Der Weihnachtscrash von Alaska ================================================================================ Kapitel 1: Der Weihnachtscrash ------------------------------ Der Weihnachtscrash „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter..“ tönte es begeistert vom Rücksitz. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel, um Noah dabei zu beobachten, wie er vertieft in seine Musikkassette, die er in dem alten Walkman schon den ganzen Tag rauf und runter spielte, aus dem Fenster schaute und den dicken Schneeflocken zuschaute. Ich grinste amüsiert über die kindliche Unbeschwertheit, die mir schon seit dem Frühstück an den Nerven zehrte, denn nach dem hundertsten Mal - und es waren wirklich hundert, ich hatte mitgezählt – wurde Oh Tannenbaum doch ein klein wenig anstrengend. Aber wie ein guter Vater es nun einmal tat, ertrug ich auch das hundertunderste Mal tapfer und lenkte dabei den Wagen auf das Parkdeck des Einkaufszentrums. Es war geradezu verrückt vier Tage vor Weihnachten zu glauben, man könne noch eine freie Lücke ergattern. Ich musste geschlagene zehn Minuten umherkurven, bis ich endlich einen Parkplatz fand und ärgerte mich dann tierisch über einen anderen Autofahrer, der wohl den gleichen Gedanken gehabt hatte, aber zu langsam gewesen war und mich nun laut hupend darauf aufmerksam machte, wie unverschämt ich doch war, ihm den Platz wegzuschnappen. Aus Rücksicht auf meinen Sohn bemühte ich nicht meinen Mittelfinger, sondern machte mich lieber daran, Noah aus seinem Kindersitz zu friemeln, wobei dieser mir natürlich nicht im geringsten half. Schließlich gelang es mir doch den Gurt zu lösen und meinen Sohn aus dem Auto zu bugsieren ohne den Nachbarwagen zu beschädigen. Und selbst wenn, wäre es mir in dem Moment egal gewesen, ich wollte einfach nur ins Einkaufszentrum und unsere letzten Weihnachtseinkäufe tätigen, die ich leider nicht hatte früher erledigen können. „Papa, können wir noch mal in das Spielzeuggeschäft, in dem ich diesen tollen ferngesteuerten Panzer gesehen habe?“ fragte mich Noah nicht ohne Hintergedanken, denn er wies mich bereits seit einigen Wochen daraufhin, wie cool dieser Panzer war und meinte wohl, mich noch ein letztes Mal davon überzeugen zu müssen. „Mein lieber Sohn..“ begann ich und Noah wusste bereits, dass dies der Eingang zu einem kleinen Vortrag wurde und verdrehte die Augen. „Du weißt, was ich von Kriegsspielzeug halte. Ich glaube nicht, dass es für Kinder geeignet ist und du...“ „Ich will ihn ja gar nicht mehr!“ warf er mir motzig entgegen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich unterdrückte ein Grinsen und nickte nach außen hin ernst. „Dann ist ja gut. Aber wir können gern noch einmal in den Laden gehen, wenn du magst.“ „Nein, mag ich nicht.“ Damit bestand mir ein anstrengender Einkauf bevor, denn wenn Noah einmal eingeschnappt war, konnte man ihn erst wieder mit Süßigkeiten oder Spielzeug zum Reden bringen, wenn man nicht die nächsten drei Stunden angeschwiegen werden wollte. Da ich solche Erziehungsmethoden jedoch nicht vertrat, musste ich mit patzigen Antworten oder völliger Ignoranz Vorlieb nehmen. Doch noch bevor ich die Autotür zugeschlagen hatte, war seine Laune auch schon verflogen, denn er schien etwas hoch Interessantes im Nebenauto entdeckt zu haben. Fasziniert drückte er seine kleine Nase an der Scheibe platt und klopfte dagegen, was ich in der nächsten Sekunde unterband. „Was machst du denn da? Du kannst doch nicht einfach so gegen fremde Autos hauen.“ „Aber ich wollte, dass der Hund mich ansieht!“ verteidigte er sich und pochte noch einmal. „Welcher Hund?“ Unbedacht beugte ich mich vor und sah mich auf einmal einem riesigen zottigen Kopf gegenüber mit kleinen schwarzen Augen und Ohren, die man nicht vom Fell unterscheiden konnte. Mit einem gewissen Ekel nahm ich wahr, wie ein Sabberfaden von den Lefzen troff. „Reizendes Kalb.“ bemerkte ich sarkastisch, was Noah natürlich nicht verstand und mich aufklärte, dass das auf keinen Fall ein Kalb sein konnte. Er hatte schließlich in einem seiner Bücher mal eines gesehen und das sah völlig anders aus. Ich ließ es so dahingestellt und ergriff seine Hand. „Wie dem auch sei, wir gehen jetzt einkaufen. Wir haben keine Zeit uns diesen Hund länger anzuschauen.“ „Ach menno.“ maulte mein Sohn und verfiel wieder in leichtes Schmollen. Wir fuhren mit der Rolltreppe vom Parkdeck nach unten und holten einen Einkaufswagen, mit dem wir uns in das Getümmel stürzten. Um ihn wenigstens etwas zu besänftigen, erlaubte ich Noah zu schieben und konnte mich so gänzlich auf meine Liste konzentrieren. Während ich nach Milch, Eiern und Butter suchte, amte Noah Michael Schuhmacher nach und gefährdete die andere Kunden hemmungslos mit unserem Einkaufswagen. Dank der dabei produzierten kindlichen Version eines röhrenden Motors wusste ich wenigstens immer, wo er war. „Noah, steuer mal die Kühlboxen an und versuche dabei bitte so wenig andere Wagen zu rammen, wie möglich.“ mahnte ich vorsichtshalber und wühlte mich dann durch die Tiefkühlenten. Es gehörte zu unserer Weihnachtstradition, dass wir immer einen Enten- oder Gänsebraten mit Rotkohl und Klößen aßen, egal ob es nur wir zwei waren oder die ganze Familie. Meine Oma hatte es mir so beigebracht und ich war nicht gewillt mit dieser Tradition zu brechen, schließlich hatte sie mich durch mein ganzes Leben begleitet. Dieses Jahr war ich allerdings bereit, sie leicht abzuändern und lediglich zwei Entenkeulen zu kaufen, damit wir nicht die ganzen Weihnachtstage an dem Geflügel aßen. Ich bemitleidete alle Menschen, die am Heilig Abend mit Kartoffelsalat und Würstchen abgespeist wurden, weil sie an den Weihnachtstagen zu ihrer Familie fahren mussten und sich deshalb keine Mühe machen wollten, da sie ja dort dann durchgefüttert wurden. Fisch war ebenfalls keine Alternative für mich und Noah hätte ihn wahrscheinlich auch gar nicht angerührt. Er hatte eine Aversion gegen Gräten und aß nur Fischstäbchen oder Thunfisch aus der Dose. „Papa, schau mal!“ rief Noah und machte mich auf ein halsbrecherisches Kunststück aufmerksam, das er gerade mit dem Wagen veranstaltete. „Das ist ja ganz toll, Schatz, aber geh bitte trotzdem von der Stange runter, sonst kippst du mit dem ganzen Teil noch um. Komm doch mal her und hilf mir bei der Auswahl.“ Das Motorengeräusch unseres Einkaufswagens ertönte erneut und Noah steuerte mit Volldampf auf mich zu, wobei er sich auf den letzten Metern auf die untere Trittstange stellte. Ich blickte gerade noch rechtzeitig von meiner erneuten Inspektion auf, um zu sehen, wie mein Sohn samt unseres Einkaufswagens volle Breitseite in die Hüfte eines Mannes knallte, der gerade aus einem Quergang gekommen war. Natürlich hatte Noah nicht mehr abbremsen können, da seine Füße ja nicht einmal den Boden berührten. Der Mann gab einen gedämpften Schmerzenslaut von sich und ich eilte verärgert auf die ganze Szene zu. „Noah, ich hatte dir gerade gesagt, du sollst dich nicht auf die Stange stellen!