grundhandlung ausgedacht, die ohnehin viel besser zu dem passte, was ich bereits geschrieben hatte. Letztendlich blieb es nicht mal bei dieser zweite Grundidee. Der Verlauf, die geplanten Szenen haben sich immer wieder geändert, vertauscht oder sind komplett weggefallen. Der eigentliche Höhepunkt der Geschichte passte nicht mehr, weshalb ein neuer her musste, und Szenen kamen dazu, die zu Anfang nicht mal angedacht waren... Titel: Der Titel ist für mich etwas sehr schwieriges, während ich mich mit den Kapiteltiteln eher leichter tue. In diesem Fall war das genau andersherum. Zwar ist „Bring mir dein Lachen bei“ nicht meine erste Titelidee gewesen, aber ich habe auch nicht besonders lange nachdenken müssen, bis mir dieser, meiner Meinung nach perfekt passende Titel eingefallen ist... Bei den Kapiteltiteln war das viel schwieriger. Vorweg muss ich dazu sage, dass ich nicht gerne einem Kapitel einfach einen passenden Titel gebe, sondern bei meinen mehrteiligen Geschichten meist sehr darauf achte, dass alle Titel zusammenpassen, sei es durch Stil, durch der Sprache oder irgendeine andere (für mich) erkennbare „Ordnung“. Bei dieser Geschichte nun habe ich mich letztendlich für Begriffe aus dem Musicalbereich entschieden. Wieso Musical? Das werdet ihr später erfahren ^__~ Kommentar: Ich hoffe natürlich sehr, dass euch diese Geschichte gefallen wird, dass ich es geschafft habe, die Szenen glaubwürdig zu beschrieben, und dass ihr versteht, was in Nathanael vorgeht. Ich hoffe, dass ihr ihn und meine anderen Charaktere liebgewinnt… und vor allem hoffe ich, dass ihr Spaß beim Lesen habt! ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ BRING MIR DEIN LACHEN BEI Akt 1 ~ Ouvertüre ~ „Mutter... ich bin schwul.“ Wie oft schon habe ich diese Worte gedacht? Wie oft schon wollte ich sie einfach sagen? Wie oft schon wollte ich ihre Reaktion kennen? Unzählige Male. Und wie oft habe ich es gesagt? Ein Mal. Um genau zu sein: Heute... jetzt... in diesem Augenblick. Eigentlich müsste ich jetzt wohl das Gefühl haben, im Boden zu versinken oder aus dem Raum rennen zu wollen… doch nichts dergleichen geht in mir vor. Letztendlich wende ich nicht einmal den Blick ab. Das Gesicht mir gegenüber ist etwas bleicher geworden als es ohnehin schon ist. Jegliches Restblut scheint aus den Wangen gewichen zu sein und mit dem dunklen Lippenstift wirkt sie nun wie eine Puppe. Wie passend!, fährt es mir unpassender Weise durch den Kopf. Die schmale Hand legt nun endlich Blatt und Stift zur Seite. Sie verschränkt die Finger ineinander, knetet sie... während sie mich noch immer so anstarrt. So... wie? Ich habe keine Ahnung... aber wenn ich raten müsste, wäre entweder gleichgültig oder wütend das passendere Wort. Und dass wütend nicht auf diese Person passt, weiß ich nur zu gut… „Was bezweckst du damit, mir dies zu sagen?“, kommt es schließlich mit fast diplomatischer Stimme. Ist nun der Zeitpunkt zum Verhandeln gekommen? Wäre es nicht so ernst, könnte ich fast darüber lachen. „Ich wollte es nur endlich loswerden...“ Wieso zittert meine Stimme? Ein leichtes Nicken. „Das hast du hiermit getan. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest? Das hier kann nicht warten.“ Mit spitzen, verkrampften Fingern deutet sie auf den Schreibtisch und wendet dennoch ihre Augen nicht von mir ab. „Ist das dein Ernst?“, entweicht es mir ruhig. „Ja, das ist es. Oder erwartest du allen Ernstes, dass ich mich weiter mit dieser Perversität befasse? Tut mir leid, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.“ Sie greift nach dem Stift, den sie nur so wenige Sekunden zuvor fallengelassen hat. „Also...?“ Sprachlos stehe ich da... irgendetwas erwartend, wenn ich auch nicht weiß, was es eigentlich ist… und irgendwie muss ich daran denken, wie ich als kleiner, neunjähriger Junge damals hier stand, als ich diese sündhaft teure Büste beim Spielen kaputtgemacht hatte. Damals stand ich ebenso nichts wissend hier, keine Ahnung, was kommen würde, nicht wissend, wie schwer die Strafe sein würde. Meine Mutter war damals so starr wie heute, sagte nur das Nötigste dazu... und sprach danach nie wieder auch nur ein Wort darüber. Dafür wurde der Platz, an dem die Büste gestanden hatte, mit einem anderen Kunstwerk geschmückt. Heute noch gefällt es mir nicht... und ich bereue, als Kind so unachtsam gewesen zu sein. Die Büste war das letzte Stück meines Großvaters gewesen. Im Endeffekt war ich als einziger traurig über den Verlust. Dass sie mich natürlich nicht so leicht ersetzen können wie diese Büste ist mir klar, aber die Situation ist der von damals ähnlich... nur dass ich nicht kurz davor bin, in Tränen auszubrechen. Immerhin weiß ich ja, wie auf derartige Situationen reagiert wird. Habe ich tatsächlich heute mit etwas anderem gerechnet? „Ich-“ „Du bist ja immer noch da!“ Über den Brillenrand hinweg werde ich finster angesehen. Mittlerweile ist die Farbe in die Wangen zurückgekehrt. „Worauf wartest du noch?“ „Ich weiß nicht. Ich-“ „Dann kann ich dir auch nicht helfen. Also geh jetzt endlich. Um Neun gibt es Abendessen, bis dahin will ich dich nicht mehr sehen!“ Ich spüre wie meine Schultern an Spannung verlieren und hinuntersacken. Ich kann nichts anderes tun als zu nicken, mich umzudrehen und zu gehen. Ich laufe den langen Flur nur sehr langsam entlang, nachdem ich die schwere Eichentür hinter mir geschlossen habe. Irgendwie habe ich das Gefühl, nicht wirklich hier zu sein. Ich wusste, dass sie ausdruckslos ist, dass sie nur das Nötigste spricht und sich ungern mit Dingen beschäftigt, die nicht mit ihrer Arbeit zu tun haben... aber dass sie selbst in diesem Moment so emotionslos reagiert, dass hätte ich nicht gedacht… Obwohl, hätte ich das wirklich nicht? Habe ich etwa gehofft, dass sie endlich einmal ausflippt? Wenigstens dieses eine Mal? Was ein Quatsch. Während meine Füße mich zum Wintergarten tragen, muss ich aus irgendeinem Grund daran denken, wie ich in meiner Kindheit bei Steffen zuhause war. Es war das erste Mal in meinem jungen Leben gewesen, dass ich einen Streit erlebte. Steffen stritt sich lautstark mit seiner Mutter und ich war zutiefst eingeschüchtert, kauerte mich am Fußboden zusammen und dachte, die Welt würde untergehen. Ich hatte noch nie jemanden schreien hören, außer manchmal meine Mutter, wenn sie den Telefonhörer hielt – ich dachte aber eigentlich immer, dass die Leute, mit denen sie sprach, einfach nur schwerhörig wären. Nun, mit acht Jahren begriff ich, dass dies ein Streit war... und so sehr es mich im ersten Moment erschreckte, so sehr wünschte ich mir nur einige Minuten später, auch einen erleben zu können. Dann nämlich, als Steffen von seiner Mutter in die Arme geschlossen wurde und sie ihn tröstete, als sie ihn liebevoll aufs Haar küsste und ich noch etwas zum ersten Mal sah: elterliche Liebe. Hatte ich vielleicht daher ein dreiviertel Jahr später die Büste zerstört? Nachdenklich wiege ich mich im Schaukelstuhl hin und her. Was habe ich erwartet, als ich heute her kam? Dass alles mal anders läuft als normal? War ich wirklich so blauäugig? Ich weiß doch, dass in meiner Familie noch nie über Probleme gesprochen wurde, dass ich allem immer alleine gelassen wurde, dass sich bei Erfolgen nie jemand für mich freute, dass ich einfach in einer Familie lebe, die als Zweckgemeinschaft fungiert. Sogar das Verhältnis zu meinen Geschwistern ist doch nur ein solches. Ein emotionsloses Lachen entfährt mir. Eigentlich geschieht es Ihnen ganz recht, dass ich schwul bin, pervers, wie sie vorhin so schön gesagt hat. Endlich ist da ein Fleck auf ihrer weißen Weste, der sich nicht davon wischen lässt. ~ * ~ „Unser Sohn hat mir heute gesagt, dass er homosexuell ist.“ Ich verschlucke mich an den Erbsen. Hustend fällt es schwer, sie nicht alle über den Tisch zu verteilen. Ich schlage mir auf die Brust, den Hustenreiz nur schwer unterdrückend, greife nach einem Glas und höre dann, wie ohne Beachtung meines Zustandes weitergesprochen wird. „Du meinst ihn?“ Ein Seitenblick auf mich. „Ja.“ Kühle Augen treffen mich, während ich den Wein hinuntergieße und würge, es irgendwie schaffe, endlich wieder richtig zu atmen. Schließlich schaffe ich es, den Blick, der auf mir liegt, zu erwidern. Irgendwann hebt sich eine Augenbraue. „Was gedenkst du nun zu tun?“ „Was ich tun will?“, wiederhole ich. „Wunderbar wie du hören kannst. Ja, das war meine Frage.“ Fast klingt es verachtend. Fast? „Ich weiß nicht...“, zögere ich. Was erwartet er von mir? Ich werfe meiner Mutter einen Blick zu. Sie aber isst nur still weiter, mit ausdruckslosem Gesicht. Ein tiefes Seufzen lässt mich wieder zurücksehen. „Gedenkst du eine Therapie zu machen?“, klingt es wenig genervt. „Ein Therapie?“, werde ich fast etwas laut, woraufhin sein Blick nur noch missgünstiger wird. „Dann schaffst du es also ohne Therapie, das loszuwerden?“ „DAS loswerden? Moment mal! Ich werde nicht-“ „Sohn!“, werde ich harsch unterbrochen. Finster sieht sie mich an. „Sag bloß, du willst nichts an deinem Zustand ändern?“ „An meinem Zustand?“, spucke ich das Wort heraus. Das kann doch nicht wahr sein! „Scheint mir nicht so.“ Ein Schulternzucken mir gegenüber. Er senkt den Blick wieder auf seinen Teller. „Gut, dass du Kenneth bist, sonst müsste ich mir jetzt einen anderen Nachfolger suchen...“, kommt es wie nebenbei, während ich ihn sprachlos anstarre. „Denkst du ans Enterben?“, klingt es diplomatisch von meiner Seite. „Ich werde darüber nachdenken, ja...“ „Mutter... Vater... das-“ „Wann geht dein Zug?“, werde ich unterbrochen. „Ich wollte erst morgen-“ „Ach, ruf dir einfach ein Taxi.“ Die Schwärze seiner Augen scheint mich erdrücken zu wollen, weshalb mir jegliche Antwort im Halse stecken bleibt. „Na los! Worauf wartest du noch?“ ~ * ~ „Sie haben einen ziemlich miesen Abend gehabt, was?“ „Hm?“ Ich wende den Blick von der vorbeiflitzenden Nacht ab zum Rückspiegel, von wo mich ein Augenpaar kurz ansieht, bevor es wieder nach vorne blickt. „Oh... naja... wie man’s nimmt...“ „Dann ist es für Sie üblich, um diese Uhrzeit mit schlechter Stimmung fast hundertfünfzig Kilometer mit dem Taxi zu fahren?“ Ich zucke mit den Schultern. „Sie haben wohl recht...“ „Wollen Sie darüber sprechen?“ Wieder werde ich durch den Rückspiegel angesehen. „Es würde Sie nur langweilen...“ „Langweiliger als eine dunkle Autobahn? Glaub ich kaum...“ Ein kurzes Lachen, das Schmunzeln der Augen. „Wissen Sie was? Ich fahre bei der nächsten Raststätte ab, hole uns nen Kaffee und dann erzählen Sie mir, was Ihnen den Abend versaut hat, in Ordnung?“ „Meinetwegen“, sage ich und starre wieder aus dem Fenster. Was soll ich ihm schon groß erzählen? Dass ich schwul bin und mein Vater mich deshalb enterbt? Nicht sonderlich spannend... vielleicht sollte ich das noch irgendwie aufpeppen... vielleicht durch den tragischen Schlaganfall, den er dadurch erlitten hat... oder durch einen behinderten Bruder, der nun die Firma übernehmen muss. Schwachsinn! Ich schüttle meinen Kopf und sehe mein schwaches Spiegelbild dasselbe tun. Tobias wird bestimmt nicht schlecht gucken, wenn ich heute schon wieder auftauche. Eigentlich habe ich gar keine Lust darauf, ihm irgendwas zu erklären… Seufzend schließe ich für einen Moment die Augen und versuche an nichts zu denken. Nicht so einfach, sehe ich doch die gesamte Zeit die kühlen Augen meines Vaters vor mir... Das Abbremsen des Autos lässt mich die Augen wieder öffnen. Ich blicke nach vorne, sehe den Taxifahrer an der Armatur etwas herumdrücken. „Lassen Sie’s ruhig laufen... das kann er ruhig auch noch bezahlen.“ Kurz zögert er, zuckt dann mit den Schultern. „Okay, wie Sie meinen. Ich bin gleich zurück!“ Damit steigt er aus. Ich folge ihm mit den Augen und frage mich einen Moment lang, ob ich dasselbe tun soll. Kühle Nachtluft schlägt mir entgegen, als ich aussteige, und obwohl es hier nach Abgasen stinkt, habe ich das Gefühl, zum ersten Mal seit Stunden richtig durchatmen zu können. Mit geschlossenen Augen lehne ich mich gegen das Taxi. Mein Kopf rauscht und ich will nicht mehr nachdenken müssen. Zu viel, viel zu viel... „Die Luft tut gut, nicht wahr?“ Erschrocken reiße ich die Augen auf. Ich hatte ihn gar nicht kommen hören. „Äh... ja...“ „Hier, für Sie.“ Er hält mir einen dampfenden Becher entgegen. „Danke...“, ergreife ich ihn. Dann wird es still. Ich sehe in den Becher und frage mich, was ich sagen soll. Stattdessen führe ich den Kaffee zum Mund. „Vorsicht!“ „Autsch!“ Brühend heiß fließt es mir über die Finger. Erschrocken lasse ich den Becher fallen, spüre die warmen Spritzer durch meine Hose. „Mist! Das tut mir leid! Ich wollte nicht-“ „Schon okay“, unterbreche ich ihn. „Es war nicht Ihre Schuld.“ Leicht ziehe ich an meinem Handgelenk, welches er noch immer festhält. Nun gibt er es frei. „Ich wollte nur... Sie hätten sich den Mund verbrannt, wenn ich nicht...“ „Es ist okay!“, wiederhole ich nachdrücklich. Und ich versuche ein Lächeln. „Ich...“ Er spricht nicht weiter und nickt. Seine Augen sehen mich verlegen an. „Wollen Sie Ihre Hand kühlen?“ „Es geht schon. Ich bräuchte nur ein Taschentuch.“ „Ah! Natürlich!“ Er kramt in seiner Tasche herum, hält mir ein Päckchen entgegen. „Danke.“ „Wollen Sie... Ich hole Ihnen noch einen Kaffee!“ „Nicht nötig“, halte ich ihn auf. „Können wir weiterfahren?“ „Oh! Klar!“ Sofort setzt er sich in Bewegung, murmelt irgendwas, das ich nicht verstehe, und deutet dann auf die Beifahrertür. „Wollen Sie vielleicht... Da ließe sich besser reden...“ Ich versuche ihm ein Lächeln zu schenken, um ihm endlich wieder die Spannung zu nehmen. „Gerne“, gehe ich um das Auto herum. Das Auto gestartet und kaum wieder auf der Autobahn zurück, scheint er so langsam seine Ruhe zurückzugewinnen. Nach ein paar Minuten stellt er das Radio leiser und dann spüre ich den Blick von der Seite... oder ich sehe ihn in der Fensterscheibe. Ich drehe ihm mein Gesicht zu. „Erzählen Sie mir jetzt, wieso Sie um diese Uhrzeit noch ein Taxi brauchten?“ „Wollen Sie das wirklich wissen oder sind Sie nur höflich?“ Ein ehrliches Schulternzucken. „Eigentlich letzteres... Obwohl es mich mittlerweile tatsächlich interessiert...“ Ich sehe ihn skeptisch von der Seite an und beschließe, ihm zu glauben. „Also...“ Ich lehne mich im Sitz zurück und sehe wieder geradeaus. „Ich habe heute meinen Eltern gesagt, dass ich schwul bin. Meine Mutter hat genau so reagiert, wie erwartet und mein Vater... naja, eigentlich hat er auch wie erwartet reagiert. Er wollte mir ne Therapie andrehen und da ich das nicht will, hat er gesagt, dass er mich enterbt. Im Haus haben wollte er mich dann heute Nacht auch nicht mehr, darum bin ich nun auf dem Heimweg. Das ist eigentlich schon alles.“ Stille. Zwei Minuten lang lasse ich sie vergehen, bevor ich ihn ansehe. Seine Lippen sind ein wenig geöffnet, die Augen ein wenig geweitet. Irgendwie sieht es dämlich aus. „Hab ich Sie schockiert?“ Ein zögerndes Nicken. „Wieso? Weil ich schwul bin?“ „Quatsch!“, kommt es sofort und er sieht mich an. Das Auto fährt einen komischen Schlenker, als er dabei das Lenkrad etwas verreißt. Sofort sieht er wieder nach vorne. „Das... es ist nur... wow... ich meine...“ „Ja?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen nach. „Wie... wie können Sie bloß so ruhig bleiben?“ „Was soll ich denn sonst tun?“, frage ich verwirrt. „Ausflippen? Ihrem Vater die Meinung sagen? Ihm sagen, dass er sich seine Therapie sonst wohin stecken kann? So was halt!“ Überrascht sehe ich ihn an. Darauf fällt mir keine Erwiderung ein. „Macht man das so?“, frage ich dann. Vollkommen verständnislos werde ich angesehen... so als wäre ich die Maus vom Mars. „Natürlich! Sagen Sie bloß, Sie haben es einfach so hingenommen?“ „Ich... ja...?!“ Ich zucke mit den Schultern. „Ich brauche sein Geld nicht, wieso sollte ich also-“ „Es geht doch nicht ums Geld! Ihr Vater kann Sie doch nicht einfach verstoßen! Was sagt denn Ihre Mutter dazu?“ „Nichts.“ „Nichts?“ „Nein. Ich glaub, ihr ist das ziemlich egal.“ „Das ist nicht Ihr ernst?!“ „Doch. Wieso?“ „Weil das....“ Er bricht ab und ich sehe ihn den Kopf schütteln. Er blickt mich an, dann wieder zur Straße, dann wieder mich. Noch ein Kopfschütteln. „Was ist?“ „Nichts... ich frag mich nur... wie es sein kann, dass es Sie tatsächlich nicht stört. Ich meine, Sie geben das nicht nur vor oder so... es ist Ihnen wirklich egal. Ich begreif das nicht.“ Ich schweige. Was soll ich auch sonst tun? Ihm sagen, dass mir diese Situation bekannt vorkommt? Tobias hat am Anfang, als er mich kennenlernte, auch mal zu mir gesagt, dass er nicht begreifen könne, wie ich in vielen Situationen so ruhig bleiben kann. Und ich begriff nicht, was er meinte. „Darf ich Sie was Persönliches fragen?“ Ich zucke die Schultern. „Ja.“ Ein merkliches Zögern seinerseits. „Haben Ihnen Ihre Eltern jemals gesagt, dass sie Sie lieb haben?“ „Nein“, antworte ich sofort. Leichte Frage, darüber brauch ich nicht mal nachdenken. „Wurden Sie in den Arm genommen? Haben Sie mit Ihnen gespielt, als Sie kleiner waren?“ „Nein... beides nicht.“ „Das... erklärt einiges“, klingt es fast schon etwas bedrückt. Stirnrunzelnd sehe ich ihn an. Er spürt meinen Blick, erwidert ihn, lächelt verkniffen. Wahrscheinlich bereut er mittlerweile, dies Gespräch mit mir begonnen zu haben. Seufzend lehne ich mich wieder gegen die Fensterscheibe, mich auf meiner Hand aufstützend. Ein Ziehen durchfährt meinen Körper und ich ziehe sie zurück. „Tut es sehr weh?“, kommt es erschrocken neben mir. Ich schüttle den Kopf, meine Hand auf mein Knie legend. „Es geht schon.“ „Wirklich?“ „Wirklich.“ „Okay.“ Wieder ist es einen Moment still. Ich starre hinaus auf die roten Lichter der Autos vor uns und frage mich, wie lange wir eigentlich schon gefahren sind. „Darf ich fragen... was Sie beruflich machen?“ „Ich?“, sehe ich ihn verwundert an. „Ich arbeite in einem Verlag... ziemlich trocken, aber was will man machen...“ „Das klingt nicht als hätten sie Spaß an Ihrem Job“, stellt er fest. „Spaß? Nein, nicht wirklich. Aber das ist ja nicht der Sinn der Sache...“ „Wie bitte?“, kommt es mit schockierter Stimme neben mir. „Hat Ihnen Ihr Vater das beigebracht?“ „Was?“ „Dass Arbeit nur Pflichterfüllung ist.“ „Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ja. Fahren Sie etwa fremde Leute in der Gegend herum, weil es Ihnen Spaß macht?“ Ein Lachen neben mir. „Erwischt. Aber das ist nur ein Nebenjob. Eigentlich studiere ich.“ „Ehrlich?“ Verwundert sehe nun ich ihn an. Irgendwie hätte ich ihn gar nicht so eingeschätzt... zumindest nicht, wenn ich mir darüber Gedanken gemacht hätte. „Ja, seit vier Semestern.“ „Und was?“ „Sportwissenschaften.“ Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. „So was gibt es? Und was lernt man da? Wie man das Runde ins Eckige bekommt?“ Wieder lacht er, schüttelt mit amüsierten Augen den Kopf. „Mein Fachgebiet ist Sportpsychologie und –pädagogik. Ich würde gerne später was mit Kindern machen... Wissen Sie, über Sport kann man Kindern aus schlechten Elternhäusern helfen, ihre Energie loszuwerden. So haben Sie in der Schule mehr Ruhe und können sich auf das Lernen konzentrieren. Außerdem ist es schön zu sehen, wie sie Spaß dabei haben und-“ Er bricht ab, wirft mir einen Blick zu. „Entschuldige, ich langweile Sie bestimmt.“ „Nein, ganz und gar nicht“, gebe ich zu. „Es ist definitiv spannender als eine dunkle Autobahn...“ Er grinst. „Damit sind wir dann also quitt?“ „Ja. Aber erzählen Sie ruhig weiter.“ Ein skeptischer Seitenblick trifft mich, bevor er mir im nächsten Moment die Hand vor die Nase hält. „Ich bin Marcel.“ „Nathanael“, ergreife ich die warme Hand. „Ungewöhnlicher Name.“ Ich zucke die Schultern. „Mein Großvater hieß so. Ich find den Namen etwas altmodisch, aber man gewöhnt sich daran...“ „Haben Sie wenigstens einen Spitznamen?“ „Ein paar Leute nennen mich Nathan oder Nate...“ „Das klingt schon besser.“ Er grinst. „Nichts für ungut, der Name ist schön, aber halt fremd...“ „Kein Problem.“ Wieder tritt Stille ein, doch er unterbricht sie relativ schnell wieder. „Also, fragen Sie! Was wollen Sie wissen?“ „Nichts Bestimmtes“, gebe ich zu. Ich lehne mich gegen die Tür, so dass ich ihn besser ansehen kann, ohne mir den Kopf zu verrenken. „Erzählen Sie einfach mal, wie Sie dazu gekommen sind...“ Wieso ich ihn das frage? Ich weiß es nicht. Eigentlich ist es nicht meine Art, mich für das Leben fremder Leute zu interessieren. Aber wahrscheinlich kommt es mir heute einfach gerade recht, um nicht über mein eigenes Leben nachdenken zu müssen. Das hätte eh keinen Sinn gehabt. Kaum hat Marcel angefangen zu erzählen, vergeht die restliche Fahrt wie im Fluge. Ich sage nur ab und zu ein paar Worte. Die meiste Zeit höre ich ihm einfach nur zu. „Hier war ich noch nie“, reißt er uns schließlich in die Gegenwart zurück. „Könnten Sie mir sagen, wo ich lang fahren muss?“ „Natürlich.“ Damit setze ich mich wieder richtig hin, überrascht, dass wir schon fast da sind. „An der nächsten Ampel erstmal rechts...“ Die letzten Minuten der Fahrt vergehen damit, dass ich ihn durch die dunklen Straßen leite. Gegen Ende entweicht mir ein Gähnen. Ich freue mich auf mein Bett. „Wohnen Sie alleine hier?“, fragt Marcel, als er das Taxi am Straßenrand anhält. „Wie man’s nimmt“, bleibe ich die Antwort schuldig. Das gesamte Beziehungsding zwischen Tobias und mir muss ich ihm nun wirklich nicht auftischen. „Na dann... einen schönen Abend noch“, lächelt er. „Ihnen auch... und lassen Sie sich nicht zu sehr von der Autobahn langweilen.“ „Naja, sie ist kein besonders guter Gesprächspartner. Glauben Sie, sie geht mit mir aus, wenn ich sie darum bitte?“ Verdutzt sehe ich ihn an... und dann kann ich nicht anders, als zu Lachen. „Na endlich!“, strahlt er daraufhin sofort. „Endlich lachst du!“ Er legt den Kopf schief und sieht mich freundlich an. Irgendwie hinterlässt der Blick ein angenehmes Gefühl, welches jedoch sofort von einem Frösteln abgelenkt wird. „Ich glaube... ich werde jetzt gehen...“, sage ich, zögernd meine Hand von der Sitzlehne lösend. Ich richte mich auf, als mir doch noch etwas einfällt. Lächelnd beuge ich mich zurück ins Auto. „Sagen Sie ihr, dass Sie mit Ihnen ausgehen sollte. Sie wird bestimmt einen tollen Abend haben!“ Ich zwinkere ihm zu, murmle noch ein „Auf Wiedersehen“ und schließe dann endlich die Beifahrertür. Mich umgedreht, ziehe ich meinen Mantel enger um mich und blicke zu einem meiner Fenster hinauf, in dem Licht brennt. Während ich mich in Bewegung setze, wird mir für eine Sekunde lang bewusst, dass Marcel mich zuvor geduzt hat. Ein Lächeln nicht unterdrückend überlege ich mir im nächsten Moment, wie ich Tobias mein Auftauchen wohl am unspektakulärsten erklären kann. Die Treppe in den zweiten Stock hinaufsteigend, komme ich zu keinem Ergebnis. Ich habe eigentlich gar keine Lust, ihm überhaupt irgendwas zu erklären. Er macht wieder nur eine riesen Sache daraus. Am liebsten würde ich jetzt einfach nur schlafen und dann morgen so weitermachen, als habe es den heutigen Tag nie gegeben. Natürlich wird Tobias das nie zulassen. Seufzend schließe ich die Wohnungstür auf. Im Flur empfängt mich Licht und aus dem Wohnzimmer hallt leise Musik. Er ist also noch wach. Natürlich, er ist ja auch ein Nachtmensch. Mit Worten der Erklärung schon auf den Lippen öffne ich die Wohnzimmertür, als mir jedes davon im Halse steckenbleibt. Vier nackte Arme und Beine keuchen auf dem Teppich herum und es dauert ein paar Sekunden, bis realisiert wird, dass ich soeben hereingekommen bin. In sekundenschnelle ist Tobias auf den Beinen, stolpert dabei über eines der Beine, die nicht ihm gehören, fängt sich am Sofa ab und blickt mir dann erschrocken ins Gesicht. „Nate, das-“ Die Klingel unterbricht ihn. Ohne einen der beiden nackten Körper eines weiteren Blickes zu würdigen, drehe ich mich herum. Meine Hand zittert ein wenig, als ich die Wohnungstür öffne. Das Lächeln von Marcel trifft mich. „Sie haben Ihr-“ „Nate! Es tut mir leid! Ich wusste nicht, dass du heute schon...“ Ich wende mich von dem Lächeln, das mittlerweile wieder verschwunden ist, ab und sehe meinen Freund an, wie er splitterfasernackt da steht und mich ansieht, mit einem flehenden Blick. Ehe ich dazu komme, etwas zu sagen, stolpert hinter ihm eine andere, nun nur noch halbnackte Gestalt hervor. Der Junge presst seine restlichen Kleider an sich, sieht mich fast ängstlich an und drängt sich dann schüchtern an mir vorbei, um die Wohnung fluchtartig zu verlassen. „War der überhaupt schon erwachsen?“, strecke ich meinen Arm in seine Richtung aus und sehe Tobias fragend an. „Ich... er ist 17... Aber Nate, das...“ „Ich glaub’s nicht...“ Kopfschüttelnd wende ich mich wieder ab. Erst da fällt mir ein, dass ja noch immer jemand im Hausflur steht. Ich sehe in die vollkommen erschütterte Miene und verziehe das Gesicht. „Sorry, was wollten Sie?“ „Ich hab-“ „Nate, wer ist das?“ „Mein Taxifahrer“, wende ich mich ungeduldig Tobias wieder zu. „Willst du dir nicht mal was anziehen?“ Ungläubig werde ich angesehen und ich entgehe dem Blick erneut, indem ich Marcel ansehe – der nicht weniger verwirrt dreischaut. „’Tschuldigung, jetzt dürfen Sie“, versuche ich ein Lächeln. Er öffnet den Mund... doch kein Ton kommt heraus. Hinter mir höre ich die Wohnzimmertür sich schließen. Marcel folgt dem mit den Augen, dann sieht er wieder mich an. „Ja?“, frage ich. „Ihr Handy.“ Blitzschnell wird es mir vor die Nase gehalten. „Das haben Sie liegenlassen.“ „Oh, hab ich gar nicht gemerkt. Dankeschön.“ Ich nehme es entgegen, trete einen Schritt zurück und greife nach der Tür. Marcel jedoch macht keine Anstalten, sich zum Gehen zu wenden. „Ist sonst noch etwas?“, frage ich. „Oh... nein... aber...“ „Aber?“ „Das grade... ich meine...“ „Ach Sie meinen, dass mein Freund mich mit einem Minderjährigen betrogen hat? Tut mir leid, dass Sie das mitbekommen mussten.“ Ich zucke mit den Schultern, obwohl ich meine Hand an der Tür zittern spüre. Innerlich spüre ich irgendwas brodeln. „Also dann“, sage ich, als er sich noch immer nicht bewegt hat. „Die Autobahn wartet. Sie sollten Sie nicht versetzen.“ Ich zwinkere ihm zu... und endlich scheint er zu begreifen. Stotternd faselt er eine Verabschiedung hinunter, bevor er sich umdreht. Ich schließe die Tür. Als ich mich herumdrehe, wird mir bewusst, dass es still ist. Tobias hat die Musik ausgeschaltet. Ich fahre mir mit meiner unruhigen Hand durch die Haare, öffne dann die Knöpfe meines Mantels. Ein Gähnen entweicht mir, als ich mich auf den Weg zum Schlafzimmer mache. Minuten vergehen, in denen ich komischerweise sehr schwer zur Ruhe komme, bis die Schlafzimmertür ein weiteres Mal geöffnet wird. Ich nehme die Schritte wahr, dann das Absenken der Matratze. Eine Hand berührt mich. „Nate, es tut mir leid.“ Ich schüttle die Hand ab. „War es das erste Mal?“ „Ja.“ „Okay, ich verzeihe dir.“ „Du... was?“ „Muss ich es echt wiederholen? Ich bin müde, ich will schlafen.“ „Aber-“ „Gute Nacht.“ Ich weiß, dass ich damit jegliche Erklärungsversuche von ihm im Keim ersticke, aber das ist genau, was ich beabsichtige. Was bringt es mir, seine Entschuldigung zu hören? Ändert das etwas an der Tatsache? Nein, also ist es vollkommen unnötig! „Es ist nur Verschwendung von Worten.“, höre ich die Stimme meines Vaters mich bestätigen, während neben mir die Decke angehoben wird. Ich spüre eine zögernde Hand und lasse sie mich berühren. Dann beschließe ich, dass ich nun endlich schlafen sollte. ENDE Akt 1 Ouvertüre: Zumeist wird mit der Ouverture das einleitende Stück eines Musicals bezeichnet. Ich glaube, ich brauche nicht erklären, weshalb der 1. Akt bei mir diesen Namen trägt *lach* Nathanael: Mir ist es noch nie SO schwer gefallen, eine Person zu schreiben! Wirklich, Nathanael war eine richtig harte Nuss. Das liegt vielleicht daran, dass mir noch nie einer meiner Ich-Erzähler so unähnlich war wie Nathanael. Schnell war mir zwar klar, was er für ein Mensch sein soll, aber da ich selbst nicht so bin, musste ich versuchen, mich sehr in seine Gedankengänge hineinzufinden. Und dann hat er sich sogar bei mir gesträubt hat, mir seine Gedanken zu öffnen... ihr könnt euch vorstellen, wie schwierig es war, ihn dennnoch erzählen zu lassen *lach* Kapitel 2: Tryout ----------------- In den nächsten Tagen behandelt Tobias mich wie ein rohes Ei. Ständig trägt er mir alles hinterher, fragt, ob ich noch etwas brauche, ob ich meine Ruhe will, ob er mich störe, ob er mir helfen kann, und so weiter und so fort. Ein paar Mal fahre ich ihn unfreundlich an, hoffe, dass er endlich damit aufhört, doch statt zu kontern, gibt er viel zu schnell klein bei – nicht seine Art normalerweise. Sollte mich das zufrieden stellen? Wenn ja, so tut es das nicht. Schnell, viel zu schnell beginnt es, mir auf die Nerven zu gehen. Ich habe keinen Bock auf dieses Herumgestelze, ich will einfach so weiterleben wie bisher, nicht diese nervende Übervorsichtigkeit erleben. Vielleicht deshalb bleibe ich in den folgenden Tagen länger bei der Arbeit als sonst, vielleicht deshalb vertiefe ich mich mehr in die Bücher als normalerweise, vielleicht deshalb gehe ich in diesen Tagen besonders in meiner Arbeit auf. Nur ein Mal, irgendwann dazwischen, erinnere ich mich selbst an meine Eltern. Am nächsten Wochenende kommt Tobias mit zwei Kinokarten an, für einen Film, der seit dieser Woche läuft. Skeptisch sehe ich sie an, sehe ich Tobias an, und merke, dass ich keine Lust verspüre, mit ihm da hinzugehen. Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust irgendwas zu machen, ich will einfach nur alleine sein und meine Ruhe haben. Als ich Tobias genau das sage, wird sein Blick traurig. „Du hast mir nicht verziehen...“, meint er mit gesenktem Kopf und steckt die Karten wieder weg. Irritiert sehe ich ihn an. „Was soll der Quatsch denn? Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Ich hab nur keine Lust, irgendwas zu unternehmen... Ist das so schwer zu verstehen?“ Genervt fahre ich mir durch die Haare, drehe mich um und verschwinde in der Küche. Als ich da angekommen bin, habe ich vergessen, was ich eigentlich wollte. Auf halbem Weg zurück steht Tobias im Flur vor mir. „Und was mache ich jetzt mit den Karten? Ich wollte dich doch so gerne überraschen...“ Ich zucke mit den Schultern und gehe an ihm vorbei. „Geh alleine hin“, sage ich dann. „Aber... ich wollte doch mit dir...“ Er lässt sich neben mir aufs Sofa nieder, sieht mich mit großen Augen an. „Ein anderes Mal, heute nicht.“ Ich frage mich, weshalb er so darauf beharrt. Wir sind doch jeden Abend zusammen. „„Frag einen deiner Freunde“, zucke ich dann die Schultern. Seine Augen werden noch ein ganzes Stück größer. „Das… würde dir nichts ausmachen?“ Ich seufze, irgendwie noch immer genervt von dieser Übervorsichtigkeit. Sonst hat er sich doch auch nie solche Gedanken gemacht. „Nein, würde es nicht.“ „Aber-“ „Tut es nicht, okay? Also geh schon!“ Ich greife nach der Fernbedienung und stelle den Fernseher demonstrativ lauter. Etwas mehr als eine Stunde nur kann ich meine Ruhe genießen, als mich die Türklingel herausreißt. Mich fragend, wer es wagt, mein Alleinsein zu stören, öffne ich die Tür schwungvoll und vor lauter Überraschung lasse ich sie los. Sie knallt an den Jackenständer dahinter. „Hallo!“, werde ich angegrinst, als er sich vom ersten Schreck erholt hat. „Äh... Hallo?“, betone ich das Fragezeichen ziemlich stark. Was macht er hier? „Darf ich reinkommen?“ Er macht einen winzigen Schritt auf mich zu. „Wozu?“, bleibe ich genau da stehen. Ein Lachen. „Einfach so. Zum Reden.“ „Reden? Worüber?“ „Man oh man, wird das gleich wieder diplomatisch! Na komm schon! Spring über deinen ernsten Schatten und lass mich rein.“ Schon wieder duzt er mich!, fährt es mir durch den Kopf. „Störe ich etwa bei irgendwas Wichtigem?“, fragt er, als ich noch immer keine Anstalten gemacht habe, ihn hereinzulassen. „Ich war am Fernsehen.“ „Alleine?“ „Ja.“ „Gut, dann stör ich nicht.“ Noch einen Schritt macht er nach vorne... und schließlich lässt mich diese Hartnäckigkeit nachgeben. Ich trete zur Seite. „Geht doch!“, grinst er und streift sich die Jacke ab. Sein Blick fährt im Flur herum und dann geht er aufs Wohnzimmer zu – wahrscheinlich hat er es durch den Klang des Fernsehers erkannt. Zögernd folge ich ihm, nicht wissend, was ich sagen soll. Eigentlich bin ich ziemlich erschüttert von dieser Lockerheit, die er an den Tag legt. Ich stelle fest, dass er sich wenigstens nicht unaufgefordert setzt, weshalb ich ihn also wohl oder übel dazu auffordere. Neben mir auf dem Sofa wird Platz genommen. Ich rücke ein Stück zur Seite. „Erfahr ich jetzt, was Sie hier machen?“ „Ach komm schon, ich bin privat hier, da kannst du mich auch duzen.“ Er lächelt. Ich knirsche mit den Zähnen. „Okay Marcel, was machst du hier?“, betone ich seinen Namen stark. Er zuckt die Schultern. „Dich besuchen, ein bisschen mit dir plaudern, schauen wie es dir geht...“ „Wie es mir geht?“ „Immerhin hat dein Freund dich betrogen.“ „Oh, das...“ Ich seufze. „Das ist vom Tisch.“ „Hast du dich von ihm getrennt?“ „Nein.“ „Hatte ich befürchtet...“ Er rollt die Augen. „Was soll das denn jetzt heißen?“ „Nur, dass es nicht gut für dich ist.“ „Nicht gut für mich?“ Ich keuche wegen dieser Unverschämtheit. „Wollen Sie mir irgendwas damit sagen?“ „Du“, lächelt er. „Du!“ „Willst DU mir etwas damit sagen?“, presse ich zwischen den Zähnen hervor. „Vielleicht.“ Er zwinkert mir zu, deutet dann auf meine Bierflasche. „Kann ich was trinken?“ Ich atme tief durch. „Natürlich. Einen Moment.“ Damit stehe ich auf. In der Küche am Kühlschrank angekommen und aus ihm ein Bier genommen, bleibe ich eine Sekunde stehen. Eigentlich hat er meine Frage nach seinem Hiersein immer noch nicht beantwortet, oder? Kopfschüttelnd mache ich mich auf den Weg zurück. Dankend wird das Bier angenommen, ein großer Schluck daraus getrunken. Dann stellt er es auf dem Tisch ab, lehnt sich zurück und grinst mich an. „Gibt es eigentlich irgendwas, das dich aus der Ruhe bringt?“ „Wie bitte?“ „Naja, ich meine ja noch nicht mal solche Sachen mit deinen Eltern oder das mit deinem Freund. Jede normale Mensch würde schon ziemlich gereizt sein, wenn ein fast Fremder sich so dreist selbst einlädt wie ich gerade... aber du, du bist ruhig und wirkst vollkommen gelassen. Ist das dein Normalzustand?“ Sprachlos sehe ich ihn an. Was soll ich denn darauf bitte antworten? Ein Lachen entweicht ihm. „Und du wehrst dich noch nicht mal gegen das, was ich sage... aber das passt total ins Bild...“ Er lehnt sich vor, verschränkt seine Finger, sieht mich direkt an. „Darf ich dich was fragen?“ Ich zucke die Schultern. „Das tust du schon die ganze Zeit.“ Wieder lacht er. „Wo du recht hast... Na gut, also... Wo ist dein Freund?“ „Tobias ist mit einem Freund im Kino...“ „Und wieso nicht mit dir?“ „Ich hatte keine Lust.“ „Und es macht dir nichts aus, dass er mit einem Freund nun alleine da ist?“ „Nein... Sag mal, horchst du mich aus?“ „Irgendwie schon, ja...“ Er legt den Kopf schief, lächelt nun nicht mehr amüsiert sondern sympathisch. „Weißt du... ich hab daran denken müssen, wie du mir so ruhig die Sache mit deinen Eltern erzählt hast und wie du danach so gelassen damit umgegangen bist, dass dich dein Freund betrogen hat... Es wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf... und darum bin ich hier. Ich hab Lust, dich kennenzulernen. Ich würde gerne wissen, ob es nicht doch Dinge gibt, die dich aus der Ruhe bringen.“ Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. „Hat das irgendwas mit deinem Studium zu tun?“ „Quatsch! Es ist wirklich nur, weil ich dich irgendwie nett finde… oder witzig.“ Er beugt sich näher an mich heran. Ich beuge mich ein Stück zurück, mustere ihn. „Sag mal, bist du schwul?“ „Nein.“ „Also stehst du nicht auf mich?“ „Nein, würd’ ich jetzt nicht sagen.“ Er schüttelt den Kopf. „Naja, ich hab eh nen Freund.“ „Ich weiß.“ „Stimmt.“ Ich mustere ihn noch kurz, bevor ich nach meinem Bier greife und mich im Sofa zurücklehne. Ich sehe zum Fernseher und mir wird bewusst, dass er mich stört. Ich schalte ihn aus. Und dann stört mich die Stille. „Sag was!“, murre ich. „Du redest doch die ganze Zeit.“ Er stellt seine Flasche zurück auf den Tisch. „Was hast du für Hobbys?“ „Ich? Keine Ahnung. Ich lese viel.“ „Und was?“ „Alles mögliche. Wir bekommen ständig Bücher rein, die-“ „Stimmt ja, du arbeitest bei nem Verlag. Okay, dann zählt das nicht... Irgendwelche anderen Hobbys?“ „Ich denke nicht.“ „Gar nichts?“ Ich schüttle den Kopf und werde daraufhin angesehen wie ein Eisbär in der Wüste. „Ich gehe gern Fotografieren“, sagt er dann. „Außerdem treibe ich regelmäßig Sport und spiele verschiedene Computerspiele. Ach ja, und ich sammle Bierdeckel!“ „Bierdeckel?“ „Ja. Keine Ahnung, wann das angefangen hat, aber mittlerweile hab ich so um die Sechstausend verschiedene.“ „Sechstausend?“, wiederhole ich schon wieder wie blöd. „Ja... aber das sind eigentlich sehr wenige, musst du wissen. Ich hab im Netz mal mit einem geredet, der hatte über Vierzigtausend...“ „Wieso machen Leute so was?“ „Weil es Spaß macht. Man freut sich, wenn man einen Bierdeckel bekommt, den man noch nicht hat...“ „Versteh ich nicht.“ „Musst du auch nicht. Ich wollte dir nur ein paar meiner Hobbys sagen...“ „Wozu?“ Lachend schüttelt er den Kopf. „Oh man, du bist echt ne Marke! Du bist ja zwischenmenschlich noch mehr ne Niete, als ich dachte... Aber bei den Eltern ist das wohl kein Wunder... Ich glaub, das müssen wir definitiv ändern!“ „Moment mal, das ist ja wohl meine Entsch-“ „Klar, aber so kannst du doch nicht wirklich zufrieden mit deinem Leben sein?!“ „Wieso nicht? Ich hab nen Job, in dem ich genug verdiene, ich hab ne eigene Wohnung, nen Freund... was brauch ich denn sonst noch?“ „Ne Menge!“ Er streckt die Arme aus. „Und das wäre?“ „Du musst sauer werden, wenn dir etwas nicht gefällt, damit es sich ändern kann... und vor allem brauchst du Spaß! Spaß am Leben, das ist was ganz Wichtiges!“ „Hab ich doch.“ „Naja...“ Er sieht mich durchdringend an. „Jetzt mal ehrlich... wie oft lachst du am Tag? Oder wie oft freust du dich über etwas? Wie oft hast du ein Erfolgserlebnis oder das Gefühl, jemandem unbedingt etwas erzählen zu müssen? Wie oft?“ Ich schweige und wahrscheinlich ist ihm das Antwort genug. Er nickt mir bestätigend zu. Irgendwie frustriert lasse ich daraufhin den Kopf sinken. So wie er das sagt, hört sich das alles ja ziemlich negativ an... Und zugleich fühle ich mich überfordert von all den Sachen, die er sagt. „Weißt du was?“ „Hm?“ „Wir machen nächstes Wochenende was zusammen!“ „Wir beide?“, frage ich skeptisch. „Klar, wieso nicht?“ „Mir würden tausend Gründe einfallen.“ „Sympathisch!“ Er rollt gespielt die Augen. „Na komm schon, gib dir einen Ruck!“ „Und wozu bitteschön?“, frage ich nach, weil es wohl erwartet wird. „Ich lass mir was einfallen und du lässt dich überraschen!“ „Ich mag keine Überraschungen.“ „Das war mir klar.“ Er grinst bis über beide Ohren. „Aber genau da fängt der Spaß an! Eine ganze Woche lang wirst du dich jetzt fragen, was wir wohl machen werden und am Ende kannst du kaum erwarten, es herauszufinden.“ „Das ist doch Quatsch.“ „Nein, ist es nicht. Wart’s nur ab!“ Er greift nach seinem Bier und trinkt einen großen Schluck daraus. Ihn heruntergewürgt, fügt er noch hinzu, dass ich mir definitiv am Samstag und am Sonntag nichts vornehmen darf. „Das wird das beste Wochenende deines Lebens, ich schwör’s dir!“ Ich verkneife es mir, jegliche Antwort darauf zu geben. Noch fast zwei Stunden bleibt Marcel, und erst als Tobias schließlich nach Hause kommt, beschließt er zu gehen. Wir haben nicht die ganze Zeit geredet, sondern manchmal auch einfach nur auf den Fernseher gelauscht, den ich irgendwann wieder angestellt habe. Wenn wir redeten, dann war es eher so, dass Marcel erzählte, irgendwas, was mich eigentlich gar nicht wirklich interessierte... und dennoch hörte ich aufmerksam zu und nahm jedes Wort auf. Als Tobias schließlich kommt, macht Marcel mit mir eine Zeit fürs nächste Wochenende aus. Er zwinkert mir zu, bei dem Versprechen, dass er bestimmt etwas Tolles finden wird, und hinterlässt mich mit einem unbekannten Gefühl. Erst als er weg ist, fällt mir ein, dass er ja jetzt noch fast eineinhalb Stunden Autofahrt vor sich hat. Für ein paar Sekunden verspüre ich gar etwas wie ein schlechtes Gewissen, welches aber sogleich verschwindet, als Tobias mich zur Rede stellt. Außerdem ist Marcel ja selbst schuld. Tobias ist sauer, will wissen, wieso dieser Taxifahrer hier gewesen ist, will wissen, wieso ich dann nicht lieber mit ihm ins Kino gegangen bin. Dass ich nichts von dem Besuch gewusst habe, kauft er mir nur sehr ungern ab, weiß er doch, dass ich nicht unbedingt der spontanste Mensch bin. Erst als ich ihn widerwillig in den Arm nehme, küsse und mit ihm schlafe, scheint er beruhig. Mich hingegen nervt es selbst danach noch, dass diese Diskussion überhaupt notwendig gewesen ist. ~ * ~ Die Woche vergeht wie eigentlich jede andere. Tobias fängt endlich wieder an, sich normal zu verhalten, und irgendwann erzähle ich ihm dann auch endlich, was bei meinen Eltern vorgefallen ist. Er ist schockiert, ich zucke nur die Schultern und habe nicht lange Lust, darüber zu reden. Den Vorschlag, sie anzurufen, schlage ich schnell aus. Ansonsten geschieht nichts Erwähnenswertes, außer, dass ich mir irgendwann eingestehen muss, dass Marcel tatsächlich Recht hatte. Tatsächlich erwische ich mich mit fortschreitender Zeit immer öfter bei der Frage, mit was für einem Vorhaben er am Wochenende wohl ankommen wird. Tatsächlich gefällt es mir, mit mir selbst Rätsel darüber zu raten, und das Gefühl, es nicht mehr abwarten zu können, wächst. Natürlich werde ich das Marcel niemals sagen. ~ * ~ Tobias erzähle ich erst am Samstagmorgen von meinem Vorhaben. Weshalb ich es nicht vorher getan habe, weiß ich nicht genau, vielleicht weil ich wusste, wie er ausflippen wird. Und das tut er. Wieso ich einfach so mein Wochenende mit einem anderen Kerl verplanen würde, will er wissen... und eigentlich kann ich ihm noch nicht mal eine gute Antwort darauf geben. Deshalb tue ich es auch nicht. Ich nehme stattdessen hin, dass er schmollt, und überlege weiterhin, was wohl auf mich zukommen wird. Um drei Minuten vor Fünf klingelt es. Tobias wirft mir einen giftigen Blick zu, als ich aufstehe und die Küche verlasse. „Überraschung!