Die Blutfinke von Samantha (Wenn die Phantasie zur Waffe wird) ================================================================================ Überlegungen ------------ Die schmale Straße endete am Tor zu einem Friedhof. Marie-Louise blieb stehen und schaute um sich. Ihr Blick erhellte sich. Hier war ich ja schon öfters, fiel ihr auf. Sie erkannte die Bäume und die Grabreihen und wusste, dass es der Friedhof war, in dem ihre Vorfahren begraben lagen. Sie öffnete das gusseiserne Tor und trat ein. Sie blickte zum Jungen zurück und hielt ihm den Torflügel auf. Er folgte ihr. „Du machst mit mir ja ganz schön was mit“, gestand sie. „Allerdings verstehe ich nicht weshalb du mir nachläufst.“ Der Junge blickte sie an, und als ihre Augen seine trafen wandte er sich schüchtern ab. Seine kleinen Hände umklammerten sich den Block und den roten Kugelschreiber. Das Mädchen betrachtete den Jungen. Wie war es möglich, dass ihm seine Eltern allein im Haus liessen? Warum hatten sie nichts gesagt? Marie-Louise überlegte noch mal, ob sie nicht doch ein mögliches Schlupfloch im Haus übersehen hatte und der Junge war von außen eingedrungen und die Eltern hatten nichts damit zu tun. Ratlos wandte sie sich ab, sie hätte eben doch die Polizei benachrichtigen sollen, mahnte sie sich. Eigentlich könnte sie es noch immer tun. Aber wie könnte sie den Polizisten erklären, dass sie durch die Stadt geirrt war, mit grässlichem Halluzinationen im Kopf? Man würde sie für verrückt erklären! Am besten wäre es, den Junge den Eltern zu zeigen. Ich kenne mich hinten und vorne nicht aus, klagte sie zu sich. Ich hätte mich ganz anders verhalten sollen, aber ich wusste nicht, was tun. Sie strich sich durch die Haare. Was würden bloss die Eltern von ihr denken? Und was die Polizisten? Möglicherweise war der Junge in Gefahr und sie unternahm nichts um ihm zu helfen! Düsteres Grauen stieg in ihr hoch. Was war sie doch für ein Dummkopf! Wieso war es ihr nicht möglich gewesen, sofort auf den Jungen ein zugehen? Wenn jemand in Not ist, dann MUSS man doch helfen, egal ob man Lust dazu hat oder nicht! tadelte sie sich. Eine Verpflichtung wie so viele andere. Wer weiss, vielleicht sucht schon jemand verzweifelt noch dem Jungen! Aber... Warum trug er so schäbige Kleidung? Wäre er einer Familie davon gerannt, trüge er doch hübsche Kleidung, genau passend für ein Kind seines Alters, in niedlichen Mustern und Motiven, dazu Schuhe oder Pantoffeln, falls die Eltern wünschten, dass das Kind zu Hause Pantoffeln trägt um die Füsse gesund wachsen zu lassen. Natürlich wären auch die Haare sorgfältig frisiert und gewaschen. Marie-Louise drehte sich dem Junge zu. Sie deute auf ihrem Mund. „Verstehst du mich?“ Der Junge schaute sie ernst an. Sie deutete auf ihre Ohren. „Hörst du mich?“ Der Knabe reagierte nicht darauf. Er schaute zu ihr hoch, doch es gelang ihr nicht seinen Blick zu deuten. „Hast du Hunger?“ Sie deutete auf ihrem Bauch. Nichts. Die Schülerin seufzte. Er reagierte nicht. Verstand er ihre Sprache nicht? War er nicht nur stumm, sondern auch taub? Wenn er taubstumm ist, überlegte sie, warum kann er nicht die Zeichensprache? Weshalb unternahm er nichts, um sich verständlich zu machen? Doch... Die Zeichnungen! Sie deutete auf seinen Block. „Malst du mir etwas?“ Er zuckte zusammen und wich zurück. „He, ich nehme dir doch nichts weg. Ich möchte nur, dass du mir etwas zeichnest. Das hast du doch vorher schon gemacht.“ Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: „Zeig mir doch, was du gemacht hast.“ Er blickte sie trotzig an und bewegte sich nicht. „Komm schon“, sie ging vorsichtig auf ihm zu. Er ging rückwärts von ihr weg. Sie beugte sich vor,„Warte doch!“ Ein Satz und er sprang hinter ein Grab und lief in die Dunkelheit. Marie-Louise sah wie er darin verschwand. Sie richtete sich auf. Auch das noch. Jetzt ist er weg, ärgerte sie sich. Was nun? Wenn ihm etwas zustösst? Sie ging durch die Grabreihen, stolperte ab und zu an eine steinerne Umfassung der Gräber, dass ihr die Zehen schmerzten, hinkend tastete sie sich von Grab zu Grab weiter. Ihre Augen streiften durch die Dunkelheit, ihre Ohren lauschten in die Stille. Eine sanfte Brise säuselte durch die Äste der großen Bäume, ein kleines Tierchen huschte im Schein einer Straßenlampe an den Gräbern vorbei. Ringsum schliefen die Häuser der Morgendämmerung entgegen. Im Zwielicht ragten die Kreuze, Engel und Stelen grotesk in die Kühle. Doch vom Jungen konnte sie aber nichts erkennen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)