“ tadelte ich ihn, wandte mich aber gleich an das Unfallopfer, da der Verursacher betreten zu Boden schaute. Das alles war mir furchtbar unangenehm. „Es tut mir wirklich leid. Haben sie sich weh getan?“ An dem schmerzverzerrten Gesicht las ich bereits die Antwort ab. „Ich müsste aus Stahl sein, wenn ich mir dabei nicht weh getan hätte.“ gab der Mann sarkastisch zurück und rieb sich über die Hüfte. Dann musterte er kurz mich und danach Noah, der sich gar nicht traute, ihn anzusehen. Wenigstens hatte er genug Anstand, Reue zu zeigen, der Schlingel! „Nun ja, es ist ja nichts passiert und mein Hüftgelenk ist auch heil geblieben.“ Er musste meinen entsetzten Ausdruck gesehen haben, denn er lachte leise auf und winkte ab. „Ein Scherz. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Ich war tatsächlich erleichtert und hatte nun Gelegenheit mein Gegenüber einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Er war einen halben Kopf größer als ich und seine Schultern waren breiter. Obwohl man bereits einige silbrige Fäden in seinem schwarzen Haar erkennen konnte, schätzte ich ihn auf keinen Tag älter als vierzig. Auf eine komische Art erinnerte mich das an George Clooney, obwohl sie sich nicht im geringsten ähnlich sahen. Er hatte schön geschwungene Lippen, die an beiden Winkeln durch kleine Fältchen zu einem ständigen kleinen Schmunzeln gebracht wurden. Die gerade große Nase war markant und gefiel mir, da sie zu ihm passte und nicht einen Millimeter kleiner hätte sein dürfen. Aber am meisten zogen mich seine Augen in ihren Bann, die von einem winterlichen Blau waren, aber nicht dessen Kälte besaßen. Auch sie schienen ständig zu lachen durch kleine Falten in den Augenwinkeln. Ich merkte, dass ich begann zu starren und wandte mich schnell Noah zu. „Hast du nicht auch etwas zu sagen, junger Mann?“ So streng ich konnte blickte ich auf meinen Sohn herab, der ein leises „Tschuldigung.“ murmelte. „Schon gut, Kleiner. Ist ja nichts passiert. Ich heiße Mel und du?“ Ich konnte den Kampf in Noahs Gesicht sehen, als ob er abwägte, was für Konsequenzen die Preisgebung seines Namens haben würde. Schließlich entschied er sich wohl dafür, dass sie nicht so ernst sein konnten. „Mein Name ist Noah. Und das ist mein Papa.“ Sehr höfliches Kind, grinste ich in mich hinein. Dann streckte ich Mel meine Hand entgegen. „Nicholas Winter.“ „Mel Birnbacher. Freut mich.“ Sein Händedruck war kräftig und eine Sekunde zu lang. Unsere Augen trafen sich und ich fragte mich, ob es etwas zu bedeuten hatte. Man sagte ja allgemein, Schwule hätten ein inneres Radar für ihresgleichen, aber mir ging dieses leider völlig ab. Vielleicht lag es daran, dass ich so lange mit meiner Ex-Frau zusammengelebt hatte, so dass es verkümmert war. „Kann ich diesen Unfall vielleicht mit einem Kaffee wieder gut machen?“ Denn ich fühlte mich immer noch schuldig, weil ich nicht aufgepasst hatte. Doch Mel schien die ganze Sache schon vergessen zu haben, denn er lächelte – wirklich umwerfend, wie ich bemerken musste – freundlich und wuschelte Noah über das Haar, was dieser normalerweise hasste, aber auch er schien fasziniert von dem anderen Mann zu sein, weshalb sein Protest ausblieb. „Bei zwei so hoffnungsvollen Gesichtern kann ich wohl nicht nein sagen. Aber jetzt habe ich leider keine Zeit. Wie wäre es Samstag?“ Zwei Tage vor Weihnachten war in unserem Haushalt eigentlich am meisten los, aber ich wollte den Vorschlag nicht ablehnen und so nickte ich. „Das klingt gut.“ „Können wir zu meiner Lieblingseisdiele gehen?“ wollte Noah begeistert wissen und zupfte an meiner Jacke. „Ich weiß nicht, ob Herr Birnbacher um diese Jahreszeit gern Eis isst, Schatz.“ „Aber die haben doch auch ganz leckere Waffeln!“ protestierte Noah und bekam gleich Unterstützung. „Ich liebe Waffeln und es wäre mir eine Ehre, wenn du mir deine Lieblingseisdiele zeigst.“ Ich musste lächeln und atmete innerlich auf. Nicht alle Menschen gingen so selbstverständlich auf ein Kind ein – vor allem wenn es sie gerade noch über den Haufen gefahren hatte – sondern sprachen eher über dessen Kopf hinweg. Aber Mel tat das nicht. Er beugte sich sogar zu Noah herunter und ich konnte gar nicht anders als begeistert sein. Natürlich machte ich mir keine Hoffnungen, obwohl ein Blick in seinen Wagen mir eine Schachtel Kartoffelsalat und eine Dose Würstchen zeigte und ich deshalb annahm, dass er Single war. Aber sein ganzes Auftreten schrie nach Hetero und ich wollte mir diese neue Bekanntschaft nicht durch dumme Schwärmereien kaputt machen. „Kennen Sie die Eisdiele ‚Jack Frost’ in der Nähe des Stadtparks? Sie liegt...“ „Natürlich! Das ist auch meine Lieblingseisdiele.“ unterbrach mich Mel vergnügt und zwinkerte Noah zu. „Sie liegt ganz in der Nähe von meiner Wohnung.“ „Echt? Wir wohnen auch nicht weit davon weg, deshalb gehen wir im Sommer oft da hin.“ strahlte Noah und freute sich sichtlich darüber einen Mitstreiter in der Eisfraktion gefunden zu haben, da ich nicht besonderen Gefallen daran fand. „Dann ist ja alles geklärt. Ich will Sie auch nicht länger bei ihrem Einkauf stören. Also am Samstag, sagen wir um drei, bei Jack Frost?“ Ich stimmte zu und wir verabschiedeten uns mit einem Händedruck, der mir Gänsehaut machte. Ich schob es auf die Tiefkühltruhen. „So, nun hilf mir mal bei der Auswahl.“ Obwohl ich nur zwei Entenkeulen hatte kaufen wollen, wurde es nun ein ganzes Federvieh. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht benennen konnte, hatte ich das Gefühl, wir sollten dieses Jahr eine ganze Ente kaufen und letztendlich machte es keinen Unterschied. Noah suchte ein besonders großes Exemplar heraus und legte es ächzend in den Wagen. „Gut, dann jetzt auf zum Rotkohl.“ Nachdem wir alle Einkäufe erledigt und noch einen kurzen Abstecher in den Spielwarenladen gemacht hatten, trugen wir unsere schweren Tüten zum Auto zurück. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, wer daneben stand und gerade seinerseits an dem dunkelgrünen Kombi hantierte. „So sieht man sich wieder.“ machte ich Mel auf uns aufmerksam und grinste. „Wir haben vorhin schon den Hund bewundert.“ „Ja! Der ist ganz große klasse! Darf ich ihn mal streicheln?“ Noah stellte sich dicht an die Heckscheibe und sah hinein. Das schwarze Ungetüm lag immer noch ruhig da und beobachtete seinen Besitzer, wie dieser die Einkäufe auf der Rückbank verstaute. „Hallo, ihr beiden.“ Mel schlug schwungvoll die Seitentür zu. „Ist das euer Auto?“ wollte er wissen und nickte auf unseren roten Golf. „Ja, kann ich ihn jetzt streicheln?“ drängte Noah ungeduldig und beobachtete mit Spannung, wie Mel den Kofferraum aufschloss und der Hund sich erhob. „Bleib.