“, tönt es gleich nach dem Öffnen der Tür und ich mache fast einen Satz zurück. Irritiert schaue ich mich um, sehe an Marcel vorbei, entdecke nichts wirklich Überraschendes. „Äh...“ „Oh man...“, seufzend schüttelt er den Kopf. „Ich hätte wissen sollen, dass du auf so was nicht eingehst...“ „Auf was?“ „Auf das ‚Wow, was machst du denn hier?’-Spiel...“ „Muss man das kennen?“ „Du nicht.“ Er klopft mir auf die Schulter, tritt an mir vorbei in die Wohnung. Ich belasse es dabei. „Bereit?“ „Wenn ich wüsste wozu...“ „Zu allem!“, tönt er, bemerkt dann Tobias in der Tür. „Hi du!“, grinst er, streckt ihm die Hand hin. „Danke, dass ich deinen Freund entführen darf!“ „Hm“, kommt es nur mürrisch, was mich die Augen verdrehen lässt. „Können wir los?“, frage ich deshalb. Marcel dreht sich wieder um, mustert mich von oben bis unten und blickt mir dann kritisch ins Gesicht. „Hast du ne Jeansjacke? Oder irgendwas, das irgendwie...“, er breitet die Arme aus, „... lockerer wirkt als dieser ernste schwarze Mantel?“ „Ich weiß nicht... eigentlich...“ „Ach, lass mal... Du bekommst meine, wir sollten dieselbe Größe haben. Ich brauch die eh nicht!“ Damit schlüpft er aus seiner dunkelgrünen Jacke und hält sie mir hin. Als ich sie ergreife, spüre ich Tobias’ Blick auf mir. „Passt.“ „Sehr schön, dann können wir los!“ Marcel setzt sich wieder in Bewegung, ich tue es ihm gleich. „Wann kommst du nach Hause?“, hält mich eine mürrische Stimme auf. „Ich weiß nicht“, drehe ich mich widerwillig um. „Es kann spät werden“, verkündet Marcel im selben Moment. „Seeehr spät!“ „Da hörst du’s“, zucke ich die Schultern. „Aber-“ „Keine Sorge, du bekommst ihn schon heil zurück!“ Ich bringe mich dazu, zu Tobias zu gehen, ihm einen Kuss zu geben. „Bis dann“, versuche ich ein Lächeln und drehe mich endgültig zum Gehen. ENDE Akt 2 Tryout: So werden die Phasen mit spezifischen Voraufführungen vor der eigentlichen Premiere bezeichnet, in denen Risiken erkannt werden sollen, um diese anschließend auszumerzen. In diesem Fall habe ich mich eher wegen der Übersetzung des Wortes „Tryout“ dafür entschieden... einfach weil Nathanael beschließt, es „auszuprobieren“... also das Spaß haben und Weggehen mit Marcel. Vielleicht kann man passend zur eigentlichen Bedeutung noch sagen, dass es das Stück ist, bevor er tatsächlich mit Marcel weggeht (also seine ganz eigene Premiere „feiert“)... Kapitel 3: Premiere ------------------- „Fußball?“, bin ich schockiert, als wir nach einstündiger Fahrt vor dem riesigen Stadion stehen. „Jep.“ „Ist das dein Ernst?“ „Jep! Erst wollte ich dich ja in nen Strippclub schleifen, aber da du auf Kerle stehst, wäre das wohl eher Kontraproduktiv… Und dann ist mir das hier eingefallen!“ „Aber-“ „Kein Aber! Es wird dir gefallen, davon bin ich überzeugt! Selbst wenn du im Fernsehen Fußball nicht magst, die Stimmung in einem Stadion reißt einen so mit, dass du nicht anders kannst, als es toll zu finden!“ „Ich weiß ja nicht...“, murmle ich, sehe mich um, sehe all die verschiedenen Menschen mit ihren Schals, Mützen, Pullis und anderen Utensilien der Fußballmannschaften. „Und für welches Team sind wir?“ „Für das da!“, deutet er auf seinen Pulli... und erst in dem Moment fällt mir das Logo darauf auf. „Du bist Fußballfan?“ „Jep! Sehr sogar!“ Er grinst breit. „Na komm, wir gehen rein! Im Moment ist noch nicht so viel los, da können wir uns noch ein bisschen das Stadion ansehen!“ Ich zucke mit den Schultern und folge ihm. Stadion ansehen? Wie spannend! Aber nun gut, ich habe ihm versprochen, dass ich mich auf alles einlassen würde, was er plant – es hätte schlimmer kommen können, nicht wahr? „Ich verstehe nicht, wie man das toll finden kann...“, seufze ich, als wir unsere Rundtour durchs Stadion beendet haben und uns mit einem Bier bewaffnet auf unseren Plätzen nieder lassen. Mittlerweile haben sich die Ränge schon ziemlich gefüllt. „Was?“ „Naja...“ Ich zucke mit den Schultern. „Eigentlich sind das doch nur ein Haufen Millionäre, die ihrem Hobby nachgehen... und dabei schaut man ihnen zu.“ Ich erhalte zunächst keine Antwort darauf. Ich nippe an meinem Becher und sehe herum. Erst als ich mit den Augen auf Marcel ankomme, bemerke ich seinen merkwürdigen Blick. „Was?“, frage ich. Er öffnet den Mund, schließt ihn, öffnet ihn wieder. „Du magst mich für blöd halten... aber so habe ich das noch nie wirklich gesehen... ich meine... du hast schon recht...“ Sein Blick wandert zum Spielfeld. „Da denkt glaub ich niemand darüber nach, der gerne Fußball guckt. Er wird gut unterhalten, also reicht das. Dass die Spieler mit einem einzigen Spiel viel mehr Geld machen, als wohl jeder normale Fan ihm Jahr, daran denkt ihr irgendwie nicht...“ Ich werfe ihm einen Seitenblick zu und für einen winzigen Moment verspüre ich den Impuls, etwas Falsches gesagt zu haben. „Das ist nicht schlimm“, sage ich deshalb schnell. „Bei Schauspielern ist es im Grunde ähnlich und trotzdem gucke ich ab und zu gerne einen Film.“ Ich versuche ein Lächeln, als Marcel mich ansieht. „Da hast du auch wieder Recht“, kommt sein Grinsen schließlich zurück. „Juhu, ich bin also kein Idiot!“ Nun lacht er wieder. „Jedenfalls nicht deshalb.“ Ein noch stärkeres Lachen. „Und du bist auf jeden Fall kein Lügner.“ Er schüttelt den Kopf, prostet mir mit seinem Bier zu. „Trotzdem auf einen schönen Abend?“ „Meinetwegen“, nicke ich, proste zurück. „Es wird dir bestimmt Spaß machen!“ „Wir werden sehen...“ Bereits sehr schnell merke ich, dass Marcel nicht Unrecht hat. So schwer es mir ist, es einzugestehen, kann ich diesem Spiel mit einem Mal doch tatsächlich etwas abempfinden. Vielleicht macht das schon die winzige Tatsache, dass man live dem Ball wenigstens wirklich mit den Augen folgen kann und nicht ständig durch die wechselnden Kameraperspektiven verwirrt wird. Und dann ist da dieses Jubeln und die Buh-Rufe... oder die nervöse Spannung bei heiklen Szenen... all das ergreift einen, ob man es will oder nicht... es fasst einen an und lässt einen nicht mehr los. Dementsprechend mit einer vollkommen neuen Erfahrung lasse ich mich zur Halbzeit auf meinem Sitz nieder. „Und?“, werde ich von einem Marcel angegrinst, der mich die gesamten 47 Minuten nicht wirklich bemerkt zu haben scheint. „Es ist okay...“, sage ich nickend, nicht wirklich passende Worte findend für meinen Gemütszustand. „Okay?“ Er zieht eine Augenbraue in die Höhe. „Gut?“, frage ich. „Naja... schon besser...“ Er lacht, deutet auf unsere leeren Becher. „Auch noch eins?“ „Gerne.“ „Bin gleich zurück!“ Schnell ist Marcel zwischen den drängenden Menschen um uns herum verschwunden. Ich lasse meinen Blick über das etwa zur Hälfte gefüllte Stadion gleiten. Tobias wird bestimmt ausflippen, wenn ich ihm erzähle, was wir gemacht haben. Er vergöttert Fußball. Wie oft schon haben wir darüber diskutiert, was für ein sinnloser Sport das ist... Wenn er erfährt, dass ausgerechnet ich mir ein Spiel angucke und es auch noch gut finde, dann wird er wahrscheinlich vom Glauben abfallen... oder er wird ausflippen und noch eifersüchtiger auf Marcel werden. Warum bloß? Dafür gibt es überhaupt keinen Grund.... Kopfschüttelnd widme ich mich anderen Gedanken, denen zum Beispiel, wie das Spiel, das bei 1:1 steht, wohl ausgehen wird. Dass ich mir doch tatsächlich darüber Gedanken machen, ist eigentlich kaum zu glauben. Irgendwo dazwischen frage ich mich dann noch, was ich in den letzten Jahren eigentlich mit Tobias unternommen habe. Es war nicht besonders viel, würde ich sagen… Die zweite Halbzeit wird noch nervenaufreibender als die erste. Zusammen mit Marcel fiebere ich einem Tor entgegen, das einfach nicht kommen will, egal wie oft der Ball in die Nähe des Strafraumes gelangt. Irgendwann steht es 2:1 – gegen uns – und ich sehe Marcel nervös an seinem Pulli zerren. Es lässt mich lachen und dann sogleich wieder gebannt zum Spielfeld starren – na komm schon, ein Tor wird doch noch drin sein! Dass das so gar nicht mir entspricht, darüber denke ich nicht nach. „Fünf Zentimeter!“, Marcel deutet es mit den Händen an. „Bloß fünf verdammte Zentimeter! Oh man, ich glaub’s nicht...“ Grinsend erwidere ich nichts darauf. Schon seit dieser riesigen Chance in der 84. Minute flucht Marcel vor sich hin, sagt mir immer wieder, wie knapp es doch gewesen sei, wie leicht der Ball doch hätte im Tor landen können. Langsam sind mir die Erwiderungen darauf ausgegangen, habe ich außerdem schnell gemerkt, dass es eh egal ist, was ich sage, Marcel regt sich trotzdem auf. So also lasse ich ihn fluchen – wenn er seine Nerven unbedingt so strapazieren will – und zudem kann ich nicht abstreiten, dass ich in dem Moment nicht auch genau die Gedanken hatte... es waren ja auch wirklich höchstens fünf Zentimeter! Trotzdem, jetzt kann man eh nichts mehr daran ändern. „Lass uns was trinken gehen!“, werde ich aus meinen Gedanken gerissen. „Du musst noch Auto fahren“, erinnere ich ihn. „Macht nichts. Wir fahren zu mir. Drei Straßen entfernt ist eine tolle Bar!“ „Aber... wie komm ich nach Hause?“, frage ich zögernd, mit dem Gefühl, die Antwort eigentlich schon zu kennen. „Heute gar nicht mehr!“ Er schließt das Auto auf, verschwindet darin. Ich tue es ihm gleich. „Du meinst-“ „Ja! Du schläfst bei mir! Mel hat sicher nichts dagegen!“ „Mel?“ „Mein kleiner Bruder“, wird der Wagen gestartet. „Du wohnst mit deinem Bruder zusammen?“ „Ja. Eigentlich sind wir nach der Schule verschiedene Wege gegangen, aber als er vorletztes Jahr mit der Uni angefangen hat, die ganz bei mir in der Nähe liegt, ist er bei mir eingezogen...“ „Ach so.“ „Hast du auch Geschwister?“ „Ja, zwei. Einen älteren Bruder und ne jüngere Schwester.“ „Wie ist der Kontakt mit ihnen?“ „Schlecht. Kenneth sehe ich fast nie und mit Vivian bin ich einfach nicht auf einer Wellenlänge...“ Ein forschender Blick, den ich mit einem fragenden kommentiere. „Nichts, ich wundere mich nur, dass du schon wieder so gleichgültig wirkst. Auch wenn es bei Mel und mir auch mal schlechte Phasen gab, haben wir schon immer aneinander gehangen... ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich ohne ihn wäre...“ Ich zucke die Schultern. „Bei uns ist das irgendwie schon immer so gewesen, dass wir kaum was miteinander zutun hatten.“ „Ihr seid echt ne komische Familie. Kein Wunder, dass du so geworden bist. Aber egal... was machen wir jetzt?“ „Ich dachte wir fahren was trinken?“ „Wirklich? Sehr schön!“ Direkt wird etwas fester aufs Gas gedrückt. „Hier wohn ich!“ Wir sind in einer etwas ruhigeren Gegend angekommen, in der Marcel sein Auto parkt. Nun deutet er an einem der Häuser hinauf. „Da, mit dem blauen Licht, das ist Mels Zimmer, die Küche ist daneben, meins siehst du von hier nicht...“ „Aha.“ Ich blicke hinauf. „Sehr spannend.“ Ein Knurren neben mir. „Das sollte ich dir abgewöhnen...“ „Was?“ „Dass du alles aussprichst, was du denkst... Na, komm, lass uns gehen.“ Er setzt sich in Bewegung, geht die Straße hinunter. „Ach, solltest du nicht mal deinem Schatz bescheid sagen?“, fragt er plötzlich. „Wahrscheinlich“, gebe ich resignierend zu. Eigentlich habe ich gar keine Lust darauf. Er will bestimmt gleich wieder diskutieren und ist sauer, dass ich nicht nach Hause komme. Seufzend wähle ich die Nummer, doch in dem Moment, als ich die grüne Taste drücken will, entscheide ich mich dagegen. Schnell wechsle ich das Menü, tippe eine Kurzmitteilung ein, sende sie... und stecke mein Handy weg. Überrascht sieht er mich an, doch ich sage nichts darauf, sondern frage Marcel stattdessen, wie lange er hier schon lebt. Ein paar Minuten später kommen wir an einer kleinen Bar an. Bereits als wir diese betreten, wird klar, dass hier auch das Fußballspiel gesehen wurde. Diskutierende, Trikot tragende Menschen stehen in kleinen Grüppchen zusammen... eine typische Szene, wie ich sie erwartet hätte. Diese Tatsache lässt mich grinsen. Ich folge Marcel zur Bar, wo er direkt vom Barkeeper begrüßt wird. „Hast du’s auch gesehen?“, fragt dieser sofort, als Marcel unsere Bestellung aufgegeben hat. „Klar! Wir waren im Stadion... echt traurig, sag ich dir...“ „Ja... und dabei war es so knapp!“ „Nur fünf Zentimeter“, komme ich Marcel zuvor, ohne es wirklich gewollt zu haben. Überrascht sieht dieser mich an, während der Barkeeper jedoch sofort auf meine Aussage eingeht: „Du sagst es!“ Er nickt heftig. „Wenn er den Ball doch nur ein bisschen weiter links getroffen hätte!“ „Ja! Und der Torwart ist auch noch in die falsche Richtung! Der hätte den nie gehalten!“ Plötzlich sprudeln meine Gedanken nur so aus mir hervor und ich beginne eine hitzige Diskussion mit dem Barkeeper, in die natürlich auch Marcel sofort einsteigt. Das Vibrieren in meiner Hosentasche ignoriere ich. „Wusst ich’s doch!“, grinst Marcel breit, als wir auf dem Rückweg sind. „Was?“ „Dass du Spaß hattest!“ „I-“ „Jetzt streit’ es bloß nicht ab!“ Ein triumphierender Blick. „Hach, ich bin so gut! Machen wir das mal wieder?“ „Ich weiß nicht...“ Ich ziehe die Jacke fester um mich. Es ist ziemlich kalt, wie hält er es bloß nur im Pulli aus? „Klar weißt du! Ach, du hast gar keine Wahl, ich schleif dich einfach mal wieder-“ „Was bekommst du eigentlich für die Karten?“, unterbreche ich ihn in dem Moment. „Spinnst du?“ Entgeistert dreht Marcel mir den Kopf zu, bleibt dabei fast stehen und geht wohl nur weiter, weil ich es tue. „Ich hab dich eingeladen!“ „Kannst du dir das denn leisten?“ „Hör mal! Seh ich etwa wie ein armer Schlucker aus?“ Er verzieht grinsend das Gesicht. „Nein. Aber du fährst Taxi, studierst und-“ „Das mach ich, weil es immer schön ist, etwas mehr Geld zu haben... und außerdem... soll ich dir ein Geheimnis verraten?“ Ich zucke die Schultern. „Wenn du willst.“ Er kommt mir näher und während ich noch zur Seite weichen will, legt er mir die Hand auf die Schulter. Warmer Atem lässt meine eiskalte Haut erschaudern. „Ich hab Kontakte.“ Damit weicht er wieder zurück. „Hä? Und das heißt?“ Lachend sieht er mich an. „Das heißt, dass ich Student an einer Sportuniversität bin und vergünstigt an die Karten komme. Mann, bist du schwer von Begriff.“ „So, jetzt müssen wir leise sein, Mel schläft sicher schon...“, legt Marcel den Finger vor die Lippen, steckt dann den Schlüssel ins Schloss und schließt die Tür auf, hinter der uns Dunkelheit empfängt. Schleichend bewegen wir uns vorwärts, Marcel schaltet das Licht an. „Küche, Mels Zimmer, Wohnzimmer, meins und das Bad“, deutet er flüsternd auf alle Türen, bevor er die Wohnungstür leise hinter mir schließt. „Komm, vorwärts...“, schiebt er mich damit auf ein großes Filmplakat zu. Diese Tür geöffnet begrüßt mich nach Anschalten des Lichtes ein relativ kleiner Raum. Ein schwarzer Schreibtisch mit Computer, ein Schrank und ein breites Bett sind die einzigen größeren Möbel und viele mehr hätten auch nicht hereingepasst. Die Wände sind zugekleistert mit Bierdeckeln. Ich lasse meinen Blick darüber hinweg gleiten, frage mich, ob sie ein Bild ergeben sollen. „Cool oder?“, hat er meinen Blick bemerkt, sprintet ein Stück vor. „Die hier sind aus Canada.“ Er tippt auf vier ähnliche Deckel. „Du warst in Canada?“ „Nur für zwei Wochen… aber es war genial! Warst du schon mal im Ausland?“ „Nur die Nachbarländer“, zucke ich mit den Schultern, sehe noch immer die Wand an. „Sind das alle?“ „Wenn du mir sagst, wie du auf Sechstausend kommst.“ Er grinst breit. „Nein, das sind nur ein paar auserwählte Stücke, die ich zudem doppelt hab. Die anderen sind sicher in Ordner verwahrt. Willst du sie sehen?“ „Lass mal.“ „Dacht ich mir.“ Er grinst noch immer, kommt nun wieder das kleine Stück zurück zu mir. Ich lasse meinen Blick währenddessen nochmals über den Rest des Zimmers gleiten. „Wo schlafe ich.“ „Du hast die Wahl.“ „Und die wäre?“ „Du kannst entweder in meinem Bett schlafen oder im Wohnzimmer auf der Couch. Ach, oder ich frage Mel, ob er sein Bett teilen will. Er wäre bestimmt begeistert“, klingt es durchzogen mit Ironie. Ein Lachen entweicht mir. „Couch. Ich will ja nicht, dass ihr Angst bekommt...“ „Weshalb? Weil du schwul bist?“ „Zum Beispiel.“ „Das stört mich nicht, da kenn ich einige, das kannst du mir glauben. Außerdem hab ich ne Freundin.“ Mit einem Satz ist er am Bett, hält mir einen Bilderrahmen entgegen. „Da!“, präsentiert er. „Hübsch, oder?“ „Ja, sehr“, nicke ich und betrachte die dunkelhaarige Frau einen Moment. „Ich schlaf trotzdem drüben.“ „Wie du meinst... Komm mit, ich mach’s dir fertig.“ Nachdem meine Schlafstätte gerichtet ist, lässt Marcel sich neben mir auf dem Sessel im Wohnzimmer nieder. „Lass uns noch ein bisschen quatschen...“ „Worüber?“ „Irgendwas halt“, zuckt er die Schultern. „Wie hast du deinen Freund kennengelernt?“ „Er hat mich in einer Bar angequatscht, ich hab mit ihm geschlafen und seitdem hängt er an mir.“ „Äh... geht das nicht etwas romantischer?“ „Romantischer? Ich weiß nicht, was willst du hören?“ „Ganz einfach... Etwas über rote Herzen... verliebte Spitznamen... schüchterne Blicke... so was halt...“ „Das ist doch Kitsch.“ „Eben!!“ Er setzt sich im Sessel auf. „Und du bist schwul, du musst Kitsch lieben!“ „Ist das ein Gesetz?“ „Nein, ein Vorurteil.“ Er grinst breit, ironisch. „Jetzt mal im ernst. Gibt es nicht irgendwas Wunderschönes, Süßes, Faszinierendes, was du unbedingt über deinen Freund loswerden willst?“ Ich überlege kurz, schüttle dann den Kopf. „Fällt mir grad nichts ein.“ „Äh... okay... andere Frage... Warum bist du mit ihm zusammen?“ „Weil ich ihn mag?“ „Wie sehr?“ „Wie sehr?“, wiederhole ich die Frage erstaunt. „Keine Ahnung.“ „Liebst du ihn?“ Ob ich Tobias liebe? Dass hat er mich auch schon mal gefragt. Damals hatte ich keine Antwort darauf… ebenso wenig wie heute. Ich habe damals auch nicht mehr weiter darüber nachgedacht. „Liebe! Pah! So etwas gibt es nicht!“ „Keine Ahnung“, verdränge ich die Stimme meines Vaters aus meinem Kopf. „Können wir das Thema wechseln?“ Es ziehen sich Erinnerungen durch mein Gehirn, welche ich nicht haben will. Ich habe dies Thema jahrelang nicht mehr beachtet… das muss sich nicht gerade heute ändern. Ein amüsiertes Grinsen trifft mich. „Klar, wenn du willst. Mal schauen...“ Er dreht sein Glas Wasser in den Händen. „Isst du lieber Brot oder Brötchen?“ Verdutzt sehe ich ihn an. „Für’s Frühstück!“, erklärt er sofort bereitwillig. „Ist mir egal“, antworte ich also. „Wurst oder Käse?“ „Egal.“ „Honig oder Marmelade?“ „Egal.“ „Tee oder Kaffee?“ „Kaffee.“ „Himmel sei Dank! Dieser Mann hat doch Vorlieben!“ Lachend streckt Marcel die Arme nach oben. „Hat dir eigentlich schon mal wer gesagt, dass du ein sehr komischer Mensch bist?“ „Du jetzt bestimmt schon zum zehnten Mal.“ „Darf ich mir selbst nen Ordnen verleihen?“ Er klopft sich auf die Schulter. „Aber weißt du was?“ „Hm?“ „Genau deshalb mag ich dich, Nate, und wir werden noch viel Spaß haben!“ ENDE Akt 3 Premiere: So wird bekanntermaßen die erste Aufführung eines Stückes bezeichnet. Dies Kapitel erhielt diesen Titel passend zum Kapitel 2 „Tryout“. Hier nun ist die eigentliche Premiere, dass Nathanael zum ersten Mal etwas mit Marcel unternimmt... Kapitel 4: Non-Replica ---------------------- Wovon ich am nächsten Morgen wach werde, kann ich gar nicht sagen. Ich schlage einfach irgendwann wie von selbst die Augen auf... und frage mich für eine Sekunde, wo ich bin, auch wenn es mir sofort klar wird. Gähnend ziehe ich die Decke etwas enger um mich, drehe mich auf dem Sofa herum, so dass ich in den Raum sehen kann, verspüre das Bedürfnis, die Augen wieder zu schließen und weiter zu schlafen. Ich hätte nie gedacht, dass ich auf einem so engen Sofa so gut schlafen kann! Fast zwinge ich mich dazu, die Augen geöffnet zu halten. Ich lausche auf Geräusche, nehme aber nicht wirklich welche wahr, außer ein paar dumpfen Automotoren. Dabei lasse ich meine Augen über die modernen Möbel gleiten. Wie spät es wohl ist? Noch eine ganze Weile bleibe ich liegen, ohne wirklich etwas nennen zu können, über das ich nachdenke. Schließlich stehe ich auf, weil mich mein Körper zum Bad schickt. Leise auf dem Weg zum Flur gehe ich die Kurzführung von gestern durch. Kurz entschlossen öffne ich die erste der beiden mir fremden Türen. Dass es nicht das Bad ist, erkenne ich sofort, doch aus irgendeinem Grund schaffe ich es nicht, wie Tür sofort wieder zu schließen. Stattdessen spähe ich in das dunkle Zimmer hinein, welches kleiner und leerer ist als Marcels. Nur die wichtigsten Möbel, an den Wänden Poster, deren Bilder ich nicht erkennen kann, in der Ecke eine große Topfpflanze, dichte, blaue Vorhänge… Den Blick zum Bett gleiten lassend, bin ich mir fast sicher, eine Person darauf zu erkenne. Sie bewegt sich nicht. Augenblicklich wird mir klar, was ich hier eigentlich tue. Schnell ziehe ich die Tür wieder zu, so leise wie möglich. Bin ich jetzt vollkommen dämlich? Ich drehe mich herum, öffne die gegenüberliegende Tür - und lande zum Glück tatsächlich in einem weißgefliesten Bad. Schnell trete ich ein, schließe die Tür wieder hinter mir und begebe mich direkt zur Toilette. Mich erleichtert, stehe ich schließlich gähnend vor dem Spiegel. Ich sehe das dunkle Zimmer vor mir und könnte mich gerade selbst treten. Bin ich denn blöd, die Tür nicht einfach sofort wieder zu schließen? Aber wenigstens hat er mich nicht bemerkt. Ich beschließe, den Gedanken zu beenden, und werfe einen Blick herum. Nun erst fällt mir ein, dass ich gar kein Badzeug dabei habe. Den fahlen Geschmack bei diesem Gedanken noch stärker im Mund spürend, greife ich kurz entschlossen nach der Mundspülung. Das wird sie schon nicht stören. Dabei fällt mein Blick auf die Uhr. Kurz nach Zehn... So lange hab ich auch schon lange nicht mehr geschlafen... Als ich bereit bin, das Bad wieder zu verlassen, bin ich nicht wirklich sicher, was ich nun tun soll. Zurück ins Wohnzimmer? In die Küche? In Marcels Zimmer? Zögernd verlasse ich das Bad, bin schon fast auf dem Weg zu meinem Schlafplatz zurück, als ich durch die halb geöffnete Küchentür eine Bewegung wahrnehme. Den Blick gewendet, entdecke ich Marcel. Meine Entscheidung somit um einiges erleichtert, schlage ich sofort einen anderen Weg ein. Marcel scheint mich zunächst gar nicht zu bemerken, verschwindet wieder hinter seiner Zeitung und reagiert auch nicht, als ich die Küche betrete. „Guten Morgen.“ Die Zeitung raschelt, als er zusammenzuckt. Erschrocken guckt er darüber hinweg, sieht mich, lächelt kurz und erwidert meinen Blick. Dann verschwindet er erneut hinter der Zeitung. Unschlüssig bleibe ich stehe, betrachte den braunen Haarschopf, der so früh am Morgen nicht in alle Richtungen absteht, sondern verwuschelt am Kopf hinabhängt. Es lässt ihn verändert wirken, es sieht gut aus... Ich verkneife mir diese Worte nur deshalb, weil diese morgenmufflige Art, sich hinter der Zeitung zu verstecken, mir die Lust dazu nimmt. Stattdessen entscheide ich mich, mich zu setzen. Die Zeitung sinkt ein wenig hinab, Marcel sieht mich an. Er runzelt die Stirn, was mich dies ebenfalls tun lässt... dann guckt er wieder auf seine Buchstaben. „Irgendwas Interessantes dabei?“, versuche ich tatsächlich, Konversation zu treiben… ein Kopfschütteln ist darauf allerdings die einzige Antwort. Verblüfft sehe ich ihn an… und so sitze ich da, die nächsten Minuten, etwas unschlüssig, was ich tun soll. Ich bin nicht gerade eine Person, die sich gerne selbst einlädt, weshalb ich nicht nach dem Brot auf dem Tisch greife oder nach der Kaffeekanne. Ich komme mir doof vor, wegen Marcels komischer Art. Wieder sehe ich das Stückchen an, das ich hinter der Zeitung von ihm erkennen kann. Irgendwie wirkt er blass. „Sag mal...“, bringe ich schließlich heraus und ich glaube, es klingt nicht so gezwungen, wie ich mich gerade fühle. „...du bist aber nicht gerade gesprächig morgens. Das hätt’ ich gar nicht von dir erwartet.“ Ich versuche zu grinsen und als die Zeitung verschwindet, sehe ich das erste Grinsen von Marcel an diesem Morgen. Zum ersten Mal fällt mir das Grübchen neben seinem linken Mundwinkel dabei auf. „Das liegt wahrscheinlich daran-“ „-dass ich hinter dir stehe.“ Mehr die plötzliche Stimme als die Worte lassen mich herumfahren... und im nächsten Moment springe ich vom Stuhl. Der Tisch wackelt, als ich dagegen stoße und irgendwas fällt um. Dann erfüllt ein doppeltes Lachen die Küche, das sehr ähnlich klingt, auch wenn das von dem Marcel in der Tür lauter und schallender ist. Irritiert sehe ich herum. „Nicht im ernst, oder?“, sehe ich hin und her, her und hin. „Doch!“ Der Marcel in der Tür grinst mich noch immer breit an, deutet dann auf den Sitzenden. „Das ist Melvin, mein kleiner Bruder!“ „Nur um sieben Minuten“, wird nun aufgestanden und mir die Hand hingestreckt. Ich ergreife sie noch vollkommen irritiert, in das fremde und doch bekannte Gesicht blickend. „Hallo“, lächelt er mich freundlich mit diesem kleinen Grübchen an. „Schön dich kennenzulernen.“ Ich nicke nur, noch viel zu erstarrt, um etwas zu sagen. Dann ziehe ich meine Hand zurück, sehe wieder Marcel an. „Nimm’s mir nicht übel!“, grinst dieser mich an, hält eine Tüte hoch. „Ich war Brötchen holen und hab ihn gebeten, meine Rolle einzunehmen, falls ihr aufeinander trefft. Hat er’s gut gemacht?“ „Er hat nicht gesprochen“, sage ich, meine Stimme wiedergefunden. „Das hat mich irritiert.“ „Manche sagen, wir klingen unterschiedlich... und ich wollte doch den Schein wahren...“, kommt es neben mir. Tatsächlich fällt mir auf, dass seine Stimme ein wenig heller ist. Obwohl ich bezweifle, dass mir der Unterschied ohne direkten Vergleich aufgefallen wäre. Ich habe ja auch nicht bemerkt, dass Melvins Haare mit ein paar helle Strähnen durchzogen sind, die Marcel nicht hat. „So, nun lasst uns aber frühstücken!“, tritt Marcel richtig in die Küche. „Kaffee, nicht wahr?“, werde ich angesehen. „Richtig.“ „Mit Milch? Zucker?“ „Nur Milch“, antworte ich knapp. Mein Blick liegt noch immer auf Melvin, der nun nach der Milch greift und sie mir reicht. Er lächelt, als ich sie entgegen nehme, und wieder fällt mir das Grübchen auf. Marcel setzt sich neben mich, nachdem er meine Tasse mit Kaffee gefüllt hat. „Brötchen?“ „Danke“, greife ich in die Tüte, nun ihn ansehend. Sie sehen sich wirklich so wahnsinnig ähnlich. Obwohl da irgendwas anders ist… Marcels Blick verlässt mich und er sieht seinen Bruder an. „Du bist doch gleich mit deiner Süßen verabredet, oder?“ „Ja.“ Melvin faltet nun endlich die Zeitung zusammen, legt sie zur Seite. „Caro sagt, heute ist ne Menge Küssen angesagt.“ Ich sehe ihn bei diesen Worten das Gesicht grinsend verziehen, etwas, das Marcel auch ständig macht... aber irgendwie anders. „Ah! Ich beneide dich!“, zwinkert Marcel, über den Tisch nach irgendwas greifend. „Lass das bloß nicht Jeanette hören, sonst reißt sie dir den Kopf ab.“ „Dann nehm ich halt deinen.“ „Das wagst du nicht!“ „Ich könnte es versuchen…“ „Das glaub ich dir sogar!“ Melvin lacht Marcel an, dann mich. Seine Augen strahlen dabei. „Er starrt uns noch immer an.“ „Du hast Recht. Mann, ich glaub’s nicht, hab ich’s doch tatsächlich geschafft?“ „Was?“ „Ihn zu überraschen. Ich hatte ja schon daran gezweifelt, dass das bei ihm überhaupt geht...“ „Das gestern war nichts?“ „Doch, einigermaßen, aber er ist ne harte Nuss...“ „Sieht gar nicht so aus.“ „Stimmt. Gef-“ „Hört auf über mich zu reden, als sei ich nicht hier!“, fahre ich sie an, als es mir zu viel wird, zwischen ihnen hin und her zu sehen und doch auf das gleiche Gesicht zu blicken. Ich greife nach der Tasse Kaffee und führe sie zum Mund. Meine Augen liegen auf Melvin, auf seinen Haaren, die das Offensichtlichste sind, was die beiden auf den ersten Blick voneinander unterscheidet. „Entschuldige“, sagt dieser schließlich und klingt ehrlich dabei. Seine Augen sehen mich freundlich an und ich frage mich für eine Sekunde, ob ich mir einbilde, dass sie eine etwas andere Form haben. Dann nicke ich und sehe weg. „Irritiert es dich so sehr, mich zwei Mal zu sehen?“, fragt Marcel. „Schon. Ihr seid euch wirklich sehr ähnlich.“ „Aber nur vom Aussehen. Eigentlich sind wir sehr unterschiedlich...“ Marcel greift nach der Brötchentüte. „Mel hasst es, Sport zu gucken und studiert im Bereich Musical-Show... nur um zwei Punkte zu nennen.“ „Musical-Show?“, frage ich fast ein wenig überrascht, nachdem ich es wirklich realisiert habe und in meinem Kopf das Bild eines nicht unbedingt eleganten, hektischen Marcels, der mir beim ersten Treffen Kaffee über die Hände gekippt hat, aufgetaucht ist. „Ja“, kommt es fast etwas zaghaft, ohne weitere Aussagekraft. „Kannst du dich mir tanzend und singend vorstellen?“, grinst Marcel mich an. „Nicht mal ansatzweise“, schüttle ich den Kopf. „Dann musst du ihn mal sehen, du wirst begeistert sein!“ „Marcel, übertreib nicht.“ „Tu ich nicht! Ich schwör’s!“ Marcel hebt lachend die Hände. „Wann habt ihr die nächste Vorstellung?“ „Übernächsten Samstag.“ „Da hörst du’s! Nimm dir an dem Tag nichts vor!“ „Ihr habt Auftritte?“ „Nur sehr klein, aber ja... Ab dem zweiten Semester findet so was regelmäßig statt, damit wir Praxiserfahrung sammeln...“ Nickend sehe ich Melvin an, der daraufhin leicht rot wird. „Seit wann studierst du?“ „Seit knapp zwei Jahren.“ „Und wie kommt man auf Musical-Show?“ Der Rotschimmer scheint etwas mehr zu werden. „Das fragt irgendwie jeder…“ „Wirklich? Tut mir leid!“, hebe ich sofort die Hände. „Kein Problem.“ Melvin lächelt aber er antwortet mir nicht. „Magst du Musicals?“, unterbricht Marcel dann auch ziemlich schnell die Situation. „Ich war erst in einem und das ist lange her. Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal mehr, wie es hieß…“ „Dann wird es Zeit, dass du mal wieder eines siehst!“, nicht Marcel eindringlich, bevor er plötzlich auf die Uhr deutet. „Sag mal Mel, musst du nicht los? Es ist schon zehn vor.“ „Oh Mist!“, springt er hektisch auf. „Du hast Recht!“ Damit ist Melvin auch schon aus der Küche verschwunden und man hört ihn im Zimmer nebenan. Mir wird wieder bewusst, dass ich dieses ja bereits gesehen habe. Plötzlich ist es mir hoch peinlich. Ich sehe Marcel an, um den Gedanken loszuwerden. Er grinst immer noch oder mal wieder breit vor sich hin. Bei ihm erkennt man kein Grübchen. Ich will gerade etwas sagen, als Melvin wieder hereinkommt. Er streckt mir die Hand hin. „Tschüss“, lächelt er mit vor Hektik roten Wangen. „Ich würde mich freuen, wenn du zu unserem Auftritt kommst.“ „Ich werde es versuchen.“ „Schön!“ Damit entzieht sich seine warme Hand mir. Er wirft Marcel noch einen Gruß zu und lässt Sekunden später die Wohnungstür ins Schloss fallen. Etwas verdattert schüttle ich den Kopf. „Widererwarten seid ihr doch beide nicht von der ruhigen Sorte.“ „Das täuscht. So ist er nur, wenn er in Hektik oder nervös ist. Normalerweise ist Mel der Ruhepol von uns beiden...“ Marcel beißt in sein Brötchen und sieht mich erwartungsvoll an. „Und? Was machen wir beiden hübschen noch so?“ „Ich weiß nicht. Ich sollte wahrscheinlich irgendwann nach Hause, sonst flippt Tobias aus...“ „Hast du ihn endlich angerufen?“ „Nein“, fällt mir in dem Moment auch ein, dass ich gestern tatsächlich nicht auf das mehrmalige Klingeln reagiert habe. Ob er mir am Ende eine SMS geschrieben hat? „Das ist schon ziemlich fies, wo er doch so eifersüchtig ist...“ „Ich tu aber nichts, also muss er nicht eifersüchtig sein.“ „Stimmt schon... aber damit er einen Frieden hat... soll ich dich gleich nach Hause fahren?“ „Es reicht, wenn du mich zum Bahnhof fährst“ „Ach, das ist doch Quatsch! Wieso solltest du den Zug zahlen, wenn ich dich fahren kann?“ „Und wieso solltest du Spritkosten zahlen, wenn ich mit dem Zug fahren kann?“, kontere ich. „Mist! Eins zu Null für dich!“, schnipst er in die Finger. „Aber egal, ich fahr dich trotzdem, ich will dich nicht gleich schon wieder los sein...“ „Wie du meinst“, greife ich resignierend nach dem Marmeladenglas. „Tu, was du nicht lassen kannst.“ „Mach ich sowieso...“ „Ich weiß.“ Die Fahrt vergeht überraschend schnell, was wohl daran liegt, dass wir uns die gesamte Zeit unterhalten. Erst erzählt Marcel mir davon, wie sie früher immer Streiche gespielt haben, wie sie Lehrer, Mitschüler und Freunde mit ihrer Ähnlichkeit überforderten. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, in ein Gesicht zu sehen, das wie meines ist…“, sage ich, versuchend, mir das irgendwie vorzustellen. „So komisch ist das gar nicht. Man kennt es ja nicht anders… und außerdem sieht man sich so ja selbst nie richtig…“ „Was meinst du?“ „Naja…“ Er klappt den Spiegel am Beifahrersitz herunter, deutet darauf. „Sie hinein… So wie du dich da siehst, so siehst nur du dich… Das ist auch der Grund, warum einem Fotos von sich selbst nie gefallen, weil man sich so nie sieht, weil es fremd ist.“ Ich sehe für einen Moment mein Spiegelbild an, dann wieder Marcel. „Und deswegen ist es anders, Melvin zu sehen?“ „Ein bisschen zumindest. Ich sehe natürlich auch, wie ähnlich wir uns sind, aber dennoch sieht er auf gewisse Weise ganz anders aus als ich… oder als mein Spiegelbild…“ „Das ist komisch“, gebe ich zu. „Ich hab über die Sache nie so nachgedacht.“ „Brauchtest du ja auch schließlich nicht.“ „Hat es dich jemals gestört?“ „Was?“ „Dass du einen Zwilling hast.“ „Nein, mich eigentlich nie.“ Er lächelt, ein wenig traurig. „Aber es gab schwierige Zeiten…“ Ich zögere bevor ich frage, was er damit meint. Doch ich erhalte nur ein paar Worte als Antwort und schließlich die Aussage, dass ich dazu besser Melvin fragen sollte. Sofort will ich mich entschuldigen, woraufhin er aber sogleich den Kopf schüttelt. Und dann wechseln wir das Thema. Vor dem Wohnblock angekommen, zieht Marcel etwas aus dem Handschuhfach heraus. Er kritzelt etwas auf einen Fetzen Papier und hält ihn mir dann hin. „Was ist das?“ „Unsere Nummer“, drückt er mir den Zettel in die Hand. „Ich würd dir ja auch meine Handynummer geben, aber das bringt nicht wirklich was. Ich hab’s eigentlich nie dabei…“ „Wie ungewöhnlich.“ Ich grinse, stecke den Zettel weg und ergreife einen leeren, den Marcel mir reicht. „Ich hätte gedacht, dass du so ein Freak bist, der immer die neusten Klingeltöne will.“ „Das war einmal. Mittlerweile find ich die Dinger nervig. Das kann aber auch daran liegen, weil ich immer den Pager der Taxizentrale mit mir herumtragen muss, falls es wirklich mal zu viel zu tun gibt…“ „Kommt das oft vor?“ „Gott sei dank nicht.“ Er deutet auf den noch immer leeren Zettel. „Bekomm ich deine Nummer?“ „Ich ratschlage noch, ob ich das wirklich tun sollte“, grinse ich, natürlich ohne es wirklich so zu meinen. „Denk dran, ich weiß wo du wohnst!“ Er zeigt aus dem Fenster, lacht ein bedrohlich, ironisches Lachen. „Oh Mist, ich vergaß! Ich sollte umziehen!“ „Oder mir deine Nummer geben, damit ich mich vorher ankündigen kann.“ „Okay, du hast gewonnen.“ Als ich einige Minuten später die Wohnungstür aufschließe, bin ich irgendwie froh festzustellen, dass Tobias nicht da ist. Die Treppe hinaufgegangen, habe ich nämlich endlich die SMS gelesen, welche er mir in der Nacht geschrieben hat. Es würde Streit geben, das versprach sie ziemlich eindeutig. Er ist sauer, sehr sogar... auch wenn ich nicht verstehe, wo eigentlich sein großes Problem liegt. Nun wie gesagt froh, erstmal in meiner leeren Wohnung anzukommen, gehe ich zunächst ins Arbeitszimmer und krame mein Adressbuch hervor. Ich kritzle Namen und Telefonnummer von Marcel hinein. Als nächstes beschließe ich, duschen zu gehen, da noch immer der Kneipengeruch aus Zigaretten und Bier an meiner Kleidung und an mir zu kleben scheint... etwas, das ich ehrlich gesagt nicht wirklich gewohnt bin. Meine Klamotten in die Wäschetrommel gesteckt, schlüpfe ich also unter das strömende Wasser. Die zunehmende Wärme genießend, kommen mir wieder die zwei gleichen Gesichter in den Sinn. Ehrlich gesagt habe ich noch nie eineiige Zwillinge gesehen, außer vielleicht mal im Fernsehen. Es ist schon interessant, wie die Natur zwei so ähnliche Menschen erschaffen kann... und dennoch, bereits in wenigen Minuten kann man minimale Unterschiede zwischen ihnen sehen. Vielleicht habe ich durch meine Arbeit in der Künstlerbuchsparte unseres Verlages aber auch einfach einen Blick für Kleinigkeiten... ich weiß es nicht. Wahrscheinlich fallen einem noch mehr Dinge auf, je länger man sie beide kennt. Allein ihr Charakter wird sich unterscheiden und man kann ja auch nicht dieselbe Mimik haben, wie ein anderer Mensch, oder? Und ob Melvin wirklich so ruhig ist, wie Marcel gesagt hat? Das kann ich mir gar nicht wirklich vorstellen... muss man im Musicalbereich nicht eher eine lebendige, offene Art mitbringen? Kopfschüttelnd drehe ich das Wasser aus. Wieso denke ich eigentlich über so etwas nach? Ich kenne die beiden noch gar nicht wirklich und dennoch wirbeln sie in meinem Kopf herum. Das ist sonst gar nicht meine Art. Mich abtrocknend, beginne ich zu frösteln. Schnell verlasse ich deshalb das Bad und gehe ins Schlafzimmer, mir ein paar bequeme Sachen aus dem Schrank holend. Dabei fällt mir wieder ein, wie Marcel nach einer lockeren Jacke gefragt hat… Habe ich denn wirklich nur so steife Klamotten? Ist mir nie so vorgekommen. Außerdem kann ja nicht jeder nur immer in Jeans und bunten Pullis herumlaufen, oder? Schon wieder nicht ganz verstehend, weshalb ich eigentlich jetzt darüber nachdenke, bringe ich das Handtuch zurück ins Bad und statte dann der Küche einen Besuch ab, um die Kaffeemaschine anzustellen. Gähnend lehne ich mich gegen die Arbeitsplatte und schaue der braunen Flüssigkeit beim Durchlaufen zu. Erst nach einigen Minuten fällt mir der Zettel auf, der mitten auf dem Tisch liegt. Bin kurz ein paar Sachen von Zuhause holen. Nimm dir bitte für heute nichts vor. Wir müssen reden! Ein paar mal lese ich die Zeilen, bevor ich den Zettel zerknülle und in den Müll werfe. Reden. Wusste ich’s doch, er will mir schon wieder eine Predigt halten. Ich verstehe einfach nicht, was das bringen soll... Er wird mir sagen, wie traurig er gestern war, wird mir sagen, dass er mich vermisst hat, und fragen, ob irgendwas passiert ist, obwohl ich ihm schon ein paar Mal versichert habe, dass Marcel nicht mal schwul ist. Tobias wird wahrscheinlich wieder anfangen zu schreien, weil ich nicht auf ihn eingehe, und er wird schließlich sich entschuldigend bei mir ankommen... Ist das nicht völlig unnötig? Es ist immer das gleiche, seit ich mit ihm zusammen bin. Warum begreift er denn nicht, dass ich einfach nicht der Typ dafür bin? Ich habe keine Lust darauf, meine Gefühle bloßzulegen... und ich habe auch kein Interesse daran, dass er es ständig tut. Warum lernt er das nicht endlich? ENDE Akt 4 Non-Replica: Dabei handelt es sich um eine Produktion bzw. Aufführung, welche sich nicht in allem Punkten am Original orientiert, also wenn zum Beispiel die Lieder in anderer Reihenfolge gespielt werden und somit Nachproduktion und Original nicht vollkommen gleich sind. Wahrscheinlich ist hier klar, was ich mit dem Titel bezeichne: Marcel und Melvin, denn sie sind sich so gleich... und sind es doch wieder nicht ;-) Kapitel 5: Cue -------------- Als Tobias zurückkommt, sitze ich gerade auf dem Sofa, in ein Magazin vertieft. Ich höre den Schlüssel im Schloss und habe fast das Gefühl, mich weiter in den Polstern verkriechen zu wollen... stattdessen bleibe ich einfach sitze, horche auf die Schritte, die in die Küche und in mein Arbeitszimmer führen, dann zum Wohnzimmer... „Da bist du ja!“, kommt es und ich bin mir nicht sicher, ob es eher erleichtert als verärgert klingt. „Ja, da bin ich“, entgegne ich, mache aber keine Anstalten, die Zeitschrift zur Seite zu legen. „Seit wann bist du zurück?“ „Seit ner Stunde ungefähr.