“ gab der schwarzhaarige Mann ein kurzes Kommando und machte mit der Hand ein Zeichen, das das Kalb zum Liegen brachte. „Das ist Samson, aber ich nenne ihn eigentlich immer Sonny. Du darfst ihn gern streicheln, aber nicht so hektisch. Komm her.“ Ich sah fasziniert zu, wie dieser gutmütige Mann meinem Sohn erklärte, wie er sich dem Hund nähern sollte und ihm dann auch noch verriet, wo Samson besonders gern gestreichelt wurde. Ich presste die Lippen fest zusammen, als der große rosa Waschlappen über Noahs Hand leckte, sagte aber nichts. Ich durfte nicht vergessen, ihn Zuhause sofort ins Bad zu schicken. „Er ist ganz lieb, siehst du? Weißt du, was das für eine Rasse ist?“ fragte Mel gerade und erhielt ein Kopfschütteln. Noah konnte seine Augen gar nicht von dem riesigen Tier nehmen. „Das ist ein Neufundländer. Die werden bei der Wasserrettung eingesetzt, weil sie so gern schwimmen und ihr Fell so dick ist, dass ihnen selbst eiskaltes Wasser nichts ausmacht.“ „Wow!“ war Noahs Kommentar und ich wusste schon jetzt, was nun ganz oben auf seinem Wunschzettel stand. „Von so einem Hund will ich auch einmal gerettet werden.“ Bevor er noch auf dumme Ideen kam, räusperte ich mich und öffnete die hintere Tür. „Wir wollen doch nicht hoffen, dass du dich deshalb in den nächsten See wirfst, nicht wahr? Sonst müssen deine Weihnachtsgeschenke dieses Jahr vergeblich auf dich warten, weil du mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus liegst.“ Mels Lachen schickte mir ein angenehmes Prickeln über den Rücken, das meine Nackenhaare sich aufrichten ließ. „Wenn du möchtest, kannst du gern einmal mit uns spazieren gehen. Wir sind oft im Stadtpark unterwegs.“ „Echt? Darf ich, Papa? Bitte!“ „Wir werden sehen. Jetzt steig erst einmal ein, wir müssen noch einen Baum kaufen und Herr Birnbacher möchte bestimmt auch los.“ „Nennen Sie mich doch einfach Mel. Birnbacher ist nicht unbedingt der schönste Name.“ Die Lachfältchen um seine Augen vertieften sich, genauso wie mein Bauchkribbeln. „Gut, dann bin ich Nicholas. Wir müssen jetzt aber wirklich los, Noah.“ Unwilliges Gebrummel folgte, aber er kletterte zum Glück ohne großes Theater auf seinen Sitz. „Bis Samstag, Mel! Tschüß Sonny!“ winkte er überschwänglich, während ich die Tür zuknallte. Wir verabschiedeten uns zum zweiten Mal und Mel ließ mich zuerst aus der Parklücke fahren. Ich winkte noch einmal kurz und fuhr dann Richtung Ausgang. Kurz nach dem Frühstück am Samstag begann mein Sohn damit mir den letzten Nerv zu rauben. Noah freute sich sehr auf den Nachmittag und das Treffen mit Mel – obwohl ich vermutete, dass die Eisdiele dabei keine geringe Rolle spielte. Wie ein kleiner Flummi sprang er um mich herum und stellte immer die gleichen Fragen: „Wann gehen wir los? Können wir schon eher gehen, damit wir ihn auch nicht verpassen? Wie spät ist es?“ „Noah, es ist halb zwölf! Ich glaube nicht, dass es Sinn hat, wenn wir über drei Stunden früher zum Treffpunkt gehen.“ „Können wir eine Stunde früher gehen?“ „Warum? Dir wird doch beim Warten immer nur langweilig.“ hielt ich stur dagegen und fuhr in meiner Arbeit fort frische Kerzen im Wohnzimmer aufzustellen. Wie wahrscheinlich bei jeder Familie, stieg deren Verbrauch bei uns im Dezember massiv, so dass ich eine große Vorratspackung Teelichter gekauft hatte und diverse dicke rote Kerzen, die Noah abends gern anzündete, weil sie nach Zimt dufteten. „Glaubst du, Mel bringt seinen Hund mit?“ wollte der Knirps aufgeregt wissen und hielt mir die nächste Kerze entgegen. „Ich weiß es nicht, Schatz. Sei nicht enttäuscht, wenn er es nicht tut. Was hältst du denn davon, wenn du ihm ein Bild malst? Du hast dich zwar entschuldigt, aber er würde sich darüber bestimmt freuen.“ schlug ich vor, als die letzte Kerze aufgestellt war. Noah malte sehr gern und ich hatte bereits ein ganzes Album voller Zeichnungen von ihm. Begeistert von der Idee fegte er in sein Zimmer davon. So hatte ich Zeit den Tannenbaum aufzustellen, der noch draußen auf dem Balkon wartete. Wir wollten ihn morgen schmücken und danach Kekse backen, wie jedes Weihnachten. Als es endlich Zeit war aufzubrechen, stopfte ich Noah in seine warme Winterjacke, Schal und Mütze und schnürte ihm seine Schuhe zu, da er es noch nicht allein konnte. Auf dem Weg zu der Eisdiele begann es zu schneien. Es war kalt genug, dass der Schnee liegen blieb und wenn die dicken Flocken weiterhin so fielen, würde es tatsächlich weiße Weihnachten geben. Aber je näher wir unserem Ziel kamen, desto aufgeregter wurde auch ich innerlich. Ich hatte schon Zuhause festgestellt, dass ich mich auf dieses Treffen mit Mel freute. Obwohl wir uns noch nicht lange kannten, mochte ich ihn, denn seine warmen freundlichen Augen jagten Schauer über meinen Rücken und das hatte schon lange kein Mann mehr geschafft. Natürlich waren meine Bekanntschaften bis jetzt nicht besonders zahlreich gewesen, denn es gab nicht allzu viele Schwule, die sich auf einen Partner mit Kind einlassen wollten. Ich seufzte hörbar auf und trat einen kleinen Stein vor mir her. Noah lief vor und fing Schneeflocken. Es war wirklich verdammt lange her, seit ich mich das letzte Mal verliebt oder zumindest den Anflug dieses Gefühls verspürt hatte. All diese Anzeichen von den Schmetterlingen im Bauch bis zu den Ameisen unter der Haut, wenn betreffende Person einen berührte, fehlten mir. Wie jedes Jahr wurde die Sehnsucht nach diesen Gefühlen größer um diese Zeit und wenn ich Noah nicht hätte, würde ich wohl ein sehr einsames Weihnachtsfest verbringen. Meine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte und ich glaubte, die Stimme sogar zu kennen. „Papa, da ist Mel!“ rief Noah freudig und deutete hinter mich. Ich drehte mich um und lächelte unwillkürlich, als Mel auf uns zugelaufen kam. Er hatte einen langen dunkelbraunen Mantel an und einen dicken weißen Schal um den Hals. Es stand ihm und unterstrich seine natürliche, elegante Ausstrahlung. „Hallo, ihr beiden. Ich habe euch von weitem gesehen und wollte nicht den ganzen Weg still hinter euch herlaufen.“ Er reichte mir die Rechte und ich ergriff sie gern. Mir fiel auf, dass er ganz warme Hände hatte, obwohl er keine Handschuhe trug. Meine waren dagegen eisig kalt. Ich hätte sie gern noch länger an ihm gewärmt, aber ich sah ein, dass das seltsam ausgesehen hätte, also löste ich mich wieder. „Das ist ja ein Zufall, dass Sie den gleichen Weg haben. Wohnen Sie auch auf dieser Seite des Parks?“ „Ja, aber wollen wir uns nicht duzen? Ich weiß, ich sehe zwar aus, wie ein alter Mann, aber ich mag es persönlicher lieber. Oder stört es dich?“ Mel zog die dichten Brauen ein Stück hoch und ich musste grinsen. „Nein, es macht mir nichts aus. Mir ist es auch lieber.