“ „Seit... ner Stunde? Was habt ihr denn noch gemacht den ganzen Morgen lang?“ „Die Autofahrt dauert seine Zeit.“ Genervt schlage ich nun doch die Zeitschrift zu. Im selben Moment lässt Tobias sich neben mir nieder. „Er hat dich gefahren?“ „Ja, hast du ein Problem damit?“, frage ich überflüssigerweise, weil ich ja genau weiß, dass es so ist. „Ja, das hab ich! Du kannst doch auch den Zug nehmen und-“ „Das ist ja wohl mein Ding!“ „Hat er dich angemacht?“ Ich ziehe die Luft scharf ein. Langsam wird das echt zu dämlich! „Tobias“, sage ich ernst. „Erstens hast du mich betrogen, zweitens gehören dazu immer noch zwei und drittens ist Marcel weder schwul noch an mir interessiert. Ist es so schwer, das in dein Hirn zu bekommen?“ „Aber... weshalb will dieser Taxifahrer dann plötzlich was mit dir machen?“ „Er studiert, nur so nebenbei. Und hast du schon mal was von Freundschaft schließen gehört?“ „Freundschaft?“ Ein zynisches Lachen entweicht ihm. „Du bist es doch, der mit so was nicht umgehen kann!“ Sprachlos sehe ich ihn an, während in mir etwas zu brodeln beginnt. Ich knalle die Zeitschrift auf den Tisch und stehe auf. „Das Gespräch ist beendet!“, sage ich kühl und verlasse den Raum. „Wieso so plötzlich?“, ist Tobias aber schon in der nächsten Sekunde wieder direkt hinter mir. „Weil ich recht habe? Ist doch so! Du hast doch keinen einzigen Freund, du weißt doch gar nicht wie das geht, das-“ Ich unterbreche ihn, als ich mich ruckartig umdrehe, ihn an der Schulter packe und gegen die Wand drücke. „Reicht das jetzt? Hast du dich ausgekotzt? Sehr schön, dann sei jetzt endlich still!“ Ich werde angefunkelt während meiner Worte... und ich habe keine Ahnung, ob ich es schaffe, einen ähnlichen Blick zurückzuschleudern. Ich spüre meine Hand zittern, vor unterdrückter Wut, die herausgelassen werden will, es aber von mir nicht wird. Es bringt doch nichts, wenn ich ihn anschreie, wenn ich mit ihm streite... das bringt überhaupt nichts! Also lasse ich Tobias los und verschwinde im Arbeitszimmer. „Ich muss arbeiten!“, sind meine letzten Worte, bevor ich ihm die Tür verschließe. Die nächsten Minuten arbeite ich nicht. Stattdessen geh ich in dem kleinen Zimmer auf und ab, balle die Hände zu Fäusten und löse sie wieder, tue es erneut... Ich versuche ruhig zu atmen, die Worte, die Tobias gesagt hat, aus meinem Kopf zu entfernen. Ob er Recht hat? Vielleicht... wahrscheinlich hat er das wirklich... aber ist es denn wirklich notwendig, solche Worte auch auszusprechen? Ich bin nicht so erzogen worden... ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen. Irgendwann bleibe ich einfach mitten im Raum stehen. Ich starre vor mich hin, starre meine Schränke an, mit den Unmengen an Büchern, frage mich, was ich jetzt tun soll. Arbeiten... das habe ich zumindest gesagt... aber eigentlich habe ich gar keine Lust darauf. Ich will irgendwas anderes machen, irgendwas, das mehr Spaß macht. Ich zucke zusammen, als ich in meinem Kopf fast schon Marcels Worte höre. Wie bescheuert ist das denn bitte? Die Gedanken abschütteln setze ich mich. Ich schalte den Computer an, hole einen Ordner aus meiner Tasche hervor und schlage ihn auf... Trockene Worte starren mich an und ich starre zurück. Fast zwanzig Minuten vergehen, in denen ich nichts Produktives tue. Als es dann an der Tür klopft, ist auf meinem Bildschirm noch immer das Windows-Login-Fenster zu sehen. Ich zögere einen Moment. Eigentlich habe ich keine Lust, mit ihm zu reden. „Komm rein“, sage ich schließlich dennoch. Langsam wird daraufhin die Tür geöffnet. „Bist du sauer?“, kommt es, als er zu mir an den Tisch getreten ist. Ich drehe mich um, sehe ihn an, schüttle den Kopf. „Wirklich nicht?“ „Sollte ich es sein?“ Ein rasches Kopfschütteln und im nächsten Moment sinkt er mir um den Hals. Ich halte ihn fest, lasse zu, dass er sich auf meinen Schoß setzt. Dann küsst er mich. „Es tut mir leid, ich hätte das nicht sagen sollen...“, drückt er sich fester an mich heran. Ich verkneife mir eine Antwort. Welche denn auch? Er soll einfach aufhören, darüber zu reden. Schnell wird sein Kuss heftiger, als er merkt, dass ich darauf eingehe. Er schlingt die Arme fester um mich, presst seinen Unterkörper gegen mich. Ich nehme die Einladung an, indem ich vom Stuhl rutsche, mit ihm zusammen zu Boden gehe. Nun wird er ungestüm, zieht mir das Hemd über den Kopf, greift mir mit festen Fingern in die Haut und küsst mich leidenschaftlich. Sein Körper vollführt anziehende Bewegungen, die mich darauf immer mehr eingehen lassen. Die Hosen schnell beseitigt, drängt er sich noch näher an mich, stöhnt, reibt sich an mir... macht schnell klar, was er genau jetzt will, was auch ich will. Unter lautem Stöhnen seinerseits dringe ich in Tobias ein. Seine Fingernägel krallen sich in meinen Rücken und er wirft den Kopf zurück, schreit unterdrückt auf. Dann bewegen wir uns, schnell, schneller... Auch ich beginne zu stöhnen, stoße in ihn, schließe die Augen und lasse mich treiben. Flackernd sehe ich einen Moment lang, wie ich Tobias und diesen Jungen erwischt habe... dies Gefühl treibt mich nur noch mehr an, lässt mich noch tiefer in die Empfindungen eingehen. Für ein paar Sekunden vergesse ich alles, denke an nichts außer an dieses Gefühl... bis es mit einem Lauten Schrei aus mir heraus bricht und so schnell verschwindet, wie es gekommen ist... Als ich die Augen wieder öffne, sehen mich zwei befriedigte Augen lächelnd an. Tobias streckt sich und küsst mich. „Das war toll“, lächelt er, als wir uns beide aufgesetzt haben. „Hm“, mache ich nur und sehe ihn einen Moment lang an. Soeben noch das Gefühl der Befriedigung verspürt, ist es auch schon wieder verschwunden als sei es nie dagewesen. Ich weiß nicht wirklich, weshalb das so ist, aber eigentlich war es immer schon so... „Ich liebe dich“, küsst Tobias mich erneut und in diesem Moment frage ich mich, worüber er eigentlich mit mir hatte reden wollen. Ich frage nicht danach. Der restliche Tag vergeht recht harmonisch. Abends kocht Tobias für uns und zusammen verbringen wir die Zeit vor dem Fernseher. Ob ich es genieße? Keine Ahnung... Wenigstens gibt es gerade nicht wirklich etwas, das ich lieber machen würde. Fragen, worüber er mit mir hatte reden wollen, tue ich auch die restliche Zeit nicht. Er scheint es selbst nicht mehr zu beabsichtigen… wieso sollte ich also den Punkt aufbringen? Wie ich ihn kenne, wäre es eh kein besonders freudiges Thema gewesen. Als wir gegen elf Uhr ins Bett gehen, fragt Tobias zum ersten Mal, was Marcel und ich eigentlich gemacht haben und natürlich reagiert er genau so, wie es zu erwarten war. „Das ist ungerecht!“, sitzt er sofort aufrecht da und grinst mich an. „Du... DU in einem Fußballstadion!! Wieso? Oh ist das gemein!!“ Ich versuche sein Grinsen zu erwidern und das Licht zu ignorieren, das er wieder angeschaltet hat und das mir nun in den Augen brennt. „Es war ein gutes Spiel“, ziehe ich ihn auf, was ihn natürlich noch etwas mehr ärgert. „Wieso läd’ er dich dazu ein?“, knurrt er schließlich. „Er kommt billiger an die Karten...“ „Echt? Glaubst du, er kann mir mal eine besorgen? Das wäre klasse!“ Jetzt muss ich tatsächlich grinsen. „Ich werd ihn fragen. Soll ich ihm bei der Gelegenheit dann auch gleich sagen, dass du ihn nicht mehr hasst und er einen neuen besten Freund hat?“ „Blödmann!“, knufft Tobias mich in die Seite, lacht dann aber und strahlt bis übers ganze Gesicht. Dass einen die Aussicht auf Fußballkarten so glücklich machen kann, begreife ich nicht. „Und danach?“, reißt er mich aus meinen Gedanken hervor. „Was danach?“ „Was habt ihr dann gemacht?“ „Dann waren wir was trinken und haben geredet.“ „Worüber?“ „Willst du mich jetzt schon wieder ausfragen?“, sehe ich ihn skeptisch an. „Ich... das... Stört es dich?“ Ich zucke die Schultern. „Ich würde eigentlich gerne schlafen.“ „Schlafen! Apropos! Wo hast du geschlafen?“, kommt es schnell. „In seinem Bett“, schalte ich das Licht aus und bin schon auf den größten Ausbruch der Menschheitsgeschichte gefasst. „In... IN SEINEM BETT?“, will Tobias sofort zum Lichtschalter zurück. Ich halte seinen Arm fest. „Auf dem Sofa“, sage ich dann beruhigend. „Wirklich, ich wollte dich nur ärgern.“ „Du wolltest mich... ärgern?“ „Macht man das nicht?“, drehe ich mich um, kuschle mich endlich in die Decke ein. „Doch... schon... aber du?“ Ich erwidere nichts darauf sondern schließe die Augen und schweige demonstrativ. Schließlich begreift er scheinbar, dass ich auf diese Art von Gespräch nicht schon wieder Lust habe und legt sich ebenfalls hin. Ein leises „Gute Nacht“ wird durch die Dunkelheit geflüstert, das ich gähnend erwidere, bevor ich ziemlich schnell einschlafe. ~ * ~ Die ersten Tage dieser Woche vergehen sehr gleichmäßig, so wie immer halt. Ich gehe zur Arbeit, komme nach Hause, esse zusammen mit Tobias, schaue fern und gehe ins Bett. Nichts wirklich Spannendes – wie immer halt. Tobias ist die meiste Zeit über sehr gut gelaunt, woher auch immer das kommen mag. Er ist nicht auf Streit gebürstet, worüber ich froh bin. Nur ab und an lässt er einen zweifelhaften Spruch los, doch ich ziehe vor, dies zu ignorieren. Eigentlich läuft im große und ganzen bis Mittwochabend tatsächlich alles wie immer... und dann kommt dieser Anruf. „Telefon für dich!“, kommt Tobias ins Wohnzimmer und hält mir den Hörer hin. Sein Blick ist aussagekräftig, doch ich verstehe ihn nicht. „Hallo?“, melde ich mich, irgendwie fast erwartend, dass Marcel am Ende der Leitung ist... doch stattdessen meldet sich eine Frauenstimme. „Vivian.“ Wie auf Knopfdruck ist meine Stimme unterkühlt. „Überrascht?“ „Ein bisschen tatsächlich.“ Ich lasse die Zeitschrift sinken, in der ich zuvor gelesen habe, mein Körper scheint von Kälte erfüllt zu werden. „Was willst du?“ „Darf ich nicht einfach mal mein Bruderherz anrufen?“ „Wir wissen beide, dass du das nicht einfach mal so machst. Also?“ „Ich habe mit Mutter gesprochen.“ „Fast hab ich es geahnt. Und? Was sollst du mir ausrichten? Dass ich aus dem Familienstammbaum gestrichen wurde?“ „Ich soll dich bitten, eine Therapie zu ma-“ „Oh Vivian, nett, dass du anrufst. Wolltest du sonst noch was? Ansonsten beende ich dieses Gespräch auf der Stelle.“ „Jetzt warte doch mal!“, kommt es hektisch von meiner jüngeren Schwester. „Worauf? Ich habe besseres zu tun, als mir diesen Unfug anzuhören.“ „Vater wird dich enterben, wenn du es nicht tust!“ „Das weiß ich schon. Es ist mir egal.“ „Aber... du kannst doch nicht...“ „Kann ich nicht? Jetzt hör mal zu, Vivian, selbst du, mit deinen achtzehn Jahren solltest langsam begriffen haben, dass es den beiden nur um sich geht. Sie haben uns nur gezeugt, um uns vorzeigen zu können. Und nun, da ich nicht mehr vorzeigbar bin, werde ich aus ihrem Plan gestrichen. So einfach ist das, um mehr geht es ihnen nicht.“ Während ich spreche und dabei ein wenig lauter in der Stimme werde, sehe ich aus den Augenwinkeln Tobias ins Wohnzimmer kommen. Fast spüre ich seinen besorgten Blick, den ich ihm am liebsten schon wieder sonst wo hinstecken würde. „Aber-“ „Kein Aber! Ich habe schon lange keine Lust mehr, diese Farce mitzuspielen. Wenn du und Kenneth das könnt, ist das eure Sache, aber lasst mich damit in Ruhe.“ Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter und entziehe mich ihr sogleich wieder. Den Hörer presse ich etwas stärker ans Ohr. „Nathanael... bitte... denk doch wenigstens darüber nach... du könntest ja auch nur so tun als ob-“ „Und was soll mir das bringen? Geld brauche ich nicht und mit ihrer falschen Anerkennung können sie machen, was sie wollen!“ Ich stehe auf, als Tobias mich erneut berühren will, und trete von ihm zurück. Noch sorgenvoller werde ich angesehen, während ich zur Balkontür gehe. Ich weiß nicht weshalb, aber ich muss an Marcels Worte denken... ...zwischenmenschlich eine Niete...... „Aber... wir sind doch eine Familie...“ „Du weißt gar nicht, was eine richtige Familie ist, Vivian. Wir wissen das alle nicht! Sie haben uns unfähig gemacht, es zu wissen. Sie haben uns zerstört! Merkst du das denn nicht? Du tanzt schon seit achtzehn Jahren ihren perfekten Tanz und merkst nicht, wie steif er ist! Wach endlich auf!“ Stille. Ich habe meine freie Hand zu einer Faust geballt und empfinde das Bedürfnis, auf irgendwas einzuschlagen. Schon länger hatte ich ein solches Gefühl nicht mehr. Ist es das, was Marcel meinte, als er von Wut sprach? „Du... machst also keine Therapie?“, kommt es schließlich, was mir nur noch mehr das Gefühl gibt, irgendwo gegen laufen zu wollen. „Sag mal, geht’s noch? Hörst du mir nicht zu?“, werde ich etwas lauter. „Sag ihnen, dass mir ihre beschissene Erblinie egal ist, dass sie machen können, was sie wollen! Sie sollen mich nur in Ruhe lassen, wenn ich ihnen ein Dreckfleck auf der weißen Weste bin! Lasst mich einfach in Ruhe!“ „Natha-“ Ich lege auf. Mit zitternder Hand entferne ich den Hörer von meinem Ohr, starre ihn an. Wut... warum jetzt? Warum bin ich plötzlich so aufgebracht? Ich kenne das gar nicht. „Nate, was ist denn-“ „Nichts!“, zische ich, setze mich in Bewegung und gehe an Tobias vorbei. „Aber-“ „Lass mich in Ruhe!“ Damit verschwinde ich im Schlafzimmer, gebe aber dem Bedürfnis, die Tür zu knallen, nicht nach. Stattdessen schließe ich sie ruhig und atme so tief durch wie möglich... schleudere dann den Hörer, den ich noch immer in der Hand halte, aufs Bett. „Die hat sie doch nicht mehr alle!“, schüttle ich den Kopf, spüre das Zittern in meiner Stimme. Ich beginne wieder damit, im Zimmer herumzulaufen, versuche meine Atmung zu beruhigen, mich zu beruhigen. Ich wusste ja, dass Vivian sehr nach der Pfeife unserer Eltern tanzt, aber dass sie sich jetzt schon dazu herablässt, ihre Nachrichten zu übermitteln... und dass Mutter es noch nicht mal schafft, mich selbst anzurufen. Das ist doch alles lächerlich! Das Klingeln des Telefons lässt mich im Schritt erstarren. Misstrauisch wende ich meinen Blick darauf, funkle es förmlich an. Sie versucht es tatsächlich noch mal... ich glaub’s nicht! Schnell habe ich den Hörer an mich gerissen, die Annahmetaste gedrückt und die Worte „Was noch?“ unfreundlich herausgebracht. Sekundenlang bleibt es still und gerade will ich Vivian erneut anfahren, als sich die Person am anderen Ende doch zu Wort meldet. „Ähm... Sorry, wenn ich störe...“ „Marcel!“, halte ich in jeglicher Bewegung inne. „Oh Mist, tut mir leid.“ Ich versuche ein gezwungenes Lachen. „Ich hab nur grad mit meiner Schwester telefoniert. Sie sollte mich fragen, ob ich nicht doch zu einer Therapie will. Man, das ist so lächerlich! Aber soll ich dir was sagen? Hiermit hast du nun doch die erste Sache, die mich aus der Ruhe bringt! Ich bin doch tatsächlich grad-“ „Nathanael! Nathanael, warte doch mal!“, hält er mich nach mehrmaligem Rufen auf. „Ja?“ „Ich bin nicht Marcel. Ich meine...“ „Melvin?“ Wie vor den Kopf gestoßen sinke ich auf mein Bett nieder, kann ein Lachen nicht unterdrücken. „Das wird ja immer schlimmer. Tut mir leid!“ „Quatsch! Mir tut es leid!“ „Du kannst doch nichts dafür, dass ich dich verwechsle!“ „Doch klar, ich hätte mich mit Namen melden können, und ich-“ „Melvin?“, unterbreche ich ihn grinsend. „Ja?“ „Es ist okay. Lass uns das einfach vergessen, ja?“ „O... Okay“, höre ich sein Lächeln. Dann ist es kurz still, merkwürdig, peinlich still. „Wieso hast du angerufen?“, frage ich nach ungefähr einer halben Minute. „Oh! Natürlich!“ Ein nervöses Lachen. „Sorry, hab ich ganz vergessen... Wir wollten fragen, ob du Lust hast, am nächsten Wochenende was mit uns zu machen... Ich meine, am Samstag.“ „Samstag?“ Kurz gebe ich vor zu denken, beschließe aber, ihn nicht zu lang auf die Folter zu spannen, da seiner Stimme anzuhören ist, wie nervös er ist. „Ja, ich habe Zeit. Was habt ihr denn vor?“ „Marcel sagt, du sollest dich überraschen lassen...“ „Hätt’ ich mir denken können“, grinse ich in den Hörer, lasse meine Stimme dann etwas weicher werden. „Sagst du es mir trotzdem?“ „Nur wenn du trotzdem kommst... Es ist nichts so Spannendes“, spricht er unsicher. „Versprochen.“ „Wir wollten mit Carolin und Jeanette Bowlen gehen... naja, und Marcel kam die Idee, dass du daran bestimmt auch Spaß hättest... Ich meine... ich weiß nicht, ob du darauf Lust hast, aber-“ „Ich hab’s versprochen, oder?“ „Ja.“ Ich lächle. „Also komme ich auch.“ „Das... das ist toll!“, kommt es begeistert. „Aber, sag mal... Habt ihr was dagegen, wenn ich Tobias mitbringe? Er ist sonst wieder eifersüchtig und das nervt auf Dauer ein wenig.“ „Deinen Freund?“ „Ja. Aber nur wenn es euch nicht unangeneh-“ „Nein, quatsch, ist es nicht! Natürlich kannst du ihn mitbringen!“ „Gut, danke. Wann sollen wir denn wo sein?“ „Halb Sieben bei uns?“ „Gut. Also sehen wir uns Samstag?“ „Ja.“ „Also Tschü-“ „Warte mal!“, kommt es schnell. „Ja? Was denn?“ „Ähm... zwei Dinge noch...“ „Und die wären?“ „Erstens... bitte nenn mich Mel... ich hasse Melvin...“ „Okay. Aber nur wenn du mich auch nicht Nathanael nennst, das tut nur meine… naja, Familie. Nathan oder Nate ist gut... oder was anderes, wenn dir was einfällt.“ „Okay, gern, mach ich!“ Ich sehe förmlich das Grübchen in seiner Wange vor mir bei diesem hörbaren Lachen. „Und die zweite Sache?“, frage ich dann nach. „Ich... naja...“, verschwindet das Lachen und er scheint nicht ganz mit der Sprache herausrücken zu wollen. „Ja?“ „Vielen Menschen... fällt es schwer, Gefühle zu zeigen aber... wenn es um Personen geht, die ihnen wichtig sind... naja... dann wieder ist es ganz einfach...“ Verdutzt horche ich auf. „Redest du von mir?“ „Irgendwie schon...“ Ein unsicheres Geräusch am anderen Ende. „Weißt du... Marcel hat mir gesagt, was für ein Mensch du bist... aber mir kamst du eigentlich ganz nett und normal vor... und grade hast du gesagt, dass dich das Gespräch mit deiner Schwester aus der Ruhe gebracht hat... und da dachte ich... ich meine...“ Er bricht ab und ich bin mir aus irgendeinem Grund sicher, dass er knallrot ist. „Danke“, sage ich deshalb und versuche es so ehrlich klingen zu lassen, wie es nur möglich ist. „Vielleicht hast du Recht.“ „Wenn nicht... ich meine... ich wollte es nur loswerden... Wir... wir sehen uns am Samstag?“ „Ja, bis Samstag.“ Damit legt er auf, wie mir das Klicken in der Leitung verrät. Ich tue es ihm gleich, grinse den Hörer an und stehe schließlich auf. Irgendwie ist meine ganze schlechte Laune mit einem Mal verflogen. Ich hätte Mel dafür danken sollen. Als ich das Schlafzimmer verlasse, treffe ich im Wohnzimmer auf einen unglaublich besorgten Blick. Allerdings fragt Tobias nichts, sondern scheint abzuwarten, was ich nun tue. „Das war Mel“, sage ich, hebe den Hörer in meiner Hand und lasse mich neben Tobias auf dem Sofa nieder. „Wer ist Mel?“, ist er sofort hellhörig. „Melvin. Marcels Zwilling. Er-“ „Wieso ruft er dich an?“, kommt es direkt in Angriffsposition. Augenrollend atme ich tief durch. Ich will mir meine gute Stimmung jetzt nicht schon wieder verderben lassen! „Er fragt, ob wir am Samstag mit ihnen Bowlingspielen kommen wollen.“ Dabei betone ich das „wir“ besonders stark, beuge mich etwas zu ihm und flüstere leise. „Du kannst deine Krallen einfahren, Kätzchen, er hat auch ne Freundin, okay?“ Ein prüfender Blick, bevor er sich zu mir beugt. „Okay.“ Dann küsse ich ihn. ENDE Akt 5 Cue: Damit wird der Einsatz bezeichnet, wenn ein neuer Abschnitt beginnt, bzw. eine neue Szene. Dies ist wohl mein abstraktester Titel... Ich orientierte mich hierbei an der anderen Bezeichnung für „Cue“ und zwar „Call“ – und damit kann man übersetzt einen Telefonanruf bezeichnen, von dem Nathanael in diesem Akt zwei bekommt *lach* Wer es weniger abstrakt wünscht, kann natürlich auch den Wechsel zwischen Nathanaels Stimmungen, welche er verspürt, als er mit Vivian und dann mit Melvin telefoniert, als „Cue“ bezeichnen *g* Kapitel 6: Ensemble ------------------- Komischerweise wird Tobias’ Stimmung schlechter, umso näher wir dem Samstag kommen. Es ist ziemlich eindeutig, dass er sich nicht gerade darauf freut, mit mir zu Marcel und Mel zu fahren. Natürlich frage ich ihn diesbezüglich, frage ihn auch, ob ich allein fahren solle... aber auf seinen Vorschlag, ganz abzusagen, gehe ich nicht ein. Fast entsteht daraus am Freitag auch wieder eine riesige Diskussion mit Streitpotential... Ich sehe es einfach nicht ein, diese Verabredung abzusagen, nur weil mein Freund sich aus Eifersucht querstellt. Und ich verstehe diese Eifersucht nicht. Es gibt doch überhaupt keinen Grund dafür. Was macht ihn bloß so rasend, wenn es um die Zwillinge geht, die er doch gar nicht kennt? Dementsprechend schlecht ist unsere Stimmung den gesamten Samstag hindurch. Während wir uns fertig machen, spricht Tobias kein Wort mit mir. Ich nehme es hin. Ich habe keine Lust mehr, sein ständiges Gemecker zu hören. Ich will mich darauf freuen, mit den beiden etwas zu machen – und da das schon ungewöhnlich genug für mich ist, will ich mir das ganze erst recht nicht mies machen lassen. Auf der Fahrt wird Tobias Stimmung langsam wieder etwas besser. Er scheint sich zumindest ein wenig mit seinem Marterpfahl abgefunden zu haben oder sieht zumindest ein, dass er die Situation nicht ändern kann, so sehr er auch schmollt. Also versucht er, ein Gespräch in Gang zu bekommen, indem er über den Radiosprecher spricht, über die Lieder, über die Werbung... Ich gehe darauf ein, obwohl ich die Themen dämlich und oberflächlich finde. Besser das als seine miese Laune. Im Geheimen freue ich mich weiterhin. Es ist mir egal, dass es eine lange Autofahrt ist, es ist mir egal, dass ich diese Autofahrt auch wieder zurück vor mir habe, es ist mir einfach vollkommen gleichgültig, da ich etwas vorhabe, mit Leuten, die ich gut leiden kann. Ja, so ist es tatsächlich. Ich kenne ihn zwar noch nicht besonders gut, aber ich mag Marcel... und ich mag auch Mel. Was auch immer der Grund ist, weshalb Marcel noch mal bei mir aufgetaucht ist, so ist er mir vollkommen gleichgültig geworden. Dies ganze verspricht eine Freundschaft zu werden und das ist gut, das ist sogar sehr gut... denn eigentlich hat Tobias vor einer Woche recht gehabt: ich habe nicht wirklich Freunde. „Hey! Da seid ihr ja!“, öffnet uns Marcel die Tür, als wir angekommen sind und ich Tobias noch ein letztes Mal gebeten habe, doch ein wenig fröhlicher zu wirken. „Da sind wir“, grinse ich und trete an ihm vorbei in die Wohnung. Tobias folgt mir zögernd. „Mel holt gerade Carolin ab, aber sie sollten gleich da sein, dann können wir los...“, erklärt Marcel, während er uns voraus in die Küche geht. Dort steht eine junge Frau und strahlt uns an. „Und das ist Jea-“ „Lass das!“, sie schiebt Marcel zur Seite. „Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, dass ich das dämlich finde!“ Ihr Blick wandert wieder zu uns und sie hält mir grinsend die Hand hin. „Hi, ich bin Jeanette... und du bist?“ „Ich bin Nate...“, greife ich lächelnd nach ihrer Hand und drehe mich dann ein Stück. „Und das ist mein Freund Tobias.“ „Siehst du! Das ist ganz normal!“ „Ruhe dahinten!“, ruft sie dem protestierenden Marcel zu, der sofort zu lachen anfängt. Dann dreht sie sich wieder Tobias zu und hält ihm die Hand hin, die er zu meiner Erleichterung sofort lächelnd ergreift. „Schön dich kennenzulernen.“ Diese Förmlichkeiten hinter uns gebracht, bietet Jeanette uns etwas zu trinken an. „Die Fahrt war sicher anstrengend, oder?“, fragt sie, fast mit einem mitleidigen Ton in der Stimme. „Ja, schon...“, antworte ich ehrlich, woraufhin sie nur ein wenig verdutzt zurückblickt. „In einer solchen Situation sagt man ‚Nein, sie war okay, immerhin hab ich mich auf den Abend gefreut’...“, lacht Marcel neben mir und schubst mich ein Stück zur Seite, als er an einen der Schränke tritt und zwei Gläser herausnimmt. „Du glaubst doch nicht, dass du mich so schnell ändern kannst?!“, grinse ich zurück und nehme dann dankend ein Glas mit Wasser entgegen. Im nächsten Moment spüre ich Tobias direkt an meiner Seite. „Ich hab’s auch schon oft versucht... es klappt nicht“, sagt er lachend, doch ich erkenne in seinen Augen, dass er es nicht so fröhlich meint. Was soll bloß diese Abwehrhaltung schon wieder? „Ah! Da sind sie!“, verkündet Marcel aber im nächsten Moment auch schon, als man einen Schlüssel in der Tür hört. Schnell huscht er an mir vorbei in den Flur. „Man, hat das lange gedauert!“, begrüßt er die Neuankömmlinge. „Caro ist Schuld! Sie war noch nicht fertig“, deutet Mel zwinkernd auf sie, bevor sein Blick mich trifft. Strahlend lächelnd sieht er mich an. „Dann ist der schwarze Große da unten von euch?“, fragt er, auf uns zukommend. „Ja, das ist meiner“, erwidere ich sein Lächeln, bevor ich Carolin ansehe, welche an Mels Arm hängt. „Freut mich“, sage ich und halte ihr die Hand hin, stelle mich vor, stelle Tobias vor. Ich sehe, wie sie Mel loslässt und dann sieht sie mir in die Augen. Ihr Blick ist freundlich und dennoch habe ich das Gefühl, etwas zu viel ernst darin zu sehen. Sie begrüßt uns, geht dann aber schnell an uns vorbei zu Jeanette. Den kühlen Eindruck, den sie bei mir hinterlässt, kann ich mir nicht ganz erklären. „Wollen wir los?“, reißt mich Mels Stimme aus meinen Gedanken. Erst als ich ihn wieder ansehe, wird mir klar, dass es Marcel war, der gesprochen hat. „Von mir aus gerne!“, höre ich Jeanette hinter mir hervorkommen. Sie schlingt den Arm um meinen und zieht mich hinter sich her zur Tür. Mels lachende Augen verfolgen mich dabei, ebenso wie der scharfe Blick Tobias’. Ich zögere kurz, bevor ich nach seiner Hand fische und ihn mit mir ziehe. Warum ich gerade das Gefühl habe, irgendwas vorzeigen zu müssen, weiß ich nicht genau. „Wir nehmen deinen Wagen!“, wird beschlossen, als wir unten ankommen. „Aber... wir sind doch sechs-“ „Na und? Wir machen es uns hinten schon bequem!“, verkündet Marcel und positioniert sich demonstrativ neben meinem Auto. „Meinst du nicht, wir sollten lieber-“ „Ach komm schon. Es ist nicht sehr weit, wir werden sicher nicht angehalten...“ Aus großen, extrem bittenden Augen sieht er mich flehend an. „Was ein Hundeblick!“, kommentiere ich und nicke dann. „Ich kann dem auch nie widerstehen!“, verkündet Jeanette hinter mir und ich bekomme gerade noch mit, dass Tobias etwas murrt. Was es war, verstehe ich allerdings nicht. Ich schließe den Wagen auf und steige ein. Auf der Rückbank machen es sich zunächst die Zwillinge und Carolin bequem, bevor Jeanette auf Marcels Schoß klettert und dabei irgendwelche komischen Verrenkungen macht. „Soll ich auch-“ „Ja, das wäre besser...“ Hin und her wird rangiert, bevor sie verkünden, dass es losgehen kann. Die beiden Mädchen sitzen nun mit geduckten Köpfen auf ihren Freunden, die irgendwie eingequetscht wirken. Ich sehe Mel das Gesicht verziehen und kann mir ein Lachen nicht verkneifen, bis ich im nächsten Moment Tobias’ schrägen Blick sehe. Ich schlucke jegliche Worte, die mir auf der Zunge lagen, herunter und starte den Wagen. „Alle noch am Leben?“, frage ich amüsiert, als wir nach einigen Parkplatzproblemen endlich angekommen sind. „Halb halb... ich muss mich erstmal entfalten...“, stöhnt Jeanette, sich den Nacken reibend. „Beschwer dich mal nicht! Wenigstens wurdest du nicht erdrückt!“ „Hörst du das, Mel?! Also echt, du musst deinem Bruder mal ein paar Manieren beibringen!“ „Das hab ich schon versucht, als wir noch so klein waren!“, deutet er etwa die Größe eines Fußballs an. „Aber nein, er konnte nicht aufhören, Mama zu treten!“ „Das war nicht ich, das warst du! DU wühlst beim Schlafen immerhin immer das halbe Bett durch!“ „Das ist nur, weil-“ „Genug!“ Lachend schlingt Jeanette die Arme um den Hals ihres Freundes, dann wendet sie ihren Blick Tobias und mir zu. „Was sich neckt, das liebt sich... ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was ich schon alles für Kindheitsgeschichten oder Marotten der beiden kenne, allein durch diese Zickereien... Wie zwei Frauen, ich sag’s dir!“ „Hallo~o, ich bin direkt neben dir, ich hör dich.“ „Wirklich Schatz?“ Ironisch grinsend sieht sie Marcel an, drückt ihm einen Kuss auf den Mund. In dem Moment fällt mir Carolin auf, die irgendwie verloren neben Mel steht und nicht ein Lächeln zu Stande bekommt. Sie sollte sich mit Tobias zusammentun. „Lasst uns reingehen“, fordere ich auf, um die beiden für den Moment zu erlösen. „Gute Idee!“, setzt sich Tobias direkt in Bewegung und zieht dabei an meiner Hand. Mit einem Seitenblick auf die anderen gehe auch ich los. Mel erwidert meinen Blick als einziger für eine kurze Sekunde, bevor er sich zu Carolin dreht. Da Marcel eine Bahn reserviert hat, werden wir direkt zur Bahn 5 verwiesen, nachdem wir unsere Schuhe bekommen haben. Irgendwie verwundert habe ich dabei festgestellt, dass Mel und Marcel verschiedene Größen genommen haben. „Ich dachte immer, bei Zwillingen ist auch so was gleich...“, sage ich, als ich neben Mel sitze und mir meine Schuhe binde. „Was?“ „Die Schuhgröße.“ „Ach so. Nein, Marcel hatte schon immer eine Nummer größer als ich... er ist sowieso etwas größer...“ „Echt?“ Ich werfe Marcel, der mit Jeanette herumalbert, einen Blick zu. „Ich dachte, das machen die Haaren.“ „Zum größten Teil, ja. Es sind auch nur zwei Zentimeter, die fallen nicht sonderlich auf... Aber dadurch bin ich wirklich der kleine Bruder...“ Mel zwinkert mir zu. „Manchmal bildet Marcel sich sogar ein, mich beschützen zu müssen.“ „Und? Muss er das?“, rutscht mir die Frage heraus, ohne dass ich sie überhaupt gedacht habe. Mit großen Augen werde ich angesehen. „Sehe ich so hilflos aus?“, runzelt er die Stirn. „Nein, quatsch! Ich hab nur so gefragt, ohne Grund! Außerdem...“ Ich zögere. „Außerdem?“, sieht er mir neugierig in die Augen. „Außerdem kenn ich dich noch nicht wirklich.“ „Stimmt. Das sollten wir ändern, meinst du nicht?“ „Ich-“ „Nate, was willst du trinken?“, unterbricht Tobias mich. Ich hebe den Blick und sehe in sein Gesicht, welches deutlich das unterdrückten Missfallen zeigt. „Bitter Lemon“, antworte ich mit nicht zu überhörendem Unterton. Einen Moment lang funkelt er mich an, bevor er sich zum Gehen dreht. Als ich mich nun wieder Mel zuwenden will, stelle ich fest, dass dieser gar nicht mehr neben mir sitzt. An dem Eingabemonitor finde ich ihn wieder, wie er zusammen mit Carolin über irgendwas ratschlagt. Sie hat dabei den Kopf gegen seine Schulter gelegt. Ich starre die beiden an. Erst als mir das bewusst wird, reiße ich mich los und stehe auf, gehe zu Marcel hinüber, der bei den Kugeln steht und scheinbar das richtige Gewicht sucht. „Na du...“, grinst er mich an, als er mich bemerkt. „Schön, dass ihr mitgekommen seid.“ „Ja, find ich auch.“ „Tobias weniger, oder? Hattet ihr Streit?“ „Nein. Er ist nur eifersüchtig.“ „Auf wen?“ „Keine Ahnung. Ich verstehe ihn nicht.“ Ich zucke mit den Schultern und greife nach einer grünen Kugel mit einer 12 darauf. „Mel hat mir von eurem Telefongespräch erzählt und was du gesagt hast. Ich habe später überlegt, ob ich dich anrufen soll, hab es aber gelassen... Hättest du reden wollen?“ „Wozu?“ Ein kurzes Auflachen. „Okay, das bist wohl wieder ganz du.“ Er klopft mir auf die Schulter. „Hast die gesamte Sache schon wieder verdaut, was?“ „Wahrscheinlich. Kann sie ja eh nicht ändern...“ „Stimmt, aber manchmal ist es gut, darüber zu sprechen...“ „Worüber?“, unterbricht Jeanette uns und hängt sich an Marcels Arm. „Darüber wie schön du bist, mein Schatz, nur darüber...“ Er küsst sie und schiebt sie dann zur Seite. „So Leute, lasst uns anfangen! Caro, du bist dran!“ Es dauert lange, bis ich mich eingespielt habe. Das liegt wahrscheinlich am meisten daran, dass ich in meinem Leben vielleicht ein halbes Dutzend Mal Bowlen war und das war gegen Ende meiner Schulzeit. Meine Eltern haben nie wirklich etwas von diesem „Sport“ gehalten, weshalb ich vielleicht unterbewusst genau diese Einstellung angenommen habe. Nun aber muss ich sie revidieren. Auch wenn ich nach Jeanette der Schlechteste von uns allen bin, macht es doch großen Spaß, die einzelnen Kugeln zu stoßen und ihnen hinterher zu fiebern... oder sich darüber zu ärgern, dass schon wieder eine in die Bande gerollt ist. „Das kann doch nicht wahr sein!“, lasse ich mich fluchend auf der Bank nieder, während Tobias an mir vorbei nach vorne geht. Mel neben mir grinst mich an. „Ist doch nicht so schlimm...“ „Das sagst du! Du liegst ja auch vorne!“ Er zuckt die Schultern. „Ein unnötiges Talent... was bringt das schon... da würde ich lieber andere Dinge können.“ „Trotzdem ist es deprimierend...“ „Findest du das wirklich?“ Ich kann mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen und schüttle den Kopf. „Nein, es ist okay.“ Ich greife nach meinem Glas auf dem Tisch und trinke es leer. „Willst du noch was?“, deutet Mel darauf. „Hm, ja, es ist ziemlich warm hier...“ „Warte, ich hol dir was, wollte selbst noch was trinken.“ Damit steht er auf und greift noch nach zwei anderen Gläsern, bevor er mir die Hand für meines hinhält. Aus den Augenwinkeln sehe ich Carolin zum Aufstehen zucken. Ich komme ihr zuvor, keine Ahnung wieso. „Ich komm mit“, lächle ich und greife nach zwei weiteren, leeren Gläsern. „Gut. Leute, wir holen noch was zu trinken. Alle noch mal das Gleiche?“ Ein ziemlich einstimmiges Ja ertönt, nur Carolins intensiver Blick auf mich fällt mir auf und Tobias schweigt sich aus. Ich werfe ihm einen ernsten Blick zu. Er ist schon die ganze Zeit still und mürrisch drauf. Langsam kotzt es mich ziemlich an. Ich drehe mich um und folge Mel zur Bar. Dort angekommen bestellt er fünf Getränke und lässt sich auf einem der Barhocker nieder. „Und? Gefällt dir der Abend?“, werde ich mit festem Blick angesehen, nachdem ich mich ebenfalls gesetzt habe. „Ja.“ Ich lächle. „Es ist wirklich schön hier und, naja, es macht Spaß...“ Ich beuge mich etwas vor. „Aber lass Marcel nicht wissen, dass ich das Wort benutzt habe, ja?“, zwinkere ich. „Ich schweige wie ein Grab, wenn es sein muss.“ Er beugt sich mir entgegen, so dass ich seinen Augen plötzlich ganz nah bin. „Noch irgendwelche mörderischen Geheimnisse, die der Herr loswerden will?“, werde ich genau angesehen. Ein Schauer läuft meinen Rücken hinunter. „Ich denke nicht“, ziehe ich mich zurück, da mir die Nähe irgendwie zu nah wird. Mir ist heiß. Mel nickt, sagt dann erstmal nichts mehr. Er sieht mich an und ich habe das Gefühl, in seinem Gesicht irgendwas zu suchen. Tatsächlich fallen mir nämlich immer wieder winzige Kleinigkeiten auf, die ihn von Marcel äußerlich unterscheiden. Zum Beispiel diese kleine Narbe unter dem rechten Augen... Fast ruckartig wende ich meinen Blick ab. Ich greife nach einem Bierdeckel. Erst als ich ihn bestimmt fünf Mal gedreht habe, wird er mir bewusst. „Hat er den schon?“, sehe ich Mel an. „Was?“ Fast etwas erschrocken sieht er aus, wie aus irgendwelchen Gedanken gerissen. „Diesen Bierdeckel“, deute ich mit meinem Blick nach unten. Mels Augen folgen nur langsam. „Ich glaube schon.“ „Schade.“ Ich lasse den Bierdeckel los und sehe ihn aber noch immer an. Dann sehe ich auf Mels Finger, die unruhig am Tresenrand herumfahren… und dann sehe ich wieder in sein Gesicht. Er ist hübsch. „Warum hat Tobias eigentlich keinen Spaß?“, unterbricht Mel mich, bevor ich den Gedanken weiterdenken kann. Ich zucke die Schultern. „Lass uns nicht darüber reden, das vermiest mir nur die Laune.“ „Läuft es bei euch nicht so gut?“ „Keine Ahnung. Das musst du ihn fragen. Er ist einfach schwierig. Er verlangt ständig Dinge von mir, die ich ihm nicht geben kann...“ „Was denn zum Beispiel?... Natürlich nur, wenn ich fragen darf!“ Ich nicke bedächtig. „Ich weiß nicht. Gefühle vielleicht. Er hat immer noch nicht begriffen, dass ich das einfach nicht so gut kann...“ Mel legt den Kopf schief. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es wirklich so schlimm ist. Du wirkst gar nicht, wie ein Eisblock…“ „Oh, ich kann mich nur gut verstellen“, zwinkere ich. Ein kurzes Lächeln. „Nein, im Ernst. Schau doch nur dein Lächeln in diesem Moment an…“ Überrascht bin ich kurz ratlos, was ich sagen soll. „Es macht ja auch Spaß mit euch“, setze ich dann schnellstmöglich hinterher. Seine Mundwinkel ziehen sich in die Höhe und mir fällt wieder dies niedliche Grübchen auf. „Freut mich, dass du so denkst.“ „Ja. Aber ansonsten, ich weiß nicht... es ist schwierig. Ich kenne das einfach nicht so richtig, weißt du... meine Eltern waren auch immer sehr kühl...“ „Und deshalb bist du es auch?“ „Wahrscheinlich. Oder mein Herz ist aus Stein.“ „Glaub ich nicht, du bist doch ganz warm.“ Mein Lächeln erstarrt in dem Moment, als Mels Hand die meine berührt. Sie ist etwas kälter als meine... aber seine Finger sind ganz sanft. Ich reiße mich von dem Gedanken los und suche nach Worten. „Na, dann bin ich ja wenigstens ein Mensch, was?“ Damit stehe ich auf, denn ich sehe die Bardame mit einem Tablett zu uns kommen. Auch Mel erhebt sich, dreht sich dem Tablett entgegen. Ich starre auf seine gesträhnten Haare und frage mich, weshalb ich Enttäuschung in mir spüre. Noch fast eineinhalb Stunden lang hält uns das Bowlingspiel auf Trapp, bevor Tobias ziemlich unmissverständlich deutlich macht, dass er nach Hause will. „Wir fahren immerhin sehr lange“, meint er mürrisch, als es darum geht, ob wir eine weitere Runde spielen sollen oder nicht. „Also nicht“, kommentiert Marcel, schenkt mir einen kritischen Blick und sinkt dann auf einer der Bänke nieder, um die Schuhe zu wechseln. Ich habe das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber mir fällt nicht ein was, weshalb ich es ihm schließlich gleich tue und mich nicht zum ersten Mal an diesem Abend frage, weshalb ich Tobias eigentlich mitgenommen habe. Die Stimmung ist deutlich unterkühlt auf dem Rückweg. Das Gelächter, das zuvor noch von der Rückbank gekommen ist, bleibt aus und ich blicke nur ein paar Mal durch den Rückspiegel nach hinten und treffe dabei auf Mels Auge, wenn er nicht gerade mit Caroline flüstert, die auf seinem Schoß sitzt. Mit ihr habe ich den gesamten Abend kaum ein Wort gewechselt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie etwas distanziert ist... und das ist vielleicht ein Grund, weshalb ich noch keine Sympathie für sie gefunden habe. Aber kann man einen Menschen nach einer so kurzen Zeit wirklich so grundlos nicht mögen? Ich beschließe, nicht länger darüber nachzudenken, sehe zurück zur Straße. Es war ein schöner Abend, trotz allem mürrischen Tobias-Gehabe. Hoffentlich vermiest er mir meine Stimmung nicht völlig, wenn wir gleich alleine sein werden... Ich parke den Wagen am Straßenrand vor der Zwillingswohnung. Hier steige ich aus. Tobias bleibt sitzen. „Es war toll“, wende ich mich an Marcel, als dieser aus dem Auto geklettert ist und seine Glieder streckt. „Das freut mich“, grinst er. „Also können wir dich gerne wieder fragen?“ „Sehr gerne“, nicke ich. „Gut! Da hätten wir auch direkt was.“ Er dreht sich ein Stück und zieht Mel am Arm herbei. „Wann war noch mal deine Aufführung?“ „Am nächsten Samstag.“ Mel sieht mich an, wirkt mit einem Mal etwas unsicher. „Wenn du willst, besorg ich dir eine Karte... dann kannst du... zuschauen...“ „Welches Stück führt ihr denn auf?“ „Ist eher unbekannt...“, meint Mel und nennt mir irgendein französisch klingendes Wort. Ich verstehe es nicht, oder kenne es nicht, frage aber auch nicht nach. „Ich ruf dich die Woche mal an und sag dir, wann genau du wo sein sollst...“, fügt Mel hinzu. „Es geht um Sieben los“, meldet sich in dem Moment Carolin hinter ihm zu Wort. Sie sieht mich an und irgendwie habe ich tatsächlich immer noch das Gefühl, den kühlen Blick vom Anfang zu spüren. Ihr Arm schlingt sich um Mels. „Stimmt. Ich...“ „Er ruft dich trotzdem noch an, nur um sicher zu gehen!“, unterbricht Marcel seinen Bruder und nickt mir zu. Sein Grinsen ist ziemlich breit. „In Ordnung.“ Ich lächle. „Aber ich denke, ich fahre jetzt, sonst flippt er noch mehr aus...“ Ich deute augenrollend nach hinten. „Klar. Also dann! Bis nächste Woche!“ „Bis nächste Woche.“ „Und fahr vorsichtig!“, wirft Mel ein, sieht mich noch immer an. „Mach ich“, erwidere ich den Blick, bevor ich mich umdrehe und um das Auto herumgehe. „Bis dann!“ Damit steige ich ein. Sofort trifft mich ein eiskalter Blick, den ich zu ignorieren versuche. „Na endlich“, kommentiert er das ganze dann aber auch noch. „Sei still Tobias. Ich habe jetzt keinen Bock darauf!“, sage ich und starte den Wagen. „Schlaf oder schmoll vor dich hin, aber ich lass mir den Abend nicht noch mehr von dir verderben als ohnehin schon.“ „Ein Wunder, wie......... ast...“ „Was?“, frage ich sein Genuschel nach, nicht sicher, ob ich es eigentlich hören will. „Ein Wunder, wie du dich in der kurzen Zeit verändert hast!“, spricht er nun lauter. „Das ist echt erschreckend. Ich dachte immer, dass du-“ „Es reicht!