“ So konnte ich mir wenigstens einbilden, ihm näher zu sein. Moment, seit wann war die Rede von nahe sein wollen?, fragte ich mich und schüttelte den Kopf. Ich durfte mich nicht von der weihnachtlichen Stimmung zu sehr mitreißen lassen. Gemeinsam setzten wir unseren Weg zu der Eisdiele fort und unterhielten uns über Belanglosigkeiten. Aber ich merkte schnell, dass ich Mel gern zuhörte, weil seine Stimme so tief und beruhigend war. Man konnte bestimmt sehr gut davon in den Schlaf gesummt werden. Das Eiscafé war voll, doch wir ergatterten noch einen Tisch ganz hinten in einer lauschigen Ecke. Ich half Noah aus seiner Jacke und las ihm dann die Karte vor. „Ich will eine heiße Schokolade und eine Waffel mit Vanilleeis. Und du, Mel?“ Er rückte näher an den Mann und sah in dessen Karte, als könne er dort die Bestellung ablesen. „Ich denke, ich werde eine Tasse Tee nehmen.“ „Und keine Waffel? Die sind hier wirklich gut.“ Solange man kein Eis darauf matschte, wie es mein Sohn gern tat. „Oh, na ja, wenn du es mir so empfiehlst. Dann nehme ich noch eine Waffel mit Puderzucker.“ Er zwinkerte mir zu und ich spürte, wie ich leicht errötete. Flirtete er etwa? Nein, das konnte nicht sein. Ich war ziemlich sicher, dass Mel nicht schwul war. Als die Kellnerin kam, bestellte ich und wandte mich dann meiner Bekanntschaft zu. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, fiel mir Noah dazwischen. „Wo ist Sonny? Warum hast du ihn nicht mitgebracht?“ Mel lächelte und lehnte sich auf der Sitzbank zurück. „Sonny ist etwas groß für so ein kleines Café und er würde nur im Weg herumliegen. Deshalb habe ich ihn Zuhause gelassen.“ Er musste Noahs Enttäuschung gesehen haben, denn er fügte hinzu: „Aber wenn dein Papa es erlaubt, steht das Angebot mit dem Spaziergang noch. Sonny freut sich immer über jemanden, der mit ihm herumtollt.“ Bevor mein Sohn mich auch nur fragen konnte, antwortete ich schon: „Ja, du darfst.“ „Ja! Kann ich gleich morgen zu dir kommen?“ „Noah, denk daran, dass nicht jeder einen Tag vor Weihnachten noch Zeit dafür hat.“ „Ach, Sonny muss ja sowieso jeden Tag raus und ich habe nichts mehr vor. Noah kann gern mitkommen, aber nur unter der Bedingung, dass du uns begleitest.“ Erneut dieses Flattern, das mir einmal über den ganzen Körper strich. „Nun gut. Aber sag mal, wenn du so einen großen Hund hast, musst du dich doch auch viel mit ihm beschäftigen, oder? Lässt dein Beruf das zu?“ „Ja, ich arbeite von Zuhause aus. Ich schreibe eine kleine Kolumne für eine Zeitung. Das ist hauptsächlich Recherchearbeit und Beantwortung von Fragen, da bleibt genug Freiraum. Und was tust du?“ „Ich bin Webdesigner. Also kann ich auch viel von Daheim arbeiten. Das ist auch besser wegen Noah, so kann ich ihn morgens zum Kindergarten bringen und nachmittags wieder abholen.“ Erstaunt zog Mel die Augenbrauen hoch und blickte zu Noah, der sich zu langweilen begann. „Du gehst noch in den Kindergarten? Ich dachte, du wärst mindestens schon in der ersten Klasse, so groß wie du bist.“ Sichtlich geschmeichelt davon grinste Noah von einem Ohr zum anderen. „Nein, ich bin doch erst vier. Aber bald werde ich fünf und dann darf ich in die Schule gehen.“ Mel stellte noch weitere Fragen zu Noahs Interessen, Berufswünschen und Hobbys, die ich mit innerlicher Begeisterung verfolgte. Dieser Mann beschäftigte sich tatsächlich ehrlich und aufmerksam mit meinem Sohn, obwohl dieser ihm garantiert einen großen blauen Fleck eingebracht hatte und er ihn erst so kurz kannte. Ich war von diesem Gespräch völlig ausgeschlossen und störte mich nicht im geringsten daran. Als die Kellnerin unsere Bestellungen brachte, schob ich die Tasse mit der Schokolade gleich von Noah weg, da sie noch zu heiß war und er sich garantiert sein Mäulchen verbrannt hätte. Das schien ihm aber reichlich gleichgültig, denn er stürzte sich mit leuchtenden Augen auf seine Waffel mit Vanilleeis, die die Unterhaltung mit Mel beendete und mir nun Gelegenheit gab. „Die sehen tatsächlich sehr lecker aus.“ Mel musterte das Gebäck und lächelte mich dann an. Ich konnte gar nicht anders, als eine kesse Bemerkung zu machen. „Hast du etwa an meiner Urteilskraft gezweifelt? Wir sind hier schließlich fast jede Woche!“ Ich nahm meine Gabel und trennte ein Stück ab, tauchte es in die Schokosoße und verspeiste es demonstrativ genüsslich. Dabei fiel mir auf, wie intensiv mich Mels Blicke verfolgten und ich zog fragen die Brauen hoch. Er lächelte verlegen und konzentrierte sich auf seine Waffel. Statt mit der Gabel zu essen, nahm er sie gleich in die Hand und biss ab. Dabei musste ja etwas von dem Puderzucker heruntergepustet werden. Jedes Mal ermahnte ich Noah zur Vorsicht, aber das konnte ich ja schlecht bei einem ausgewachsenen Mann tun. Dafür reagierte ich ganz automatisch, als Mel des kleinen Malheurs gewahr wurde. „Mist, das passiert mir immer wieder.“ murmelte er, aber da war ich auch schon mit meiner Serviette zur Stelle und fegte vorsichtig den Zuckerstaub ab. Ich bemerkte zu spät, wie nahe wir uns dabei kamen und wie albern das erscheinen musste. Als hätte Mel mich gebissen, riss ich meine Hand zurück und sah ihn erschrocken an. Ob er meinen donnernden Herzschlag hörte? „Entschuldige, das kam ganz von selbst.“ Ich warf Noah einen schnellen Blick zu, aber der war so sehr mit seiner Waffel beschäftigt, dass er alles andere ausblendete. „Wie lange lebst du schon allein?“ fragte mich Mel plötzlich und ich wurde noch röter, als ich es sowieso schon sein musste. „Merkt man es so deutlich?“ „Ja.“ Er sagte es mit einem sanften Lachen in der Stimme und ich kam mir nicht mehr ganz so dämlich vor. „Euch scheint eine Frau im Haushalt zu fehlen.“ „Meine Ex-Frau und ich haben uns vor fünf Jahren scheiden lassen. Kurz nach Noahs Geburt. Sie lebt aus beruflichen Gründen in Amerika.“ Ich sah auf und Mel in die Augen, sie waren blau wie ein dämmriger Winterhimmel. Er erwiderte den Blick, auch noch als er seine Teetasse zum Mund führte und trank. Ich schluckte gleichzeitig mit ihm, wenn auch aus einem anderen Grund. „Und du hast das Sorgerecht? Ist das nicht ungewöhnlich? Normalerweise bekommt doch die Frau das Kind zugesprochen.“ nahm er das Thema wieder auf und erlöste mich aus meiner Starre. Verdammt, ich musste wirklich aufpassen. Ich war viel zu offensichtlich. „Sie wollte nie Kinder haben. Das war einer der großen Streitpunkte in unserer Ehe. Lisa ist eine Vollblutkarrierefrau und das wollte sie für Noah nicht aufgeben. Er war ein Unfall. Wir haben uns lange gestritten, auch über das Thema Abtreibung, bis ich ihr den Vorschlag machte, dass ich das Kind großziehen würde und sie sich um nichts kümmern musste. Damit konnte sie leben.“ Ich sah Noah an und bei dem Gedanken, ihn einfach hätte wegmachen lassen, krampfte sich mein Magen zusammen. Ich konnte dem Drang, ihm über den Kopf zu streichen nicht widerstehen. „Hm?