“ Ich drehe die Musik auf, spüre, dass in mir schon wieder irgendwas zu brodeln beginnt. Wieso um alles in der Welt habe ich ihn bloß mitgenommen? Den Fehler mache ich nächste Woche ganz sicher nicht noch einmal! ENDE Akt 6 Ensemble: Kennt wohl jeder, dennoch die Erklärung: so wird der Cast beim Musical bezeichnet, bzw. die gesamte Gruppe der auftretenden Personen. In meinem Fall dachte ich bei der Titelvergabe an das Auftauchen von Carolin und Jeanette, welche die vielleicht wichtigste Personengruppe dieser Geschichte komplett machen. Kapitel 7: Backstage -------------------- Nachdem wir am Samstagabend ohne viel weitere Worte ins Bett gegangen sind, redet Tobias auch am Sonntag nicht sonderlich viel mit mir. Ich nehme dies schweigend hin, keine Lust, dem weiter Beachtung zu schenken und ihm so mehr Bedeutung zu geben. Eigentlich nervt es mich. Es ist kindisch. Und ich verstehe einfach immer noch nicht, was der Grund für seine Eifersucht ist – es gibt doch überhaupt keine Gefahr. Am Montagabend ist es wieder etwas besser. Wahrscheinlich haben ihm die Stunden Arbeit ein wenig Distanz zu der Sache gewährt. So also verbringen wir einen relativ harmonischen Abend, an dem ich gesagt bekomme, wie sehr er mich so liebt wie ich bin. Ich nehme es lächelnd zur Kenntnis. Auch der Dienstag verspricht ein entspannter Abend zu werden, zumindest so lange, bis kurz nach dem Abendessen das Telefon klingelt. Tobias ist es, der abnimmt und dann mit mürrischem Gesicht in die Küche kommt. „Was ist?“, gestikuliere ich, bekomme allerdings nur den Hörer hingehalten. „Hallo?“, melde ich mich und sehe Tobias verwirrt hinterher wie er das Wohnzimmer verlässt. „Hi, ich bin’s“, kommt es lächelnd und ich erkannte die Stimme sofort. „Hallo Marcel!“, sage ich dennoch und grinse in mich hinein. Einen kleinen Scherz darf man sich ja noch erlauben, nicht wahr? Kurze Stille, dann schon die fast enttäuschten Worte: „Nein, hier ist Mel.“ „Wusste ich doch“, lächle ich noch immer. Eigentlich sind sie nicht sonderlich schwer auseinanderzuhalten, auch ihre Stimmen nicht. Sie betonen Worte ganz anders und Mel klingt tatsächlich ein klein wenig heller als Marcel. Eigentlich ist es schwer, sie zu verwechseln, wenn man sie schon ein bisschen kennt... „Naja, gut...“ Ein Seufzen und ich bekomme das Gefühl, dass er mir nicht glaubt. Doch bevor ich darauf eingehen kann, spricht er schon weiter. „Ich rufe an wegen Samstag.“ „Ja?“ „Du kommst doch noch, oder?“, kommt es fast etwas hektisch. „Natürlich.“ „Schön. Das freut mich...“ Seine erfreute Stimme lässt mich lächeln. Ich lehne mich zurück gegen die Sofalehne und sehe aus dem Fenster. Irgendwie fühle ich mich gerade sehr entspannt. „Also? Wann geht es los?“, frage ich. „Um Sieben... So wie Caro sagte... das macht es eigentlich wirklich ziemlich... naja... unnötig... dass ich anrufe... ich meine...“ „Ist okay“, unterbreche ich ihn. „Es freut mich, dass du anrufst.“ „Ehrlich?“ „Klar!“ Und ich kann noch nicht mal selbst beschreiben, weshalb dem so ist. „Soll ich erst zu euch kommen?“ „Ich werd schon weg sein, aber Marcel sagte, er würde auf dich warten... Er kann dich auch vom Zug abholen, dann brauchst du nicht fahren...“ „Das ist eigentlich eine gute Idee... Ich weiß nur grad nicht, wann die Züge fahren.“ „Du kannst dir ja einen raussuchen und dann noch mal anrufen...“ „Ja, das mache ich.“ „Gut.“ Es wirkt, als würde er gleich auflegen wollen. Ich weiß nicht, wieso ich das gerade nicht will. Vielleicht weil ich das Gefühl habe, von Tobias belauscht zu werden... vielleicht will ich ihm nicht die Genugtuung geben, dass ich mich mit Mel nicht auch richtig unterhalten kann. „Mel?“, sage ich deshalb. „Ja?“ „Erzähl mir doch mal was von dem Stück... oder welche Rolle du da spielst.“ „Aber... ist das nicht doof? Ich meine... wenn du schon alles weißt... lass dich doch lieber überraschen.“ „Hm, vielleicht hast du Recht.“ Sofort suche ich nach einer neuen Frage. „Wieso hast du eigentlich angefangen, Musical zu studieren?“ „Weil ich die Musik liebe!“, kommt es prompt. „Meine Mutter hatte früher ein paar alte Musical-Platten... Grease, Cabaret und so... das typische halt... ich hab sie immer so gerne gehört... und irgendwann hab ich angefangen...“ Er wird leiser und verstummt schließlich. Seine Stimme macht deutlich, dass es ihm unangenehm ist, darüber zu reden. „Hast du was?“ „Ich hab... mitgesungen... und ich habe mir die Noten rausgesucht und sie auf dem Klavier mitgespielt... Ich weiß nicht, das hat mir Spaß gemacht... schon immer...“ Ich lächele vor mich hin und weiß nicht wirklich, was ich sagen soll. Ich kenne es nicht, von etwas so gefesselt zu sein, darin so aufzugehen... das... „Das hört sich schön an“, spreche ich meine Gedanken aus. „Ich... ja...“ Es bleibt still für einen Moment. Ich lausche in den Hörer und vernehme Mels Atem ganz leise. Ich weiß nicht wieso, aber ich glaube, dass er nervös ist und rot im Gesicht. Ich sehe es fast vor mir und das lässt mich nur noch mehr lächeln. „Weißt du...“, sage ich schließlich, um die unangenehm werdende Stille zu brechen. „Ich hatte nie etwas, für das ich mich wirklich begeistert habe... Okay, als ich klein war, hab ich bei meinem Großvater in der Werkstatt gesessen und ihm zugeguckt, das fand ich toll. Aber dann...“ „Dann?“ „Dann ist er gestorben. Damit war das vorbei.“ „Wie alt warst du damals?“ „Sieben, nein, warte... ich war grad acht geworden...“ „Und du erinnerst dich noch daran?“ „Ja. Nicht sehr gut, aber ich bilde mir ein, noch zu wissen, wie es da gerochen hat...“ Nun spüre ich meine Wangen wärmer werden. „Sorry, das hört sich doof an.“ „Nein, gar nicht! Solche Erinnerungen sind doch schön!“, kommt es schnell und überzeugt vom anderen Ende der Leitung. „Ja“, stimme ich dem zu. „Was... was hat dein Großvater denn gemacht?“ „Figuren aus Stein, manchmal aus Marmor. Er war richtig gut darin, auch wenn sie glaub ich extrem kitschig aussahen... Ich habe mich immer gefragt, wie er das hinbekommen hat…“ „Hast du je versucht, mal so was zu machen? Ich meine, nicht als Beruf, sondern einfach als Hobby... Es gibt da diesen Stein... er ist ganz weich und leicht zu bearbeiten... wie heißt der noch mal...“ „Speckstein?“, helfe ich ihm weiter. „Ja genau! Hast du mal was damit gemacht?“ „Nein. Ich habe mal was darüber gelesen, in einem der Bücher, die wir verlegen, aber das ist alles. Ich erkenne zwar Kunst, wenn ich sie sehe und kann darüber schreiben, aber ich selbst bin künstlerisch nicht sonderlich begabt...“ „Aber du hast es doch nie versucht.“ „Trotzdem.“ Ich zucke mit den Schultern, obwohl ich es nicht sehen kann. „Außerdem ist es ja nur eine Kindheitserinnerung.“ „Na und? Ist die weniger wert?“ Ein wenig überrascht mich diese Reaktion und vor allem fällt mir darauf keine Antwort ein. Eigentlich habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr über dieses Thema gesprochen... nur einmal mit Vivian, als ich ihr von unserem Großvater erzählt habe, den sie nicht kennengelernt hat... und Kenneth hat damals darüber gelacht, dass ich die kitschigen Figuren irgendwie immer noch mochte. „Nein“, sage ich schließlich, „wahrscheinlich nicht.“ „Ganz bestimmt nicht! Ich finde so was ganz wichtig! Und außerdem...“ Er zögert merklich und irgendwie presse ich den Hörer näher an mein Ohr. „Außerdem?“ „Außerdem zeigt es deine Gefühle... Du hast welche, du hast sie nur vergraben. Wahrscheinlich müsstest du dich ihnen einfach öffnen.“ Nun zögere ich, schon wieder nicht wissend, was ich sagen soll. Mel redet so ehrlich und ernst... gerade habe ich das Gefühl, dem nicht gewachsen zu sein. „Das-“ „Sorry!“, unterbricht er mich sofort. „Ich sollte aufhören zu reden. Ich misch mich grad viel zu sehr in deine Angelegenheiten ein.“ „Mel.“ „Es tut mir Leid, wirklich! Vielleicht sollten wir-“ „Mel!“ Er bricht ab. „Ja?“ „Es ist okay. Irgendwie hast du ja Recht. Es ist nur... ich bin ein wenig überrumpelt und weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Deshalb...“ „Dann sag nichts.“ Nun ist wieder ein Lächeln zu hören. „Lass uns am besten einfach aufhören, sonst wird es peinlich... Wir sollten das Gespräch jetzt einfach beenden...“ „Meinst du das ernst?“ „Ja. Ja... es ist besser... ich meine... also...“ Seine plötzlich ganz nervös gewordene Stimme bricht ab. „Wir sehen uns Samstag?“ „Ja, wir sehen uns Samstag.“ „Gut! Ich freu mich!“ „Ich mich auch.“ „Dann Tschüss!“ „Tschüss.“ Zögernd lege ich auf, das Klicken in seiner Leitung nicht gehört. Ich nehme den Hörer herunter und sehe ihn an. Ich spüre wie das Lächeln meine Mundwinkel noch immer nach oben zieht und wie mein Herz einen kleinen Schlag schneller klopft. Wann habe ich das letzte Mal ein solches Gespräch geführt? Schade eigentlich, dass es plötzlich vorbei war... Noch während ich aufstehe und mich frage, wieso ich Mel eigentlich von dieser Sache erzählt habe, drehe ich mich um... und treffe auf ein Augenpaar, das mich kühl, nein fast hasserfüllt anblickt. Erschrocken halte ich in jeder Bewegung inne. „Was ist?“, frage ich. „Das mit deinem Großvater hast du mir nie erzählt“, spricht er und ich kann den Ton in seiner Stimme nicht deuten. Was ist es, das ich da höre? Enttäuschung? Wut? Eifersucht? „Es ist nicht wichtig“, sage ich und setze mich wieder in Bewegung, gehe an ihm vorbei in den Flur und lege den Hörer neben die Station. „Ach nein? Hat sich aber grad ganz anders angehört! Das war so richtig-“ „Was willst du mir jetzt damit sagen?“, fahre ich zu ihm herum. „Dass ich mich nicht mehr unterhalten darf? Dass ich keine Leute außer dir kennen darf? Sorry, Tobias, aber so läuft das nicht! Ich lasse mir von dir nicht vorschreiben, was ich tun darf oder worüber ich rede!“ Während ich spreche werden seine Augen traurig und er erwidert nichts mehr. Also gehe ich an ihm vorbei und verschwinde in meinem Arbeitszimmer... in mir drin das Gefühl der anfangenden Wut... Wut darauf, dass Tobias es nun schon wieder geschafft hat, mir etwas zu verderben, auch wenn es nur ein sehr schönes Telefongespräch war. ~ * ~ Am Mittwoch bin ich mir sicher, dass mir dieses ständige Auf und Ab in meiner Beziehung mehr als nur auf die Nerven geht. Ich kann sein beleidigtes Gesicht nicht mehr sehen und auch die Annäherungsversuche, die er schließlich immer wieder startet, gefallen mir immer weniger. Es ist einfach nervtötend, wie schnell er in letzter Zeit ausflippt oder mir irgendetwas vorwirft... und ich sehe den Grund dazu immer noch nicht. Was ist denn los, dass er immer empfindlicher reagiert? Dass ich nicht vorhabe, ihn am Samstag mitzunehmen, steigert seine Laune natürlich überhaupt nicht... im Gegenteil. Und als ich dann auch noch sage, dass ich wahrscheinlich bei den Zwillingen übernachten werde, kommt es zum Streit. Tobias schreit, dass er das nicht will und ich schreie, dass es mir ganz egal ist, was er dazu sagt. Zu mehr lasse ich mich allerdings nicht herab und als ich mich mit einer Zeitschrift aufs Sofa verziehe, spüre ich noch minutenlang einen durchdringenden, wütenden und enttäuschten Blick auf mir ruhen. Der Donnerstag ist auch nicht viel besser als der Tag zuvor, ebenso wenig der Freitag. Eigentlich habe ich abends überhaupt keine Lust, überhaupt nach Hause zu gehen... und ich frage mich zum ersten Mal seit langem, weshalb Tobias nicht endlich mal wieder ein paar Nächte bei sich Zuhause verbringen kann. Dass ich ihm diese Frage nicht stelle, ist wohl verständlich, weiß ich doch, dass er dann nur wieder an die Decke gehen wird. Dennoch liegt sie mir den gesamten Abend auf der Zunge und ich ringe mit mir, ob ich sie vielleicht doch stellen sollte, Von diesen Gedanken lenkt mich letztendlich nur ab, dass mir einfällt, dass ich ja noch nach meiner Bahnverbindung für den morgigen Tag sehen muss. Diese herausgesucht, wähle ich die Nummer und bin gespannt, wen der beiden ich wohl am Apparat haben werde. „Ja?“, meldet sich Marcel, wie ich irgendwie sofort erkenne. Fast wundert es mich selbst. „Hallo! Hier Nate...“, antworte ich in den Hörer, auf den Zettel starrend, mit der Bahnverbindung, die ich herausgesucht habe. „Ach du! Hab deine Nummer nicht erkannt! Ich sollte sie endlich mal einspeichern...“ „Jup, vielleicht solltest du das“, grinse ich. „Wie geht’s?“ „Ganz gut. Tobias macht Stress, aber ansonsten alles wie immer...“ „Was hat er denn?“ „Das übliche. Er ist eifersüchtig, weil ich am Dienstag so lange mit Mel geredet habe...“ Ich zucke die Schultern. „Totaler Quatsch, da hat er doch gar keinen Grund zu.“ „Hat er nicht?“ „Sollte er?“, frage ich, von seiner Frage verwirrt. „Vergiss es. Weshalb rufst du an?“ „Um dir mein Herz auszuschütten...“, sage ich theatralisch. Marcel lacht am anderen Ende der Leitung. „Genau, und das kauf ich dir auch ganz bestimmt ab. Aber wenn du so gerne willst... was haben wir denn auf dem Herzen?“ „Naja... da ist dieses drückende Gefühl... und wenn ich atme, wird mir schwindelig... was meinen Sie, sollte ich damit aufhören?“ „Mit atmen?“ Er lacht noch lauter. „Ich glaube, das wäre nicht so gut... aber vielleicht sollten Sie herkommen, damit ich Sie mir angucken und eine Diagnose stellen kann...“ „Ja, vielleicht haben Sie recht“, gehe ich noch weiter auf das Spiel ein. „Ich könnte morgen kommen. Mein Zug wäre um 17:56 da... meinen Sie, dass das okay ist? Oder ist Ihnen das zu spät?“ „Warten Sie einen Moment... Nein, das sollte passen, meine Sekretärin sagt-“ Weiter kommt Marcel nicht, da ihn sein Lachen zu sehr schüttelt. Auch ich kann nicht mehr aufhören zu grinsen. „Also passt es?“, sage ich schließlich, als ich mich einigermaßen gefangen habe. „Ja, das ist gut. Dann sind wir schon etwas früher da und vielleicht kann Mel dir ein bisschen den Backstagebereich zeigen... du kannst dir gar nicht vorstellen, was da abgeht!“ „Nein, wahrscheinlich nicht. Und wie geht es ihm? Ist er aufgeregt?“ „Und wie!“, bestätigt Marcel eindringlich. „Selbst jetzt noch ist er bei Carolin und sie proben schon wieder ihre Rollen... du glaubst gar nicht, welche Versagensangst er hat, obwohl er doch so gut ist!“ „Carolin steht auch auf der Bühne?“ „Ja, sie studiert zusammen mit Mel. In diesem Stück ist sie seine Partnerin.“ „Wie passend“, kommt es von mir steifer als gewollt, weshalb ich schnell weiterrede. „Na, da bin ich auf jeden Fall mal gespannt auf morgen!“ „Kannst du auch sein! Du wirst begeistert sein, ehrlich!“ „Bestimmt werd ich das!“ Noch ein paar Minuten reden Marcel und ich weiter, bevor wir beschließen, aufzulegen. Dies Gespräch also beendet, verlasse ich mein Arbeitszimmer und begebe mich zurück zu Tobias ins Wohnzimmer. „Schon fertig telefoniert?“, kommt es schnippisch. Ich sage nichts dazu, sondern setze mich einfach und starre nach vorne in den Fernseher. Schlimmerweise freue ich mich wirklich darauf, morgen mal für einen Abend nicht dieser angespannten Stimmung ausgesetzt zu sein. ~ * ~ „Schön, dass du da bist“, begrüßt Mel mich, als ich mit Marcel und Jeanette zusammen beim Universitätstheater ankomme. Er strahlt mich an, während ich zunächst meine Augen nicht von ihm nehmen kann. Er sieht so verändert aus, wie ein ganz anderer Mensch... faszinierend. Und so was nur durch ein bisschen Schminke... oder durch mehr, wie man es nimmt... So schnell ist ein Mensch ein ganz anderer. „Du siehst toll aus“, sage ich schließlich und wende meinen Blick ab, da ich das Gefühl habe, rot zu werden. „Findest du nicht, dass ich eher albern aussehe?“, höre ich Mel grinsen. „Nein, wieso?“ „Na schau ihn dir doch mal an!“, schaltet sich nun Marcel ein uns zupft an Mels weißem Kragen und dem blauen Jackett mit den ganzen Bestickungen herum. „Aber er kann so was anziehen. Mir würde das nie stehen!“ Alle lachen während Marcel sich Mühe gibt, ganz überzeugt dreinzuschauen. „Ihr könntet die Rollen tauschen und es würde keiner merken...“, grinst schließlich Jeanette. „Erst wenn er anfängt zu singen!“ Mel sieht mich an. „Ich habe keine Ahnung, wieso er es nicht schafft, auch nur den leichtesten Ton zu halten... sollte er nicht das gleiche mit seiner Stimme können wie ich?“ „Ihr klingt auch so schon ganz anders“, schüttle ich zögernd den Kopf. „Da ist das eigentlich kein Wunder.“ Ein winziges Strahlen macht sich auf Mels Gesicht breit, wie ich überrascht feststelle. „Das-“ „Mel? Kommst du?“, wird er von hinten unterbrochen. An ihm vorbeisehend erkenne ich Carolin in einem wunderschönen hellblauen Kleid. Sie hält den Rock angehoben und kommt auf ihren hohen Schuhen zu uns angestakst. Als sie sich neben Mel stellt und irgendwas mit ihm bespricht, bekomme ich für einen Moment ein Gefühl davon, wie gut sie zusammen aussehen... das liegt nicht nur an der aufeinander abgestimmten Gardarobe, oder? „Ich muss rein“, unterbricht Mel mich in meinen Gedanken. „Aber wenn du magst, kannst du ruhig kurz mit reinkommen...“ „Aber Mel, meinst du nicht-“ „Ach Quatsch. Die sind doch alle viel zu sehr im Stress, als dass es ihnen auffällt“, antwortet er Carolin, während ich mir nicht so sicher bin, weshalb sie mir diesen unfreundlichen Blick aus ihrem wunderschön geschminktem Gesicht zuwirft. „Also, kommst du?“ „Gerne“, sage ich. „Wir gehen schon mal zu unseren Plätzen“, verkündet Marcel. „Bis gleich!“ Ich nicke ihm zu und folge dann dem wunderschön gekleideten Paar ins Innere des Backstagebereichs. „Wahnsinn!“, verkünde ich, als ich mich etwas später neben Marcel in meinen Sitz fallen lasse. „Diese ganzen Kostüme! Und die Hektik! Dass die da überhaupt klarkommen!“ „Klasse oder?“, grinsend sieht er mich an. „Ist eine ganz andere Welt.“ „Aber echt!“ „Wenn du jetzt schon begeistert bist, warte erstmal die Aufführung ab!“, beugt Jeanette sich nach vorne. „Das glaub ich dir gerne!“, nicke ich. „Ich kann’s kaum noch abwarten!“ „Zu Recht! Seit ich Mel das erste Mal gesehen habe, bin ich sein größter Fan. Da macht es gar nichts mehr aus, mit einem Musicaldarsteller verwechselt zu werden.“ Lachend verzieht er das Gesicht, wird aber kurz darauf schon wieder ernst. „Mel sieht das anders.“ „Inwiefern?“, frage ich verwundert. „Er legt viel wert darauf, dass er ein Individuum ist. Ich meine, versteh mich nicht falsch, er hat kein Problem damit, ein Zwilling zu sein... aber er wird nicht gerne verwechselt...“ Überrascht fehlen mir die Worte, da mir bewusst wird, dass ich Mel am Dienstag noch genau diesbezüglich geärgert habe. Plötzlich ist es mir peinlich. „Ich glaube“, fährt Marcel fort, „dass er sich vorhin sehr gefreut hast, als du das mit unseren Stimmen gesagt hast...“ „Wirklich?“ Ein Nicken. „Besonders weil-“ „Es geht los!“, unterbricht Jeanette ihren Freund. Sofort drehen wir unsere Köpfe dem Vorhang zu... obwohl ich gerne nachgefragt hätte, was Marcel sagen wollte. Ich beschließe, dass es nicht so wichtig war, und sehe gespannt dabei zu, wie der Vorhang sich öffnet. ENDE Akt 7 Backstage: Auch jedem bekannt: der Bereich, der für die Zuschauer nicht sichtbar ist. Natürlich kann man denken, das Kapitel heißt Backstage, weil Melvin Nathanael mit Backstage nimmt, aber eigentlich habe ich dabei etwas metaphorischer gedacht. Und zwar denke ich an Nathanaels Gefühle bezüglich seiner Kindheitserinnerung. Diese verbirgt er normalerweise und trägt sie nicht sichtbar herum... aber Melvin erzählt er sie, lässt ihn weitersehen, als den normalen Zuschauer: Backstage. Kapitel 8: Showstopper ---------------------- Es werden eineinhalb Stunden, in denen ich dasitze wie gebannt. Schon die ersten Minuten reißen mich mit, die junge Hauptdarstellerin überzeugt sofort mit ihrem Können, ebenso ihr männlicher Partner, dessen kräftige Stimme den ganzen Saal erfüllt... doch dann, in dem Moment, in dem Mel auf der Bühne steht, in dem Moment, in dem er anfängt zu singen, wird mein gesamter Körper in Sekundenschnelle von einer Gänsehaut überzogen. Ich starre ihn an, klammere mich an meinen Sitz und kann gar nicht in Worte fassen, welches Gefühl in mir herrscht. Aber muss ich das denn? Muss ich es so banal erklären, wie er mich mitreißt, wie er mich in seinen Bann zieht und an seinen Lippen hängen lässt? Reicht es nicht, wenn ich sage, dass ich meine Augen nicht von ihm nehmen kann und das Gefühl habe, noch nie eine so volle und mächtige Stimme gehört zu haben? Jegliche helle Note ist aus diesem Klang verschwunden, zurückgeblieben ist eine ergreifende Stimme, die von Liebe, Furcht und Hass singt... die mich mit der Rolle fiebern und bangen lässt, mit ihr trauern... und in jedem Moment, in dem er nicht auf der Bühne steht, in dem er als zweite männliche Hauptrolle nicht im Stück vorkommt, sehne ich danach, ihn erneut zu sehen... ihn im Zusammenspiel mit Carolin, welche ebenfalls so wunderschön singt, dass ich für einen Moment all meine Unsympathie vergesse und sie im Zusammenspiel mit Mel einfach nur bewundere. Doch dann kommt dieser kurze Moment am Ende, in dem sie einander küssen, in dem sie sich in den Armen liegen und weinen, der Trennung wegen, die ihnen bevorsteht... es ist der Moment, der mir eine Träne die Wange hinab laufen lässt, und in dem ich gleichzeitig das Gefühl habe, Mel Carolins Armen entreißen zu wollen, weg von ihrem schönen, weiblichen Körper, von den voll Lippen... und die gesamte letzte Szene hindurch, in der es um das liebende Hauptdarstellerpaar geht, spüre ich diese aufgewühlten Gefühle in mir... die Gewissheit zerfrisst mich, dass es das nun war, dass heute Abend Mel nicht noch einmal für mich singen wird, mich nicht noch einmal so ergreifen wird, während ich gleichzeitig so viele andere Empfindungen spüre, die ich nicht verstehen kann... Und als der Vorhang fällt, habe ich das Gefühl, noch nie dermaßen gelitten zu haben. Ich nehme nur nebenbei wahr, wie ich von der Seite angesprochen werde. Ich habe die Augen noch immer nach vorne gerichtet, auf den geschlossenen, dunkelblauen Vorhang, auf die Leute, die sich vor mir in Bewegung setzen... doch ich sehe all das nicht... ich weiß nicht, was ich sehe, doch es ist nichts, was gerade wirklich geschieht. „Nate? Geht es dir gut?“, wird nun energischer auf mich eingesprochen, doch erst als schließlich eine Hand vor meinem Gesicht herumwedelt, drehe ich den Blick. Ich sehe in Mels Gesicht. Nein. Es ist Marcels... Da erst wache ich auf. Von einer Sekunde auf die andere stehe ich auf den Beinen. „Das war... wow... ich meine...“ In meinem Kopf dreht sich alles und ich versuche ein Lachen, das mir garantiert nicht gelingt, wie ich in Jeanettes und Marcels Gesicht sehe. „Frische Luft...“, stammle ich dann und dränge mich an ihnen vorbei, während mir sogleich bewusst wird, dass der Ausgang in der anderen Richtung viel näher liegt. Ich fahre mir durch die Haare und atme durch, sehr tief durch... Ich schließe die Augen kurz, bis mir schwindelig wird und ich mich an einer Stuhllehne festhalte. Kurz darauf habe ich den Ausgang erreicht, laufe durch den Eingangsbereich bis hin zur frischen Luft. Hier erst bleibe ich wieder stehen. Was war das gerade? Wieso rast mein Herz so stark? Wieso habe ich das Gefühl, von irgendwas erdrückt zu werden? „Nate?“ Erschrocken fahre ich herum, als eine Hand mich berührt. Es ist Jeanette, die mich nun sorgenvoll ansieht. „Was ist denn los? Du bist ganz blass...“, fragt sie und will die Hand nach meiner Stirn ausstrecken. Ich weiche zurück. „Mel... das war...“ Mir fehlen die Worte. „Fantastisch, oder?“, lächelt sie. „Ja.“ Das ist es nicht. Ich nicke. „Ja.“ Dann sehe ich mich um. „Wo ist er?“ „Ähm... Backstage?“, kommt es mit einem verwirrten Ton, der deutlich macht, dass mir das eigentlich klar sein sollte. „Oh... ja... natürlich.“ Ich bleibe stehen und sehe mich erneut um. Marcels fragende Augen sehen mich an... und dann gehe ich los. Ich dränge mich durch die Menschengruppen und bin schließlich vor der Tür angekommen, die ich zuvor mit Mel zusammen durchschritten habe. Ich halte inne. Ich darf hier nicht rein... Ich schrecke zurück, als die Tür Sekunden später aufgeht. Ein geschminktes Frauengesicht guckt mich verdutzt und dann lächelnd an, bevor sie mich nicht weiter beachtet und ihren Weg fortsetzt. Kurz entschlossen tue ich dasselbe. Die Luft hier drin scheint anders als zuvor, stickiger, wärmer, vielleicht durch die ganzen aufgeheizten Personen. Ich suche Mel unter ihnen, weiß aber noch immer nicht, weshalb ich das tue... es ist mir egal, ich will nicht darüber nachdenken... Als ich ihn sehe, zieht er sich gerade das schwarze Jackett über den Kopf, das er bei der letzten Szene getragen hat. Schnellen Schrittes bin ich bei ihm angekommen. „Mel...“, bringe ich hervor, als ich hinter ihm stehe. Sofort fährt er herum, ziemlich überrascht. „Nate... was machst du denn...“ Er bricht ab und bringt dann ein strahlendes Lächeln auf sein Gesicht. „Hat es dir gefallen?“, fragt er, während ich ihn nur anstarren kann und mir mit einem Mal wünsche, ihn an mich zu reißen. „Ja... ja, hat es...“, stottere ich und berühre ihn an der Schulter. Sofort bleibt er stocksteif stehen. Ich sehe ihn noch genauer an und will ihn küssen. Ich weiß nicht wieso, aber ich will ihn küssen. „Mel... du warst...“ Ich hebe die Hand und berühre ihn am Hals, spüre die warme Haut unter meinen Fingern. Ich komme ihm näher und spüre, wie mein Herz rast. Ich will es einfach tun, egal welche Konsequenzen das mit sich bringt. Lass mich dich nur ein Mal küssen... „Hey ihr!“, wird Mel mir entrissen. Sofort zucke ich zurück, reiße die Hand herunter, die in der Luft schwebt, und schärfe irritiert mein Blickfeld. Vor mir steht Carolin, die die Arme um einen von Mel geschlungen hat und mich nun strahlend ansieht. Ihre Augen strahlen nicht im Geringsten. Ich schließe die Augen und habe das Gefühl, von einem Stein erschlagen worden zu sein. „Worüber habt ihr geredet?“, fragt sie und ich öffne die Augen wieder, sehe Mel an, dessen Blick ebenfalls auf mir ruht. Dann sieht er weg, zu ihr. „Über gar nichts. Nate ist grad erst gekommen.“ Er lächelt sie an. „Er hat gesagt, dass es ihm gefallen hat.“ Er sieht wieder mich an. „Hat es das?“, zieht sie meinen Blick auf sich. „Das ist schön zu hören.“ „Ja.“ Ich zwinge mir ein Lächeln aufs Gesicht. „Das wollte ich nur loswerden. Ich warte draußen!“ Damit mache ich auf dem Absatz kehrt. Draußen aus dem Backstagebereich sehe ich Marcel und Jeanette nur ein Stück entfernt. Dies hält mich auf, lässt mich die Richtung wechseln. Hier hab ich doch vorhin irgendwo... ach da! Schnell schlüpfe ich durch die Tür zu den Toiletten und erst als ich in einer der Kabinen stehe, halte ich endlich inne. Was um Himmels Willen war das gerade? Ich sinke auf dem geschlossenen Toilettensitz nieder wie ein Stein. Das Gefühl, meinen Kopf irgendwo gegen schlagen zu wollen, holt mich ein, doch natürlich gebe ich ihm nicht nach. Stattdessen schüttle ich meinen Kopf, wie um endlich diese Denkblockade verschwinden zu lassen. So was ist mir ja noch nie passiert! Habe ich mich überhaupt schon jemals so bescheuert aufgeführt? Das war ja höchstpeinlich! Und vor allem so unnötig! So unglaublich unnötig! Wieso hatte ich denn bitte das Bedürfnis Mel zu küssen? Ich verstehe es nicht... ich verstehe nicht, wieso mein Herz noch immer nicht normal schlägt... was ist denn bloß los? Das ist überhaupt nicht lustig! Lange Minuten vergehen, bevor ich es schaffe, mich hochzureißen. Tief durchatmend verlasse ich die Toiletten und versuche, meine Schritte zu festigen. Einfach nicht mehr darüber nachdenken, habe ich beschlossen, einfach so tun, als sei nichts gewesen... einfach ganz normal sein! „Nate, da bist du ja endlich!“, kommt Marcel auf mich zu. „Wir haben uns schon gefragt, wo du warst...“ „Sorry, mir war etwas übel...“, versuche ich ein Grinsen. „Ich glaub, das war die Luft da drin...“ „Ach so... ja...“ Er nickt und deutet dann hinter sich, wo ich die anderen drei erkenne. Mels Blick trifft mich und mir wir flau im Magen. Wie peinlich ich mich benommen habe! „Wir können los“, verkündet Marcel mit mir im Schlepptau, bevor er mir erklärt, dass sie noch was trinken gehen wollten. „Gern“, lächle ich und versuche immer noch, mich wieder vollends zu fangen. Als wir einige Zeit später in der kleinen Bar ankommen, in der ich schon mit Marcel nach dem Fußballspiel gewesen bin, habe ich endlich das Gefühl, mich langsam selbst wiedergefunden zu haben. Ich bestelle mir ein Bier und schaffe es dann zum ersten Mal wieder, Mel direkt anzusehen. „Es war wirklich toll!“, sage ich mit ernster, ehrlicher Stimme. „Carolin und du, ihr habt wirklich toll gespielt! Ich war ganz hin und weg.“ Mel wird leicht rot. „Vielen Dank“, lächelt er mich an. „Obwohl ich ein paar Mal improvisiert habe... an der einen Stelle in der Kammer hat zum Beispiel der Spiegel gefehlt...“ „Ja!“, lacht nun Carolin neben ihm. „An deiner Stelle wär ich glaub ich vollkommen durcheinander gekommen.“ „War ich!“, bestätigt er, „Und wie! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was einem in einem solchen Moment durch den Kopf geht! Und du darfst dir ja nicht anmerken lassen, dass etwas nicht stimmt... Grausam, sag ich dir!“ Seine Augen fixieren mich. „Kann ich mir vorstellen“, grinse ich. „Das erfordert wahrscheinlich viel Training, in solchen Momenten ruhig zu bleiben, oder?“ „Sehr viel sogar! Es gibt sogar einen Studienabschnitt, der sich unter anderem um Improvisation dreht.“ „Er war da immer besonders gut“, legt Carolin ihren Arm um Mel. Ich beobachte sie ungewöhnlich genau dabei. „Manchmal...“, fügt nun Marcel hinzu. „Wenn ich mit ihm geübt habe, hat er gesagt, ich solle einfach mal ein paar Zeilen weglassen oder stattdessen etwas anderes sagen... Das hat mir mehr abverlangt als ihm...“ „Stimmt gar nicht... du weißt, wie oft ich mich verhaspelt habe...“ „Man hat es aber nur selten gemerkt. Und heute hab ich’s auch nur gemerkt, da ich das Stück schon ein paar Mal gesehen habe...“ „Ich hab das auch nicht gemerkt“, stimme ich zu. „Sehr gut gemacht.“ „Danke.“ Mel strahlt mich an. „Schön, dass es dir gefallen hat.“ „Ja, das hat es.“ Ich sehe ihm tief in die Augen, bevor mir genau das bewusst wird und ich stattdessen mein Bier leere. Einige Zeit nach Mitternacht machen wir uns auf den Rückweg. Carolin verabschiedet sich von uns und als sie Mel umarmt, wende ich mich fast automatisch Jeanette zu. Innerlich wundert es mich, dass Carolin geht. „Wie lange bleibst du morgen eigentlich?“, fragt Mel, als er wieder bei uns ist und wir uns auf den Weg machen. Ich zucke die Schultern. „Keine Ahnung, hab mir keine Zeit gesetzt...“ „Das ist schön“, sehe ich sein Lächeln. „Weshalb?“ „Nur so.“ Er zuckt die Schultern. „Dann können wir was zusammen machen… die beiden haben morgen auch nichts vor...“ Er deutet auf das Pärchen neben uns. „… und da können wir den Tag zu viert genießen…“ „An was hast du gedacht?“, kommt es von meiner Rechten. „Ich weiß nicht…“ Mel geht ein paar Schritte vor, dreht sich um, geht nun rückwärts weiter. „Wir könnten einfach was spielen… oder kochen… oder wir gehen weg…“ Er breitet die Arme aus. „Keine Ahnung, es gibt doch so viel, das man tun ka-“ „Vorsicht!“ Einen Schritt, dann reiße ich Mel an mich. Ihn schon fallen gesehen, rast mein Herz nun… und während ich seinen Körper an meinem spüre, wirbelt es in meinem Kopf herum, dass es nur ein Bordstein war. Nicht hoch… nur ein Bordstein! Ich schließe die Augen, versuche zu atmen. Hitze strömt meine Fingerspitzen hinauf in meine Wangen. Dann spüre ich eine Bewegung. „Das war knapp“, lacht Jeanette hinter mir. Eine weitere Bewegung so dicht an mir, lässt mich die Augen wieder öffnen. Ich sehe ihn an… und die Hitze von seinem Handgelenk strömt noch immer in mich hinein. „Nate?“ Erschrocken springe ich zurück, von meinem Namen geweckt. Ich lasse ihn los und Kälte verschlingt mich… zusammen mit plötzlich eintretender Scham. „Entschuldigung! Ich hab nur…“ Ich schüttle den Kopf, bewege mich… gehe wieder los. Ich kann keinen von ihnen ansehen. „Mein… Meine Schwester hat sich so mal den Knöchel gebrochen und….“ Ich verstumme als Mel neben mir aufgeholt hat. Er berührt meine Schulter. „Danke“, lächelt er… und ich nicke, meine Lüge hinter einem Lächeln verschleiernd. In der Wohnung angekommen trennen sich unsere Wege schnell. Jeanette, die ihr Gähnen die gesamte Zeit zu unterdrücken versuchte, verschwindet bald in Marcels Zimmer und er folgt ihr nach einigen Minuten mit den Worten, dass er bestimmt wie ein Stein schlafen wird. Mel hilft mir dabei, das Laken über dem Sofa auszubreiten. Mittlerweile schaffe ich es wieder, ihn ganz normal anzusehen. „Ich hab mal für ein paar Nächte hier geschlafen“, deutet er dann darauf. „Es war ziemlich unbequem.“ „Es geht“, zucke ich die Schultern. „Es ist okay.“ „Das ist gut.“ Ein Gähnen entweicht ihm. „Du solltest auch ins Bett gehen“, erlöse ich ihn von dem Gefühl, noch etwas Zeit mit dem Gast verbringen zu müssen. „Wahrscheinlich...“, gähnt er erneut und macht Anstalten, das Wohnzimmer zu verlassen. „Sag mal... wieso schläft eigentlich Carolin nicht hier?“, entweicht mir in letzter Minute die Frage, die ich eigentlich nicht stellen wollte. Es geht mich nichts an! „Wieso sollte sie?“ „Na, als deine Freundin ist das doch ganz normal...“ „Meine Freundin?“ Verwundert werde ich angesehen und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er danach sogar etwas verärgert klingt. „Wer hat dir das denn gesagt?“ „Äh... niemand... aber, ich dachte...“ Er schüttelt den Kopf. „Zu viel gedacht. Sie ist nicht meine Freundin... und ich habe auch keinen Freund.“ Ein letzter Blick tief in meine Augen, bevor er sich umdreht und das Zimmer verlässt. Wie erstarrt bleibe ich stehen und starre auf die leere Wohnzimmertür. Sekunden später geht im Flur das Licht aus. Ich sinke auf das Sofa nieder und versuche mir darüber klarzuwerden, was ich soeben erfahren habe. Er... er ist... Habe ich das falsch verstanden? Nein, das kann nicht sein... Er kann doch nicht wirklich auch... Ich muss mich verhört haben! Erschüttert verbiete ich mir alle weiteren Gedanken, lege mich hin und bete, dass der Schlaf schnell kommen mag. ~ * ~ Geweckt werde ich am nächsten Morgen von einer lächelnden Jeanette. „Aufstehen“, sagt sie leise und nimmt die Hand wieder von meiner Schulter. „Wie spät ist es?“, gähne ich, strecke mich auf dem Sofa und blinzle ins Tageslicht hinein. „Neun Uhr. Marcel hat gesagt, ich solle dich wecken... Sorry.“ „Kein Problem! Das war gut so!“ Ich richte mich gähnend auf, strecke mich. „Lass dir Zeit und mach dich erstmal fertig. Wir sind in der Küche...“ Damit richtet sie sich auf und geht Richtung Tür. „Ach, du trinkst Kaffee, oder?“ „Ja.“ Als sie verschwunden ist, sinke ich nochmals ins Sofa zurück. Ehrlich gesagt habe ich noch lange wach gelegen... und irgendwann habe ich wieder angefangen, über das Musical nachzudenken... damit bin ich dann eingeschlafen und habe davon geträumt... in vollkommen übertriebener Dramatik... Kopfschüttelnd schäle ich mich nun unter der Decke hervor und stehe auf. Ich schnappe mir meine Hose und mein Hemd vom Boden und mache mich damit auf den Weg zum Badezimmer. Schon wieder gähnend öffne ich die Tür und erstarre. „’tschuldigung!“, reiße ich die Tür augenblicklich wieder zu und starre sie an, als habe ich einen Geist gesehen. Dabei war es nur Mel mit einer Zahlbürste im Mund... es war ja noch nicht mal irgendwas Anzügliches. Über mich selbst den Kopf schüttelnd, trete ich einen Schritt von der Tür zurück. Aus der Küche höre ich Stimmen und leise Musik. Ich lehne mich gegen die Wand. Eigentlich hätte ich einfach mit einem „Entschuldigung. Guten Morgen.“ die Tür wieder schließen können... aber nein, was mache ich? Bescheuert... aber echt... „Es ist jetzt frei“, reißt Mel mich aus meinen Gedanken, als er aus dem Bad kommt. Er lächelt mich an. „Guten Morgen.“ „Guten Morgen“, erwidere ich und frage mich dann, ob ich wohl rot bin. Schnell verziehe ich mich ins Bad. „Einen wunderschönen guten Morgen!“, werde ich auch von Marcel begrüßt, als ich die Küche wenig später betrete. Ich erwidere es und lasse mich neben ihm auf dem freien Stuhl nieder. „Hast du gut geschlafen?“ „Ich denke schon...“ „Das hört man gern! Und? Fit für den Tag?“ „Kommt drauf an.“ Ich schiele zu Mel. „Ich weiß ja noch nicht, was auf mich zukommt...“ „Wie wäre es damit?“, wird von der anderen Tischseite her eine Zeitungsseite nach oben gehalten. „Rentner sollen zukünftig-“ „Nicht das!“, unterbricht Marcel seinen Bruder harsch und deutet auf ein kleines Feld am rechten Rand. „Antiker Flohmarkt?“, lese nun ich vor. „Genau.“ Er zieht die Zeitung wieder zurück. „Der ist heute und Jeanette ich wollen hingehen… Kommt ihr mit?“ „Hey! Vielleicht finde ich ja da diese komischen Ansteckdinger!“, sehe ich Mel heftig nicken, ehe ich selbst dazu kommen kann, irgendwie meine Zustimmung preiszugeben. „Ansteckdinger?“, frage ich nun verwirrt. „Ach, für ein Kostüm. Wir sollen ende des Monats etwas fertig stellen und unserer Gruppe wurde die Zeit Napoleons zugeteilt. Naja, und Caro hat so genaue Vorstellungen davon, am liebsten hätte sie alles bis aufs kleinste verziert…“ Es werden die Augen gerollt. „Willst du sie auch fragen, ob sie mitkommt?“, greift Marcel nach einem Marmeladenglas und lässt es einen Moment in der Luft schweben. „Caro? Nein. Zu viert ist es doch irgendwie besser, oder?“, werde nun ich direkt angesehen. Dunkles Braun strahlt mir entgegen, verschlingt mich. Schnell wende ich mich der Butter zu. „Ja“, sage ich und bete, dass das Thema gewechselt wird. In meinem Kopf drehen sich wieder Mels Worte. ENDE Akt 8 Showstopper: Als Showstopper wird der Moment bezeichnet, in dem die Aufführung kurzzeitig unterbrechen muss, da es einen zu großen Applaus gibt, als dass einfach so weitergespielt werden kann. Auf diesen Akt bezogen, sehe ich den kurzen „Ausfall“ von Nathanaels Denkvermögen als den Showstopper an, also sein Verhalten nach der Aufführung. Kapitel 9: Quick-Changes ------------------------ Überrascht stellen wir fest, dass es ein ziemlich großer Flohmarkt ist. Er befindet sich in einem alten, abgelegenen Fabrikgebäude, in dem nun Stand an Stand gereiht ist. Überall stehen alte Möbelstücke herum oder hängen ungewöhnliche Kleider an den Stangen. Dort glitzert es golden, hier ist alles in antikes Braun gehüllt. „Wahnsinn!“, staunt Mel und sieht mich an. „Wo fangen wir an?“ Ohne dass es irgendwie groß gesagt wurde, scheint es beschlossene Sache zu sein, dass wir uns aufteilen. Jeanette und Marcel verschwinden direkt bei dem ersten, großen Stand mit Möbelstücken, während Mel auf einen mit Kleidung und Stoffen zusteuert. Ich folge ihm ganz automatisch. Die nächsten zwei Stunden vergehen damit, dass ich Mel beobachte. Ich tue es nicht besonders auffällig, zumindest glaube ich das, doch immer wenn er sich etwas anschaut, etwas begutachtet, so tue ich dies bei ihm. Die Worte, welche er gestern zu mir sagte, geistern mir noch immer im Kopf herum. Ich muss unentwegt daran denken, frage mich, ob er wirklich das meinte, was ich glaube… Doch ich frage ihn nicht, natürlich nicht. Es würde wie eine Anmache klingen, wenn ich fragen würde, zumindest rede ich mir das ein. Und dabei wüsste ich es gerne, wüsste gerne, ob Mel tatsächlich schwul ist… und wenn er es ist, weshalb hat Marcel das nie erwähnt? Zum Beispiel in dem Moment, als ich noch dachte, es sei ihm vielleicht unangenehm, dass ich schwul bin… Wieso ich so gerne Gewissheit hätte, verstehe ich nicht. Ich kenne mehrere Schwule, alleine schon durch die Beziehung mit Tobias, und nie hat einer mehr oder weniger einen Unterschied für mich gemacht, nie hat mich einer interessiert oder ich wollte mit ihm über das Thema sprechen. Warum ist es hier so anders? Warum versuche ich in seinem Verhalten, wenn er zum Beispiel mit einem der Verkäufer spricht, kleine Anzeichen zu deuten? Was ist mit mir los? „Wie findest du die?“, werde ich aus meinen Gedanken gerissen, als Mel plötzlich direkt vor mir steht. In seinen Händen liegen Knöpfe und Manschettenknöpfe, wild verziert mit irgendwelchen Kringeln und Steinen. Ich greife nach einem Stück und habe für Sekunden das Bedürfnis, nach seiner gesamten Hand zu greifen. „Die sind hübsch“, nicke ich, als er mich erwartungsvoll ansieht. Ich drehe den Knopf in meinen Fingern. „Meinst du, die würden mir stehen?“ „Dir?“ „Für so ne alte Uniform, die ich wahrscheinlich tragen werde… Also?“ „Es sind nur Knöpfe.“ „Nate!“ Es werden die Augen gerollt, der Knopf wird mir aus den Fingern genommen. „Natürlich sind es nur Knöpfe, aber es soll doch alles passen. Außerdem versuche ich, Konversation zu treiben. Du bist so schweigsam.“ Er kreuzt die Arme vor der Brust und sieht mich ernst an. „Bin ich das?“ „Ja, schon die ganze Zeit. Macht es dir keinen Spaß hier zu sein?“ „Doch.“ Ich lächle und strecke meine Hand aus. Ehe ich mich versehe, habe ich einige seiner Haarsträhnen zwischen den Fingern. „Doch, mit dir macht es mir Spaß.“ Und dann steht die Welt still. Wohl, weil mir die Sekunde bewusst wird, weil mir klar wird, was ich hier tue… und weil Mels Augen sich so merkwürdig weiten. Von einer Sekunde auf die andere habe ich das Gefühl, im Erdboden versinken zu wollen. Was ist los mit mir? Schnell trete ich einen Schritt zurück, nehme meine Hand herunter, sehe Mel nicht mehr an. „Kauf sie“, sage ich und drehe mich dem Stand zu. Der Blick des Mannes dahinter ist mir genauestens bewusst. „Sie sind schön, sie passen zu dir.“ Und dann gehe ich weiter, da mir zu heiß wird und da ich nicht länger stehenbleiben kann. Am liebsten würde ich rennen… weit, weit weg rennen. Der restliche Aufenthalt auf dem Flohmarkt vergeht gesprächiger als die Zeit davor. Mel stellt mir andauernd irgendwelche Fragen, allgemeine oder auf den aktuellen Ort beziehend, oder er erzählt mir etwas, lässt mich erzählen. Ich denke, er tut dies, damit wir nicht schweigend nebeneinander herlaufen und darüber nachdenken, was soeben geschehen ist. Doch was ist geschehen? Noch immer bin ich mir nicht im Klaren darüber… und vielleicht will ich das auch gar nicht sein. Dankbar nehme ich also sein Verhalten an, gehe drauf ein, finde es sogar angenehm, mit ihm über unwichtige Dinge zu sprechen, mit ihm zu lachen. Bei alle dem versuche ich aber, meine Augen nur Sekunden auf ihm weilen zu lassen. Wieso spüre ich so ein deutliches Gefühl der Zufriedenheit in mir? Als wir am kleinen Kaffee ankommen, welches direkt am Eingang des Fabrikgebäudes aufgebaut ist, sehe wir Marcel und Jeanette dort schon auf uns warten. Vor ihnen stehen einige Tüten. Mel stürzt sich sofort neugierig darauf, während ich mich neben Marcel niederlasse. „Und? Hattest du Spaß?“, werde ich hier gefragt, als Jeanette ihre Aufmerksamkeit auch den Tüten und dem neugierigen Mel schenkt. „Ja.“ Ich atme bewusst tief aus. „Das sieht man.“ „Hast du mich beobachtet?“ „Nicht wirklich, aber ab und zu gesehen. Du siehst zufrieden aus, finde ich.“ „Ja…“ Ich schiele zu Mel hinüber. „Es war eine gute Idee, herzukommen.“ „Lass mich raten… so was hast du noch nie gemacht.“ „Nein, noch nie“, bestätige ich. „Ich weiß nicht, ich dachte immer, so etwas ist nichts für mich…“ Noch immer ruht mein Blick auf Mel, es ist mir deutlich bewusst. „So etwas?“ „Einfach sinnlos über einen Flohmarkt zu wandern und zu gucken, was andere Menschen loswerden wollen… Dabei macht es Spaß.“ „Das freut mich.“ Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er einen Blick auf die Uhr wirft. „So Leute, wir müssen los.“ „Warum so plötzlich?“, wendet Mel sich von der Betrachtung einer kleinen Figur ab. Diese starre dafür nun ich an. „Er wurde angerufen…“ Jeanette winkt die Kellnerin herbei. „Ich soll arbeiten“, erklärt Marcel weiter. Ich wende meinen Blick ab, als Mel die Figur wieder in der Tüte verstaut hat. Er steht auf, ich tue es ihm gleich. „Und was machen wir noch schönes?“, zieht er meinen Blick wieder auf sich. „Ich glaube…“ Ich zögere, weil mir heiß und kalt ist. „…Ich sollte langsam nach Hause.“ Nur ein Nicken ist die Antwort… und ich wende mich ab. Marcel tritt in mein Blickfeld. „Soll ich dich auf dem Weg zur Taxizentrale beim Bahnhof vorbeibringen?“ Ich bejahe und setze mich in Bewegung. Den anderen voraus trete ich ins Freie, ziehe die kühle Luft in mich hinein. Mein Kopf dreht sich, irgendwas stimmt hier nicht so ganz. Ich sollte wirklich langsam heim… wieder zur Ruhe kommen. Die Zugfahrt vergeht meiner Meinung nach an diesem Tag viel zu schnell. Ich weiß nicht wieso, aber das Bedürfnis, nach Hause zu kommen, besteht trotz allem heute so gar nicht in mir. Ich habe keine Lust auf Tobias, will kein Eifersuchtsszenario präsentiert bekommen… vor allem nicht jetzt, nachdem ich weiß, dass Mel vielleicht auch schwul ist. Das kann ich Tobias niemals erzählen. Und außerdem muss ich das doch auch nicht, oder? Es ändert schließlich überhaupt nichts. Auf das schlimmste gefasst, betrete ich also einige Zeit später meine Wohnung. Musik begrüßt mich aus der Küche. „Hallo“, trete ich in den Türrahmen, nachdem ich die zwei Tüten mit Dingen, die Mel mir angedreht hat, im Flur abgestellt habe. Sofort wird sich an der Küchenzeile herumgedreht. Sein Gesicht strahlt. „Hallo Schatz!“, kommt er auf mich zu, streckt die Arme nach mir aus und küsst mich. „Da bist du ja schon!“ Verwundert lasse ich die Umarmung zu. Schon? „Wie war’s?“ „Schön“, sage ich skeptisch, als er sich wieder etwas von mir entfernt. „Was machst du?“ „Ich backe. Ich hatte nichts zu tun, und da dachte ich, du würdest dich vielleicht freuen…“ Ich erspare mir die Erwiderung, welche in meinem Kopf herumschwirrt und aussagen würde, dass ich nun wirklich kein Kuchenfan bin und er das eigentlich wissen müsste. „Was gibt es denn?“, frage ich stattdessen. „Mohnkuchen.“ Er dreht sich wieder seinen Schüsseln zu. „Setz dich doch zu mir und erzähl, was ihr so gemacht habt. Ich bin gleich fertig.“ Ich gehe der Aufforderung nach, noch immer mit dem Gefühl, dass hier irgendwas zu harmonisch abläuft. Außerdem habe ich keinen Schimmer, was ich erzählen soll. Der Tag zieht sich genauso harmonisch in den Abend hinein und auch als wir ins Bett gehen, stehen die Sterne noch immer gut. Ich weiß nicht wieso, aber ich rechne jede Sekunde mit einem Ausbruch, damit, dass Tobias doch irgendwelche eifersüchtigen Worte von sich gibt… doch dem ist nicht so… er küsst mich bloß, berührt mich, lässt sich berühren… es ist normal und dennoch unnormal, vor allem, da meine Gedanken nicht bei der Sache sind, da sie herumschwirren zwischen einem Streit, den ich erwarte, und Mel wie er auf der Bühne gesungen hat. Ich weiß nicht wieso, aber in dieser Nacht kann ich meine Gedanken nicht kontrollieren. ~ * ~ Als ich am Montagmorgen aufwache, glaube ich ernsthaft, dass es so harmonisch weitergehen kann. Zwar liege ich alleine im Bett, aber bei der Uhrzeit, die mir mein Wecker verrät, ist dies vollkommen normal. Also bleibe ich liegen und warte darauf, dass Tobias kommt, um sich zu verabschieden. Es wird alles ablaufen wie immer… Ich glaube wirklich daran. Erst als um zwanzig nach sechs die Tür aufgerissen wird, glaube ich nicht mehr daran. Ich sehe den wütenden Blick sofort. „Was ist das?“, faucht er, die zwei Papiertüten in den Händen. „Das siehst du doch“, erkenne ich den Unterton sofort. „Natürlich! Aber wieso hast du so was?“ „Das sind nur Kleinigkeiten…“ Er zieht eine hölzerne Figur heraus. Eigentlich ist sie ziemlich hässlich, doch in dieser Hässlichkeit hat sie mir gefallen. „Nur Kleinigkeiten?“ Er faucht und sinkt aufs Bett nieder. „DU hasst es doch, wenn ich so was anschleppe! Du hasst es, wenn ich solchen Krimskrams mitbringe, du-“ „Ja und? Was ist da jetzt so schlimm dran?“ Ich fahre hoch, funkle ihn an. „Kann ich meine Meinung nicht mehr ändern?“ „Deine Meinung? Weißt du eigentlich, was sich alles verändert? Es ist nicht nur deine Meinung! Alles, alles ist anders, seit du die kennst!“ „Komm, jetzt übertreib nicht!“ „Ich übertreibe nicht!“ Die Figur wird aufs Bett geschleudert. „Merkst du es denn nicht? Es sind nur Kleinigkeiten, aber du veränderst dich! Du sprichst mit mir über Dinge, die du sonst als unwichtig empfunden hast, und du-“ Er springt auf. „Ach verdammt! Nate, du wirst ein ganz anderer Mensch!“ Der Streit währt ungefähr zwanzig Minuten, dann befördere ich Tobias nach draußen, mit den Worten, dass er jetzt zur Arbeit müsse und erstmal wieder runterkommen solle. Danach gehe ich duschen und etwas frühstücken… und dann stehe ich im Flur vorm Spiegel und starre mich selbst an. Ich merke ja auch, dass ich anders denke als sonst, dass meine Gedanken weniger geordnet sind… aber ich hasse es, wenn jemand versucht, an mir herumzuanalysieren… oder sagen wir, ich hasse es, wenn Tobias das versucht. Seit wir uns kennen, hat er mich immer wieder kritisiert, mir sagen wollen, was ich besser oder anders machen kann oder wie ich mich verändern soll… und nun, da ich mich scheinbar wirklich ein klein wenig verändere, nun kritisiert er wieder… das kann es doch echt nicht sein, oder? Ich bleibe nicht lange bei der Arbeit an diesem Tag, sondern mache mich auf den Heimweg, sobald ich kann. Ich wünsche mir, ein bisschen Ruhe für mich alleine in meiner Wohnung, will nicht direkt wieder mit Tobias konfrontiert werden. Zuhause angekommen, blinkt das Telefon und meldet einen unbeantworteten Anruf. Mit dem Hörer in der Hand verschwinde ich ins Schlafzimmer und ziehe mich erst einmal um. Dann überprüfe ich die Nummer… Es ist die der Zwillinge. Überrascht darüber trage ich den Hörer weiter mit mir in die Küche und zusammen mit einem Glas Wasser ins Wohnzimmer. Hier nun sitzend frage ich mich, ob ich zurückrufen soll. Ich tue es nach etwa zehn Minuten. Zwar sage ich mir davor ein paar Mal, dass derjenige schon wieder anrufen wird, wenn es wichtig war, aber irgendwie lässt mich die Neugierde nicht los. Also wähle ich und halte den Hörer gespannt ans Ohr. „Ja?“, wird sich auch ziemlich schnell gemeldet. „Hi!“ Ich trinke mein Glas leer. „Du hast angerufen?“ „Hab ich das? Wann?“ „Heute.“ „Nein, das muss Mel gewesen sein. Ich bin grade erst von der Arbeit zurück. Musste heute privaten Chauffeur für zwei Mädels machen, die ihre Einkaufsrunde drehten…“ Fast höre ich das grinsende Augenrollen. „Soll ich ihn dir geben?“ „Weißt du, was er wollte?“, frage ich unsinnigerweise nach. „Nö. Warte kurz.“ Ich höre das Öffnen einer Tür, gedämpfte Stimmen. Dann meldet sich eine sehr ähnliche zu der, welche zuvor am Apparat war. „Hey.“ Im Hintergrund fällt die Tür wieder ins Schloss. Warum ich mich ausgerechnet in diesem Moment frage, wie sein Zimmer eigentlich im hellen Zustand aussieht, weiß ich nicht. „Hey. Du hast versucht, mich anzurufen?“ „Äh… ja, das habe ich…“, kommt es zögernd. „Wegen etwas Bestimmten?“ „Nein. Einfach so.“ „Einfach so?“, bin ich zugegeben etwas verwundert. „Ja… ich meine… ich hatte nur grade nichts zu tun… und mir war langweilig… und da dachte ich… naja… ich meine…“ Seine offensichtliche Nervosität lässt mich schmunzeln. „Worüber wolltest du reden?“, frage ich, um das Gestotter zu unterbrechen. „Über irgendwas?“ „Okay.“ Ich lächle. „Fang an.“ „Aber…“ „Was? Hast du nun keine Langeweile mehr?“ „Nein, das ist es nicht…“ „Was dann?“ „Naja… du hast doch bestimmt was zu tun… und ich will dich nicht stören… deshalb-“ „Mel?“ „Mhm?“ „Ich rede gerne mit dir.“ Ich erhalte keine Antwort auf meine Worte, zumindest nicht in den nächsten Sekunden, in denen ich tiefer in die Sofapolster hinein sinke und mich frage, was ich da soeben gesagt habe. Aber es stimmt, wird mir dann bewusst. Aus irgendeinem Grund haben mir die sinnlosen, lockeren Gespräche, die ich mit Mel bisher geführt habe, sehr gut gefallen. Nachdem der Moment der peinlichen Stille überschritten ist, beginnt tatsächlich ein Gespräch. Es startet damit, was ich heute bei der Arbeit gemacht habe, geht über Mels Unialltag weiter zu Hobbys. Mel reagiert darauf, dass ich ihm sage, dass ich keine wirklichen Hobbys habe, weniger schockiert als Marcel. Dafür erzählt er mir, dass er neben der Musik sehr gerne liest, weshalb wir nun zu Büchern kommen, feststellen, dass wir hier einen vollkommen anderen Geschmack haben… Gerade als ich Mel sagen will, dass ich ihm demnächst mal ein Buch mitbringen werde, dass er unbedingt lesen sollte, höre ich den Schlüssel im Schloss. „Mel?“, unterbreche ich ihn. „Ja?“ „Ich muss auflegen.“ „So plötzlich? Was ist-“ „Tschüss.“ Ohne noch eine Antwort abzuwarten, lege ich auf. Das Telefon lasse ich bei Zeitschriften liegen, von denen ich mir eine schnappe. Dann lausche ich zum Flur hin. „Hier bin ich“, lasse ich ihn wissen, als ich das Klopfen an meiner Arbeitszimmertür vernehme. Schweigend folgt er meinen Worten ins Wohnzimmer, lässt hier seine Tasche zu Boden und kommt zu mir hinüber. Ohne ein Wort sinkt er aufs Sofa hinab und bettet seinen Kopf auf meinem Schoß, als ich seinen Instinkt dazu erkannt und die Zeitschrift angehoben habe. Mehr passiert nicht, kein Ausbruch, kein Streit und auch keine versöhnenden Worte. In der nächsten Stunde bleibe wir einfach nur genau so sitzen… und ich bin froh, dass ich aufgelegt habe, wenn auch ich immer mal wieder zu dem Telefon schiele und ein schlechtes Gewissen verspüre, Mel so abgewürgt zu haben. Innerlich schwöre ich mir, ihn morgen wieder anzurufen. ~ * ~ Tatsächlich mache ich am Dienstag noch etwas früher bei der Arbeit Schluss. Meine Kollegin sieht mich daraufhin verwirrt an, lässt den Kommentar los, dass sie so was gar nicht von mir kenne, und ist wohl noch überraschter, als ich ihr daraufhin zulächle und einen schönen Abend wünsche. Selbst mir wird an dieser Stelle bewusst, dass das nicht meine Art ist. Nein, ich bin kein unfreundlicher Mensch… aber wirklich der umgänglichste bin ich auch nicht. Marcel hatte schon recht… in gewisser Weise bin ich zwischenmenschlich wohl tatsächlich eine Niete. Dass ist so bereits um kurz mach vier Uhr zuhause bin, nur um Mel in Ruhe anrufen zu können, ist mir durchaus bewusst. Dennoch ziehe ich es vor, mir darüber keine Gedanken zu machen. Ohne lange Umschweife wähle ich die Nummer… und dieses Mal ist es sofort Mel, der den Anruf entgegen nimmt. „Hey“, lächle ich in den Hörer und ehe Mel noch irgendwie reagieren kann, beginne ich sofort mit meiner Entschuldigung: „Es tut mir leid, dass ich gestern so schnell aufgelegt habe, es war nur wegen Tobias. Er ist im Moment so gereizt und wir streiten viel, deshalb… Naja, es tut mir leid.“ „Ist schon okay“, kommt es nach einigen Sekunden. „Ich war nur überrascht. Es ist schön, dass du wieder anrufst.“ „Ja. Ich dachte, das sollte ich, damit du weißt, was los war. Es hatte überhaupt nichts mit dir zu tun.“ Im selben Moment wird mir bewusst, dass das eigentlich gar nicht stimmt. Hätte ich mit jemand anderem telefoniert, hätte ich das Gespräch wahrscheinlich ganz normal beendet… aber dann hätte ich auch nicht mit einer Diskussion rechnen müssen. „Schon okay, wirklich!“ „Gut.“ Ich lächle und lasse mich richtig aufs Sofa sinken. Gegen die Decke starrend, verspüre ich das Gefühl, Mel gerade eine Menge erzählen zu wollen. „Wieso streitet ihr im Moment so viel?“, kommt er mir mit seiner Frage jedoch zuvor. „Natürlich nur, wenn ich-“ „Du darfst!“, unterbreche ich ihn und dann überlege ich, wie ich das ganze am besten erkläre. „Er sagt, dass ich mich verändere… und irgendwie mag er das nicht.“ „In wie weit veränderst du dich?“ „Ich weiß nicht. Schon, dass ich dich anrufe, nur um irgendwelchen Scheiß zu reden, bin eigentlich nicht ich…“ „Wirklich? Aber das ist doch eigentlich etwas völlig Normales.“ „Für mich nicht.“ „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung…“ „Da hast du wohl recht…“ Ich kratze mit dem Finger am Telefonrücken entlang, lasse meine Augen kreisen. „Weißt du, ich tue mir schwer, grundlos Gespräche zu führen“, sage ich dann. „Wirklich? Den Eindruck hatte ich gar nicht. Ich kann mich mit dir gut unterhalten…“ Einen Moment weiß ich nicht, was ich darauf antworten soll. Irgendwie bringt mich diese Eröffnung zum Lächeln… und dazu, mich zu freuen. Wieso mag ich es, wenn er so etwas sagt? Nur, weil ich es nicht gewohnt bin, so etwas zu hören? „Danke“, sage ich schließlich und versuche dann, aus dieser engen Gasse der schweren Worte wegzukommen. „Aber ich denke, dass das die Veränderung ist, die er meint. Einfach weil ich euch noch nicht so gut kenne, und dennoch viel mit euch mache… Er ist eifersüchtig, obwohl ich ihm gesagt habe, dass er das nicht muss, immerhin habt ihr ja Freundinnen…“ Mir werden meine Worte in dem Moment bewusst, in dem ich sie sage. Innerlich fluche ich zu mir selbst, und dann nehme ich die Gelegenheit wahr, weiterzusprechen, bevor Mel etwas sagen kann. „Ich meine, das hab ich zumindest gesagt, als ich noch dachte, dass du mit Carolin zusammen bist…“ „Aber das bin ich nicht.“ „Ja, ich weiß.“ Ich atme tief durch, nicht sicher, ob ich es an dieser Stelle fragen darf. „Mel?“ „Ja?“ „Ich weiß, ich hab das vielleicht falsch verstanden… aber, sag mal… bist du auch… schwul?“ „Ja“, kommt es schlicht. Und dann herrscht Stille. Ich nehme den Hörer von meinem Ohr und greife mir an die Stirn, obwohl es mein Herz ist, das ziemlich fest schlägt. Was soll ich denn jetzt sagen? „Das überrascht mich“, sage ich, als ich den Hörer wieder zurückgeführt habe. „Wirklich? Wieso?“ „Ich weiß nicht. Weil Marcel nichts gesagt hat vielleicht… keine Ahnung…“ „Warum sollte er das sagen?“ „Weil ich schwul bin… und weil ich am Anfang dachte, er könne damit nicht umgehen… darum vielleicht… oder weil-“ „Ich habe ihn mal gebeten, die Sache nicht in der Welt herumzutragen“, unterbricht Mel mich. „Zwar wissen die meisten, die mich kennen, dass ich homosexuell bin, aber ich ziehe eigentlich vor, es ihnen selbst zu sagen. Ich krieg die Reaktion lieber direkt selbst mit, damit ich weiß, woran ich bin…“ Fast bin ich versucht, ihn zu fragen, weshalb er es mir dann nicht früher selbst gesagt hat… aber ich frage nicht, da mir bewusst wird, was für ein quatsch das ist. Wir kennen uns doch eigentlich kaum. „Wissen bei dir alle, wer du bist?“, fragt Mel, als ich auf seine Worte nicht reagiere. „Kaum“, gestehe ich. „Aber ich habe auch nicht viele, denen ich es sagen könnte. Mein Arbeitskollegen wissen es nicht, aber mit denen habe ich auch privat nichts zu tun… und meine Familie, naja, sie wissen es jetzt halt seit kurzem… und ansonsten wissen es halt die Leute von Tobias…“ „Und deine Freunde?“ „Ich habe keine Freunde.“ „Du hast…?“ Er verstummt. „Das… das tut mir leid, ich meine…“ „Kein Problem. Es stört mich nicht. Obwohl es schon schön ist…“ Ich zögere, bevor ich den Satz beendet. „… euch als Freunde zu haben.“ „Das-“ „Ich meine natürlich nur, wenn ihr das auch so seht. Also-“ „Ja! Ja, Nate!“, unterbricht er meinen Ausweichversuch. „Ich mag dich. Ich meine… wir mögen dich… und…“ Es wird wieder still in der Leitung. Die Augen mittlerweile geschlossen, lächle ich in mich hinein, während ich mir vorstelle, wie der Rotschimmer auf seinen Wangen liegt. „Das ist schön“, sage ich, mir langsam bewusst, wo dieses Gespräch hinführen könnte. „Aber wie wäre es, wenn wir über etwas anderes reden? Etwas weniger Peinliches vielleicht...“ Lachend stimmt er mir zu und ich bin froh, diesen Ausgang gefunden zu haben. Nachdem der Moment des irgendwie intim angehauchten Gespräches verklungen ist, telefonieren wir noch fast eine Stunde lang. Es sind nur Kleinigkeiten, über die wir reden, nichts besonderes, und doch fühle ich mich wohl dabei, mag ich es, mit ihm am Telefon zu lachen. Als ich auflege, habe ich das Gefühl, dass ich es nicht hätte tun sollen. Am liebsten hätte ich noch weiter mit ihm geredet, die Zeit noch länger so schnell verrinnen gesehen… Wann jemals hatte ich das Gefühl, dass eine Stunde nur einem Augenaufschlag glich? Noch eine Weile bleibe ich auf dem Sofa liegen. Ich denke darüber nach, was Mel gesagt hat… über das Schwulsein, dass er es den Leuten gerne selbst sagt… Ich habe über diesen Punkt nie so wirklich nachgedacht. Ich habe mich nie gefragt, ob es wichtig ist, bestimmten Personen zu erzählen, dass ich schwul bin. Die einzigen Personen, an die ich hierbei dachte, waren meine Eltern, mein Vater im Speziellen… Aber ansonsten… Wenn ich Leute kennengelernt habe, dann war es durch irgendwelche Schwulenbars, und da ich mit meinen Kollegen nie freundschaftliche Kontakte pflegte, kam es mir gar nicht in den Sinn, es ihnen zu erzählen. Es ist noch nicht mal so, dass ich es verheimlicht hätte… Ich habe darüber nur nie nachgedacht. Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht, wissen zu wollen, was eine andere Person von mir denkt, wenn sie es weiß… andere Menschen haben mich einfach noch nie beschäftigt. Nie… nur jetzt, auf ein Mal… und in diesem Fall ist es auch nicht das Schwulsein, um das es geht, sondern um mehr… „Ich mag dich.“ Er hat es gesagt und es hat mich gefreut… Ob es schlimm ist, dass es mich sogar sehr gefreut hat? ENDE Akt 9 Quick-Changes: Gemeint sind beim Musical die schnellen Kostümwechsel während der Vorstellung. Im Part meine ich damit die schnellen Veränderungen, die bisher in Nathanael vorgegangen sind und welche Tobias anspricht. Kapitel 10: Reprise ------------------- Nach dem Telefonat am Dienstag beschließe ich am Mittwoch, trotz des Gefühls, mit Mel reden zu wollen, ihn nicht anzurufen. Ich kann doch nicht jeden Tag mit ihm sprechen… das bin ich schließlich wirklich so gar nicht! Und dennoch hängen den Abend lang meine Gedanken des Öfteren bei ihm… und in irgendeinem komischen Zusammenhang dazu, muss ich auch wieder an meine Eltern denken, an meine Geschwister. Tobias merkt, dass ich schweigsamer bin als sonst, fragt mich danach und erhält von mir daraufhin nur die Antwort, dass er sich doch langsam daran gewöhnt haben müsste. Bald danach gehe ich ins Bett, viel zu früh. Hier liege ich wach und sehe Bilder vor mir, die ich nicht sehen will. Da ich Mel… und da ist meine Mutter an ihrem Schreibtisch… ihr ernster Blick… der meines Vaters… Er, wie er mit Kenneth im Flur stand… Jahre ist es her, lange, lange Jahre… Ich schmeiße mich im Bett herum. Ich will nicht daran denken… wieso sollte ich es auch? Es hat doch nichts mit mir zu tun, nichts mit heute… nichts mit jetzt… mit Mel… Ich schalte das Licht ab, sinke noch tiefer in die Matratze hinein, schlinge die Decke um mich. Und wieso denke ich an ihn die ganze Zeit? Warum muss ich daran denken, was er über das Schwulsein sagte? Warum habe ich das Bedürfnis, ihn dazu noch mehr zu fragen? Ich wollte noch nie darüber reden, habe mir nie Gedanken darüber gemacht oder mich länger als nötig damit befasst… Wieso ist also jetzt alles so anders, einfach so? Oder rede ich mir das alles einfach nur ein? Sollte ich nicht einfach endlich aufhören, mir so unnötig den Kopf zu zerbrechen? ~ * ~ Auch trotz dieses Vorsatzes… am Donnerstag herrschen in meinem Kopf dieselben Gedanken vor. Mehr noch als am Tag zuvor muss ich mich zusammenreißen, um nicht zum Telefon zu greifen. Dies tue ich erst, als es klingelt… und als tatsächlich diese eine Nummer darauf zu sehen ist, kann ich nicht anders, als das Gefühl der Freude in mir zuzulassen. Tobias sieht mich skeptisch an. Ich verschwinde in meinem Arbeitszimmer, nehme hier das Gespräch entgegen. Es ist Mel, der am anderen Ende der Leitung wartet. Habe ich nicht genau das gehofft? „Hast du am Samstag was vor?“, kommt er ziemlich direkt zum Grund seines Anrufes. „Bisher nicht… wieso?“ „Weil du dann jetzt was vor hast.“ „Hab ich das?“, grinse ich ins Telefon. „Und was?“ „Überraschung“, zieht er das Wort fröhlich in die Länge. „Ich mag keine Überraschungen.“ „Wirklich nicht?“, klingt er direkt verunsichert. „Doch, ich gewöhne mich langsam daran“, beruhige ich ihn schnell wieder. „Gut! Dann steht dem ja nichts im Wege! Also? Kommst du?“ „Natürlich. Das kann ich mir doch nicht entgehen lassen, oder?“ „Nein, kannst du nicht. Es wird dir gefallen!“ Ein Lachen. „Wenn du magst, kannst du auch schon am Freitag kommen…“ „Ich glaube, das wäre keine gute Idee…“ „Wieso nicht? Wegen Tobias?“ „Ja. Zwar haben wir uns nicht mehr gestritten, aber seine schlechte Laune liegt in der Luft. Wenn ich jetzt schon wieder für zwei Tage weg bin, flippt er wahrscheinlich aus…“ „Oh… ich verstehe“, klingt es fast etwas enttäuscht. „Aber dafür komm ich Samstag so früh ich kann!“, füge ich schnell hinterher. „Holst du mich am Bahnhof ab?“, entferne ich gleichzeitig mit der Bewegung der Maus den Bildschirmschoner und rufe den Internetbrowser auf, um nach den Bahnverbindungen zu gucken. „Muss ich irgendwas mitbringen? Taucherbrille, Kletterstiefel, oder Regencape?“ „Nein“, kommt es lachend zurück. „Du reichst vollkommen…“ ~ * ~ Dass ich am Samstag weg muss, sage ich Tobias auch erst am Samstag. Ich weiß, dass dies nicht gerade die beste Vorgehensweise ist, aber ich weiß auch, dass es ansonsten noch eineinhalb Streitdurchzogene Tage geworden wären. „Was habt ihr denn vor?“, fragt Tobias am Frühstückstisch, nachdem er sein Brot auf den Teller gepfeffert hat. „Weiß ich nicht.“ „Wie bitte?“, kommt es etwas zu laut. „Willst du mich verarschen?“ „Nein, hatte ich eigentlich nicht vor.“ „Aber-“ „Mel hat sich eine Überraschung überlegt...“ „Mel also?“ Ein kühles Lachen. „Ja. Hast du ein Problem damit?“ „Das fragst du doch nicht ernsthaft?!“ „Doch. Aber eigentlich kenne ich die Antwort schon... Deshalb sollten wir das jetzt auch besser lassen...“ Ich stehe auf. „Nate!“ „Ja?“, drehe ich mich am Kühlschrank wieder zu ihm um. „Wann kommst du wieder nach Hause.“ „Keine Ahnung.“ „Aber du musst doch wissen…“ Er steht auch auf mit todtraurigem Gesicht. „Aber... du kommst... heute noch?“ „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht…“ „Bitte Nate…“, steht er nun direkt vor mir, hebt die Hände, fasst mich aber schließlich doch nicht an. Ich seufze, nicke und sage schließlich: „Ja, wahrscheinlich.“ „Wahrscheinlich? Nate, ich-“ „Ich weiß es nicht, Tobias. Ich habe keine Ahnung, was er vor hat oder wie lange das dauert. Deshalb kann ich dir das jetzt nicht sagen...“ Er senkt den Kopf. „Na gut…“ Ich ziehe ihn an mich heran. „Beruhig dich, okay? Ich bin heute Abend wahrscheinlich wieder zuhause und alles ist gut… okay?“ Ein Nicken, als er sich an mich schmiegt. „Du bist so fremd“, kommt es flüsternd… und ich beschließe, es nicht gehört zu haben. An meinem Zielbahnhof angekommen, wartet Mel bereits auf mich. Er strahlt mir entgegen, als ich auf ihn zukomme. Auf dem Weg zu seinem Auto, fragt er nach Tobias. Kurz und knapp erkläre ich, dass er natürlich wieder nicht einverstanden war, was Mel nicht so leicht hinnimmt, wie erhofft. „Vielleicht hättest du nicht kommen sollen…“, bleibt er stehen. „Doch natürlich! Ich will doch wissen, was du dir ausgedacht hast...“, deute ich mit dem Kopf, weiterzugehen. „So... so toll ist es auch wieder nicht...“ Es klingt fast etwas beschämt. Er steht weiterhin. „Wo ist denn plötzlich deine Sicherheit geblieben, dass es mir gefallen wird?“ „Wird es, bestimmt. Aber... wahrscheinlich denkst du dir jetzt wer weiß ich was... und... naja... ich meine… es ist nur was Kleines...“ „Weißt du was, Mel?“ „Hm?“ „Lass es mich selbst entscheiden. Ich denke schon, dass es mir gefallen wird.“ Ein nervöses Lachen. „Das hoffe ich...“ „Ist das nicht deine Uni?“, frage ich leicht verwirrt, als wir einige Zeit später aus dem Auto steigen. „Ja. Komm mit.“ Mel geht los und ich folge ihm, lasse dabei meinen Blick über die einzelnen Gebäude streifen. Da hinten ist das Theater, wo ich mich letzte Woche zu Tode blamiert habe. An einem anderen Gebäude angekommen, zieht Mel eine Karte hervor, die er an ein kleines Gerät an der Wand hält. Vor uns öffnet sich die Tür. „Ein Freund hat sie mir gegeben... Alleine war ich noch nie hier drin...“, tritt er durch die Tür ins Innere eines Flures. „Ich hoffe, ich finde den Weg...“ Grinsend geht er los. „Weißt du, der Architekt, der die Gebäude unserer Uni geplant hat, muss betrunken gewesen sein... Er hat ein halbes Labyrinth erschaffen...“ „Aber passt das nicht zu einer Kunstuniversität?“, lasse ich meinen Blick über die Bilder an der Wand schweifen. „Ja, da hast du Recht... Hier lang.“ Er öffnet die Tür zu einem Treppenhaus und steigt eine Treppe hinab. Ich begutachte das Schild, bei dem ein Pfeil nach unten zeigt. Nur Raumnummern stehen darauf und irgendein Fachausdruck, mit dem ich nichts anfangen kann. Unten angekommen, bleibt Mel schnell vor einer großen Tür stehen. „Da sind wir“, sagt er und wirkt fast nervös dabei. Dann öffnet er mit der Karte die Tür. Sie springt auf und gibt den Blick frei. Von einer Sekunde auf die andere wird mir klar, wo wir gelandet sind und mit großen Augen starre ich in den Raum hinein. „Komm“, fordert Mel auf und tritt hinein, schließt hinter mir die Tür und deutet in eine Richtung, die er selbst einschlägt. „Das ist eine der größeren Werkstätten... Wir haben in unserem Fachbereich auch welche, aber die sind nur klein, da wir mehr zum Musicalschauspiel und –singen ausgebildet werden. Diese hier ist für die Bühnenbildner...“ Beeindruckt lasse ich meinen Blick herumschweifen. Einige halbfertige Pappgestelle stehen hier oder größere Gebilde aus Holz. „Naja... und hier...“ Mel bleibt stehen. „Hier ist der Bereich, in dem Kulissenbestandteile aus... naja... Speckstein hergestellt werden. Ich dachte mir, wenn du magst... könnten wir heute ein bisschen was... ausprobieren... naja... ich meine... weil du...“ Er verstummt und sieht mich an. Ich spüre den Blick von der Seite und kann förmlich seine Anspannung fühlen. Ich schüttle den Kopf, ganz langsam... und dann lächle ich, sehe ihn an, sehe in das nun vollkommen verunsicherte Gesicht. „Das ist... ich weiß nicht was ich sagen soll... ich...“ Ich habe das Gefühl, einen Kloß in der Kehle stecken zu haben. So gut es geht schlucke ich ihn hinunter, sehe Mel noch fester an. „Ich...“ „Gefällt dir die Idee nicht?“, fragt er, immer unsicherer. „Doch! Natürlich!“ Ich nicke heftig. „Ich... Mel.. wirklich... das ist...“ Ich schlucke erneut fest, versuche meine Stimme zu beruhigen und die richtigen Worte zu finden. Dann trete ich einen Schritt auf ihn zu. Überrascht werde ich angesehen. „Mel, das ist wahrscheinlich das Schönste, was sich je jemand für mich ausgedacht hat!“ Seine Augen werden größer. „Wirklich?... Ich meine, übertreib nicht... so was Besonderes ist es nun auch nicht... ich...“ „Doch“, unterbreche ich ihn. „Doch das ist es! Weißt du wie es hier riecht? Wie bei meinem Großvater... du kannst dir gar nicht vorstellen...“ Und dann tue ich es. Aus bloßem Instinkt heraus umarme ich Mel. Ich drücke ihn an mich und ziehe den Geruch ein, der in meine Nase strömt... „Danke“, flüstere ich ihm ins Ohr. „Vielen Dank!“ Langsam entspannt sich der Körper in meinen Armen und dann legt er seine Hände auf meinen Rücken. Er hält mich fest, ich halte ihn fest... und für einen Moment, als ich die Augen schließe, habe ich das Gefühl, mich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr so geborgen gefühlt zu haben. Macht das wirklich nur dieser vertraute Geruch? Lange Sekunden vergehen, bis ich Mel wieder loslasse. Er strahlt, als ich in sein Gesicht sehe... es ist deutlich, wie erleichtert er ist, dass ich mich freue. „Wollen wir anfangen?“, fragt er dann. „Ja. Aber ich warne dich, ich bin wirklich nicht begabt.“ „Soll ich dir was sagen? Ich auch nicht!“ Er lacht. „Ich kann noch nicht mal ein Haus malen, ohne dass irgendwas schief ist!“ „Das kenne ich irgendwoher...“ Ich nehme auf einem der Hocker platz, die hier stehen, greife nach einem der Steine, die er mir hinhält. „Und wie macht man das jetzt?“, frage ich, etwas unsicher. „Keine Ahnung. Ich hab da noch nie mit gearbeitet...“ „Aber ich dachte, ihr habt auch so einen Bereich?!“ „Ja, aber ich habe immer eher den Maskenbereich gewählt... oder eben Kostüme... Bühnenbild ist nicht so ganz mein Ding...“ „Also bist du genauso hilflos wie ich?“ „Ganz genauso!“ Wir lachen und es erfüllt mich mit Wärme. Ich habe das Gefühl, ihm schon wieder danken zu wollen. Stattdessen greife ich nach einer der herumliegenden Feilen. Fast zwei Stunden verbringen wir so gut wie schweigend nebeneinander und bearbeiten unseren ersten und nach einem Misserfolg unseren zweiten Stein. Hier und da hört man Fluchen oder leises Zu-sich-selbst-Gemurmel, ansonsten ist es fast still. Nur die Geräusche beim Bearbeiten der Steine erfüllen den großen, vollgestopften Raum. Irgendwann wird diese Stille durch ein lautes Knurren durchbrochen. Mel horcht sofort auf, sieht dann mich an. „Warst du das?“, fragt er, während sein Gesicht sich schon zu einem Grinsen verzieht. „Ja“, gebe ich zu. „Der Streit heut morgen hat mir den Appetit verdorben…“ „Warte mal!“ Mel legt den Stein aus der Hand und robbt zu seinem Rucksack, den er mitgebracht hat. Mittlerweile sitzt er auf dem Boden und ist ebenso wie ich über und über mit feinstem Staub bedeckt. Im nächsten Moment wird mir ein Apfel vor die Nase gehalten. „Oder ist dir eine Banane lieber? Ich kann dir auch ein Brötchen anbieten...“ Mit großen Augen sehe ich ihn an. „Du hast ja an alles gedacht!“ „Naja… Ich hab mir gedacht, dass wir lange hier sein werden, deshalb hab ich was mitgenommen...“ Er wird rot unter den Staubflecken in seinem Gesicht. „Du bist klasse!“, sage ich begeistert und verlasse nun auch meinen Stuhl, sinke zu Mel auf den Boden. Ich reibe mir die Hände an der Hose ab. Keine Ahnung, ob es etwas bringt. Dann greife ich nach einer der Wasserflaschen, die Mel ebenfalls hervorgeholt hat. „Jetzt machen wir also ein Picknick im Staub?“, grinse ich ihn an, als ich einen Schluck getrunken habe. „Tut mir leid! Ich habe vergessen, dass Jörg gesagt hat, wir sollten lieber Kittel anziehen...“ Er deutet grinsend hinter sich. „Die hängen da, wenn du noch einen willst…“ „Ist doch nicht schlimm. Es macht doch keinen Spaß, wenn man nicht so richtig dreckig wird... obwohl ich mich frage, wie wir das Zeug nachher ohne Dusche abbekommen werden...“ „Das frag ich mich auch noch.“ Lachend beißt er in einen Apfel. Ich tue es ihm gleich, lasse dabei meinen Blick zu seinen zwei Steinen wandern. „Was soll das darstellen?“, frage ich, auf den ersten deutend. „Keine Ahnung.... ein Fantasiewesen vielleicht. Ursprünglich sollte es eine Schildkröte werden...“ „Und das?“ „Das ist noch nicht fertig. Ich ringe noch damit... Was ist mit deinen?“ „Das hier“, deute ich auf meinen ersten Misserfolg, „sollte ein Fisch werden... ebenso wie das Zweite... jetzt bastle ich im Moment an einem Hund... oder wenigstens an etwas mit vier Beinen...“ Grinsend drehe ich das Wesen, welches bisher noch nicht mal ein richtiges Bein hat, in meiner Hand. „Ich frage mich, wie er das damals gemacht hat. Ich hab überhaupt keine Ahnung, wie ich da drangehen soll, damit es nicht sofort vollkommen bescheuert aussieht... Aber er damals... du hättest es mal sehen sollen... Er hat Gesichter aus Marmor geschnitzt... und Schiffe, bei denen man die Maserungen der Planken sehen konnte...“ „Wow, das hört sich toll an!“ „Ja.“ „Hast du irgendwas von ihm?“ „Nur eine kleine Eidechse, die er damals für mich als Glücksbringer gemacht hat... Die anderen Sachen wurden alle verkauft oder stehen bei meinen Eltern...“ „Die Eidechse würde ich gerne mal sehen.“ „Ich zeig sie dir gerne, aber dazu musst du mich besuchen kommen... Sie reist nicht so gerne...“ Ich zwinkere ihm zu, was er mit einem Grinsen aufnimmt. „Mag sie denn Besuch?“ „Sie bekommt sehr wenig, aber ich glaube, sie würde sich freuen.“ „Dann komme ich gerne.“ Mel sieht mir in die Augen und ich habe das Gefühl, dass er mir mit diesem Blick irgendwas sagen will. Mein Herz schlägt einen Takt schneller. Ein weiters Knurren meines Magens reißt unsere Blicke auseinander. Lachend deutet Mel auf seinen Rucksack. „Du solltest ihm endlich was Richtiges geben, sonst wird er böse...“ „Ich glaub auch.“ Damit greife ich nach einem Brötchen. Nach unserem kleinen Mittagessen begebe ich mich zurück zu meinem Hund. Auch Mel arbeitet noch eine ganze Weile weiter, bis er irgendwann aufsteht, mit den Worten, sich ein bisschen umsehen zu wollen. Er verschwindet hinter einer Ecke. Während ich weiter feile und säge höre ich hinter mir ab und an ein leises Geräusch und dies ist ein angenehmes Gefühl. Ich weiß noch nicht wieso. Es ist einfach nur schön, mal seine Zeit auf eine ganz andere Weise zu verbringen... und noch schöner ist es, wenn man dabei nicht alleine ist. Irgendwann, nach dem mein Nicht-Hund sein viertes Bein bekommen hat, lege ich ihn weg und beschließe, Mel suchen zu gehen. Zögernd folge ich den Geräuschen, die ich wahrnehme, während ich meinen Blick wieder und wieder über die prachtvollen, meist noch nicht ganz fertigen Kulissen schweifen lasse. Mel scheint mich nicht kommen zu hören, als ich ihn in einer Ecke entdecke. Er dreht gerade verschiedene Gegenstände vorsichtig in den Händen herum, begutachtet dies, begutachtet das... und nachdem ich einen kleinen Moment einfach nur dastehe, höre ich sogar, dass er ganz leise vor sich her singt. Dies ist es, was mich nun nur noch leiser werden lässt. Ich spitze meine Ohren, erkenne eines der Lieder, die er vor einer Woche auf der Bühne vorgetragen hat. Fast sehe ich ihn in seinem schwarzen Gewand wieder vor mir, kann aber in diesem Moment meine Augen nicht von seinem jetzigen Erscheinungsbild lassen. Seine Kleidung ist staubig, seine Haare zerzaust... und dennoch habe ich das Gefühl, ihn umhüllt von einem warmen Lichtschein stehen zu sehen... Irgendwas stimmt nicht mit mir. Irgendwann hört Mel auf zu singen, scheint ganz in die Verzierungen eines Bogens vertieft zu sein. Ein kleinwenig fällt der Zauber des Moments von mir ab und ich beschließe, mich endlich bemerkbar zu machen. „Singst du mal richtig für mich?“, frage ich. Erschrocken fährt Mel herum. Der Bogen fällt zu Boden. „Ich hab dich gar nicht kommen hören“, greift er sich an die Brust, lacht. „Stehst du schon länger da?“ „Eine ganze Weile...“, gebe ich zu. „Aber wieso hast du-“ „Ich wollte dich nicht unterbrechen, ich habe dir zugehört.“ Ich trete zu ihm heran, hebe den Bogen auf und drehe ihn in meinen Händen. „Der ist schön.“ „Finde ich auch.“ Mel will ihn mir abnehmen, doch ich lasse nicht los. Stattdessen ziehe ich Mel so ein Stück näher an mich heran. Nervös werde ich angesehen, bevor er mit roten Wangen den Blick senkt. „Faszinierend, was schöne Dinge manche Leute anfertigen können...“, spricht er leise. „Ja.“ Ich hebe eine meiner Hände und berühre Mel am Kinn. Langsam hebt er den Kopf. „Aber noch faszinierender als das... finde ich...“ Ich spreche nicht weiter, sondern werde in den Bann der Situation gezogen. Mels Augen sind mir ganz nah und ich kann diese kleine Narbe erkennen, die er unter dem linken Auge hat. Ich wollte schon mal fragen, wo sie her kommt. Nun hebe ich einfach nur meine Finger und streiche darüber. Es lässt ihn die Augen schließen und ich komme ihm noch näher. Ich spüre schon seinen unruhigen Atem... Ein lautes Klappern lässt uns auseinander fahren. Mel reißt die Augen wieder auf. „Mist!“, flucht er, bückt sich nach dem Bogen und hebt ihn wieder auf. „Das tut mir leid... es... ich meine...“ Er legt den Bogen weg und dreht sich wieder zu mir um. Nun ist mehr Distanz zwischen uns. Er bemerkt sie auch und sieht schnell weg. Das Knistern aus der Luft ist verschwunden. „Wir sollten langsam gehen“, sagte ich und trete einen Schritt zurück. Mein Herz rast und ich weiß, dass das nicht gut ist... gar nicht gut. Damit drehe ich mich um und gehe den Weg zurück, den ich von unserer Arbeitsstelle gekommen bin. Ich könnte mich verfluchen... und es tut mir Leid, aber ich weiß noch nicht mal genau, was am meisten. Wir räumen die Sachen schweigend zusammen und versuchen dann so gut wie möglich den Staub zusammenzufegen, ohne ihn noch mehr aufzuwirbeln. Anschließend spülen wir unsere unfertigen Figuren unter Wasser ab, ebenso wie unsere Hände, und verlassen die Werkstatt. Als Mel die Tür hinter sich schließt, nehme ich sein trauriges Gesicht wahr. Ich sehe weg und gehe zurück Richtung Treppe. Draußen angekommen schütteln wir bestmöglich unsere Klamotten aus, lachen uns dabei gezwungen zu und steigen ins Auto. Den Motor gestartet und das Radio angeschaltet bin ich froh, dieser erstickenden Stille entkommen zu sein. Ich starre auf den unfertigen Hund auf meinem Schoß und streichle sein nichtvorhandenes Fell. Vor mir sehe ich wieder die Situation von zuvor. Ich hätte Mel geküsst, wenn er den Bogen nicht hätte fallen lassen... Ich hätte Mel geküsst... Verdammt noch mal, was ist denn los mit mir? Am Bahnhof angekommen sage ich Mel, dass er nicht zu warten braucht. So also bedanke ich mich steif bei ihm und gehe. Aber eigentlich hätte ich ihm so gerne gesagt, wie schön ich den Tag fand... wie ich seine Nähe genossen habe... wie froh ich bin, ihn kennengelernt zu haben. ENDE Akt 10 Reprise: Reprise bedeutet „wiederaufnehmen“ und steht für Musikstücke, welche dieselbe oder nur leicht abgeänderte Melodie haben, wie ein zuvor bereits gespieltes Stück. Manchmal ist sogar der Text gleich, aber auch wenn nicht, ist „die Wiederholung“ eigentlich jedes Mal eindeutig erkennbar. Bei mir geht es dabei um das „Wiederaufnehmen“ oder auch „Wiederaufleben“ von Nathanaels Erinnerungen bezüglich seiner Kindheit mit seinem Großvater . Kapitel 11: Put In ------------------ Die gesamte Zugfahrt über kann ich an nichts anderes denken. Ständig, immer wieder spule ich die Situation in meinem Kopf ab und frage mich, wie es bloß dazu kommen konnte. Warum habe ich dies Verlangen, ihn küssen zu wollen? Wieso zieht er mich so dermaßen an? Ich zermatere mir den Kopf und ich komme doch zu keinem Ergebnis. Egal wie oft ich versuche, es mir klarzumachen, schaffe ich es doch nicht, die Situation klar vor mir zu sehen... immer wieder werde ich von meinem klopfenden Herzen unterbrochen. Am Ziel angekommen, steige ich mit einem merkwürdigen Gefühl aus. Gleich werde ich Tobias unter die Augen treten... und zum ersten Mal hätte er sogar einen Grund, eifersüchtig zu sein... Himmel Herrgott, wie soll das bloß ablaufen? Kann ich ihn nicht einfach rausschmeißen? Zuhause angekommen, werde ich eigentlich sehr fröhlich begrüßt. Wahrscheinlich liegt das daran, weil er befürchtet hat, mich eine Nacht entbehren zu müssen. So aber schließt er mich fest in die Arme und sagt mir, wie sehr er sich freut, dass ich schon da bin. Ich antworte nichts darauf, lasse mich küssen und drücken und bin froh, als er mich endlich frei lässt. „Hast du Hunger?