“ machte er und trennte sich kurz von seinem Eis. Ich schob ihm die etwas abgekühlte Schokolade zu und er lächelte dankbar. „Ich weiß, das klingt herzlos, aber Lisa ist kein schlechter Mensch. Es gehörte einfach nicht in ihre Lebensplanung hinein und es war ja nicht der einzige Grund, warum unsere Ehe zerbrochen ist. Da gab es noch...“ Ich zögerte und überlegte, ob ich es wagen und Mel gestehen sollte, dass ich mich mehr zu meinem Geschlecht hingezogen fühlte. Unsere Blicke trafen sich und mich verließ der Mut. Ich mochte ihn, aber ich konnte seine Reaktion darauf nicht einschätzen, deshalb beendete ich den Satz ziemlich lahm mit: „andere Probleme.“ „Ja, es gibt selten nur einen Grund, warum man nicht mehr miteinander auskommt.“ Der Ton in seiner Stimme ließ mich aufhorchen und ich beobachtete ihn misstrauisch, als er sich ein Stück Waffel in den Mund schob, dieses Mal mit der Gabel. „Und wie ist es bei dir? Wie lange bist du schon Single?“ fragte ich ganz direkt und hielt den Atem an. „Meine Beziehung ging vor etwa einem Jahr in die Brüche.“ Es entstand eine unangenehme Pause, denn offensichtlich war das alles, was Mel dazu sagen wollte. Zum Glück war es nicht schwer ein neues Thema zu finden, denn er interessierte sich für viele Dinge, die ich auch mochte. Wir stellten fest, dass wir den gleichen Musikgeschmack hatten und nicht viel auf Fertiggerichte gaben. Ich hatte das Gefühl, es wäre schon ewig her, seit ich mich das letzte Mal mit einem Erwachsenen unterhalten hatte. Die traurige Wahrheit war nun einmal, dass ich bei meinem Beruf meist über das Internet kommunizierte und ansonsten mit Noah zusammen war. Nachdem wir unsere Waffeln aufgegessen, ausgetrunken und bezahlt hatten, machten wir noch einen kleinen Spaziergang im Park, der in einer wilden Schneeballschlacht endete, die überraschenderweise Mel begann. Hinterher lagen wir alle drei lachend im Schnee und keuchten schwer. „Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht.“ schnaufte Mel und stand auf, um sich den Schnee vom Mantel zu klopfen und mir dann hilfsbereit eine Hand zu reichen. Ich nahm sie ausgesprochen gerne an und ließ mich hochziehen. Hätte ich mich nicht selbst gebremst, wäre ich direkt in seinen Armen gelandet. Verdammt. So etwas durfte ich nicht denken! „Ich glaube, ich muss jetzt langsam nach Hause. Samson wartet bestimmt schon auf mich und will raus.“ „Können wir mit ihm spazieren gehen, Papa?“ fragte Noah sofort und sah mich mit seinem besten Bettelblick an. Doch ich musterte nur einmal seine nassen Hosen, die geröteten Wangen und feuchten Haare, die unter der Mütze hervorlugten und schüttelte dann den Kopf. „Nein, heute nicht mehr. Es wird schon dunkel und du erkältest dich noch in deinem Zustand, wenn du noch länger draußen bleibst.“ Sichtlich enttäuscht ließ mein Sohn den Kopf hängen, der in der nächsten Sekunde wieder hochschnellte. „Können wir dann morgen gehen? Mel könnte doch mit uns Kekse backen, oder?“ Er drehte sich um und sah zu dem Mann auf. „Magst du zu uns kommen und Kekse backen?“ Ich sagte bewusst noch nichts dazu, da ich erst seine Reaktion abwarten wollte. Würde er auch nur das geringste Anzeichen von Ablehnung zeigen, würde ich sofort einspringen. „Nun ja...“ Mel zögerte und ich öffnete bereits den Mund. „Ich weiß ja nicht, ob dein Papa vielleicht noch andere Dinge zu tun hat so kurz vor Weihnachten.“ Er zog fragend die dichten Brauen hoch und mir sprang das Herz in der Brust. „Nein, ich würde mich freuen.“ sagte ich ganz ehrlich und ballte die Hände in meiner Jackentasche zusammen, um meiner Freude wenigstens etwas Luft zu machen. „Wie wäre es dann, wenn wir uns erst zum Spazieren gehen hier im Park treffen und anschließend bei euch Kekse backen?“ „Jaaa! Und ich darf Sonny an der Leine führen, ja?“ Noah sprang um uns herum, wie ein junges Känguru. „Natürlich, darfst du.“ lächelte Mel und zwinkerte mir zu. Mir wurde plötzlich ganz warm in meiner Jacke. Wir verabredeten einen Zeit- und Treffpunkt und trennten uns dann. Auf dem Rückweg wurde mir dann wieder kalt, denn ich wurde mir meiner durchnässten Kleidung bewusst. „Was hältst du von einem schönen Bad, wenn wir Daheim sind?“ fragte ich Noah, der begeistert zustimmte. Ich war überzeugt, dass mich diese Art der Beschäftigung von den Gedanken an Mel ablenkte und das hatte ich auch mehr als nötig. Der Sonntag begann für mich sehr früh, da mein lieber Sohn meinte, er müsse seine Vorfreude auf das Treffen mit Mel teilen. Ich konnte ihn dazu überreden, noch ein wenig in meinem Bett liegen zu bleiben, so dass ich wenigstens noch etwas dösen konnte. Um acht war der Spaß dann aber wirklich vorbei und wir standen auf und frühstückten gemütlich. Danach sorgte ich in der Wohnung noch etwas für Ordnung, wies Noah an sein Zimmer etwas aufzuräumen und bereitete alles für das Backen vor. Um zwölf brachen wir dann in den Park auf und trafen auf Mel und Samson. Ich war dem Hund noch immer misstrauisch gegenüber, obwohl dieser die Liebenswürdigkeit in Person zu sein schien. Deshalb war ich auch in der ersten Zeit etwas angespannt und beobachtete Noah und den Neufundländer genau, die beide freudig vor uns her tobten. Wie leicht konnte dieses zottelige Kalb den Jungen unter sich begraben und ihn ganz unabsichtlich erdrücken? Mel musste meine Gedankengänge erraten haben, denn er schmunzelte leicht und sagte beiläufig: „Ich habe ihn heute schon gefüttert, deswegen brauchst du dir also keine Sorgen zu machen.“ Das brachte mich ebenfalls zum Lachen und ich schaute schuldbewusst zu ihm auf. „Tut mir leid. Ich denke nur die ganze Zeit daran, wie diese haarige Fleischlawine über meinen Sohn rollt und ihn unter sich begräbt.“ „Sonny ist sanft mit Kindern, er nimmt sehr auf sie Rücksicht.“ versuchte er mich zu beruhigen, aber ich bezweifelte, dass ein Hund das Wort ‚Rücksicht’ überhaupt kannte. „Soll ich ihn nachher zu mir bringen, bevor wir zu euch gehen? Ich möchte nicht, dass du die ganze Zeit so angespannt bist.“ „Nein, nicht nötig. Es ist nicht so, dass ich Hunde nicht mag, es ist nur...deiner ist besonders groß und nach diesem Spaziergang wohl auch ziemlich dreckig und nass.“ Ich verzog den Mund, als ich daran dachte, wie Samson mit seinen vom Matsch dreckigen Pfoten über unseren beigen Wohnzimmerteppich tapste. „Keine Sorge, ich reibe ihn vorher gut ab. Siehst du?“ Er öffnete den Reißverschluss seiner Umhängetasche und zeigte mir ein dickes Handtuch. „In diesem Zustand kommt er bei mir auch nicht in die Wohnung.“ Das erleichterte mich etwas und es freute mich, dass Mel Rücksicht nahm und Verständnis hatte. Es gab Hundebesitzer, die auf solch eine Bemerkung hin eher eingeschnappt gewesen wären. Aber dieser Mann war einfach ruhig und gelassen wie immer. „Papa, guck mal!