“, fragt er, mir ins Wohnzimmer folgend. Ich zucke die Schultern. Habe ich Hunger? Keine Ahnung... Tobias deutet es als ein Ja und verkündet, dass er sich schon was ganz tolles ausgedacht hat. Dann verschwindet er und lässt mich im Wohnzimmer allein. Ob er auch nur im Entferntesten ahnt, wie froh ich darüber bin? Ich lasse mich aufs Sofa sinken und vergrabe meinen Kopf in einem der Kissen. Ich schließe die Augen und versuche durchzuatmen, den Geruch meiner eigenen Wohnung in mir aufzunehmen. Vielleicht wird mir dann klar, wie dämlich ich war, dass es ein einmaliger Verlust logischen Denkens gewesen ist... Nach weiteren zehn Minuten des Nachdenkens flippt mein Verstand aus. Schlagartig setze ich mich hin, greife nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher an. Irgendetwas, das ich jetzt sehen will. Bitte, irgendwas! Ich bleibe an einer Dokumentation hängen. Etwas über den Regenwald oder so ein Zeug. Ich versuche, der Stimme im Fernseher zu lauschen, doch gelingt es nicht wirklich. Mein Gehirn will einfach nicht ausschalten... Tobias ist traurig, als ich sein essen nicht lobe, sondern es einfach in mich hineinstopfe. Ich kommentiere es mit einem „gut“ und verschwinde zurück im Wohnzimmer. Traurig folgt er mir einige Minuten später. „Was ist denn los?“, krabbelt er zu mir aufs Sofa, legt den Kopf an meine Schulter. Ich lasse ihn gewähren, auch wenn ich gerade so gar keine Lust auf Nähe habe. „Mir geht es nicht gut“, sage ich nur, als er ein weiteres Mal nachfragt. „Ist etwas passiert?“ „Was soll denn passiert sein?“, fahre ich ihn an, woraufhin ich nur noch verwunderter angesehen werde. „Irgendwas stimmt doch nicht mit dir!“, bohrt er nach, drückt sich noch enger an meine Seite. Als ob das meine Situation besser machen würde! Ich reagiere nicht mehr auf sein Gefrage, was er schließlich auch zu begreifen scheint. Also gibt er endlich Ruhe und lehnt sich einfach nur gegen mich. Ich schließe die Augen, lausche dem Fernseher, und versuche, schon wieder an nichts zu denken. Es gerade so irgendwie geschafft, nehme ich Finger an meinem Hosenbund wahr. „Was machst du da?“, reiße ich die Augen auf. „Gar nichts.“ Er grinst, sinkt vom Sofa auf den Boden und beugt sich zu mir heran. „Gar nichts... schließ einfach die Augen.“ Ich will mich wehren, will protestieren, doch ich tue es schließlich nicht. Ablenkung... war es nicht genau das, was ich wollte? So also lasse ich mich darauf ein, lasse zu, dass er meine Hose hinunter zieht, die Shorts folgen lässt und mich verführerisch berührt. Ich stöhne darunter auf, lege den Kopf in den Nacken und strecke diesen Berührungen meinen Unterkörper entgegen. Ich sehe Tobias braune Augen vor mir, greife in seine Haare, bestimme seine Bewegungen und stöhne erneut laut auf. Hände fahren meinen Oberkörper hinauf. Sie berühren meine Brustwarzen, meinen Hals... streicheln mich sanft und verlangend. Ich bewege mich fester, stöhne lauter und nehme nur wahr, wie ich nichts mehr wahrnehme, als ich zum Höhepunkt komme. Keuchend beruhige ich meine Atmung wieder, atme tief durch... öffne die Augen und sehe in Tobias glückliche Augen... in seine blauen Augen. Erschrocken springe ich auf. Blau! Ich stolpere über meine Hose, die mir noch an den Beinen hängt, als ich flüchten will. Tobias hält mich fest. „Was ist los?“, fragt er besorgt. Ich sehe ihn an. Blau... nicht braun. „Gar nichts“, fauche ich. „Ich geh duschen.“ „Ich komm mi-“ „Nein!“, verweigere ich es ihm und bin in der nächsten Sekunde im Bad verschwunden. Erschüttert sinke ich gegen die geschlossene Tür, während ich noch immer das Gefühl habe, braune Augen vor mir zu sehen. Mels braune Augen... Ich verlasse das Bad ziemlich lange nicht und als ich es tue, sage ich zu Tobias, dass es mir nicht gut geht und ich gerne früher schlafen gehen würde. So also verkrieche ich mich im Bett und versuche einzuschlafen – schwierig, denn eigentlich bin ich hellwach. Noch als Tobias zwei Stunden später zu mir kommt, habe ich kein Auge zugetan, tue aber, als sei ich durch ihn erneut wach geworden. Ich drehe mich auf die andere Seite, ziehe die Decke höher an mein Kinn heran und presse die Augenlider herunter. Ich muss doch einfach nur eine Nacht drüber schlafen, dann ist sicher alles beim Alten! Denn so ist es nicht gut... gar nicht gut. Man sollte sich nie so von irgendwelchen Gefühlen einnehmen lassen. „Lass dir eines gesagt sein, Sohn... Gefühle verderben dich nur!“ Zu genau höre ich die Stimme meines Vaters in meinem Kopf und als ich es endlich schaffe, einzuschlafen, träume ich sogar von ihm. ~ * ~ Vielleicht aus dem Grund, dass ich erst sehr spät eingeschlafen bin und in der ersten Hälfte der Nacht sehr häufig aufwachte, schlafe ich an diesem Sonntag sehr lange. Erst nach Zehn werde ich langsam wach... und auch wenn ich noch gar keine Lust habe, aufzustehen, verlasse ich das Bett. Ich gehe ins Bad, dann in die Küche. Hier treffe ich auf Tobias, der gerade die Sonntagszeitung studiert. „Guten Morgen“, lächelt er mich an und ich erwidere den Gruß mürrisch, lasse mich ihm gegenüber nieder. In den nächsten Minuten starre ich vor mich hin, starre die Rückseite der Zeitung an und frage mich, wie ich diesen Tag bloß durchstehen soll. Wenn Tobias auch nur ein falsches Wort sagt, reiße ich ihm den Kopf ab, irgendwie bin ich mir dessen sicher. „Tobias?“, sage ich deshalb irgendwann, ganz unvermittelt. „Ja?“ „Was hältst du davon, mal einen Tag Zuhause zu verbringen?“ Überrascht ist kein Ausdruck für den Blick, der mich trifft. Mit offenem Mund sieht Tobias mich an. „Wie... wieso?“ Ich zucke die Schultern, richte mich gerade auf und tische ihm dann eine Lüge auf, wie es eigentlich so gar nicht meine Art ist: „Weil ich ein bisschen Ruhe haben will. Ich glaube, ich werde krank... und ich hab noch was für die Arbeit zu tun... und außerdem-“ „Aber ist es nicht besser, wenn ich genau darum bleibe?“, unterbricht er mich. Ich schüttle den Kopf. „Nein. Bitte, lass uns nicht darüber diskutieren. Geh einfach nach Hause. Morgen nach der Arbeit kannst du wiederkommen.“ „Aber-“ „Bitte Tobias. Nur für einen Tag.“ Erst sieht er aus, als würde er noch immer protestieren wollen, doch schließlich nickt er resignierend. „Soll ich jetzt gleich gehen oder frühstücken wir wenigstens noch zusammen?“ „Ich bekomme keinen Bissen runter“, erwidere ich, diesmal ohne zu lügen. „Na gut.“ Er steht auf, steht einen Moment unschlüssig herum. „Und du meinst wirklich, es ist okay, wenn ich dich in dem Zustand-“ „Es ist okay“, unterbreche ich ihn, stehe dann ebenfalls auf. Er nickt seufzend, verlässt die Küche, verschwindet im Schlafzimmer. Ich bleibe im Türrahmen der Küche stehen, bis er wieder herauskommt mit seinem Rucksack auf dem Rücken. Im Flur schnappt er sich seine Jacke vom Haken, kommt auf mich zu. Ich lasse ihn mich küssen. „Bis morgen“, zwingt er sich ein Lächeln auf die Lippen. Ich tue dasselbe. Die ersten Minuten alleine ohne Tobias empfinde ich ein Gefühl der Erleichterung. Unschlüssig gehe ich in meiner Wohnung herum, nicht wirklich wissend, was ich als erstes tun soll. Als mir dann aber einfällt, dass ich eigentlich gar nichts zu tun habe, sinke ich sofort wieder auf der nächsten Sitzmöglichkeit nieder. Das Sofa ist für sage und schreibe zwei Stunden mein Gefährte, da ich schnell wieder einschlafe und um halb Eins nur durch irgendein lautes Geräusch im Stockwerk über mir geweckt werde. Gerädert setze ich mich auf. Und jetzt? Ich sehe mich um und weiß nicht wirklich, was ich tun soll. Dann entschließe ich mich dazu, meine Tasche auszupacken, die ich gestern mitgenommen habe. Ein paar Sachen, falls ich doch übernachtet hätte… Dass dies keine allzu gute Idee war, stelle ich schnell fest, als ich die drei Steine heraushole, die ich bearbeitet habe. Meinen hässlichen Hund anstarrend, kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich daran denke, wie unglaublich verstaubt wir waren... und wie viel Spaß es vielleicht gerade durch diese Unvorsichtigkeit dem Dreck gegenüber gemacht hat. Ich stehe auf. Die ersten zwei missglückten Figuren lasse ich im Schrank verschwinden, meinen unfertigen Hund aber stelle ich auf meinen Schreibtisch neben die Eidechse. Fast bin ich erstaunt, dass ihn seine Beine überhaupt tragen. Während ich meine Zahnbürste zurück ins Badezimmer bringe und auch den Rest aus der Tasche hole, wird mir langsam bewusst, wie kühl ich mich gestern eigentlich von Mel verabschiedet habe. Ich habe gelächelt, das schon, aber es war nicht das Lächeln, das er verdient gehabt hätte. Ich habe ihm nicht mehr gezeigt, wie schön es war, diese Stunden mit ihm zu verbringen, wie schön es war, in diesen Stunden ein klein bisschen meiner Kindheit wiederzuerlangen. Ich habe ihm nicht gesagt, wie viel es mir bedeutet hat, das mit ihm zu machen. Der Griff nach dem Hörer ist schnell getan, doch dann starre ich ihn erstmal nur an, laufe mit ihm durch die Wohnung und weiß, dass ich keine Ahnung habe, was ich sagen soll, wenn Mel am anderen Ende der Leitung ist. Mich bedanken, ja das will ich – aber dann? Ich kann dann nicht sofort wieder auflegen... und ich will es auch nicht... aber über was sollen wir reden? Vor ein paar Tagen war es noch so einfach… Doch wie soll ich mich heute benehmen? Kann er vergessen, dass ich ihn fast geküsst hätte? Ich wähle die Nummer, ohne auf irgendeine Frage eine Antwort gefunden zu haben. Es ist mir egal. Ich sollte mich wirklich bei ihm bedanken. Das ist wichtig, auch um die Distanz, die gestern bereits herrschte, nicht noch größer werden zu lassen. Aber weshalb ist mir das überhaupt so wichtig? Das Tuten in der Leitung lässt mich zittern. Ich spüre meine Hand vor Spannung beben und weiß nicht, ob meine Stimme standhalten wird, wenn es an der Zeit ist, sich zu melden. Innerlich bete ich nur, dass es Mel ist, der abnehmen wird. Ich werde zutiefst enttäuscht. „Hallo Marcel... ich bin’s“, stottere ich in die Leitung, die Augen schließend und den Kopf schüttelnd. Oh Mist, und jetzt? „Hi!“, kommt es mit einer Fröhlichkeit, die ich gerade nicht allzu gut vertrage. „Sorry, aber ich hab grad nicht so viel Zeit, muss gleich zur Arbeit... Rufst du aus einem bestimmten Grund an?“ „Ich... naja... ist Mel da?“ „Mel? Nein, leider nicht, der ist vor einer halben Stunde weg.“ „Mist“, entkommt es mir, ehe ich es aufhalten kann. „War es wichtig?“ „Nein... nicht so sehr...“ „Soll ich ihm was ausrichten.“ „Nein.“ „Okay, gut... Soll er dich vielleicht anrufen, wenn er zurückkommt?“ „Nein, lass mal... ich... ich wollte mich nur bedanken... für den schönen Tag gestern... ja... ähm... das war eigentlich alles... also...“ „Nate?“ „Ja?“ „Was ist los?“ „Los? Was soll los sein?“, frage ich nervös. „Du bist irgendwie komisch.“ „Bin ich das?“ Ich lache dämlich. „Quatsch, das bildest du dir ein. Ich... hab nur grad viel um die Ohren. Ja genau, deshalb muss ich jetzt auch auflegen!“ „Okay...“, kommt es skeptisch. „Und es ist wirklich alles in Ordnung?“ „Klar!“, versichere ich unbeholfen. „Na gut, wenn du meinst.“ Ich sehe ihn förmlich die Schultern zucken. „Sehen wir uns nächstes Wochenende?“ „Nächstes Wochenende?“ Ich suche mit den Augen einen Kalender, auch wenn ich doch weiß, dass im Wohnzimmer keiner hängt. „Ich weiß nicht, ist was Besonderes?“ „Nein, eigentlich nicht... ich dachte nur, vielleicht-“ „Weißt du was? Lass uns die Woche noch mal darüber reden. Ich habe gerade echt den Kopf voll, tut mir leid.“ „Okay. Ich ruf dich dann mal an.“ „Mach das. Bis dann!“ „Bis dann.“ Ich lege auf... und ich fühle mich grässlich. Was war das denn bitte für ein bescheuertes Telefongespräch? Das war ja mehr als sinnlos! Mel war nicht da, es hat überhaupt nichts gebracht... gar nichts... nicht im Geringsten. Fluchend lasse ich den Hörer auf die Couch fallen und stehe auf. Und jetzt? Was mache ich jetzt? Ich sehe mich um, sehe eine aufgeräumte Wohnung und ärgere mich zum ersten Mal, dass ich nicht nur selbst sehr ordentlich bin, sondern auch einen Freund habe, der es ist. Sonst hätte ich jetzt wenigstens was zu tun! So aber tragen mich meine Beine unschlüssig wieder ins Arbeitszimmer zurück. Ich lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl sinken und schalte den Computer an. Internet... vielleicht bringt mir das jetzt ein bisschen Ablenkung. Bis ich darauf warte, dass der Computer hochgefahren ist, starre ich das hässliche Hundewesen an, sowie die Eidechse rechts daneben. Ich habe diesbezüglich wirklich so überhaupt kein Talent meines Großvaters geerbt. Wie um Himmels Willen soll man aber auch aus einem eckigen Stein ein so wunderschönes Wesen erschaffen? Nachdenklich streichle ich die steinige Haut der Eidechse. Aber es ist egal. Selbst wenn mein Hund noch hässlicher geworden wäre, selbst wenn ich gar nichts zustande bekommen hätte... es wäre mir vollkommen gleichgültig. Es war einfach nur schön, diese Stunden dort zu sitzen, in diese unordentlichen Werkstatt, und den Geruch zu riechen, wie ich ihn ähnlich aus meiner Kindheit kenne... und wenn man so etwas dann auch noch mit einem so wundervollen Menschen erleben kann, wie Mel einer ist, dann ist das noch um einiges schöner... Es ist schon komisch... eigentlich kenne ich Mel kaum, und dennoch habe ich eine so intime Erinnerung mit ihm geteilt... und ich habe noch nicht einmal das Gefühl, dass es mir auch nur im Ansatz peinlich sein müsste... nicht vor ihm... Ich lasse den Kopf sinken bei diesem Gedanken und ziehe meine Finger zurück. Schnell tippe ich mein Passwort in den Computer. Mein Verstand schreit förmlich nach einer Ablenkung. Mehr als drei Stunden lang verbringe ich damit, das Internet nach allen möglichen Informationen zu durchsuchen. Dabei lese ich Sachen, die mich nie interessiert haben, und erfahre sogar ein paar Dinge über Stars, deren Namen ich nicht einmal kannte. Es ist eine vollkommen sinnlose Beschäftigung, die ich da betreibe... aber sie lenkt mich ab. Ja, irgendwie schafft sie es tatsächlich, mich abzulenken. Gerade als ich irgendeinen Artikel über die neusten politischen Entwicklungen lese, klingelt es an der Tür. So vertieft, habe ich erst das Gefühl, mich verhört zu haben, aber dann bin ich mir sicher, dass es wirklich geklingelt hat. Also stehe ich auf, mit den Gedanken noch immer bei dem aktuellen Artikel, und gehe in den Flur. Mich nur eine Sekunde lang fragend, wer das wohl sein könnte, öffne ich die Tür. „Mel?“, entweicht es mir sofort, noch ehe ich ihn mit offenem Mund einfach nur anstarren kann. Ich will mir die Augen reiben, lasse es nur, da ich zur Salzsäule gefroren bin, und blinzle stattdessen ein paar Mal. Aber nein, er steht tatsächlich noch immer da. Direkt vor mir. Er... mit seinen strahlenden, braunen Augen. „Was... Was machst du hier?“, frage ich, als ich wieder herausgefunden habe, wie meine Stimme funktioniert. Ich traue meinen Augen immer noch nicht. „Ist Tobias da?“ „Nein.“ „Darf ich... reinkommen?“ „Natürlich!“ Ich springe zur Seite, hektisch, überrumpelt. Mel lächelt sein wunderschönes Lächeln und kommt herein. Dann ist er es, der die Tür schließt. Als ich den Blick wieder zu ihm drehe, ist er mir ganz nahe. „Ich habe gehört, dass du angerufen hast...“, kommt es leise und ich höre seine Stimme zittern. „Ich? Ja... ja, das habe ich... ich wollte...“, ebenso bebend, bis ich verstumme. Was soll ich denn sagen? Was tun? Ich fühle mich so hilflos, ich kenne das nicht! Ich sehe Mel in die Augen, versuche etwas zu sehen, ohne zu wissen, was ich suche... irgendwas, einfach nur irgendetwas... ich will doch nur... „Mel, ich-“ Ein Kuss stoppt mich. Leicht nur legen die Lippen sich auf meine, und doch lassen sie mich bis ins Mark erstarren... und meine Augen reiße ich ganz weit auf. Passiert das gerade wirklich? Ohne mir die Möglichkeit zu geben, eine Antwort finden zu können, beendet Mel den Kuss auch sofort wieder. Noch immer ist er nah vor mir, tritt dann einen Schritt zurück. Schnell wendet er den Blick ab. „Sorry“, beginnt er zu stottern. „Ich... das sollte nicht passieren... ich wollte das gar nicht... ich... es ist nur... gestern... und davor... du hast nie... ich meine...“ Dieses Mal bin ich es. Dieses Mal presse ich meine Lippen auf seine, fester als er zuvor, vielleicht aus Angst, vielleicht aus Nervosität, vielleicht aus... ach ich weiß es nicht. Schnell aber lasse ich den Druck nach, als ich merke, dass er sich mir entgegen lehnt... und dann werde ich auf einmal zurückgeküsst, mit einer Zärtlichkeit, wie ich sie seit einer Ewigkeit nicht mehr kenne. Seine Lippen sind zart, ganz, ganz sacht... so unglaublich zärtlich und schüchtern... Ich schlinge die Arme um ihn, öffne meine Lippen. Ich bin am verdursten. Rette mich. ENDE Akt 11 Put In: So bezeichnet man eine Durchlaufprobe wenn ein neues Mitglied zum Cast dazugestoßen ist. Bei mir geht es nicht um eine neue Person sondern um ein neues Gefühl oder einen Zustand, mit dem Nathanael erst einmal nicht umzugehen weiß und sich daher sehr aus dem Konzept bringen lässt. Kapitel 12: Black Out --------------------- Im Schlafzimmer drücke ich Mel aufs Bett hinunter. Wie wir hierher gelangt sind? Ich weiß es schon nicht mehr. Ich küsse ihn fest, greife nach seinen Händen, verschlinge meine Finger mit seinen, umschlinge seine Zunge mit meiner. Keuchend erwidert er den atemberaubenden Kuss, während er seine Hand mit meiner hebt, meine loslässt, mich im Haar ergreift. Noch fester drückt er meinen Kopf zu sich, küsst mich fester, leidenschaftlicher, fordernder. Mit meiner freien Hand fahre ich seine Hüfte hinauf, unter sein Shirt... ich spüre die weiche Haut und erzittere. Er tut es ebenso, als ich seine Brustwarze finde, als ich sie mit den Fingerspitzen liebkose und necke. Er stöhnt in den Kuss, presst sich noch weiter an mich heran. Eines seiner Beine schlingt sich um meines. Ich beende den Kuss, nach Luft schnappend, öffne die Augen, sehe ihn an, sehe in seine lustdurchtränkten Augen. „Ich-“ „Shht“, mache ich. „Sag jetzt nichts.“ Ich küsse seine Augenlider, als er sie schließt, spüre die leichten Bewegungen unter meinen Lidern. Ich hebe meine Hand unter seinem Shirt hervor, streiche ihm durch die Haare, über die Wimpern, küsse seine Wangen, seine Nasenspitze... Wieder treffen sich unsere Lippen und wieder versinke ich darin. Ich spüre seine Hand nun wandern. Sie streicht mein Rückrad hinab, unter mein Hemd, meine Wirbel langsam wieder hinauf. So viel Leidenschaft liegt in seinen Fingern und doch eine unglaubliche Bedächtigkeit. Ich löse unsere Lippen, richte mich auf, lasse mir Pulli und Hemd vom Körper ziehen. Als er sich dabei unter mir aufrichtet, tue ich es bei ihm gleich, halte ihn danach aufrecht, umfasse meine Schultern mit meinen Händen und presse ihn so an mich heran. Seine nackte Haut trifft auf meine, seine Finger greifen in meinen Nacken. Fahrig streicht er mir in die Haare, während er stöhnt, während er meinen Hals küsst, mein Ohr. Er haucht ein Stöhnen hinein, was mich ihn noch fester halten, noch mehr küssen und berühren lässt. Zärtlich drücke ich ihn erneut auf die Matratze zurück, löse mich von seinem Gesicht, küsse den schlanken Hals, seine Halsbeuge, spüre das feste Schlucken unter meinen Lippen und wie sein Pulsschlag gegen sie hämmert. Lange verweile ich dort, während meine Finger über seine Brust hinweg zum Bauchnabel streichen, ihn umrunden, necken, verwöhnen. Sein Bauch zieht sich mehrere Male darunter zusammen, ich höre ihn kichern, muss selber lächeln und küsse ihn ein weiteres Mal fest am Hals. Als ich weiter wandere, zieht er die Luft ein. Ein Keuchen entweicht ihm, als ich meine Fingerspitzen über den ausgebeulten Stoff gleiten lasse, und ich tue schwer daran, ihn nicht auf der Stelle fortzureißen. Stattdessen beherrsche ich mich, sein Bein an meinem Schritt wahrnehmend, wie es sich leicht bewegt, schüchtern... Ich stöhne, rutsche ein weiteres Stück hinab, küsse seine Brustwarzen, die gespannte Haut über seinem Brustbein, während mich die Finger fast verrückt machen, die dabei meine Ohren, meinen Nacken, meine Haare liebkosen. Ich finde den Knopf an seiner Jeans, bekomme ihn zunächst nicht auf, ziehe daran, lasse ihn aufspringen und höre ein weiteres, erleichtertes Stöhnen, das länger und lauter wird, als ich den Reißverschluss aufziehe. Es spornt mich an, lässt mich noch weiter sinken, bis ich vom Bett rutsche, meine Knie den Boden finden, meine Hände seine Beine. Ich ziehe die Jeans herunter, schnell, da ich es kaum mehr ertrage, den Stoff zwischen uns zu spüren. Als ich meine Finger an seinen Hosenbund lege, richtet er sich auf. „Nate...“ Ich greife hinauf, finde mit meinen Fingern seine Lippen und berühre sie sanft. Er sagt nichts mehr, spricht nicht weiter, sondern küsst meine Finger, leckt daran, beißt mir sacht in den Daumen. Als ich meine anderen Finger in den Bund seiner Shorts schiebe, höre ich ihn keuchen. Ich nehme meine andere Hand herunter, nehme sie zur Hilfe... und ziehe am Bund, hebe ihn leicht an und merke, wie er mir entgegen kommt, indem er sein Becken hebt. Schnell entferne ich den Stoff und sehe es vor mir, das schlanke, wunderschöne Glied, welches sich nach Befriedigung suchend nach oben reckt. Meine Lippen berühren die dünne, pochende Haut zunächst vorsichtig und meine Zunge lasse ich nur langsam hinüber gleiten... doch als er sich darunter aufbäumt, stöhnt, fast schreit, weiß ich, dass ich mich nicht mehr beherrschen kann. Mit meiner Hand nach meinen eigenen Hosenverschluss suchend, nehme ich gleichzeitig die Hitze in den Mund. Seine Finger krallen sich in meinen Rücken, und er beugt sich über mich, als ich sie herab schiebe, leicht mit den Zähnen die Haut berühre und ein Zittern in seinem Körper hervorrufe. Während ich noch immer dabei bin, meine eigene Hose umständlich mit einer Hand zu öffnen, spüre ich seine tastenden Zehen. Sie fahren meinen Oberschenkel hinauf, berühren mich vorsichtig und zucken zurück, als ich mit meinen Lippen eine festere Berührung ausführe. Dann sind sie wieder da, finden ihr Ziel, finden den offenen Teil meiner Hose, drücken sacht dagegen. Ich stöhne, lasse meinen heißen Atem über sein Glied streifen und spüre gleichfalls seinen an meinem Rücken. Über ihn hinweg fahren auch seine Finger, nach Halt suchend, nach etwas, woran sie sich klammern können, beim nächsten Aufbäumen, dem nächsten unterdrückten Schrei der Lust. Um ihn erneut zu hören, beschleunige ich meine Lippen, fahre schneller herauf und herab, lasse meine Zunge um seine Eichel gleiten und meine Zähne seine Haut streicheln. Schneller werde ich, immer schneller, während mir nur kurz bewusst wird, dass ich keinen Kondom verwende. Ich schiebe den Gedanken unvernünftiger weise beiseite, da ich schon längst nicht mehr denken kann. Noch schneller werde ich, höre sein Stöhnen und unterdrücke mein eigenes, wenn er die Zehen erneut leicht und sanft gegen mich drückt, sie in meine Short schiebt und an mir reibt. Seinen Körper über mich gebeugt, spüre ich ihn beben und zittern, die Lust schwer nur beherrschend... und wie gerne ich sie ihn herausschreien hören würde. Der Grund vielleicht treibt mich weiter an, immer weiter, fast bis zum Ende... wäre da nicht er, der mit einem Mal seine Hände von meinem Rücken nimmt, sich aufrichtet und meine Schultern ergreift. „Lass...“, keucht er. „Sonst... ich...“ „Ja“, lächle ich nur. Ich will meinen Kopf wieder senken, doch er schüttelt seinen heftig... und im nächsten Moment lässt er sich hinunter gleiten vom Bett, zu mir auf den Boden. „Mehr“, flüstert er, während seine Hand dahin greift, wo zuvor seine Zehen gespielt haben. „Ich will dich.“ Mir wird heiß, als ich es verstehe, explodierend heiß. Ich vergrabe meine Lippen an seinem Hals und schlinge meine Arme um seinen Körper. Dies verursacht, dass er sich nur noch weiter an mich drängt. „Nate...“, haucht er und jedes weitere Wort ersticke ich unter einem Kuss. Ich halte ihn fest, drehe uns zur Seite, lasse ihn auf den Boden gleiten. Dann ziehe ich mir die Hose aus, in seine Augen sehend, die mich zu verschlingen drohen. Ich lasse meine Hände über seine Beine gleiten, seine Oberschenkel hinauf, bis hin zu ihrem Ursprung. Fast andächtig berühre ich hier die Haut, krabble weiter mit den Fingerspitzen und beuge mich gleichzeitig vor, um ihn erneut küssen zu können. Während seine Zunge in meinen Mund dringt, dringt mein erster Finger in ihn... und sein Körper zieht sich unter mir zusammen, mein Mund wird von seinem verzehrten Stöhnen erfüllt. Vorsichtig bewege ich mich, langsam, andächtig... und erst fordernder, als ich an den Spannungen seines Körpers spüre, dass sie von Lust kommen und nicht von Schmerzen. Da erst schiebe ich einen weiteren Finger nach, lasse ihn erneut kurz keuchen, sich erneut winden und diese Mischung aus Schmerzen und Extase fühlen. Er bewegt sich ein wenig, zeigt, dass er mehr will, küsst mich heftiger, verlangender und reibt seinen Körper an meinem. Ich ziehe meine Finger aus ihm zurück, rutsche ein wenig hinab, hebe ihn etwas an. Er krallt die Finger in meine Schultern, hält sich fest, atmet ein und nicht aus... lässt zu, dass ich vorsichtig aber energisch in ihn dringe. Ein lauter Schrei erfüllt meinen Kopf, doch löst er sich schnell in ein Stöhnen auf, in den Laut der Leidenschaft. Ich bewege mich erst nach einem kurzen Moment, als ich es nicht länger aushalte und er sich um mich spannt. Ich hebe ihn zu mir hinauf, schlinge meine Arme um seinen Körper und bewege mich mit ihm, vernehme jedes Zucken seines Körpers, welcher mich nur immer mehr anspornt und mich wilder werden lässt. Laut stöhnt er nun in mein Ohr, gibt seine Lust kund, nimmt meine in sich auf und lässt zu, dass ich uns weiter treibe, weiter und weiter... bis sich alles um uns herum auflöst, ich nichts mehr wahrnehme, außer den Körper in meinen Armen, außer seinen Lippen an meiner Haut, außer ihn... nur ihn... Ich lasse uns sinken, als es vorbei ist, ziehe ihn aufs Bett hinauf, ziehe ihn in meine Arme, schlinge eine der Decken um unsere noch bebenden Körper. Die Hitze ergreift uns auf eine andere Weise und wir drücken uns aneinander, verschlingen uns anders, drängen die Arme umeinander. Ich ziehe seinen Duft ein, den Geruch aus Schweiß und Lust... ich nehme ihn in mir auf, während ich seine nackte Brust sich schwer an meiner heben fühle... während ich fühle, wie sie ruhiger wird, wie auch mein Atem ruhiger wird. Ich öffne die Auge, schließe sie wieder... gebe dem Drang nach, sie geschlossen zu lassen... und irgendwann dazwischen schlafe ich ein. Es ist dunkel, als ich wach werde. Kurz bin ich irritiert über die plötzliche Nähe eines anderen Körpers, bis mir in der nächsten Sekunde klar wird, wer dort liegt. Erschrocken halte ich inne. Es ist, als würde mit einem Mal mein Herz stehenbleiben, und während ich versuche, keinen Laut von mir zu geben, habe ich dennoch das Gefühl, das heftige Schlagen meines Herzens durch den gesamten Raum dröhnen zu hören. Bedrohlich spüre ich jeden einzelnen Schlag. Ich ziehe vorsichtig an der Decke, muss meinen Körper etwas anheben, um unter ihr hervor zu kommen. Sogleich wird mein Körper von einer unglaublichen Kälte eingeholt. Schnell greife ich nach der Tagesdecke, die zum Glück nur unter einem seiner Beine liegt. Behutsam hebe ich es an, lausche, bin froh, dass er nicht davon wach wird. Ich will den Raum verlassen und dennoch tragen meine Füße mich nicht weiter als bis zur Tür. Dort bleibe ich stehen... und ich versuche, ihn in der fahlen Dunkelheit zu erkennen, zumindest ein bisschen. Ich habe mit ihm geschlafen!, fährt es mir durch den Kopf, als ich mich gegen den Türrahmen lehne. Ich habe tatsächlich mit ihm geschlafen. Wie konnte es bloß so weit kommen? Wieso hat mein Kopf so dermaßen den Geist aufgegeben? Wieso habe ich bloß gehandelt, ohne darüber nachzudenken. Das ist doch sonst nicht meine Art. Ich sinke am Türrahmen hinab, verkrieche mich mehr in die Decke und starre noch immer auf die schlafende Person, deren Umrisse ich als einziges Erkennen kann... und dennoch habe ich das Gefühl, vor mir jeden Zentimeter seines Körpers zu sehen. Natürlich... lange ist es ja auch noch nicht her, dass ich ihn vollkommen nackt gesehen habe... und er hatte einen so schönen Körper. Ich lasse meinen Kopf zurück gegen den Türrahmen knallen, um wieder zur Vernunft zu kommen. Bin ich denn von allen guten Geistern verlassen? Diese Gedanken sind so sinnlos! Sie müssen aufhören… „Jetzt sofort!“, flüstere ich zu mir selbst, nachdrücklich... „Es war ein dummer Fehler... So was darf nie... nie wieder geschehen.... Niemals!“ Ich schüttle den Kopf und schließe die Augen. Ich begreife es noch immer nicht. Egal wie sehr ich da nun rational drüber nachdenke... es kommt mir doch nicht in den Sinn, wie das geschehen konnte, wie ich mich so vergessen konnte... wie meine Gefühle, nein, dieses Verlangen mich so leiten konnte. Das ist nicht meine Art... ganz und gar nicht. Man handelt einfach nicht nach einem kurzen Impuls! Ich tue das nicht! „Ich bin so dämlich!“ Mich selbst leise anfauchend, presse ich meine Augenlider noch weiter hinunter. Und was mache ich jetzt? Wie gehe ich jetzt mit ihm um? So als sei nichts gewesen? Ich bekomme das hin... aber er? Da bin ich mir nicht so sicher... Und wie erkläre ich ihm das überhaupt? Ich kann ja schlecht sagen: „Sorry Mel, war ein Fehler – kannst du jetzt bitte gehen?“.... Ich meine, ich kann schon, aber... das sollte ich dann vielleicht doch nicht tun… Und will ich es überhaupt? In dieser Weise…? Zögernd erhebe ich mich. Ich blinzle, versuche ihn auf meinem Bett besser zu erkennen. Ob ich ihn wecken sollte? Langsam trete ich ans Bett heran, setze mich nieder. Dann schalte ich die Nachttischlampe an. Sein schlafendes Gesicht wird mir offenbart und ich weiß nicht, was ich tun soll. Zögernd strecke ich meine Finger aus. Es war ziemlich gemein von mir, nicht wahr? Wie konnte ich so etwas bloß tun? Sanft umstreifen die einzelnen Haarsträhnen meine Fingerspitzen und ich beobachte sie dabei, spüre die angenehme Wärme, die sein Kopf freigibt, und für ein paar Sekunden habe ich das Bedürfnis, ihn richtig zu berühren, meine Hand an seine Wange zu legen... ihn zu küssen... „Es tut mir leid“, flüstere ich ganz leise, um ihn bloß nicht zu wecken. „Das hätte nicht passieren sollen...“ Ich beuge mich vor, aus dem Instinkt heraus, berühre mit meinen Lippen seine Schläfe. Fast habe ich das Gefühl, ein kleines Zucken wahrzunehmen, doch ich begreife es nicht. Ich entferne mich wieder... und dann sehe ich sie. Nur eine Sekunde lang nehme ich diese glitzernde Träne wahr, dann, in der nächsten Sekunde, richtet er sich plötzlich auf, schlägt meine Hand dabei weg und wischt sich über die Augen. Erst da begreife ich. „Du... bist wach?“, frage ich stockend. „Ja.“ „Seit... wann?“ Ein eiskalter Blick trifft mich. „Lange genug.“ Er springt auf, schleudert die Decke von sich. „Du Arschloch, was denkst du denn? Dass ich einfach so seelenruhig schlafen kann? Ich bin schon lange wach, viel länger als du... aber nein, das bemerkst du ja nicht... stattdessen brütest du in Selbstmitleid. Na vielen dank auch!“ Während er schreit, läuft er im Zimmer auf und ab. Schwer tut er sich daran, in seine Kleidung zu kommen, so sehr zittert sein Körper vor Rage... Und mir fällt es schwer, ihn anzusehen. „Es tut-“ „Spar dir das!“, zischt er, zieht sich den Pulli über den Kopf. „Ich habe keinen Bock auf dein Mitleid. Du kennst doch so was gar nicht!“ Er verlässt das Schlafzimmer mit schnellen, festen Schritten. Ich folge ihm sofort. „Warte doch mal!“ „Worauf?“, fährt er herum, seine Jacke schon in der Hand. „Bitte... es... ich...“ Ich verstumme, in seine bitteren Augen blickend. Mir fällt es nicht ein, mir fällt nicht ein, was ich sagen soll. Ich will ihn nicht gehen lassen, nicht so... aber... was soll ich stattdessen tun? Ich habe ihn betrogen, habe unsere Freundschaft mit meiner Lust betrogen. Wie konnte ich bloß so hirnlos sein? Er wendet sich kopfschüttelnd ab. „Das bringt doch nichts!“, höre ich seine wütende Stimme, verspüre mit jeder Sekunde mehr das Bedürfnis, ihn aufzuhalten. „Mel, bitte...“ „Lass es gut sein...“ „Aber-“ Ich greife nach seinem Arm. „Komm, können wir nicht Freunde sein? Können wir das nicht vergessen und-“ Ich sehe sie nicht kommen, die Hand... spüre nur, wie mein Kopf zur Seite geschleudert wird. Fast zeitgleich wird mir sein Arm entrissen. „Du bist so arm!“, kommt es verachtend. „Du tust mir leid!“ „Aber Mel, das-“ Ein heftiges Kopfschütteln gepaart mit einem eisigen Blick lässt mich innehalten. Dann dreht er sich um, schlüpft in die Schuhe und verschwindet durch die Haustür. Nur einen knappen Zentimeter vom Schloss entfernt, und ich schon auf dem Sprung hinterher, stoppt er. Auch ich erstarre sofort. Einen Moment dauert es, dann geht die Tür wieder auf. Langsam dreht er sich wieder zu mir um. Seine Augen glänzen dabei einen traurigen, wässrigen Glanz. „Weißt du...“, spricht er mit belegter Stimme, „als ich vorhin so da lag, als du noch geschlafen hast... da habe ich nachgedacht...“ Fast ist ein kleines Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen. Es lässt mich einen Schritt weiter auf ihn zugehen. „Ich habe mir einen Namen für dich ausgedacht, da du Nathanael ja nicht magst... und Nate nennt dich jeder... naja... und da bin ich auf einen gekommen...“ Er verstummt, lässt den Blick sinken und ich spüre einen Kloß in meiner Kehle. Einen weiteren Millimeter mache ich auf Mel zu, doch gleich weicht er die Distanz zurück. Sofort bleibe ich wieder stehen. „Und... welchen?“, versuche ich den blockierenden Kloß zu überwinden. Ich sehe Mels Hand ein Stück über den Türrahmen gleiten. Er hebt den Blick etwas, bis hin zu meiner Brust. Wie gerne würde ich in seine Augen sehen. „Lean“, kommt es dann leise. „Das sind die letzten Buchstaben von Nathanael rückwärts... mir hat das gefallen, weißt du... Es hat so einen... sanften Klang...“ Er hebt den Kopf wieder und seine Augen funkeln mich an. „Doch es passt nicht, das habe ich jetzt begriffen“, ist in seine Stimme augenblicklich die Kälte zurückgekehrt. „Es passt nicht, denn du bist nicht sanft, du hast ein Herz aus Stein.“ Damit fällt die Tür ins Schloss und er lässt mich mit der Totenstille und mir selbst allein. ENDE Akt 12 Black-Out: Im Musicalbereich wird damit der Moment bezeichnet, in dem ein geplanter Lichtausfall eintritt, wie es zum Beispiel bei Umbauten gemacht wird oder wenn die Szene besonders dramatisch wirken soll. Bezüglich der Geschichte ist der Black Out natürlich alles andere als geplant, und zwar schalten bei Nathanael alle Sicherungen aus, weshalb er mit Melvin schläft. Kurzfristiger Black Out seines Denkvermögens sozusagen. Kapitel 13: Partitur -------------------- Kaum hatte sich die Tür geschlossen, hatte ich einen Schritt nach vorne gemacht, nach der Türklinke gegriffen und den Impuls verspürt, sie aufzureißen, ihm hinterher zu schreien. Ich habe es nicht getan, denn ich wusste nicht, was ich hätte schreien sollen. Also blieb ich stehen, mit der Türklinke in der Hand, welche nach einigen Minuten wie Feuer zu brennen schien. Ich ließ sie los, drehte mich um, ging ins Schlafzimmer zurück. Da ließ ich mich sinken, auf die Matratze, den Kopf in eines der Kissen vergraben und mir wünschend, doch jetzt einfach alles vergessen zu können. Nicht ein Auge habe ich zugetan seither, obwohl schon zwei Stunden vergangen sind. Ich schaffe es einfach nicht, zur Ruhe zu kommen, wälze mich von einer Seite zur anderen und wieder zurück. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Natürlich, es gibt mehrere Ansätze, die durch mein Hirn rauschen... da wäre die Möglichkeit, ihn anzurufen, denn eigentliche sollte er schon wieder zuhause sein. Doch was tue ich, wenn er am anderen Ende ist? Würde er mich überhaupt zu Wort kommen lassen? Und wenn ja, was will ich ihm sagen? Auch könnte ich Tobias anrufen, ihn bitten, wieder herzukommen. Ich weiß nicht wieso, aber gerade habe ich das Gefühl, dass es gut wäre, wenn er hier wäre. Er würde mir ein Stück meiner Normalität zurückbringen. Doch auch das habe ich noch nicht getan. Ich habe das Letzte getan, die dritte Möglichkeit: liegen und nachdenken, versuchen, das Nachdenken zu unterbinden, um nur letztendlich weiter nachzudenken. Ach, natürlich, es gibt da noch eine vierte Möglichkeit: aufstehen und Fern sehen... oder Arbeiten... Ablenken halt... doch käme das alles der dritten Option ziemlich gleich. Ich würde mich doch eh auf nichts konzentrieren können. So also liege ich weiter hier, zwischen meinen verwirrten Gefühlen und dem Bewusstsein, dass es eigentlich vollkommen falsch ist, sie mir alle anzuhören. ~ * ~ Eine meiner vielleicht prägendsten Erinnerungen aus meiner Kindheit ist so ungefähr elf Jahr alt... sie ist von damals, als ich fünfzehn war, als ich mich mit Gefühlen, Liebe, mit alle dem noch nicht wirklich beschäftigte, obwohl es schon alle aus meiner Klasse taten. Damals kam Kenneth nach Hause, mit diesem Mädchen, einer jungen Frau, die er an der Hand hielt. Ich hatte sie schon irgendwo einmal gesehen, ich wusste nur nicht mehr wo. Lange konnte ich darüber auch nicht nachdenken, denn schnell fing das wütende Gesicht meines Vaters meine Aufmerksamkeit ein. Er saß da, am Esstisch, schaufelte die Nahrung pflichtbewusst in sich hinein, und warf der jungen Frau, welche ihm schräg gegenüber saß, immer wieder einen dieser düsteren Blicke zu, die ich noch nie ausstehen konnte. Ich glaube, sie war ziemlich verängstigt, und Kenneth neben ihr hielt zwar ihr Hand dann und wann, doch sah ich in seinem Gesicht, dass er bereits wusste, was hier los war. Ich wusste es nicht, ich hatte gar keine Ahnung, da ich mich nie mit Liebe auseinandergesetzt hatte, da ich nicht wusste, was meine Eltern von dergleichen hielten, da dieses Thema mich einfach noch überhaupt nicht interessierte. Irgendwann nach dem Essen, als ich gerade verschwinden wollte, bekam ich mit, wie die junge Frau Kenneth bat, sie heimzubringen. Ihr Blick traf mich und sie lächelte. Das Mitleid in ihren Augen verstand ich nicht. Während die beiden gingen, verschwand ich in der Bibliothek. Ich verkroch mich mit einem Buch in den Kissen auf der Fensterbank und vergaß das komische Abendessen schnell. Erst die Stimmen aus dem Flur etwa eine Stunde später ließen mich aufhorchen. Ich legte das Buch weg, schlich zur Tür der Bibliothek und sah im Flur meinen Vater stehen, zusammen mit Kenneth. „Aber-“ „Nein!“, unterbrach die feste Stimme meinen Bruder. „Ich sage es noch ein Mal: Ich wünsche nicht, sie hier auch nur noch ein einziges Mal zu sehen!“ „Das kannst du nicht machen!“ „Oh, ich kann sehr viel!“ Ein kaltes Lachen. „Vater... Ich liebe sie!“ Es kam von Kenneth und ich hörte die Verzweiflung, mit der er diese Worte sprach. Etwas, das ich bisher nicht kannte, nicht von ihm. Er war immer mein starker, kühler großer Bruder gewesen. „Liebe! Pah! So etwas gibt es nicht!“ Es klang verächtlich und setzte sich in meinem Kopf fest. „Das ist etwas für Weicheier! Bist du etwa ein Weichei?“ „Nein!“ Die Antwort kam schnell und ich wusste auch weshalb. Sein Leben lang hatte Kenneth immer versucht, der Beste in allem zu sein – und er hatte es geschafft, immer, jedes Mal. Ich glaube, das lag daran, weil er Vater beweisen wollte, dass er es wert sein würde, sein Nachfolger zu sein. Sein ganzes Leben lang wurde er dazu erzogen und alles drehte sich nur darum. Natürlich wollte er auch jetzt nicht, dass an seinem Bild des perfekten Sohnes irgendwas nicht stimmte. Ein Wunder eigentlich, dass er die Frau überhaupt mitgebracht hatte. „Und wieso dann dieser Bauerntrampel?“ „Sie... sie... ich will mit ihr zusammen sein!“, fand er keine Begründung, doch seine Stimme zeigte, dass er so schnell nicht nachgeben wollte. „Mehr als alles andere?“ „Ja!“, sagte Kenneth, seine Stimme war laut. „Ja!“ Ein Lachen. „Dann verschwinde! Du wirst enterbt und ich will dich nie wiedersehen!“ Ich sah Kenneth zusammenzucken und ich tat es selbst ebenso. Ich kannte Drohungen, wusste, dass mein Vater sie gerne in den Mund nahm und auch wahrmachte, aber noch nie war eine so gravierend gewesen. Er setzte sich in Bewegung, ging mit erhobenem Kopf an seinem ersten Sohn vorbei, und ich sah, wie dieser mit sich rang, wie seine Augen immer größer wurden, sich seine Fäuste immer weiter spannten. Fast glaubte ich, dass ich ihn zum ersten Mal richtig schreien hören würde... doch alles, was schließlich aus seiner Kehle kam, war ein heißeres „Warte.“ Mein Vater blieb stehen, augenblicklich. Er sagte nichts und wartete, bis Kenneth zu ihm kam. „Willst du es dir etwa anders überlegen?“, fragt er kühl, aber triumphierend... und ich spürte, wie ich den Kopf schüttelte. Kenneth aber tat dies nicht. Er nickte. „Du siehst also ein, dass solche Gefühle Unsinn sind?