“ schrie Noah auf einmal und ich schreckte leicht zusammen. „Wenn ich den Stock werfe, holt ihn Sonny zurück!“ brüllte er uns über die Wiese zu und warf einen Ast, der so dick war, wie sein eigener Unterarm. Der Neufundländer trabte gemütlich hinterher und nahm ihn auf, brachte ihn aber nicht zu Noah zurück, sondern lief weiter, was meinem Sohn natürlich nicht gefiel. Er nahm sofort die Verfolgung auf. „Die beiden verstehen sich offensichtlich gut.“ bemerkte Mel grinsend. Ich musterte ihn von der Seite, während er Noah und Sonny beobachtete. Seine Nase war von der Kälte rot angelaufen und seine Augen erinnerten mich an einen zugefrorenen See, dessen Wasser man durch die Eisschicht sehen konnte. „Er ist ein lieber Junge.“ Diese schlichte Aussage rührte mich irgendwie. Natürlich wusste man als Vater, dass das eigene Kind etwas ganz Besonderes war und es gab kein lieberes, aber von einem praktisch Fremden solch ein Kompliment zu bekommen, war etwas anderes. „Glaubst du, er vermisst seine Mutter?“ Mels Stimme war völlig ruhig und ich merkte, dass er selbst darüber nachdachte, denn sein Gesicht war ernst und der Blick leicht abwesend. Dann sah er mich an und verzog den Mundwinkel leicht nach oben. Ich schaute schnell weg, damit er mich nicht beim Starren erwischte und seufzte leise. „Ich weiß nicht, ob er seine Mutter vermisst. Aber ich denke, er vermisst eine zweite Person, mit der er reden kann. Wenn wir uns mal streiten, kann er nicht zu jemand anderem gehen und sich über mich beschweren.“ Ich grinste, obwohl ich es ernst meinte. Noah war ein lieber Junge und öffnete sich gern anderen Menschen, aber in manchen Situationen schien er mir bedrückt. Vor allem wenn wir auf dem Spielplatz waren und er andere Kinder mit ihren Eltern sah. Ich hatte ihn einmal gefragt, ob es ihm etwas ausmache, dass er nur mich habe und er hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt: ‚Nein, Papa, weil du der beste Papa auf der Welt bist.’ Trotzdem wäre er sicherlich glücklicher, wenn ich endlich jemanden fand, der zu uns passte. Es tat gut einmal mit einem Erwachsenen darüber reden zu können und Mel war auch noch besonders feinfühlig, was das betraf. Er spendete mir unbewusst ein wenig Trost, als ich ihm von meinen Sorgen berichtete. „Und was ist mit dir? Vermisst du eine zweite Person?“ Diese Frage kam unvorbereitet und brachte mich aus dem Takt. Ich senkte verwirrt den Blick und ärgerte mich im Stillen darüber, dass ich wieder rot wurde. Warum schnitt er auch immer solche Themen an, bei denen ich sofort an ihn denken musste, obwohl ich es eigentlich nicht wollte. „Wer hätte nicht gern einen Partner? Seit Noahs Geburt hatte ich nun keine Beziehung mehr und er ist jetzt vier. Und zu Weihnachten wird es immer ganz besonders schwer, obwohl mich seine leuchtenden Augen unter dem Tannenbaum für alle Einsamkeit entschädigen. Es ist ja nicht so, dass er mich von anderen Menschen fern hält, aber es gibt viele, die sich nicht solch einer Verantwortung stellen wollen, zumindest nicht, wenn es nicht das leibliche Kind ist.“ „Ich dachte immer, Frauen würden einen ganz natürlichen Mutterinstinkt entwickeln, wenn sie mit Kindern zu tun haben. Und in unserem Alter ist der Kinderwunsch doch für gewöhnlich groß.“ Ich biss mir fest auf die Unterlippe, um keine unvorsichtige Bemerkung über den Mutterinstinkt eines Mannes zu machen und brummte nur eine vage Zustimmung. „Willst du denn Kinder?“ „Ich hätte gern welche, aber mittlerweile bin ich wohl zu alt und einen alleinstehenden Mann lässt man kein Kind adoptieren.“ Es hörte sich fast schon traurig an, wie er das sagte und ich stellte mir vor, wie Mel wohl als Vater wäre. Allein wie er mit Noah umging, war schon toll, wie wäre es erst mit eigenem Nachwuchs? „Du wärst bestimmt ein toller Vater.“ Ich konnte sehen, dass ihm dieses Kompliment etwas bedeutete, denn die Falten um seine Augen vertieften sich und dieser ganz besonders warme Ausdruck spiegelte sich in dem Blau wider.„Danke.“ Danach liefen wir lange Zeit schweigend nebeneinander her und genossen die friedliche Atmosphäre. Kurz überkam mich das Bedürfnis seine Hand zu ergreifen und meine an ihr zu wärmen, aber natürlich tat ich es nicht. Wie versprochen rubbelte Mel seinen Hund erst gründlich ab, bevor er ihn in unsere Wohnung ließ, obwohl ich trotzdem kritisch die dicken Fellflusen musterte, die sich lösten, als Sonny sich kratzte. Nun ja, die konnte man auch wegsaugen, damit wollte ich mich jetzt nicht beschäftigen. „Möchtest du auch eine warme Schokolade? Ich mache Noah und mir zum Backen immer eine.“ Im Inneren überlegte ich schnell, ob ich genügend Milch eingekauft hatte, damit es auch noch zum Backen reichte. Mel hängte seinen Mantel auf und streifte die Schuhe ab. Ordentlich stellte er sie auf den Lappen, den ich für unsere nassen Schuhe ausgebreitet hatte, und stand dann in Socken und einem wirklich niedlich bunten Pullover vor mir, der durch seine schwarze Stoffhose nur noch betont wurde. Kleine Weihnachtselfen tollten mit Rentieren über eine Landschaft aus Schnee. Fürchterlich kitschig, aber an Weihnachten liebte ich solche Pullover. Ich besaß selbst ein oder zwei solcher Stücke, die mir Noah – von meinem Geld – gekauft hatte. „Ja, gern. Kann ich dir helfen?“ „Nein, das geht ganz schnell.“ Noah tauchte aus dem Kinderzimmer auf und packte Mel an der Hand. „Willst du mal mein Zimmer sehen?“ Ich dachte an das Chaos, beschloss aber nichts zu sagen. Denn Mel hatte sowieso keine andere Möglichkeit, als meinem Sohn zu folgen. „Genau, spielt ihr Jungen etwas und ich bereite uns etwas zu trinken.“ rief ich lachend hinterher und ging in die Küche. Nachdem ich Milch aufgewärmt, den Kakao in die Tassen gefüllt und ihn aufgegossen hatte, ging ich in Noahs Zimmer und blieb dort überrascht in der Tür stehen. Mein Sohn sowie Mel saßen beide auf dem Boden und spielten mit Lego. Das Bild war so niedlich, dass ich gar nicht stören wollte, doch in dem Augenblick schaute Mel auf und lächelte freundlich. „Na? Möchtest du mitspielen?“ Ich war so beeindruckt von diesem liebevollen Verhalten, dass ich nur den Kopf schüttelte. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen und hätte mich bei ihm bedankt, dass er Noah nicht nur als fünftes Rad am Wagen sah. Diese Erfahrung hatte ich auch schon einmal machen müssen. „Der...der Kakao ist fertig. In der Küche.“ brachte ich noch ganz aufgelöst zustande und verließ dann schnell das Zimmer in diese Richtung. Nun war doch das eingetreten, was ich die ganze Zeit hatte verhindern wollen. Bei dem Anblick von Mel, wie er so selbstverständlich mit Noah spielte, hatte ich mich endgültig in ihn verliebt. „Mist..“ murmelte ich vor mich hin und stützte mich auf der Arbeitsplatte ab. „So hatte das alles nicht laufen sollen!“ Jetzt konnte ich mich unmöglich normal in seiner Gegenwart benehmen, weil ich ständig daran denken musste, dass nie mehr aus dieser Freundschaft werden würde. „Noah möchte lieber mit Samson spielen als Kekse backen.“ riss mich Mel aus meinen Gedanken. Er war unvermittelt direkt hinter mir aufgetaucht und ich bildete mir ein, seine Körperwärme an meinem Rücken zu spüren. „Das sieht ihm ähnlich. Und wir haben die Arbeit.“ In meinen Ohren klang meine Stimme viel zu hoch. „Nun, ich würde es nicht als Arbeit bezeichnen. Es macht doch auch Spaß, oder? Nick?“ Es irritierte ihn wohl, dass ich noch immer mit dem Rücken zu ihm stand. Aber wenn ich ihm jetzt in die Augen sah, musste er einfach erkennen, was ich für ihn empfand. „Tut mir leid...“ Es blieb still hinter mir, offensichtlich schien er nicht zu wissen, wofür ich mich gerade entschuldigte. Warum musste morgen auch Weihnachten sein? Nun fühlte ich mich nur noch miserabler. „Schon gut.“ sagte er leise und legte mir eine Hand auf die Schulter. Er spürte, dass es hierbei um etwas anderes ging, als Kekse backen. Vielleicht war es mein Glück, dass er nicht den eigentlichen Grund kannte. Ich holte einmal tief Luft und drängte alle warmen, aufgewühlten Gefühle in den letzten Winkel meines Bewusstseins zurück. Hier würden sie Weihnachten und die Zeit danach überwintern, bis ich mich mit ihnen beschäftigen konnte. Entschlossen wandte ich mich Mel zu und lächelte übertrieben glücklich. „Dann wollen wir uns doch mal ans Backen machen.“ Seine Augen waren dunkler als ich sie in Erinnerung hatte, aber auch er lächelte und nickte. Entgegen meiner Erwartung, nun eine eher gedrückte Atmosphäre geschaffen zu haben, tauten wir beide schnell wieder auf und unterhielten uns angeregt über die verschiedensten Themen. Ich bereitete den Teig zu und anschließend stachen wir gemeinsam die Formen aus. Nachdem die Kekse im Herd untergebracht waren, nahmen wir die Tassen mit dem mittlerweile abgekühlten Kakao mit ins Wohnzimmer, wo Noah neben Sonny auf dem Boden lag und ihm ein Bilderbuch zeigte. Ich musste Mel angrinsen, der das Bild ebenfalls niedlich zu finden schien, denn er legte einen Finger auf die Lippen und deutete mir so leise zu sein. Zusammen standen wir in der Tür und beobachteten die Beiden, wie sie auf ihre eigene Weise miteinander kommunizierten. Fast hätte ich mich gegen Mel gelehnt, denn das Gefühl von einer richtigen Familie stieg in mir auf und ich bekam Sehnsucht nach jemandem zum Anschmiegen. „Du hast deinen Kakao gar nicht getrunken, Schatz.“ unterbrach ich deshalb schnell meine Gedanken und ging auf Noah zu, um ihm die Tasse zu geben. „Ich habe Sonny mein Lieblingsbuch gezeigt, Papa. Ihm gefällt es.“ berichtete mir mein Sohn stolz und kletterte auf meinen Schoß, nachdem ich mich auf die Couch gesetzt hatte. „Liest du es uns vor? Sonny will die Geschichte auch hören.“ „Nun, ich weiß nicht...“ Fragend sah ich zu Mel, der sich mir gegenüber in den Sessel gesetzt hatte und entspannt schmunzelte. „Lass dich von mir nicht abhalten. Ich möchte die Geschichte auch hören.“ Das warme Gefühl in meiner Brust stellte sich unwillkommen wieder ein und ich drückte Noah dichter gegen mich. „Also gut, dann hört zu...“ Ich begann zu lesen und versank schnell in meiner gewohnten Art die verschiedenen Stimmen der Figuren nachzustellen. Noah warf hin und wieder einen Kommentar ein oder kicherte, wenn ich ihn leicht kitzelte und neckte. Die Geschichte war nicht sehr lang, aber ich merkte, wie wir alle etwas schläfrig wurden. Nachdem ich geendet hatte, waren Noahs Augen zugefallen und er schlummerte gegen meine Schulter gelehnt. Vorsichtig legte ich das Buch beiseite und sah Mel an, der abwesend lächelte. „Das war schön.“ sagte er mit gesenkter Stimme, obwohl ich nicht glaubte, dass er das Buch meinte. „Er mag es, wenn ich ihm vorlese. Wir liegen so jeden Abend im Bett.“ „Ja, das würde ich auch mögen.“ Ich horchte auf, aber Mel sah mich nicht an, sondern musterte den Tannenbaum. „Der ist noch recht kahl, oder?“ „Ja, wir wollten ihn nach dem Plätzchen backen schmücken, aber ich muss es wohl allein machen, wie es aussieht.“ Ich legte Noah sacht auf das Sofa und deckte ihn zu. Er würde ein Weilchen schlafen. „Kann ich dir helfen? Ich habe eigentlich nie einen Weihnachtsbaum, wenn ich allein bin, weil ich es für eine Person Verschwendung finde. Dabei schmücke ich ihn sehr gern.“ Mel stand ebenfalls auf und kam zu mir herüber. Ich holte die Schachteln mit dem Schmuck aus dem Schlafzimmer und überreichte sie ihm. „Dann will ich dir diesen Spaß doch nicht vorenthalten. Ich mache uns noch etwas Musik.“ Während ich eine WeihnachtsCD von Bing Crosby einlegte, begann Mel damit die Lichterkette auszupacken und anzubringen. Er ging dabei sehr sorgsam vor und überprüfte immer wieder den richtigen Sitz der künstlichen Kerzen, damit auch nirgends eine Lücke entstand. Wir arbeiteten schweigend zu Winter Wonderland, Frosty The Snowman und Have yourself a merry little christmas. Dann waren die letzten Kugeln, Strohsterne und Kettchen angebracht und wir musterten zufrieden unser Werk. „Und jetzt..“ Ich krabbelte hinter den Baum und stöpselte den Stecker für die Kerzen in die Steckdose. Die Lichter glühten auf und tauchten alles in ein schummriges Flackern. Mel löschte die Deckenstrahler und wir standen einige Sekunden ehrfürchtig vor dem erleuchteten Baum. „Jetzt ist wirklich Weihnachten.“ Zusammen mit dem Plätzchengeruch, der begann durch die Wohnung zu ziehen, der sanften Musik und den dicken Schneeflocken, die vor dem Fenster fielen, war es der perfekte Einstieg in ein schönes Fest. Ich sah Mel glücklich an und bemerkte den leicht angespannten Zug um seinen Mund. Er biss die Zähne zusammen und starrte blicklos auf den Baum. Gefiel er ihm nicht? Oder fand er das alles zu kitschig? Ich war normalerweise auch kein Mensch, der dem Kitsch großartig zugetan war, aber an Weihnachten machte ich eine Ausnahme. Schließlich war es das Fest der Liebe und der Familie. Dann ging mir auf, was Mel stören musste. Ich zeigte ihm gerade all das, was er morgen vermutlich nicht haben würde. Laut eigener Aussage hatte er keinen Weihnachtsbaum, würde Würstchen und Kartoffelsalat essen und allein vor dem Fernseher sitzen. Das war ein furchtbar trostloses und einsames Weihnachtsfest! Egal, wie aufdringlich es vielleicht wirkte, aber ich konnte mich nicht zurückhalten. Meine Zunge entdeckte ihre Unabhängigkeit in diesem Moment und verselbstständigte sich, bevor ich auch nur noch einmal darüber nachdenken konnte. „Möchtest du mit uns Weihnachten feiern?“ Ich hielt die Luft an und versuchte möglichst entspannt zu wirken. Mel drehte sich mit überraschter Miene zu mir und zog eine Braue hoch. „Also, falls du noch nichts anderes vorhast!