“ Wieder ein Nicken. „Du verstehst, dass sie dich nicht weiterbringen auf deinem Weg, sondern sie dich nur aufhalten werden?“ Erneut... „Du hast gelernt, dass man niemals nach irgendwelchen Gefühlen handeln sollte?“ Und wieder... doch ich sah den Schmerz in seinen Augen, der immer weiter wuchs. „Also? Was wirst du tun?“ „Ich...“ „Sprich es aus!“, donnerte die tiefe Stimme, die ich immer schon verabscheut hatte. Ich sah Kenneth in sich zusammenfallen und glaubte schon fast, dass er nun doch nicht zustimmen würde. „Ich werde... sie nie wiedersehen.“ „Und was noch?“ „Ich werde nie wieder... nach Gefühlen handeln.“ „Sehr gut!“ Er klopfte Kenneth auf die Schulter und dann grub er seine Finger hinein. „Und jetzt geh zu Linda und sag ihr, dass sie dieses Pack entlassen soll. Ich will niemanden für mich arbeiten sehen, der meinen Nachfolger auf schlechte Gedanken bringt!“ ~ * ~ Mit einem dumpfen Magenschmerz setze ich mich im Bett auf. Ich schalte das Licht meiner Nachttischlampe an und fahre mir durch die Haare. Erst langsam klärt sich das Bild vor meinen Augen und die Erinnerung verschwindet. Zitternd vor Kälte wickle ich mich enger in meine Decke ein. Dies ist eine Erinnerung, über die ich nicht oft nachdenke... eigentlich mehr als nur selten. Schon damals habe ich sie schnell wieder vergessen, oder verdrängt... Ich war nicht erzogen worden, um über so etwas nachzudenken, also tat ich es nicht. Ich habe einfach versucht, nicht den Schmerz in Kenneth’ Gesicht zu erkennen, jedes Mal, wenn ich ihn sah. Ich verdrängte, was ich gehört hatte und gleichzeitig grub sich doch all das ganz tief hinein in mein Inneres. Ich lernte daraus... Ich lernte daraus, mir auch in den nächsten Jahren keinerlei Gedanken über derartige Dinge zu machen. Erst als ich Neunzehn war, als ich die Schule abschloss, änderte sich das ein wenig. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nie einen anderen Menschen geküsst, kannte keine menschliche Nähe und wusste nicht, was eigentlich genau Gefühle waren. Ich hatte noch nie wirklich gegen meine Eltern gehandelt, und doch wusste ich, dass ich nicht länger Zuhause bleiben wollte. Ich war nicht wichtig für diese Familie, war nur der zweite Sohn, der nicht wichtig für die Firma war... also hatte ich keine Aufgabe zu erfüllen. Ich meldete mich an einer Universität an, welche zu weit von Zuhause weg lag, als dass ich jeden Tag hätte fahren können. Sehr problemlos reagierte mein Vater, als ich ihm dies sagte. Er suchte mir eine Wohnung und nahm Abschied von seinem zweiten Sohn, ohne auch nur ein Mal zu lächeln oder Glück zu wünschen. Mir war das egal, gleichgültig, und mit eben diesem Gefühl zog ich auch in meine erste eigene Wohnung. Der Gefühlsschwall, den ich irgendwie erwartet hatte, blieb aus... und ich ging ziemlich schnell in mein neues Leben über. Im ersten Jahr nach meinem Auszug schlief ich das erste Mal mit einer Frau... und keine zwei Wochen später hatte ich Sex mit einem Mann. Wieso? Weil es sich ergab. Es ergab sich danach häufig und schnell begriff ich, dass es sich bei Männern besser anfühlte, als bei Frauen, dass Männer es schafften, mir wenigstens für ein paar Sekunden lang den Verstand zu rauben, während ich es bei Frauen nur langweilig fand. Also holte ich nach, was ich in den vergangenen Jahren nicht bekommen hatte. Wieso? Keine Ahnung... ich tat es einfach, ohne darüber nachzudenken. Ich küsste unzählige Männer, verschlang sie körperlich... und ich glaube, ich war dabei auf der Suche nach einem Gefühl, von dem ich nichts wusste, außer, dass es meinen sonst so ruhigen, gleichgültigen Bruder einmal befallen hatte. Ich fand es nicht und ich gab die Suche auf. Ich kam zu dem Schluss, dass mein Vater recht gehabt hatte: So etwas wie Liebe existierte nicht. Vier Jahre nach meinem Auszug lernte ich Tobias kennen. Ich schlief ein paar Mal mit ihm... und er blieb bei mir. Wieso ich es zuließ? Weil es mir langsam auf den Geist ging, immer neue Männer um mich herum zu haben. Ich wollte mich nicht mehr ständig auf einen neuen Menschen einlassen müssen, sei es auch nur für eine Nacht... Es war eintönig geworden. Tobias war einfach genau zu dem Zeitpunkt zur Stelle und war bereit, bei mir zu bleiben und mein einziger Mann, mein Freund zu werden. Liebe? Nein. Es war einfach nur praktisch. Was sich seit damals verändert hat? Nichts, rein gar nichts. Vielleicht dachte ich, dass ein Wunder geschehen würde, wenn ich von Zuhause ausziehen würde, doch das Wunder kam nie. Ich blieb der Mensch, zu dem ich erzogen worden war, und lernte, dass die Welt genau so ist, wie es mir seit meiner Kindheit immer erzählt wurde. Gefühle gibt es nicht... zumindest nicht für mich. ~ * ~ Der Montag vergeht damit, dass ich mich zur Arbeit schleife, sie hinter mich bringe, und mich wieder zurück schleife. Durch meinen Kopf wirbeln dabei die gesamte Zeit diese merkwürdigen Gedanken, die ich nicht einordnen kann. Ich weiß nicht, was ich tun soll, weiß nicht, was ich denken soll. Ich weiß, dass es mir leid tut, weiß, dass ich Mel nicht als Freund verlieren will... doch ebenso weiß ich, dass ich es kaputtgemacht habe, nur weil ich ein Mal so blöd war, mich dieser körperlichen Begierde hinzugeben. Abends Zuhause wartet Tobias schon auf mich. Er sieht mich an, ziemlich forschend, fast etwas schüchtern. „Geht es dir wieder besser?“, fragt er, als er mich umarmt. Ich nicke, ohne dass es eigentlich wirklich so ist. Mir geht es nicht gut... ganz und gar nicht... irgendwas will mich nicht loslassen und ich mag es nicht zu benennen. Ob ich krank werde? Vielleicht wäre das eine Erklärung dafür. Tobias und ich verbringen den Abend vor dem Fernseher. Ich lasse ihn in meinen Armen liegen und denke daran, wie ich ihn kennengelernt habe. Er war sehr aufdringlich gewesen damals, hat unbedingt meine Nummer wissen wollen, nachdem ich das erste Mal mit ihm geschlafen hatte. Ich gab sie ihm, das war alles. Dass seither zwei Jahre vergangen sind, kann ich gar nicht glauben. Vielleicht ist es schon ein kleines Wunder, dass ich es so lange mit ihm ausgehalten habe... Ob es dasselbe bei uns ist, was auch meine Eltern miteinander verbindet? Eine Art Pflichtgefühl, weil man ein Mal „ja“ gesagt hat? Ist es bei mir so? Ich streiche Tobias durch die Haare, woraufhin er den Kopf hebt und mich anlächelt. Er dreht sich herum, küsst mich... und ich komme mir komisch dabei vor. Ich weiß, dass Tobias mich zu lieben glaubt... und er weiß nicht, dass ich das getan habe, was man als Betrug bezeichnet. Ja, ich habe ihn betrogen, so wie er mich, doch weiß ich, dass er es nicht so locker aufnehmen würde... ich weiß, dass er weinen würde, dass er wütend wäre, dass er die Emotionen zeigen würde, die ich ihm nicht geben kann. Es geht bei mir einfach nicht, ich kenne so etwas nicht. Wir küssen uns und ich schließe die Augen, versuche nicht mehr daran zu denken und stattdessen den Kuss zu spüren. Aber es ist anders... anders als mit Mel, ganz anders... Es fühlt sich nicht so sanft an, nicht so schön und unschuldig. Kaum diesen Gedanken verdrängt und mich dafür stärker in den Kuss hineingelehnt, lässt uns ein lautes Klingeln auseinanderweichen. Sofort springe ich auf. „Lass es doch klingeln...“, werde ich an der Hand festgehalten und er sieht mich bittend an. Einen Moment zögere ich, doch dann befreie ich mich. Nein. Ich kann es nicht einfach klingeln lassen. Was, wenn er es ist? Ich erkenne tatsächlich diese Nummer auf dem Display und habe das Gefühl, mein Herz würde mir stehenbleiben. Ich will bestätigen, doch ich spüre Tobias’ Anwesenheit. Schnell verschwinde ich im Schlafzimmer und schließe die Tür hinter mir. „Ja?“, frage ich hektisch in den Hörer. „Hi Nate, ich bin’s?“ Ein Haus bricht über mir zusammen, als ich vor dem Bett in die Knie sacke. Mist, verdammte Scheiße! „Nate?“, kommt es, nachdem ich nach einer schieren Ewigkeit noch immer nichts gesagt habe. „Ja“, sage ich und höre meine matte Stimme. Ich vergrabe meine Stirn in meiner Handfläche, massiere mir die Schläfen. Was sag ich denn jetzt? Ich habe keine Ahnung... wenn es doch wenigstens Mel gewesen wäre... „Was ist denn los mit dir?“ Erst bei diesen Worten fällt mir auf, dass Marcel nicht wütend klingt... eher besorgt. Ich stutze. Weiß er etwa nicht Bescheid? „Warum rufst du an?“, frage ich verwirrt. Ich muss es wissen. Ich muss wissen, wie viel er weiß. Ich kann doch schließlich nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen... „Wegen Mel.“ Innerlich lache ich kurz auf. Wusst’ ich’s doch – war doch klar! „Marcel, das-“ „Ich weiß nicht was ich machen soll“, unterbricht er mich. „Er kam gestern so aufgelöst nach Hause... total verzweifelt, am weinen und dreckig... ich... ich weiß nicht, was passiert ist...“ Ich horche auf, während meine Finger sich an meinen Schläfen verkrampfen. „Und wieso rufst du... mich an?“, frage ich zögernd nach. „Weil er geweint hat... und er hat dabei deinen Namen gesagt... Ich weiß nicht, ich hab das Gefühl, er würde dich gerne sehen... Aber er sagte, ich soll dich nicht anrufen... Trotzdem, ich weiß nicht... Er war heute nicht in der Uni und verkriecht sich die ganze Zeit in seinem Zimmer... Ich hab keine Ahnung, was ich noch machen soll... Ich dachte, vielleicht kannst du ihm helfen... Ihr versteht euch doch so gut…“ Ich sinke noch tiefer in mir zusammen. Oh meine Gott, das kann doch wohl nicht wahr sein. Er weint, spricht nichts, sagt meinen Namen... und Marcel schließt genau die falschen Schlüsse daraus. Ist das Ironie des Schicksals oder einfach nur Schwachsinn? „Ich glaub nicht, dass ihn ihm helfen kann...“, spreche ich vorsichtig, unschlüssig. „Wieso nicht? Ihr habt euch doch gut verstanden, und-“ „Nein, das ist...“ Ich breche ab, spüre einen tiefen Schmerz in meiner Brust. Fast sehe ich einen weinenden Mel vor mir. „Bitte Nate... es tut mir weh, meinen Bruder so weinen zu sehen... und ich will ihm doch helfen... hast du nicht etwas Zeit? Nur ein paar Minuten? Ich geb’ ihm das Telefon, dann könnt ihr-“ „Nein!“, werde ich panisch. Natürlich, vorhin noch wollte ich mit ihm sprechen... vorhin noch, aber nicht jetzt, nicht so... nicht nachdem ich weiß, wie es ihm geht... ich... Oh Gott! „Was ist denn los? Nate?“ „Es geht einfach nicht“, versuche ich es erneut unerklärend. „Aber wieso denn nicht?“ „Weil...“ Ich schüttle den Kopf. Ich muss es sagen, ich muss, sonst versteht er es nicht... aber wenn ich es sage, wird er auch wütend werde... aber das wird er sowieso... früher oder später erfährt er es ohnehin... aber... „Wir haben miteinander geschlafen“, flüstere ich in den Hörer hinein. „Wer wir?“, fragt er sofort, obwohl ich mir sicher bin, dass er es versteht. „Mel und ich. Gestern.“ „Mel und... WIE BITTE?“ Irgendwas auf seiner Seite kracht, als wäre etwas zu Boden gefallen. „Aber wieso weint er dann? WAS IST PASSIERT?“ Ich entferne den Hörer ein Stück von meinem Ohr, nur um ihn Sekunden später wieder dagegen zu drücken. „Nur das... ich...“ „Wenn es NUR DAS wäre, würde er nicht weinen! Also sag schon, verdammt noch mal!“ Seine Wut ist förmlich im gesamten Zimmer zu spüren, als würde sie aus dem Hörer kriechen und sich um mich herum verteilen. Und ich spüre, wie sie in meine Glieder kriecht. Aber habe ich nicht genau das verdient? „Ich kann dir das nicht erklären, Marcel“, sage ich schließlich. „Ich weiß, dass es ein Fehler war... das hätte nicht passieren dürfen... Ich wollte nicht, dass Mel weint, ich-“ „Du wolltest nicht…?! Sag mal, geht’s noch? Einmal Sex und das war’s?“, bohrt die Stimme nach, schickt den gefährlichen Unterton zu mir hinüber. Ich schließe die Augen und versuche, ruhig zu atmen. Es ist so schwer. „Ich... Ja... Das... Sag ihm, dass es mir leid tut.“ „DU MIE-“ Ich lege auf und ich lasse den Hörer fallen. Dann vergrabe ich meinen Kopf an meinen Knien. Und ich spüre Tränen. Ich weiß nicht woher sie kommen, aber sie sind da... und sie kommen raus, verbinden sich mit dem Stoff meiner Hose und fragen mich leise flüsternd, ob es komisch wäre, wenn sie sagen würden, dass ich mir seit langem etwas vormache. ENDE Akt 13 Partitur: Das ist die Gesamtaufzeichnung eines Musikstückes in Notenschrift, welche üblicherweise nur der Dirigent besitzt. Hier ist es zwar keine vollständige Aufzeichnung, aber wenigstens eine grobe Übersicht über Nathanaels Vergangenheit, über seine bisherigen Noten, die sein Leben bestimmten... Kapitel 14: Timbre ------------------ Die gesamte Woche wandle ich wie ein Geist. Keiner weiß, wie er mit mir umgehen soll, am wenigsten Tobias. Seit er mich in Tränen auf dem Schlafzimmerboden gefunden hat, sieht er mich immer mit diesem besorgten Blick an. Er hat nicht erfahren, warum ich weinte, doch er fragte auch nicht lange nach. Es war das erste Mal, dass er Tränen von mir sah – kein Wunder, hatte ich doch das letzte Mal beim Tode meines Großvaters welche vergossen – und das schien ihn so zu schockieren, dass ihm alle Fragen ausgingen. Ich weiß nicht, was er glaubt, weshalb ich geweint habe, und es ist mir auch egal. Was ich selbst darüber denke? Nichts... oder ich versuche mir dessen nicht klar zu werden, obwohl ich es doch weiß. Ich versuche meine inneren Stimmen zu ignorieren, ebenso wie ich die wenigen Telefonanrufe ignoriere, die aus dem Haus der Zwillinge kommen. Ich will nicht darüber nachdenken, will mich meinen Tränen nicht stellen. Ich will es einfach nicht! Doch egal wie sehr ich es versuche, so schaffe ich es doch nicht, auf Normalzustand umzuschalten. Ständig sehe ich Bilder vor mir, Blitze, Frequenzen... Ich höre Mels Stimme, sehe ihn singen, tanzen, lachen... ich sehe, wenn ich abends im Bett liege, wie er auf der Bühne stand und mich verzauberte... und wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und der Eidechse mehr Aufmerksamkeit schenke wie je zuvor, dann sehe ich, wie er an dem Speckstein herumgefeilt hat... wie er lachte, als wir unser staubiges Picknick hatten... wie fröhlich er war... und ich spüre seine Hände, dann und wann, wenn Tobias mich berührt. Ich spüre den Unterschied, die sanften Fingerspitzen, seine zärtliche, verführerische Zunge... Es macht mich rasend, all das, und es macht mir Tag für Tag deutlicher, dass ich es nicht einfach so vergessen kann. Ich will ihn wieder lachen sehen, will wieder etwas mit ihm unternehmen können, will mit ihm reden und ihn singen hören... Ich muss mit ihm reden, wenigstens ein einziges Mal. Am Montag, nach einem schrecklich nachdenkerischen Wochenende, ist es, dass ich mich auf den Weg mache. Tobias ist irritiert, als ich ihm sage, dass ich zu den Zwillingen fahre. Er hat bemerkt, dass ich die Anrufe ignoriert habe, und ich glaube, eigentlich hat er sich auch schon gefreut, diese Störenfriede aus seinem Leben los zu sein. Nun ist er direkt wieder eifersüchtig und will mich überreden, ihn mitzunehmen. Fast kommt es zum Streit, als ich wieder und wieder Nein sage, doch schließlich ziehe ich einfach die Tür hinter mir zu und lasse ihn in meiner Wohnung allein. Ich habe keine Ahnung, ob es richtig ist, dass ich nun einfach so zu ihnen fahre. Ich weiß nicht, ob Mel mich sehen will, ich habe keine Ahnung, wer der beiden es war, der versucht hat, mich anzurufen... Ich habe keine Ahnung, ob ich einen Fehler begehe. Aber es ist mir eigentlich auch ziemlich egal. Was soll schon passieren, außer dass ich rausgeschmissen werde? Und selbst dann war es wenigstens einen Versuch wert. Natürlich hoffe ich, dass genau das nicht passieren wird. Zwar weiß ich nicht, was ich Mel sagen will, aber das ist auch nicht so wichtig. Ich will einfach mit ihm sprechen, will sehen, wie es ihm geht... will versuchen, einen Stück der Freundschaft zurückzugewinnen, die sich zu entwickeln begann. Ich bin noch nicht bereit, diese so einfach aufzugeben. Als ich schließlich in der richtigen Straße angekommen bin und einen Parkplatz gefunden habe, sitze ich noch minutenlang in meinem Auto. Ich starre das Gebäude an der Straßenecke an und frage mich nun doch ernsthafter, was ich sagen soll, wenn mir die Tür geöffnet wird. Was sage ich, wenn Mel sie öffnet? Und was sage ich, wenn es Marcel ist? Ich habe keine Ahnung... Ich kenne solche Situationen nicht... ich musste mich noch nie wirklich für etwas rechtfertigen... eigentlich hat 27 Jahre lang alles einfach so geklappt, irgendwie... oder ich habe den Leuten einfach gesagt, dass es mir scheiß egal ist und ich nicht mehr darüber reden will. Das hat funktioniert, jedes Mal sehr gut sogar, doch dieses Mal ist es nicht so einfach... überhaupt nicht... und ich habe keine Ahnung, weshalb das so ist. Warum ist mir gerade diese Freundschaft so wichtig? Weshalb würde ich sie so vermissen? Wieso kann ich nicht aufhören, darüber nachzudenken? Nach Minuten ohne Antworten beschließe ich, dass es genug ist. Ich steige aus und gehe langsam die Straße entlang. Mein Blick hängt auf ihren Fenstern. In keinem ist Licht zu sehen... aber das heißt eigentlich nichts, oder? Es ist ja noch einigermaßen hell... Zumindest rede ich mir das ein. Mit einem Gefühl davon, wie sich jedes Schwein vor dem Besuch beim Metzger fühlen muss, steige ich die Treppen hinauf und betätige die Klingel. Das leise Geräusch von Innen bringt meinen Magen nur noch mehr zur Aufruhr. Sekunden später wird die Tür geöffnet. Zwei braune Augen starren mich überrascht an. Sie sehen genauso aus, wie die, die ich gehofft habe, zu sehen... doch sie sind es nicht. „Nate?“, ist es Marcels verdatterte Stimme, die danach sofort zu wütend überschwingt. „Was machst du hier?“ Ich schlucke, atme... sehe ihm genau in die Augen. „Ich wollte zu Mel“, sage ich dann. Ein kritisches Runzeln der Stirn. „Mel ist nicht da“, klingt es ziemlich deutlich nach einer Lüge, weshalb ich sofort bereit bin, nachzufragen... doch er kommt mir zuvor. „Was willst du von ihm?“ „Reden.“ „Reden?“ „Reden.“ Er verdreht die Augen, lässt nun endlich die Tür los und verschränkt die Arme vor der Brust. „Wie gesagt, Mel ist nicht da.“ „Wo ist er?“ „Üben, mit Carolin.“ Ein Zucken durchfährt meinen Körper bei diesem Namen. Ich mag sie nicht. „Wann... wird er wieder...“ Er zuckt die Schultern. „Keine Ahnung.“ „Darf ich... kann ich so lange hier warten?“ Zunächst kommt keine Antwort. Er sieht mich nur finster an, scheint mich zu mustern und durchschauen zu wollen. Was er sucht, weiß ich nicht... ob er es findet? Ich merke, wie ich mich mit jeder Sekunde kleiner fühle. Wieso habe ich das Gefühl, noch immer am Marterpfahl zu stehen? Und wieso muss es so sein? Ich hab mich doch mit Marcel vor kurzem noch so gut verstanden... Ich habe so viel kaputt gemacht. Ein Seufzen reißt mich aus meinen Gedanken. Marcel nimmt sie Arme auseinander, zuckt die Schultern. „Na gut, komm rein“, sagt er dann und tritt zur Seite. Irgendwie erleichtert tue ich, wie mir geheißen. Marcel schließt die Tür, geht an mir vorbei. Ich folge ihm ins Wohnzimmer, wo der Fernseher läuft. Er deutet auf die Couch. „Setz dich, ich komme gleich. Möchtest du was trinken?“ „Ähm.. Wasser?“ „Okay.“ Ich setze mich und wage dann nicht mehr, mich zu bewegen. Zögernd nur lasse ich meine Augen wandern. Natürlich hat sich hier nichts verändert. Es ist ja auch noch keine zehn Tage her, dass ich hier war... Wieso kommt es mir bloß wie eine Ewigkeit vor? Einige Minuten vergehen, bevor Marcel mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser bei mir auftaucht. Er setzt sich, schaltet den Fernseher ab, schenkt uns ein... und dann mustert er mich wieder. Zögernd greife ich nach meinem Glas, trinke einen Schluck und suche einen Anfang. Wenn ich bloß wüsste, was ich sagen soll... „Warum willst du mit Mel reden?“, unterbricht Marcel die Stille als erster. Ich zucke die Schulter. „Ich will... mich entschuldigen.“ „Wofür?“ „Dafür, dass das passiert ist. Es hätte nicht passieren sollen... es war...“ „Ein Fehler?“ „Ja.“ „Und das willst du ihm sagen?“ „Ja.“ „Und dann?“ Ich mustere Marcel, gehe aber auf das Fragespiel auch weiterhin ein. Er ist sein Bruder... wahrscheinlich hat er ein Recht, diese Fragen zu stellen. „Ich will... wieder normal mit ihm reden können... Ich will ihn anrufen können... Und er singt so schön... ich will ihn öfter hören... und ich will...“ Ich zucke die Schultern. „Ich will seine Freundschaft zurück.“ „Seine Freundschaft?“ Ich nicke. „Ja. Ich hatte so viel Spaß mit ihm... ich meine, mit euch... ich...“ Ich verstumme... und dann sehe ich, wie sich plötzlich Marcels Mundwinkel nach oben ziehen. Irritiert sehe ich ihn an. „Was?“ Er schüttelt den Kopf. „Es ist nur... Als ich dich kennengelernt habe, da hätte ich nicht gedacht, dass du tatsächlich so ein Gesicht aufsetzen könntest...“ „Gesicht?“ Ich wünsche mir augenblicklich einen Spiegel herbei. „Was für eins?“ „Na so ein trauriges... und schuldiges... Es ist Wahnsinn, wie stark man die Emotionen in deinen Augen lesen kann. Das kommt wohl, weil du nie gelernt hast, wie man sie verbirgt...“ „Ich...“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie habe ich diese Aussage zu deuten? „Weißt du, Nate... ich hab mir schon gedacht, dass auch du Gefühle hast, immerhin kann kein Mensch einfach nur gleichgültig sein... aber so schnell... das überrascht mich schon ein bisschen.“ „Ich weiß nicht... ich... welche Gefühle?“ „Alle.“ Er breitet die Arme aus. „Wut, Trauer... Unsicherheit... vielleicht sogar Angst... und vor allem das, mit dem all das im Moment zusammenhängt...“ Er beugt sich vor, sieht mir tief in die Augen. „Liebe.“ Erschüttert weiche ich ein Stück zurück. „Liebe?“ „Ja, klar, Liebe... Sag mir nicht, du hast das noch nicht bemerkt?“ „Was?“ Ich bin irritiert, während mein Herz etwas zu fest schlägt und mein Kopf rot wird. In was für Bahnen läuft das Gespräch hier eigentlich? Das sind jedenfalls nicht meine! „Dass du Mel liebst.“ Ich spüre wie ich die Augen aufreiße... und dann stehe ich auf den Beinen. Ein Lachen entfährt meiner Kehle, ein kühles, raues, schmerzhaftes Lachen. Auch Marcel steht auf, sieht mich noch immer so an wie nur Sekunden zuvor. So wissend. „Das ist doch Quatsch!“, entfährt es mir. „Was ist Quatsch?“ „Liebe!“, spreche ich bitter. „Ich habe versucht, sie zu finden, aber es gibt sie nicht. Es gibt nur akzeptieren und respektieren... oder Hass...“ „Hass?“ Er wirkt überrascht. „Du meinst, es gibt Hass aber keine Liebe?“ „Ja.“ „Gibt es jemanden, den du hasst?“ Ich nicke langsam. „Meinen Vater.“ „Weshalb?“ „Er hat uns zerstört, hat uns unfähig gemacht, normal zu leben... er hat uns benutzt und er hat uns... wie Gegenstände behandelt... er hat uns beigebracht, wie man nichts fühlt.“ „Aber du fühlst doch, oder?“ „Ja, ich fühle Hass.“ „Hör zu Nate...“ Marcel berührt meine Schulter, drückt mich in die Sitzende zurück aufs Sofa. Seine Augen sehen in meine. „Mal ganz ehrlich... Ich glaube nicht, dass du deinen Vater wirklich hasst. Du bist einfach nur sauer auf ihn, weil er kein Vater war, weil du wegen ihm keine Familie kennengelernt hast... und weil dir nie einer gezeigt hat, wie man mit Gefühlen umgeht. Dir hat nie jemand gesagt, was Liebe oder Hass ist, deshalb kannst du die Gefühle nicht deuten... deshalb denkst du, dass dieses wütende Gefühl ihm gegenüber Hass ist... und du glaubst wahrscheinlich wirklich, dass das, was du für Mel fühlst, nur Freundschaft ist... aber glaub mir Nate, du irrst dich.“ Ich sehe ihn an, ich spüre meine Hände zittern und meinen Kopf dröhnen. Ihn schüttle ich, schließe die Augen, öffne sie wieder, öffne meinen Mund. „Wieso bist du dir da so sicher?“ „Weil du ein Mensch bist... und weil ich Augen im Kopf habe. Bereits beim Bowling hast du Mel anders angesehen... und denk doch erst mal an seine Aufführung. Du warst fasziniert, natürlich... aber war da nicht noch mehr? Hast du dir nicht gewünscht, dass er weiter singt... dass er für dich singt...“ Ich spüre mein Herz rasen, unter diesen ehrlichen Worten... unter diesen erschütternden Worten. Sie erschrecken mich... ich verstehe sie nicht. „Nein... das...“, stottere ich, „das war nur der Moment, das war...“ Seine Hand auf meinem Arm lässt mich stocken. „Wieso hast du solche Angst vor dem Gefühl?“, fragt er mit ruhigem Blick. „Weil es... verwirrt! Es lässt uns nicht richtig denken, es lässt uns handeln, ohne nachzudenken! Es lässt uns Fehler begehen! Es lässt uns... leiden...“ Ich finde nicht die richtigen Worte, um es zu beschreiben... Ich habe doch keine Ahnung. „Woher weißt du das, wenn du es nicht selbst fühlst?“ „Ich...“ „Hast du nicht soeben das beschrieben, was du mit Mel erlebt hast?“ Ein Lächeln. „Aber ist da nicht noch viel mehr? So etwas wie Herzrasen... oder feuchte, zitternde Hände... das Gefühl, in seinen Augen zu versinken... nur an ihn zu denken... in seiner Nähe sein zu wollen... Ist das nicht auch noch da?“ Kein Laut entrinnt meiner Kehle. Mein Verstand sagt, ich solle mich wehren... doch ich kann es nicht. „Fühlt es sich nicht gut an?“, fragt Marcel mit ruhiger Stimme. Sein Blick liegt noch immer auf mir, als sein Lächeln noch breiter wird, seine Hand an meinem Arm noch fester. „Das ist Liebe, Nate, nichts anderes...“ „Aber...“ Ich zucke die Schultern. Liebe... Liebe... es kann nicht sein... das geht nicht... „Was?“ „Aber wie kann das sein? Ich meine... Ich kenne ihn kaum... und ich weiß nicht, wie man liebt... ich-“ „Das tut nichts zur Sache. So etwas lernt man nicht, es ist einfach da… Lass es einfach nur zu!“ „Das… das kann ich nicht!“ Ein Seufzen, er schüttelt den Kopf, stützt diesen auf seine Handfläche. „Dann lass mich dir eine Frage stellen…“ Misstrauisch sehe ich ihn an. „Welche?“ Ein Grinsen. „Was hältst du von mir?“ „Vor dir?“ „Ja. Was hältst du von mir? Ist es das Selbe wie bei Mel?“ „Ähm... Wie bitte?“ Ich fühle mich überfordert. „Was soll das plötzlich?“ „Nichts. Antworte einfach.“ Ich greife mir an die Stirn, seufze. Was für ein Quatsch! „Na gut…“, klingt meine Stimme komischer als ich es will. „Du bist… manchmal bist du etwas zu aufdringlich, hektisch und laut, aber das macht nichts. Es macht Spaß mit dir, du hast Sprüche drauf, über die man lachen kann... so was halt…“ „Und wie ist es bei Mel?“ „Ich weiß nicht…“ „Ist es genauso?“ „Ich weiß es nicht!“, werde ich lauter, verzweifelter. Was sollen alle diese Fragen? Sie verwirren mich so! Marcel aber lächelt nun und plötzlich sitzt er neben mir auf dem Sofa. Seine Hand berührt meine Schulter. „Hast du je daran gedacht, mich zu küssen?“, ist er nahe bei mir. „Äh... Nein!“, schüttle ich heftig den Kopf, weiche ihm ein Stück aus. „Wieso-“ „Echt nicht? Ich sehe Mel doch so ähnlich...“ Er greift mir in den Nacken, zieht mich zu sich. „Und wir klingen sogar gleich...“ Seine Stimme ist nur noch ein Hauch. „Begehrst du mich nicht? Meine Lippen...“ Fast berühren sie mich, doch ich stoße Marcel instinktiv von mir, ehe es dazu kommen kann. Es knallt, als er gegen den Tisch kracht. Ein Glas fällt um und vergießt seinen Inhalt über dem Boden. Marcel aber schenkt dem keine Beachtung, fängt stattdessen urplötzlich an zu lachen. Irritiert sehe ich ihn an. „Was ist?“ „Begreifst du es denn immer noch nicht?“ „Begreifen? Was denn?“ „Dass du verrückt nach ihm bist!“ Marcel schüttelt den Kopf, sein Lachen verstummt. Er setzt sich aufrecht hin, sieht mich an. „Jetzt denk doch mal ganz logisch darüber nach, Nate. Was ist der Grund, weshalb du dich mit Jeanette gut verstehst aber Caro nicht magst, obwohl die beiden sehr ähnlich sind? Was ist der Grund, dass du deine Gefühle bezüglich mir in Worte fassen kannst und bei Mel nicht? Und was ist der Grund, weshalb du mit Mel schläfst und dich von mir, seinem schieren Ebenbild, noch nicht einmal küssen lässt? Na komm schon, das muss doch irgendwann sogar mal in deinen Kopf gehen!“ „Das ist Unsinn!“ Ich springe auf, höre meinen Verstand hämmern, mein Herz rasen. Irgendwas macht mir Angst, höllische Angst. „Nein, Nate, das ist kein Unsinn!“ „Doch!“ Ich schreie auf ihn hinab. „Hör auf mit dem Quatsch!“ „Aber Nate...“ „Nein!“ Ich balle meine Hände zu Fäusten. „Hör auf damit!“ Ich spüre Tränen sich in meinen Augen sammeln, spüre sie über die Schwelle laufen, während ich schreie und das Gefühl habe, zusammenzubrechen. Die Stimme meines Vaters dröhnt in mir. „So etwas wie Liebe gibt es nicht!“, spucke ich sie aus. „Das ist was für Weicheier! Das ist nicht... ich... hör auf so was mit mir zu machen! Das bin ich nicht... das... ich kann nicht...! Ich... ich...“ Eine Berührung lässt mich herumfahren. Ich schlage zu, sehe dann erst das weiche Gesicht vor meinen Augen. Es sieht mich an, liebevoll, lächelnd... Tränen laufen seine Wangen hinab, als er die Arme ausbreitet... und dann, als er meinen Namen sagt, als das leise „Lean“ über seine Lippen streift, sinke ich hinein, lasse mich fallen, vergrabe meine Tränen an seiner Schulter und spüre, wie alles über und in mir zusammenbricht. Zum allerersten Mal ist es mir vollkommen egal. ENDE Akt 14 Timbre: Als Timbre wird die Klangfarbe einer Stimme oder eines Instrumentes bezeichnet. In diesem Akt ist es die Klangfarbe des Gefühls Liebe, welches jeder anders wahrnimmt, obwohl es doch immer sehr ähnlich klingt. Kapitel 15: Entr’acte --------------------- „Welche Tiere magst du?“ Inmitten von Staub sitzend, hob ich meinen Blick. Ein altes Gesicht lächelte mich an, ihm fehlte ein Vorderzahn. Er hatte mir mal gesagt, was passiert war, ich hatte es vergessen. „Schlangen“, antwortete ich und grinste. „Und Skorpione! Oder Eidechsen, Salamander…“ Ich redete mich in Rage, sprang voller Eifer vom Boden auf und breitete die Arme aus. „Sie sind toll, Opa! Voll Geheimnisse… ganz toll!“ Ein freundliches Lachen, er wuschelte mir durchs Haar. „Soll ich dir eins machen?“ „Oh ja! Ja, ja, ja! Kriecht es dann auch?“ Ich hüpfte zu ihm auf den Tisch. „Kann ich mit ihm spielen?“ „Natürlich mein Junge…“, sah ich ihn einen kleinen, fast schwarzen Stein nehmen. „Toll!“, baumelte ich mit den Beinen. „Es soll Evi heißen!“ „Eine sie?“ „Ja!“ Ich nickte heftig, wurde dann sofort ernst „Kann es keine sie sein?“ „Doch natürlich. Alles was du willst!“ „Dann nenn ich sie Evi!“ Ich nickte immer noch heftig, sah mit großen Augen und Spannung den Stein in seinen Händen an. Würde das Evi werden? Mein Blick fiel weiter. Ich griff nach einem unfertigen Gebilde auf dem Tisch. „Ich will das auch können!“, hielt ich ihn ihm hin. „Was möchtest du denn machen?“ „Einen Hund! So einen wie Fletscher…“, dachte ich an den dunkelbraunen Jagdhund, der immer im Wohnzimmer lag. Ich hatte Angst vor ihm… doch er war toll! „Dann solltest du aber lieber den hier nehmen…“, wurde mir ein anderer Stein hingehalten. Sofort ließ ich den in meiner Hand fallen. Staub wirbelte auf. „Toll! Und wie fang ich an?“ Voller Eifer krabbelte ich noch ein Stück weiter auf den Tisch, griff nach einem der Werkzeuge, die ich ihn immer benutzen sah. Nun lächelte er mich an, legte meine unfertige Evi beiseite. „Also, als erstes-“ „Nathanael!“, schallte es durch den gesamten Raum. Ich zuckte stark zusammen. „Hier!“, krächzte ich. Ich sah Opa an, der nun nicht mehr lächelte. Dröhnende Schritte kamen die Treppe hinab. „Wusste ich doch, dass du dich hier rum treibst!“ Sein ernster Blick wanderte von mir zu Opa. „Ich hab dir gesagt, ich will nicht-“ „Aber es ist toll hier!“, sprang ich vom Tisch in den Staub. „Siehst du das nicht? Die ganzen Figuren, es ist so…“ Ich brach ab und ließ die Arme sinken. Er hatte sich schon wieder umgedreht. Er hörte mir nie zu. „Komm mit rauf. Amelie ist da, du musst lernen!“ „Aber ich will bei Opa bleiben! Lernen ist langweilig, ich-“ „Komm mit rauf!“, schmetterte die Stimme durch den Raum. Sie wirbelte förmlich den Staub auf. Hilflos sah ich Opa an. „Nun lass den Jungen doch…“, versuchte er es. Ich wollte mich an sein Bein klammern. „Vater!“ Er drehte sich am Treppenabsatz wieder um. „Ich erziehe meine Kinder wie ich es will! Halt dich da raus!“ Es klang so drohend, dass ich meine Hand sich nun wirklich an Opas Hose klammerte. „Und jetzt komm mit, Nathanael, sonst passiert was!“ Das war es. Damit stampfte er die Treppe wieder hinauf und ich stand da, zitternd und ängstlich. Die sanfte Hand meines Opas ließ mich zusammenzucken. „Na komm, Schatz, geh lieber hoch…“ „Aber…“ „Ich red mit ihm. Morgen kannst du wieder mit herkommen.“ „Versprochen?“, wimmerte ich. „Versprochen.“ Er umarmte mich und ich vergrub mein dreckiges Gesicht an seiner dreckigen Weste. „Ich hab dich lieb, mein Kleiner.“ Ich nickte nur heftig und wollte weinen. Ich verstand meinen Vater nicht, wieso er es hier nicht toll fand. Aber ich glaube, ich habe ihn nie verstanden. Mir irgendwie schnell bewusst gewesen, dass es ein Traum war, versuche ich lange, nicht daraus aufzuwachen. Irgendwann jedoch hält es mich nicht mehr länger… ich entgleite den 20 Jahre alten Erinnerungen… dem schönen Gefühl… der warmen Umarmung, in der ich mich geborgen fühlte… Ich blinzle und es ist hell. Es ist sauber, kein Staub wirbelt durch die Luft… und es ist wundersam still. Ich reibe mir die Augen. Nässe setzt sich ab. Habe ich geweint? Im Schlaf? Das ist noch nie passiert… Überhaupt… wann habe ich das letzte Mal daran zurückgedacht? Ich schließe die Augen wieder, mir entweicht ein Gähnen. Ich drehe mich ein Stück und erst dann bemerke ich die Nähe. Sofort reiße ich meine Augen wieder auf. In einem Satz bin ich aus dem Bett. Ich stolpere, falle, stoße mir das Knie und weiche ein weiteres Stück zurück. Ein Lachen fährt durch den Raum, ein helles, schönes Lachen. Es lässt mich so plötzlich, wie ich aufsprang, ruhig werden. Und ich sehe ihn an, das Gesicht, welches zu strahlen scheint… die sanften Augen. Ich sehe Mel an als hätte ich ihn noch nie gesehen. Wie wunderschön er ist. „Komm wieder ins Bett“, lächelt er sanft, legt den Kopf ein bisschen schief. Seine Augen verschmelzen mit meinen. Ich kann nicht anders als den Kopf zu schütteln. Irgendeine Macht hält mich fest, von innen drin. „Na gut…“ Die Decke wird beiseite geschlagen. „Dann komm ich zu dir…“, sinkt Mel zu mir auf den Boden. Und so ist er mir plötzlich wieder ganz nah. Mein Herz rast. Sanft berührt er mein Knie, wo ich mich gestoßen habe. Elektrische Impulse fahren von da durch meinen Körper hindurch. Ich starre ihn an. „Du hast im Schlaf geweint…“, streifen die Finger leicht noch immer über die pulsierende Stelle. „Hattest du einen schönen Traum?“ „Ich…“ Überrascht öffne ich den Mund. Er fühlt sich belegt an, nicht fähig, zu sprechen. Ich sehe Mel an, der mir so nahe ist, habe das Bedürfnis, ihn noch viel näher zu ziehen. „… glaube schon…“ „Das ist schön…“ Sanfte Augen kommen mir näher… noch näher… nur noch ein kleines Stück… Ich weiche zurück, ehe sich unsere Lippen treffen können. „Ich-“ „Nein“, unterbricht er mich, seine Hand berührt meine. „Schon gut, ich verstehe schon.“ Damit steht er auf. Seine Nähe entzieht sich mir. Vom Boden blicke ich zu ihm hinauf, sorgenvoll, Wut in seinen Augen zu lesen… doch da ist nichts in ihnen außer Wärme. „Ich bin in der Küche…“, lächelt er nun. „Lass dir Zeit.“ Seine Worte folgen ihm bis zur Tür. Hier erst bleibt er wieder stehen, dreht sich nochmals um. Seine Augen funkeln nun verspielt und ein bisschen durchdringend. „Aber komm ja nicht auf den Gedanken, dass gestern ein Fehler war.“ Damit lässt er mich allein. Ich sinke zurück gegen den Schrank. Kurz erzittere ich aufgrund der holzigen Kälte. Gestern. Mein Kopf dröhnt, als ich die geschlossene Tür anstarre. Gestern… Ich senke den Blick und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Die letzte Nässe verschwindet, als ich die Hände wieder zurücknehme. Es fällt mir schwer, Gestern überhaupt in Gedanken wieder zu fassen zu bekommen. Wir haben geredet, so lange, stundenlang… Marcel war da… und Mel natürlich, der mich hielt, die ganze Zeit, der mein Herz berührte und meine Hand nicht losließ… Stunde um Stunde verging, so vieles kramte ich hervor, über das ich nie geredet hatte… so vieles fasste ich zum ersten Mal in Worte… zum ersten Mal verstand ich es… meine Vergangenheiten, meine Gefühle, Gedanken, Wünsche, Ängste… selbst Träume wie heute Nacht habe ich mir verboten… Sie nie beachtet, hatte ich all das vergraben, irgendwo, ganz tief… so weit, dass ich es nicht mehr erreichen konnte, nicht alleine, nicht ohne zu wissen wie… aber Mel hatte es geschafft, hatte es mit seinem Lächeln geschafft, mit seinem Gesang, mit seinem ganzen Sein… er hat es hervorgeholt und ich habe sie nicht verstanden… doch nun half er mir, es zu verstehen, vieles davon… eine lange Nacht lang… Ich spüre ein kaltes Zittern. Zögernd erhebe ich mich vom Boden. Es ist nicht so, dass ich wirklich alles begriffen habe. Gefühle sind mir fremd, ich kann sie nicht von einem Tag auf den anderen lernen… Ich kann nicht plötzlich verstehen, was all die Jahre schief gelaufen ist, da ich nie bewusst das Gefühl hatte, dass etwas schief lief. Ich kann nicht plötzlich ein anderer Mensch sein, Lachen und ständig fröhlich sein… Ich kann bestimmt nicht oft aus meiner Haut… Doch Mel sagte mir immer wieder, dass er das wissen… dass er es verstehe. Er versicherte mir, dass er warten könnte, dass wir es zusammen schaffen könnten, einen Weg zu finden… Er würde mir helfen, wenn ich ihn nur ließe… Es gab bereits eine andere Person, die einmal etwas Ähnliches zu mir gesagt hat... doch ich habe es nicht verstanden, habe ihn nie verstanden. Leise öffne ich die Zimmertür. Stimmen dringen aus der Küche zu mir heran. Ja, auch über Tobias haben wir geredet, lange und ausgiebig. Ich habe erzählt, Mel und Marcel haben zugehört… und sie haben mir gesagt, dass ich Fehler gemacht habe, in dieser Verbindung, viele, nicht nur einen einzigen. Ich habe ihm wehgetan, auch wenn es mir schwer fällt, zu verstehen, womit genau… Ich habe ihn verletzt und ich tue es immer noch… Natürlich, ich wusste es schon, auf gewisse Weise, doch verstanden habe ich es nie. Ich habe nie darüber nachgedacht, warum Tobias oft traurig war, habe nie hinterfragt, weshalb er eifersüchtig war. Ich habe ihn einfach nie verstanden… obwohl es manchmal wahrscheinlich gar nicht so schwer gewesen wäre, wenn ich es doch nur versucht hätte… Ich trete an die Küchentür heran. Drei gutgelaunte Gesichter entdecken mich, zwei unter ihnen wünschen mir einen guten Morgen. Das dritte starre ich an, während ich mich gegen den Türrahmen lehne. Tatsächlich habe ich mich wahrscheinlich schon viel länger als es mir bewusst ist, gefragt, was eigentlich Liebe ist. Ich glaube, dass ich die Frage gerne beantwortet hätte… vielleicht, um meinem Vater sagen zu können, dass er sich geirrt hat… aber vielleicht auch nur um meiner selbst Willen. Ich wollte spüren, wovon so viele sprachen… und doch fand ich es nie, denn eigentlich wusste ich nicht wirklich, wonach ich suchte, wie sich das Gefühl anfühlte, dass ich haben wollte… ich kannte es nicht und dann erkannte ich es nicht… dabei ist es eigentlich ganz einfach… glaube ich… Die drei sind wieder in ein Gespräch verfallen, lachen über einen komischen Artikel in der Zeitung. Mel schielt ab und an zu mir hinauf und ich schaffe es nicht, meine Augen von ihm zu nehmen. Ich kann nicht sagen, dass ich nun wirklich verstehe, was gerade in mir vorgeht. Ich kann nicht sagen, dass ich das Kribbeln kenne und erklären kann… Ich verstehe die Nervosität nicht, die Unsicherheit und das Verlangen, ihm nahe zu sein… aber immerhin weiß ich, dass es da ist… und ich darf mich dem nicht entgegensetzen. Es würde nichts bringen, es würde nichts ändern und nichts besser machen… dabei habe ich seit gestern das Gefühl, dass es wirklich besser werden kann… Seine Augen bleiben an mir hängen, als er mich das nächste Mal ansieht. Sie strahlen mich an und dies fährt in meinen Bauch hinein. Ich spüre, wie ich zu lächeln beginne, wie mir bewusst wird, dass ich vielleicht wirklich genau darauf immer gewartet habe… Ich setze mich in Bewegung und nehme wahr, wie die Stimmen verstummen. Mels Augen folgen mir, wie ich ihm näher komme, immer näher. Und ich ergreife seine Hand, als er sie ausstreckt, verschlinge meine Finger mit seinen und ziehe ihn zu mir hinauf. Ich verstehe all das nicht, aber es macht nichts… es macht überhaupt nichts, solange ich dieses Lächeln sehen kann, solange ich ihn strahlen sehe und seine Augen mir das zeigen, was ich sehen will. Ich verschließe seine lächelnden Lippen mit einem Kuss und ich ziehe ihn an mich heran. Ich umschlinge ihn und vergesse für einen Moment die anderen beiden in diesem Raum. Es ist nicht wichtig in dieser Sekunde, so wie nichts wichtig ist… nichts außer ihm, der mir gezeigt hat, dass mein Vater all die Jahre lang unrecht hatte. Es gibt die Liebe. Ich bin grade dabei, sie zu erforschen. Als ich mich wieder von Mel trenne, sind seine Wangen tief gerötet. Ich umfasse sie mit meinen Händen. „Ich muss noch mal heim und ein bisschen was regeln“, sage ich leise und sehe ihm genau in die Augen. „Du wartest auf mich, nicht wahr?“ „Wenn du zurückkommst…“ „Das werde ich“, verspreche ich ihm. „Ganz bald.“ Und damit küsse ich ihn wieder, nur um mir sicher zu sein, dass das Gefühl jedes Mal stärker wird. Und das wird es. Mein Herz hämmert und ich weiß, dass ich in gewisser Weise doch ein anderer Mensch geworden bin. Ein kleines bisschen… Schritt für Schritt… ~ * ~ Die Rückfahrt ist lang. Und jeder Schritt, den ich mich meiner Wohnung nähere, fällt schwer, obwohl ich doch weiß, dass es noch zwei Stunden dauern wird, bis Tobias von der Arbeit zurück ist. Ich schließe die Tür auf und bleibe einen Moment lang in der geöffneten Tür stehen. Als ich mich dann bewege und langsam ins Wohnzimmer gehe, spüre ich ein merkwürdiges Gefühl. Es ist, als sei ich lange schon nicht mehr hier gewesen… Irgendwas ist anders… in mir drin… Ich sinke ins Sofa hinein. Und hier bleibe ich sitzen… lange… eine ganze Weile lang, ohne etwas zu tun. Ich schließe die Augen und lausche. Auf was? Auf mich selbst? Vielleicht... Ich versuche, in mich hineinzuhorchen, versuche mir selbst zu antworten, wie es nun weitergehen soll. Wie will ich, dass es ab hier weitergeht? Eine Antwort bekommen, stehe ich auf. Ich hole das Telefon zu mir und wähle eine Nummer. Meinen Gesprächspartner gefunden, erkläre ich min heutiges Fehlen und dann mache ich meine Entscheidung fest... Natürlich, ich stoße auf Unverständnis, doch das ist mir egal. Dann lege ich auf. Den Hörer sinken lassend, weiß ich schon, wie überschwänglich diese Entscheidung ist… doch es ist gut. Wenn ich versuchen will, etwas zu ändern, dann muss ich überall anfangen… Nicht ganz zwei Stunden vergehen, bis Tobias da ist. In dieser Zeit habe ich meinen Platz auf dem Sofa nur kurz verlassen… und ansonsten darüber nachgedachte, wie ich dieses Gespräch beginnen soll. Ich bin zu keinem wirklichen Ergebnis gekommen, zu keinem guten. Aber wahrscheinlich gibt es für so etwas keinen Plan, wahrscheinlich muss jeder selbst herausfinden, wie man so etwas macht... Es gibt dafür kein Richtig, es gibt nur ein Falsch... „Es tut mir Leid...“, spreche ich also mit gesenktem Kopf, als er endlich da ist, als ich nicht zugelassen habe, dass er mich küsst, und als er nun neben mir sitzt. Ich heb den Kopf und zwinge mich, ihn anzusehen. Die Furcht in seinen Augen ist deutlich zu lesen, sogar für mich. Größtes Unverständnis. „Was meinst du?“, zittert seine Stimme. Sie fleht mich an, dass ich mich doch nur für meine nächtliche Abwesenheit entschuldigen solle… Doch das reicht nicht. Es ist nicht genug. „Es tut mir Leid... aber es kann so nicht weiter gehen...“, fällt es mir tatsächlich schwer, überhaupt Worte zu finden. „Sag jetzt nicht, du...“ Er springt auf. „Sag bloß nicht, dass du mit mir Schluss machst!“, durchfährt seine laute Stimme den gesamten Raum. Es lässt mich zusammenzucken. Und dann nicke ich. „Du machst mit mir Schluss?“, kommt es noch mal, ungläubig. „Ja“, antworte ich, zwinge mich, ihn anzusehen. „Wa... warum.“, klingt es gar nicht mal wirklich nach einer Frage. Es scheint nur ein Ausdruck zu sein. „Weil... wir nicht zusammen passen“, antworte ich dennoch. „Ist das der einzige, bescheuerte Grund?“ „Nein...“ „Warum dann?“ Er will es höre. „Weil... ich jemanden liebe.“ Stocksteif zieht sich sein Körper zusammen. Für einen Moment scheint er sogar das Atmen zu vergessen. „Sag das noch mal!“, stößt er dann aus. „Ich bin verliebt.“ „DU?“ Er fährt vor, packt meine Schultern. „DU bist verliebt? Willst du mich verarschen?“ „Nein, das-“ „Nach all den Jahren, die ich um dich kämpfe... nach all den Jahren, die ich dich anflehe, mich zu lieben und ich mir immer wieder anhören darf, dass du so was nicht kannst... nach all den Jahren verlässt du mich, weil du dich VERLIEBT hast?“ Seine Handfläche trifft mich im Gesicht, bevor er zusammensackt, vor meinen Füßen, seine Hände noch immer an meinen Schultern verkrampft. „Warum?“, keucht er. „Was macht er mit dir? Wieso nicht ich?“ „Ich weiß es nicht.“ „Du weißt es nicht? Du verlässt mich wegen dieses Arschlochs und du weißt NICHT wieso?“ „Ich habe mir das nicht ausgesucht...“, versuche ich es vorsichtig, berühre seinen Arm. „Nein, natürlich nicht!“ Er schüttelt mich, hebt den Kopf, sieht mich mit Tränen in den Augen an. „Aber das hier! Und das gibst du einfach so auf! Einfach so, nach all der Zeit! Du hast doch gar keine Ahnung, auf was du dich da einlässt... du weißt doch gar nicht...“ Er verstummt, schüttelt den Kopf. „Darum geht es auch nicht.“ Vorsichtig berühre ich seinen Arm erneut. „Eigentlich hätte ich das hier schon viel früher beenden sollen...“ „Ach ja?“, kommt es bitter. „Und warum?“ „Weil es nicht funktioniert hat.“ „Nicht funktioniert? DU findest, dass es nicht funktioniert hat? Das ich nicht lache! Du hast doch gar keine Ahnung!“ Er stößt sich auf die Beine zurück. „Ich sollte es sein! Ich sollte mit dir Schluss machen! Nicht du! Gott, das ist so erbärmlich!“ Er fährt herum, greift sich in die Haare, zieht daran, scheint keinen Endpunkt zu finden. Ich sehe ihm zu und habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Ihn schreien lassen ist vielleicht die beste Wahl... „Weißt du eigentlich...“ Er bleibt stehen, fährt wieder zu mir herum. „Weißt du eigentlich, wie sehr ich versucht habe, dass das funktioniert? Weißt du eigentlich, wie oft ich versucht habe, dir Gefühle für mich zu entlocken? Aber nein, du bist kalt geblieben wie ein Felsblock. Du hast nie gezeigt, dass du mich magst, du lachst kaum mit mir… du lebst neben mir her, ohne mich zu sehen! Hast du dich eigentlich je gefragt, warum ich fremdgegangen bin? Ich wollte für einen Tag wen, der mich sieht… und du hast mich noch nicht mal gesehen, als du mich erwischt hast! Du bist nicht mal sauer geworden… du warst noch immer genauso wie vorher! Noch nicht mal das hat irgendwas gebracht! Gar nichts!“ Er kommt wieder auf mich zu, drückt mich erneut in die Sofalehne und gräbt seine Fingernägel in meine Schultern. „Weißt du eigentlich wie weh es mir getan hat, dass du nicht sauer geworden bist? Oder wie weh es tat, als ich dich mit diesem Marcel lachen sah? Und jetzt... jetzt sagst du mir, dass du mich wegen so einem verlässt... du kennst ihn doch gar nicht... Verdammt! Mel kennt dich doch gar nicht!“ „Woher weißt du...“ „Woher ich weiß, dass es Mel ist?“ Ein bitteres, tiefes Lachen entweicht seiner Kehle. „Ich bin nicht blind, du Arschloch! Jedes Mal... JEDES MAL wenn du über ihn geredet hast... oder mit ihm... weißt du überhaupt, wie du da ausgesehen hast? Gott, das Lächeln ist so ekelhaft! Und du hast gelacht! Immer wieder! Denkst du wirklich, dass ich so blind bin und es nicht bemerke? Ich kenne dich, verdammt noch mal!“ Ich war so blind und hab es nicht bemerkt. Doch diese Antwort erspare ich mir. „Wahrscheinlich sollte ich froh sein!“, donnert er weiter. „Ich hab dich ja eh kaum wiedererkannt! Kaum hattest du was mit denen zu tun, warst du plötzlich ein ganz anderer Mensch! Ein Wunder, dass du noch in den Spiegel schauen kannst! Echt, das ist so widerlich!“ Er stößt sich ab, verschränkt die Arme. „Ja, wahrscheinlich sollte ich echt froh sein, dich los zu sein. So eine Schwuchtel wie du geworden bist... du bist nicht mehr der Mensch, den ich liebe...“ Eiskalt sind seine Augen bei diesen Worten... und dennoch kann ich sie lügen strafen. Doch ich schweige. Ich habe nichts mehr zu sagen. Ich war darauf vorbereitet, dass er schreien und toben wird. Ich kenne ihn gut genug, um das zu wissen. Und es ist wahrscheinlich okay so... so kann er wenigstens seine Wut herausschreien. Und das tut er. Noch bestimmt eine halbe Stunde lang tobt Tobias in der Wohnung herum. Seine Stimme nimmt alle möglichen Töne an, sogar flehend ist kurz dabei, bis er schnell wieder zur Mordstimmung übergeht. Ich sitze da währenddessen und bin das, was ich nicht sein sollte, in dieser Situation: ruhig. Ich weiß ungefähr, wie sehr es mir Leid tun sollte, dass ich ihn vielleicht sogar in den Arm nehmen und trösten sollte... doch das kann ich nicht... Ich bin nicht der Mensch dazu... und ich kann mit dieser Wut von ihm nicht gut umgehen. Also sitze ich einfach nur da und ertrage sie. Als Tobias sich einigermaßen beruhigt hat, weint er nur noch. Und er stapft ins Schlafzimmer, reißt eine Tasche aus dem Schrank hervor und wirft alle möglichen Sachen hinein. Er erklärt mir, dass er in den nächsten Tagen wiederkommen wird, um den Rest seiner Sachen zu holen. Ich solle sie ihm bis dahin zusammenpacken und dann verschwinden. Ich solle auf keinen Fall da sein, wenn er sie holen kommt. „Ich will dich nie wiedersehen!“, sind die letzten Worte, die ich von ihm höre, als er mir mit verquollenen Augen einen letzten sehnenden Blick zuwirft und die Tür von außen schließt. Dann hört man laute Geräusche von draußen und ich sehe fast vor mir, wie er aufs Treppengeländer eintritt. Es tut mir Leid... Ich hatte nie vor, dir wehzutun. Nach einer Weile beginne ich damit, meine Wohnung aufzuräumen. Während ich die Kissen, die Tobias in der Gegend herumgeworfen hat, wieder zurück auf ihren Platz lege, gehe ich im Kopf durch, wo ich alle Sachen von ihm finden werde. Es hat sich so vieles angesammelt über die Jahre hinweg... und nicht zum ersten Mal bin ich froh, dass ich ihm nicht erlaubt habe, richtig bei mir einzuziehen. So also nehme ich also einen großen Koffer aus meinem Schrank und beginne damit, Tobias’ Kleidung zu packen... anschließend seine Badesachen... dann das Zeug aus der Küche. Natürlich, es ist überflüssig zu sagen, dass auch mir dabei Dinge durch den Kopf gehen, die mit diesen Sachen zusammenhängen. So erinnere ich mich zum Beispiel daran, wie glücklich er war, als ich ihm ein Fach für seine CD-Sammlung freigemacht habe... oder wie er sich immer gefreut hat, wenn ich sein Essen gelobt habe … Es sind nur Kleinigkeiten, die mir jetzt wieder einfallen, aber tatsächlich lassen sie ein mulmiges Gefühl in mir entstehen. Das ist normal, nicht wahr? Es sollte nicht einfach sein, die Sachen des Ex-Freundes wegzuräumen, egal wer wen verlassen hat. Eine Trennung ist immer mit Schmerz verbunden... wahrscheinlich ist dies nur ein Zeichen dafür, dass ich tatsächlich ein Mensch bin. Als ich fertig bin und der Koffer zusammen mit einigen Beuteln im Flur stehen, lasse ich mit merkwürdigem Bauchgefühl meinen Blick darüber gleiten. Komisch irgendwie, dass dieser Lebensabschnitt nun vorbei ist und ein neuer beginnen wird... Wieder im Schlafzimmer hole ich eine weitere Reisetasche hervor und beginne, Sachen hineinzupacken. Nur ein paar wichtige, dieses Mal von mir. Im Flur und auf dem Weg ins Arbeitszimmer greife ich nach dem Telefon. Ich wähle Mels Nummer, bestätige und freue mich darauf, seine Stimme zu hören... Erst in letzter Sekunde lege ich auf, da nämlich, als ich vor meinem Schreibtisch zum Stehen komme. Ich lasse den Hörer sinken. Eine alte Erinnerung starre ich an, während ein Gedanke durch meinen Kopf rauscht. Ich weiß nicht, ob es gut wäre... aber vielleicht würde es etwas bringen, mir etwas bringen... Während ich zögernd die einzelnen Zahlen der Telefonnummer wähle, spüre ich, wie ich nervös werde. Ich versuche, mir Worte zurechtzulegen. Worte, die ich wahrscheinlich schon so lange hätte sagen sollen… doch erst jetzt sind sie mir klar geworden… durch das Gespräch mit Mel und Marcel... durch meine Vergangenheit, über die ich sprach… oder vielleicht auch durch den Traum... Ich weiß jetzt, wieso es mir so wichtig war, meinen Eltern, meinem Vater die Wahrheit zu sagen... Marcel hatte Unrecht. Es ist keine Wut, die ich verspüre. Doch auch ich hatte unrecht, es ist kein Hass. Es ist etwas viel Tieferes, Gravierenderes, das man nicht so schnell vergessen kann... Es ist die Enttäuschung, das Gefühl, geliebt werden zu wollen... das Gefühl, nicht beachtet zu werden... der Wunsch danach, einfach nur einen Vater zu haben... Das Telefon in meiner Hand wiegt schwer, als ich es ans Ohr hebe und die Nummer bestätige. Meine Augen liegen noch immer auf der alten Erinnerung auf meinem Tisch. Ich habe sie bis heute nie wirklich verstanden. Eine freundliche Stimme einer Sekretärin meldet sich. Ich lasse mich durchstellen, warte wieder, höre die Wartemusik und bin mir sicher, dass es richtig ist, was ich tue. Ihm wird es nichts bedeuten, ihm wird es gleichgültig sein... aber mir wird es helfen, davon bin ich überzeugt. Ich greife nach der Erinnerung und drehe sie in meinen Fingern. Wann habe ich sie eigentlich das letzte Mal Evi genannt? Die Musik in meinem Ohr verschwindet. Stattdessen wird sie von einer tiefen Stimme abgelöst. Ich melde mich. Ganz leicht überrascht wird mein Anruf kommentiert. „Was willst du?“, fragt er dann. „Ich will dir nur etwas sagen...“, spreche ich in den Hörer, noch immer Evi ansehend. Doch eine Weile sehe ich nicht sie vor mir, sondern meinen Traum… ihn… sein immer so gleichgültiges Gesicht. Das ist nicht schwer. Ein ähnliches habe ich auch so oft im Spiegel gesehen. „Und das wäre?“ „Ich habe nachgedacht. Ich habe darüber nachgedacht, weshalb ich euch gesagt habe, dass ich schwul bin und ich-“ „Hast du dich zu einer Therapie entschieden?“ „Nein“, schüttle ich den Kopf, führe dann meinen Satz nachdrücklich fort: „Und ich bin zu einem ganz einfachen Ergebnis gekommen... Ich weiß nun, warum ich es euch gesagt habe...“ Ich drehe mich um und verlasse mein Arbeitszimmer. Evi findet im Flur einen Platz in meiner Jackentasche. „Dann mal raus damit“, kommt es fast gelangweilt. „Weil ich sehen wollte, wie du wütend wirst. Ich wollte sehen, dass du ein Mal meinetwegen schreist und sauer wirst, nicht wegen deines Ansehens oder deiner Firma... Ich wollte spüren, dass du Gefühle hast, Vater... ich wollte wenigstens ein Mal in meinem Leben spüren, dass ich dir etwas bedeute… dass ich nicht nur Teil deines Plans bin.“ „Meines Plans?“ „Aber ich habe es nicht geschafft“, spreche ich ungeachtet seiner Zwischenfrage weiter. „Du warst genauso gleichgültig wie damals, als du mir verboten hast, bei Opa zu spielen… Dir war es vollkommen egal, was mir Spaß gemacht hat… Es ging dir immer nur um dein Geld, dein Ansehen… um Macht. Es hat lange gedauert, aber jetzt weiß ich wenigstens, dass es gut ist, irgendwie anders zu sein. Enterbt mich, streicht mich aus dem Stammbaum. Es ist mir egal. Es ist mir auch egal, wenn ich nie wieder etwas von euch höre.“ Ich schlucke, spüre eine Träne, will sie aber nicht durchklingen lassen. „Okay, zugegeben, es tut weh, zu erleben, dass man dem eigenen Vater vollkommen gleichgültig ist, aber ich bin froh, dass es weh tut... denn es zeigt, dass ich ein Mensch bin, dass ich Gefühle habe... es zeigt, dass ihr mich nicht vollkommen zerstört habt.“ Ein hohles Lachen entweicht mir. „Soll ich dir was sagen? Ich bin der Beweis dafür, dass du nicht perfekt bist. Bei mir hast du versagt, Vater, denn ich bin nicht zu deiner Puppe geworden... Ich habe gelernt zu lieben und ich werde lernen, glücklich zu sein. Ich bin das, was du nie sein wirst, Vater, und deshalb hast du versagt.“ Ich lächle, wische die Tränen von den Wangen. „Das war alles, was ich sagen wollte. Du könntest mir einen Gefallen tun, und es Mutter ausrichten... Danach dürft ihr dann versuchen, mich zu vergessen. Leb wohl Vater, denn ich werde es.“ „Nath-!“ Mehr als diese erste Silbe meines Namens dringt nicht mehr zu mir heran, denn ich lasse ihn verstummen. Ich lasse die Hand mit dem Hörer sinken. Mit der anderen wische ich mir erneut über die Augen. Dann lege ich den Hörer weg und ich greife nach Jacke und Tasche. Meine Wohnung verlassend, lasse ich den Gedanken an mich heran, ob ich gerne wissen würde, was er zu all dem zu sagen hat, was er gerade, am Ende noch sagen wollte… Ja, natürlich... irgendwie würde ich es gerne wissen. Aber was würde es mir bringen? Es würde mir nicht helfen, voranzugehen, doch genau das muss ich tun. Ich muss lernen, diesen Teil meine Vergangenheit hinter mir zu lassen, ich muss ihn abschreiben, wie er mich abschreiben wird. Ich muss endlich anfangen, zu leben, ohne ihn ständig im Hinterkopf zu haben. Ich muss endlich anfangen, mich selbst zu hören. Ich steige in mein Auto und ich fahre los. Ich lasse das Verdeck herunter, obwohl es eisigkalt ist, und lasse mir die gefrierende Luft ums Gesicht blasen. Ich atme tief ein, spüre das Brennen meiner Lungen und fühle mich gut… Ich fühle mich frei. ENDE Akt 15 Entr’acte: Übersetzt heißt es „Zwischenakt“ und bezeichnet im Musical das Vorspiel des 2. Aktes nach der Pause. Bei uns ist der 2. Akt Nathanaels zweiter Lebensabschnitt, den er beginnen will... und dieser Part stellt den offensichtlichen Beginn dieses Abschnitts dar. Epilog: Deniere --------------- Mein Leben hat mit dem Gedanken begonnen, dass es mich zwei Mal gibt. Ich eine Hälfte, du eine Hälfte... Egal ob ich in den Spiegel sah oder ob ich dies nicht tat, so sah ich mein Spiegelbild doch immer um mich herumwirbeln. Es war meist aufgedrehter als ich, lachte mehr, machte viel Unsinn und zog mich bei allem mit sich. Ich hing sehr an meinem Spiegelbild, begriff kaum, dass ich einer der wenigen war, die überhaupt ein solches haben. Meine Mutter lachte dann immer, sagte, dass wir etwas Besonderes seien und dass wir immer aufeinander acht geben müssten. Unsere Freunde fanden es toll. Sie machten sich einen Spaß daraus, uns als M&Ms zu bezeichnen und wir scherzten darüber. Unseren Lehrern fiel es schwer, uns auseinanderzuhalten, denn wir zogen uns absichtlich gleich an, verhielten uns absichtlich gleich, wenn es darum ging, und hatten Spaß daran, immer wieder verwechselt zu werden. Natürlich, eigentlich waren wir vollkommen unterschiedlich, doch wenn es darum ging, war Marcel ganz ruhig und still... oder ich lernte hektisch und aufgedreht zu sein. Es war toll, damals liebte ich dieses Schauspiel. Es zu hassen begann ich erst, als ich in die Pubertät kam. Noch immer wollte Marcel dieses Spiel spielen, wollte Leute, die wir nicht kannten, mit unserer Verwechselbarkeit ärgern, doch ich begriff, dass wir gar nicht so verwechselbar waren. Ich begriff, dass mich noch viel mehr von ihm unterschied, als ich eigentlich gedacht hatte... Ich begriff, dass ich schwul war, während Marcel ein Mädchen nach dem anderen betörte. Er machte sich einen Spaß daraus, seine neuen Freundinnen zu ärgern. Dies war einfacher dadurch, dass wir in unterschiedlichen Klassen waren. Die Schulleiterin hatte dies angeordnet, da sie gemerkt hatte, für wie viel Aufruhr wir sorgten. Was sie nicht wusste, war, dass wir dennoch viel zu oft die Plätze tauschten... dass ich für Marcel den Deutschunterricht besuchte und er dafür meine Erdkundearbeiten schrieb. Es machte Spaß und noch mehr dadurch, dass wir nie damit aufflogen... doch ich begann es zu hassen, wenn es um etwas anderes als um die Schule ging. Marcel überredete mich oft, seiner aktuellsten Freundin einen Streich zu spielen... und ich glaube, er ließ sie mich deshalb küssen, weil er wusste, dass ich keine Freundin hatte. Dass dies aber nicht an den üblichen Gründen lag, das wusste er nicht. Fast ein Jahr lang sagte ich Marcel nicht die Wahrheit. Wohl deswegen stritten wir uns oft, denn er verstand nicht, warum ich mich immer wieder nun auch äußerlich von ihm unterscheiden wollte. Ich schnitt mir die Haare ab, was er wutentbrand einen Tag später ebenfalls tat, und ich kaufte mir heimlich ausgefallene Klamotten, die er nicht im Schrank hatte. Ihn machte dies sauer, mich traurig, da mir jede kleine Veränderung deutlich machte, wie unterschiedliche Marcel und ich waren... und eigentlich war ich lange sehr gerne ein Spiegelbild gewesen. In dieser Zeit vermisste ich unser Gleichsein sehr. Überhaupt vermisste ich meinen Bruder, da ich das Gefühl hatte, ihm nicht alles sagen zu können, und mich deshalb vor ihm zurückzog. Es schmerzte, als hätte mir jemand einen Teil von mir abgeschnitten, meine andere Hälfte. Diese Phase endete, als wir gerade Fünfzehn geworden waren. Warum? Weil ich das erste Mal Sex mit einem Mann hatte. Es war die schlimmste Erfahrung, die ich je gemacht hatte... und es war das erste Mal seit mehr als einem Jahr, dass ich am Abend, als der schreckliche Tag endlich vorbei war, zu Marcel ins Bett kroch. Ich heulte in seinen Armen, klammerte mich an ihn... und während ich dies tat, ließ der Schmerz in mir nach, denn Marcel beruhigte mich, streichelte meinen Rücken und küsste mein Haar. Er sprach leise zu mir und sagte mir, dass er mich lieb habe... Daraufhin heulte ich noch mehr, entschuldigte mich etliche Male dafür, dass ich mich im letzten Jahr so grässlich benommen hatte, und gestand ihm schließlich, dass ich ein riesengroßes Geheimnis in mir trug. Als ich es aussprach, hatte ich Angst, dass er mich aus dem Bett werfen würde. Doch stattdessen war er ganz still, sah mich an und gab mit keinem Blick auch nur den kleinsten Hinweis darauf, was er dachte... erst als ich fertig war und nachfragte, als ich fragte, ob er mich nun hassen würde, begann er plötzlich zu lachen. Es schalte durchs gesamte Zimmer und in mein Ohr, als er mich wieder an sich drückte. Er gestand mir, dass er es seit ungefähr zwei Monaten gewusst hatte. Da nämlich habe er das Schwulenmagazin, welches ich unter meiner Matratze versteckt hatte, gefunden. Peinlich berührt hatte ich das Gefühl, im Boden zu versinken, doch er nahm mir meine Scham schnell, indem er mich erzählen ließ, indem wir darüber redeten und er sich so normal verhielt, als würde ich über meine neue Freundin reden. Ich erzählte ihm auch von meinem grauenhaften ersten Mal und mit wem ich es hatte... und er reagierte erschüttert, geschockt, sagte, dass er mich davon abgehalten hätte, wenn er das doch nur gewusst hätte. „Der Typ ist das letzte Arschloch!“, grummelte er in sich hinein und strich mir dann durch die Haare. „Aber keine Sorge, das passiert nie wieder! Ab jetzt bekommst du nur noch gute Männer! Wart’s nur ab, ich pass auf, dass du glücklich wirst!“ Unsere enge Zwillingsbeziehung, wie meine Mutter es immer genannt hatte, war wieder da nach diesem Gespräch... und dennoch wurde nicht alles wieder so wie vorher. Dies ging nun aber eher von Marcel aus. Er ging mit mir zum Frisör, kaufte mir neue, ganz andere Klamotten und sagte irgendwann lachend, dass wir uns auf jeden Fall unterscheiden müssten, immerhin wolle er Frauen aufreißen und ich Männer. Das tat ich dann auch und hatte mit Sechzehn meine erste richtige Beziehung. Er war ein richtiger Gentleman, lieb, nett, zuvorkommend, sanft... perfekt halt... wenn er mir nicht sechs Monate später erzählt hätte, dass er sich eigentlich in meinen Bruder verguckt hatte. Da war es soweit: Ich brach zusammen und verfluchte es zum allerersten Mal, ein Spiegelbild zu sein. Zwei Monate später schlossen Marcel und ich die Schule ab und ich entschied, dass ich ab jetzt meine eigenen Wege gehen würde. Marcel verstand meinen Sinneswandel nicht, ebenso wie er auch nicht verstanden hatte, weshalb ich mich von meinem scheinbar so perfekten Freund getrennt hatte. Ich hatte ihm die Wahrheit einfach mal wieder nicht sagen können. Also zog ich aus... und nicht nur das, ich zog in eine andere Stadt, zu meiner Tante, welche mich gerne aufnahm. Meine Eltern waren froh darüber, wollten sie mich doch mit Ende Sechzehn noch nicht alleine leben lassen, doch Marcel war unglaublich enttäuscht. Fast drei Jahre lang hatten wir danach kaum Kontakt. Wir sahen uns auf Familienfeiern und ganz selten telefonierten wir mal, doch letztendlich wurde er mir fremder und fremder... und hätte er nicht das gleiche Gesicht wie ich, hätte ich ihn wohl nicht mehr wiedererkannt. Ich muss zugeben, dass ich diese Zeit nur sehr schwer ertrug. Damals gestand ich mir das nicht ein, immerhin war es meine überstürzte Entscheidung gewesen, immerhin war ich abgehauen, hatte ihn im Stich gelassen... Es war also nicht an mir, mich alleine zu fühlen. Doch das tat ich, sehr sogar, extrem... Ich vermisste ihn unglaublich und sehnte mich ständig danach, mit ihm zu reden. Lange, viel zu lange tat ich es nicht, da ich stolz war, dämlich stolz. Als ich den Mut dazu zusammen nahm und Marcel besuchen ging, der mittlerweile alleine wohnte, traf ich zunächst auf eine junge Frau. Vollkommen erschrocken stürzte sie auf mich zu, als sie die Tür geöffnet hatte, und griff in meine Haare. Was ich mit ihnen gemacht hätte, wollte sie wissen, und wie ich überhaupt rumliefe... Erst als ich meinen Mund aufmachte, wich sie zurück und begriff, dass sie soeben auf einen alten Trick hereingefallen war. Jeanette, mit der Marcel zu dem Zeitpunkt seit vier Monaten zusammen war, war mir auf Anhieb sympathisch. Wir unterhielten uns sehr gut und sie sagte mir, dass Marcel sehr oft von mir sprach. „Er vermisst seine andere Hälfte“, waren die Worte, die sich in mir einbrannten und ich wusste, dass ich sie ebenso erwidern konnte. Als Marcel irgendwann nach Hause kam, lag eine komische Stimmung in der Luft. Zunächst war er überrascht, dann zurückhaltend... und erst als ich mich entschuldigte, nahm er mich in den Arm und begann zu weinen. Danach redeten wir die ganze Nacht hindurch. Ich erzählte ihm von meinen verkorksten Beziehungen und gestand ihm am Ende auch, weshalb ich damals mit meinem Freund Schluss gemacht hatte. Er war erschüttert, und er erneuerte sein Versprechen, dass er mich glücklich machen würde. Ein Jahr später schloss Marcel die höhere Schule ab und begann zu studieren. Ich hingegen kämpfte mich weiter durch meine ungeeignete Ausbildung und war froh, sie hinter mich gebracht zu haben. Sie abgeschlossen, ebnete sie mir den Weg in die letzte Klasse eines Gymnasiums und ein Jahr nach Marcel begann auch ich zu studieren - Musical-Show, etwas, vor dem ich zunächst zurückgewichen war, da es mir zu schwul erschien, aber nun wusste ich, dass es genau das war, was ich tun wollte. Das Studium, welches mich zurück in meine Geburtsstadt führte, war der Grund, weshalb ich mit Marcel zusammenzog. Ich hatte ein schlechtes Gefühl dabei, weil ich glaubte, Jeanette den Platz an Marcels Seite zu nehmen, doch sie machte mir schnell klar, dass das nie passieren würde. Es wäre gut für ihre Beziehung, nicht in der gleichen Wohnung zu leben, gestand sie, und da Marcel später etwas Ähnliches sagte, glaubte ich ihnen. Das Zusammenleben schweißte uns auch wieder gefühlsmäßig zusammen. Ich schämte mich vor mir selbst immer mehr, wie ich bloß einmal hatte anders denken können, und war froh, dass alles wieder normal lief. Dies Normal ging sogar so weit, dass wir ab und an wieder unsere Verwechslungsnummer ausspielten, was eine Menge Spaß brachte, so auch damals, an diesem einen ganz bestimmten Tag in der Küche... ~ * ~ Ich muss gestehen, dass ich immer an Liebe auf den ersten Blick geglaubt habe. Ich war so romantisch veranlagt, dass ich davon träumte und es mir wünschte... Als es dann allerdings passierte, merkte ich es nicht einmal. Natürlich, Nathanael gefiel mir auf Anhieb, doch mein rasendes Herz bemerkte ich zunächst nicht, war ich doch viel zu sehr damit beschäftigt, Marcels Roll einzunehmen. Erst später, als ich mich von ihm verabschiedet und die Wohnung verlassen hatte, wurde mir bewusst, wie ich an seinen Lippen gehangen hatte, an seinen Augen... und wie wunderschön seine Stimme gewesen war. Carolin brachte es auf den Punkt, als ich ihr von diesem Mann vorschwärmte, und sagte mir mit eifersüchtigem Blick, dass ich bloß aufpassen solle. Schon lange war sie in mich verliebt und konnte sich nie damit abfinden, dass ich schwul war. Dass ich mich nun auch noch Hals über Kopf verguckt hatte, das passte ihr so gar nicht. Das war auch der Grund, weshalb sie an mir hing wie eine Klette, sobald Nathanael in der Nähe war. Ich machte gute Miene zu bösem Spiel, obwohl ich ihr am liebsten den Hals umgedreht hätte... Ich tat es natürlich nicht und ich sprach sie auch nicht darauf an, denn noch mehr wehtun wollte ich ihr auch nicht, immerhin musste sie schon mit ansehen, wie ich ihn weiter und weiter anhimmelte. Dass Nathanael ebenfalls schwul war, hatte Marcel mir schon vor dem ersten Treffen gesagt... doch während ich dies nur als mein unglaubliches Glück ansehen wollte, erzählte Marcel mir von Tobias. Auch sagte er, dass Nathanael ein sehr schwieriger Mensch sei und ich mir lieber zehn Mal überlegen sollte, ob ich wirklich mit ihm zusammen sein wollte. Ich überlegte es mir zwanzig Mal und jedes Mal war die Antwort die Selbe: Ja! Dieses „Ja“ wurde schnell viel, viel größer, denn umso mehr ich Nathanael kennenlernte, umso mehr verliebte ich mich in ihn. Bereits nach dem zweiten Treffen waren es nicht mehr nur Augen, Lippen und Stimme, die ich anhimmelte, sondern es war die gesamte Person, in allem, was sie umfasste... und wenn es diese plumpen, relativ gefühlskalten Antworten waren, die er zu Anfang ein paar Mal gab. Nach unserem zweiten Telefongespräch war es dann völlig um mich geschehen. Ich hatte sein Herz gesehen, hatte seine Gefühle gespürt und wusste, dass es dieser Mann sein musste... Ihn, nur ihn wollte ich glücklich machen und zum Lachen bringen. Das sagte ich natürlich auch Marcel, vor dem ich nie wieder Geheimnisse haben wollte. Sein Blick traf mich besorgt. Nichts Gutes würde dabei herauskommen, waren seine Worte, doch er merkte schnell, dass mich dies nicht im Geringsten interessierte. So also ließ er es sein, mir von Nathanael abzuraten, sondern überlegte stattdessen mit mir, ob es nicht doch einen Weg geben könnte, auf dem ich mich ihm nähern könne… Schließlich kamen wir gemeinsam auf die Idee mit der Werkstatt… und ich dankte Marcel für seine Hilfe. Lächelnd nahm er mich in den Arm und sagte, dass er hoffe, dass ich bald mein Glück finden würde, ich hätte es verdient. Dass Nathanael mich drei Mal fast küsste, es dann aber im Endeffekt nie tat, war kaum auszuhalten. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, wusste nicht, an was ich war. Mochte er mich nur oder begehrte er mich? Ich wollte es herausfinden und als ich den Zettel vorfand, auf dem stand, dass er versucht habe, mich anzurufen, konnte ich nicht anders. Ich hatte gar nicht vorgehabt, ihn zu küssen, hatte lieber mit ihm reden wollen, auf diese Weise mehr über ihn und seine Gefühle erfahren wollen... doch es geschah, ehe ich es aufhalten konnte... und es war das beste, was ich je erlebt hatte. Doch wie so oft folgte dem Himmel die Hölle. Tagelang vergrub ich mich, ging nicht zur Uni und sprach mit niemandem. Auch Marcel erzählte ich nicht, was geschehen war, und er fragte schnell nicht mehr, wahrscheinlich weil er merkte, dass ich darüber nicht reden wollte – zumindest glaubte ich das. Ein paar Mal versuchte ich, Nathanael anzurufen, doch er nahm nie ab... und ich gab es auf, gab diese Liebe auf, die Gefühle. Schon wieder hatte ich nicht gefunden, wonach ich gesucht hatte. Als Marcel an diesem ganz besonderen Montag in mein Zimmer kam, nachdem ich Nathanaels Stimme im Flur gehört hatte, und mir, der ich in der Dunkelheit lag und schon wieder weinen wollte, sagte, dass ich in ein paar Minuten leise rauskommen solle, hätte ich ihn am liebsten angeschrien. Ich wollte ihm sagen, dass er sich nicht einmischen sollte... doch ich tat es nicht, vielleicht deshalb nicht, da er sich zu mir aufs Bett setzte, mich in den Arm nahm und mir ins Ohr flüsterte, dass er mir vor Jahren ein Versprechen gegeben hatte... nun würde er es einlösen. An all das erinnere ich mich, als wäre es gestern passiert, dabei sind mittlerweile über zwanzig Jahre vergangen. Ich höre noch Nathanaels Stimme von damals und weiß noch, wie ich ihn in die Arme schloss, wie er mich küsste und festhielt... wie sich damals unser beider Leben für immer veränderte und unwiderruflich miteinander verflocht. Und ich weiß noch, wie Marcel mich anlächelte und sanft sagte „Geschafft!“. ~ * ~ Ich lasse es zu, dass die Träne meine Wange hinab läuft. Eine weitere folgt und ich gehe in die Knie. Ich lege den Strauß gelber Orchideen nieder; seine Lieblingsblumen. Dann strecke ich meine zittrigen Finger nach dem Holzkreuz aus, welches nur als Übergangslösung hier steht. Ich weiß schon, was auf deinem Grabstein stehen wird, ich weiß es ganz genau... Sanft berühre ich die kleinen, schwarzen Buchstaben und die Zahlen. Wie konntest du mich bloß so früh alleine lassen? Ich senke den Kopf und spüre weitere Tränen. Ein paar davon tropfen hinab auf die Orchideen... und dann auf die kleine Figur, welche ich an meine Lippen halte und küsse. Ich weiß noch, wie Nathanael damals zu mir kam, nachdem er seine Vergangenheit beendet hatte. Er erzählte mir von dem Telefonat mit seinem Vater, von dem mit seinem Chef, in dem er gekündigt hatte, und er erzählte mir von seinen Plänen, noch einmal studieren zu gehen. Kunstgeschichte. Und dann nahm er meine Hände, küsste sie und legte etwas in sie hinein. Ich erkannte eine kleine Eidechse, die ich noch nie gesehen hatte, von der ich aber doch sofort wusste, was sie war. „Sie ist wunderschön“, lächelte ich. „Ja“, sagte er und umschloss meine Hände. „Ich habe sie überredet, mit mir auf Reisen zu gehen. Sie hatte ein bisschen Angst, aber sie wollte dich kennenlernen. Dann habe ich sie gefragt, ob sie fortan bei dir wohnen will, da ich sie dir gerne schenken würde, doch daraufhin hat sie protestiert...“ Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, öffnete meine Hände, strich über die steinige Haut. Dann hielt ich sie ihm hin... doch er schüttelte den Kopf. „Ich habe mir etwas anderes ausgedacht...“, sagte er und küsste mich auf die Narbe, die ich mir mit fünf Jahren beim Sturz gegen einen Stuhl geholt hatte. „Weißt du, ich fühle Zufriedenheit und Spaß, Unsicherheit und Herzraßen, Wärme und Ruhe weil du existierst, weil ich dich liebe... und da ich all das habe, brauche ich kein Glück mehr, denn ich habe es mit dir gefunden... also gehört sie dir. Und deshalb-“ „Aber sie will doch nicht alleine sein...“, unterbrach ich ihn unsicher und weil mir die Situation peinlich wurde. „Und deshalb“, betonte er, „deshalb würde ich gerne einen Platz mit dir zusammen suchen, an dem es ihr gefällt... Verstehst du, was ich sage?“ Schüchtern schüttelte ich den Kopf, woraufhin er lächelte und mich enger an sich zog. Seine Lippen fanden mein Ohr. „Ich will mit dir zusammenleben, Mel. Ich weiß, dass wir uns kaum kennen, aber ich bin mir sicher, dass es richtig ist… Also sieh Evi als einen Diamantring...“ Seine Finger strichen über meine hinweg, verschränkten sich mit ihnen, während ich mit Tränen in den Augen seiner sanften Stimme lauschte. „Evi?“, versuchte ich meine Nervosität unter Kontrolle zu bekommen. „Ja.“ Er küsste mein Ohr und zog mich noch näher. „Willst du es, Mel? Willst du mit mir zusammen bleiben?“ Ich küsse die Eidechse erneut auf ihre von meinen Händen gewärmte Haut. „Ich weiß noch, wie du gestrahlt und dich gefreut hast...“, blinzle ich dem Grabeskreuz unter Tränen entgegen. „Ich danke dir“, flüstere ich und beuge mich vor, lege die kleine Eidechse auf die frische Erde. „Ich danke dir, dass du mich glücklich gemacht hast.“ Ich greife nach der Hand, die sich auf meine Schulter gelegt hat, drücke sie fest, dann drehe ich mich herum, sinke in die Arme, die zu mir herunterkommen und mich festhalten, mich an sich drücken. „Ich kann das nicht“, keuche ich und klammere mich fester an die starken Arme. „Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll...“ „Ich bin bei dir.“, flüstert seine Stimme sanft an meinem Ohr, doch auch seine Trauer ist zu hören, über den Freund, den er verloren hat. Ich nicke und lasse mich in die Höhe ziehen. Er küsst mich aufs Haar, hält mich fest und ich danke innerlich jedem, dass mir diese Person geschenkt wurde. „Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun sollte...“ „Musst du auch nicht. Ich werde immer bei dir bleiben...“ Ich nicke, nehme mein Gesicht aus seinen Haaren und sehe ihm in die Augen. „Lass uns nach Hause gehen“, bitte ich. „Ja.“ Er versucht ein Lächeln und umfasst meine Hand mit seiner. Fest drücke ich sie und setze mich mit ihm in Bewegung. „Lean?“ „Ja?“ „Ich habe mir überlegt, was ich eingravieren lassen will...“ „Und was?“ Ich werfe nochmals einen Blick zurück zum frischen Grab und in meinen Gedanken malen sich die Worte, während ich die warme Hand, welche ich niemals loslassen werde, fester drücke. „Mein Leben hat mit dem Gedanken begonnen, dass es mich zwei Mal gibt. Du warst meine bessere Hälfte.“ ENDE „Bring mir dein Lachen bei“ 12. Mai 2008 – 08. Juni 2008 ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Deniere: Hiermit bezeichnet man analog zur Premiere die allerletzte Aufführung eines Stückes. Oft werden hierbei kleine Pannen oder Änderungen von den Schauspielern eingebaut. In dieser Geschichte stellt das Wort logischerweise einfach nur das Ende der Geschichte dar. Kommentar: Ein Epilog zeichnet sich meistens dadurch aus, dass er ein eindeutiges Ende darstellt und sich hierin von dem Rest der Geschichte unterscheidet – so auch in meinem Fall, als dass wir hier zum ersten Mal nicht in Nathanaels Gedanken eindringen, sondern in die von Melvin. Ich schreibe gerne Epiloge, da sie mir die Möglichkeit geben, kurz noch viele Gedanken, die ich hatte, einzubringen, oder die Geschichte zu einem passenden Ende zu leiten, ohne weitere, unzählige Parts zu schreiben. In diesem Fall bin ich sehr gespannt, was ihr von dem Ende haltet. Ich hoffe, dass ihr mich nun, da „Bring mir dein Lachen bei“ vorbei ist, nicht verflucht, sondern versteht, wieso ich die Geschichte so habe enden lassen. Und um dies ganz kurz mit meinen eigenen Worten zu sagen: Ich wollte die Wichtigkeit der Zwillingsbeziehung darstellen, wollte kurz das Leben der beiden beleuchten (da ich wohl nie wieder eine Geschichte mit Zwillingen schreiben werde *traurig bin*) und fühlbar machen, wie wichtig sie einander waren und wie wichtig Marcel für das Leben von Melvin und Nathanael war… Denn für mich war Marcel ein sehr wichtiger Teil dieser Geschichte, auch wenn dies zum Ende hin schwächer wurde, weshalb ich es passend fand, das Ende und diesen Epilog ihm zu widmen. Ich bin gespannt, wie ihr das seht. Fortsetzung-1: Ich wurde nicht nur ein Mal gefragt oder gebeten… und deshalb möchte ich nun darauf antworten. Es tut mir leid, viele von euch enttäuschen zu müssen, doch die Geschichte von Nathanael und Melvin hat an dieser Stelle ihr Ende gefunden. Ich werde keine weitere Geschichte über die beiden schreiben, denn es würde wie der lästige zweite Teil eines Filmes wirken. So sehr ich die beiden ins Herz geschlossen habe, an dieser Stelle werde ich euch überlassen, ihr weiteres Leben in Gedanken zu malen. Fortsetzung-2 - Tobias: Zum einen möchte ich an dieser Stelle eine Frage beantworten, die mir indirekt am Anfang der Geschichte gestellt wurde: Weshalb wirkt Tobias wie eine Nebenfigur? Dies liegt daran, weil die Geschichte Nates Sicht der Dinge widerspiegelt. Das heißt, man nimmt nur das wahr, was er wahrnimmt… man weiß nur, was er denkt, fühlt oder eben nicht fühlt… Und in gewisser Weise ist Tobias genau das für Nate gewesen, was er für die Geschichte war: eben eine Nebenfigur. Dies ist etwas, das mich in gewisser Weise schon während des Schreibens immer etwas traurig gestimmt hat – denn ob ihr es glaubt oder nicht: Ich mag Tobias. Er ist die tragische Figur dieser Geschichte, der undankbare Teil, dem in jeder Hinsicht zu wenig oder die falsche Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dies wollte ich ändern, von Anfang an, doch lange wusste ich nicht wie. Erst vor kurzem dann, wusste ich, wie es weitergehen kann. Und ich habe es geschrieben. Was das nun heißt? Es gibt sozusagen doch einen zweiten Teil zu „Bring mir dein Lachen bei“, doch es ist nicht die Geschichte von Nathanael oder Mel oder von Marcel… sondern es ist Tobias Geschichte. Es ist sein Leben danach… Naja, und ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn ihr einen kleinen Blick auf diese Geschichte werfen würdet^^ Zu tief, um loszulassen? > http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/13097/216386/596188/html/ Danke: Ich möchte mich an dieser Stelle für all die netten Kommentare bedanken, die ihr mir zu „Bring mir dein Lachen bei“ geschrieben habt! Sie haben mich sehr gefreut und auch die Kritik, welche ab und an enthalten war, kann mich nur weiterbringen. Es freut mich sehr, dass so viele von euch, mit Nathanael mitgelitten haben… und dass ihr ihn überhaupt so positiv aufgenommen habt, wo er doch ein so schwieriger Charakter ist. Noch mehr freut es mich, das Feedback erhalten zu haben, dass ich es geschafft habe, Nathanael für euch greifbar zu machen, denn Realismus ist mir immer das wichtigste, wenn ich schreibe. Ich danke euch dafür und hoffe sehr, dass ihr diese Geschichte ein klein wenig irgendwo im Hinterkopf behalten werdet… und dass sie euch vielleicht dazu anreizt, noch einer anderen Geschichte von mir, eure Aufmerksamkeit zu schenken. Auch für die ganzen Favoriteneinträge möchte ich danken, denn selbst wenn manche von euch sich nie zu Wort gemeldet haben, so zeigt es doch, dass Interesse an der Geschichte bestand. Vielen Dank für all das ^___^ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)