“ setzte ich schnell hinzu, damit es nicht klang, als würde ich ihn nur aus Mitleid einladen. Im Gegenteil hätte ich ihn wirklich gern dabei. „Du musst dir auch keine Gedanken um das Essen machen, wir haben genug, ich habe eine ganze Ente gekauft und-“ „Gern.“ unterbrach er mich schlicht und ich konnte etwas in seinen Augen aufflammen sehen, das mir sagte, es war richtig gewesen ihn zu fragen. Danach sprachen wir nicht mehr, weil es irgendwie überflüssig war. Wir genossen den Anblick des Baumes, die Musik und die Anwesenheit des anderen. „Papa? Du hast ja den Baum schon geschmückt.“ kam es dann plötzlich verschlafen vom Sofa und ich zuckte leicht zusammen. Noah hatte ich ganz vergessen. „Ja, du hast geschlafen und da hat mir Mel geholfen.“ Kurz überlegte mein Sohn, ob er das gut heißen sollte, entschied sich dann dafür und stand auf, um sich alles näher anzuschauen. „Er ist hübsch.“ lobte er und fasste uns beide an den Händen. Mich durchfuhr ein scharfer Schmerz, denn das wirkte alles zu vertraut, wie bei einer richtigen Familie. Dabei waren wir es nicht und ich durfte mich darauf auch nicht einlassen. Mel war ein Freund – ein heterosexueller Freund – der mit uns Weihnachten feierte, mehr nicht! „Ich habe Mel für morgen eingeladen.“ „Wirklich? Das ist toll! Bringst du Sonny auch mit?“ wollte Noah gleich wissen und wir beide mussten lachen. Da zeigte sich ganz klar, wo die Prioritäten meines Sohnes lagen. „Ja, es wäre doch unfair, wenn er an Weihnachten allein sein müsste, oder?“ Wie auf ein Zeichen erhob sich der große Hund aus seiner Ecke und kam träge zu uns herüber. Brav setzte er sich neben sein Herrchen und japste einmal auf, als wolle er seiner Freude ebenfalls Ausdruck verleihen. Wir mussten alle lachen und Noah umarmte das zottelige Kalb überschwänglich, was sich dieses gefallen ließ. Durch diese friedliche Szene schrillte plötzlich die Eieruhr und wir schraken alle zusammen. „Die Kekse sind fertig.“ bemerkte ich überflüssigerweise und eilte in die Küche. Mir schlug ein schwerer süßer Duft entgegen, der mich von innen aufwärmte. Mit einem Handschuh bewaffnet, holte ich das Tablett aus dem Ofen und schüttete die Kekse behutsam auf einen Teller zum Abkühlen. Zwei Naschkatzen erschienen in der Tür und schnupperten verzückt nach dem Gebäck. „Sie sind noch heiß, also Pfoten weg.“ Zwei enttäuschte Gesichter, die sich dann aber spitzbübisch anblitzten. Da hatten sich ganz offensichtlich zwei gefunden. Wir ließen den Nachmittag mit frischen Keksen und heißem Kakao ausklingen. Als Mel sich verabschiedete, blieb er noch kurz unschlüssig vor der Tür stehen und schaute mich an, als wolle er noch etwas sagen. Dann machte er einen Schritt vor und umarmte mich ein wenig unbeholfen, wie es Menschen tun, wenn sie nicht wissen, ob ihr Gegenüber das überhaupt mag. Ich konnte mich gar nicht rühren, so überrascht war ich. Mein Herz setzte zu einem wilden Galopp an und ich hob zittrig die Arme, um sie um Mels Rücken zu legen. „Danke für die Einladung. Ich freue mich wirklich schon sehr auf morgen.“ murmelte er in mein Ohr und seine Lippen berührten es dabei leicht, so dass von dort aus kleine Schauer durch meinen Körper rieselten. Ich wollte nicht, dass diese Umarmung endete und schloss kurz die Augen. Wenn es doch immer so sein könnte! Aber so schnell wie es passiert war, war es auch schon wieder vorbei. Mel winkte noch kurz und ging mit Sonny im Schlepptau die Treppen hinunter. Ich verharrte noch einige Minuten an der Tür und starrte auf die Stelle, wo er eben noch gestanden hatte. „Papa? Was ist denn? Es wird kalt in der Wohnung.“ riss mich Noah aus meinen Träumereien und zog mich an der Hand zurück, so dass er die Tür schließen konnte. „Was ist denn los?“ wollte er missmutig wissen, weil ich ihn immer noch ignorierte. Meine Augen richteten sich sehr langsam auf ihn und ich lächelte. „Ich habe gerade mein Weihnachtsgeschenk bekommen.“ „Papa, schau mal, was ich für Mel gemalt habe. Du hast doch gesagt, ich soll ihm ein Bild malen.“ Noah tapste mir geduldig hinterher, während ich in der Küche rotierte. Seit acht Uhr morgens fegte ich wie ein aufgescheuchtes Wiesel durch unsere Wohnung, um alles für den großen Abend vorzubereiten. Im Moment rieb ich die Ente kräftig mit Salz und Pfeffer ein, stopfte sie mit Äpfeln und Zwiebeln aus und verschnürte sie nach bestem Vermögen. „Schatz, ich kann grad nicht. Sobald der Braten im Herd ist, schau ich es mir an, in Ordnung? Aber jetzt muss ich das hier erst einmal erledigen, sonst wird es nicht fertig bis Mel kommt.“ Beleidigt zog Noah von dannen, denn er war gewohnt, dass ich sein künstlerisches Talent sofort lobte. Doch heute war ich einfach zu aufgeregt. Alles sollte schön werden, damit Mel sich wohl fühlte und wir gemeinsam ein wunderbares Fest feiern konnten. Das hing für mich enorm vom Garzustand meiner Ente ab. Für die nächsten vier Stunden würde ich mich väterlich um sie kümmern und ihr zu einer knusprigen braunen Haut verhelfen. Um drei wollte Mel kommen und ich musste mich vorher noch fein für die Kirche machen. Nachdem ich schließlich den Vogel im Bräter untergebracht hatte, wischte ich mir schnell die Hände an meiner Schürze ab und suchte Noah, der im Wohnzimmer mit dem Einpacken seines Geschenks beschäftigt war. „Wolltest du es mir nicht noch zeigen? Jetzt kann ich es ja gar nicht mehr anschauen.“ „Du wolltest es vorhin nicht sehen! Jetzt ist es eingepackt!“ Ganz offensichtlich war Noah leicht verstimmt über meine Ignoranz. Ich gab ihm schnell einen Kuss auf die Stirn, lobte seine Fingerfertigkeit beim Zuknoten des Geschenkbandes und huschte gleich weiter zum Esstisch, um diesen festlich zu decken. Auf diese Weise ging es den gesamten Mittag zu, bis ich um halb zwei endlich mit den Vorbereitungen fertig war und noch kurz unter die Dusche springen konnte, bevor Mel ankam. Ich rasierte mich ordentlich, legte etwas Aftershave auf und wählte dann im Schlafzimmer meinen besten Anzug aus. „Noah, kommst du einmal bitte her? Du musst mir meine Krawatte aussuchen.“ Das war ebenfalls eine Tradition bei uns und egal, wie furchtbar sie auch sein mochte, ich würde die von meinem Sohn ausgewählte Krawatte tragen. Eiliges Trappeln kündigte Noahs Erscheinen an und er sprang mit einem Juchzen aufs Bett. „Aufmachen! Aufmachen!“ rief er begeistert und hüpfte auf und ab. Folgsam öffnete ich die Schranktür, in der meine Krawattensammlung hing und trat beiseite, damit er sie sehen konnte. Mit großen konzentrierten Augen krabbelte mein Sohn näher und schaute sich alle genau an. Dann zeigte er zielsicher auf eine rote und ich wunderte mich über diese für seine Verhältnisse recht konventionelle Wahl. „Die schlichte Rote, ja? Bist du sicher?“ Zu meinem schwarzen Anzug mit dem weißen Hemd passte eigentlich alles, deshalb machte es mir nie viel aus, wenn er eine knallbunte Krawatte im Hawai-Look aussuchte, aber diese Schlichtheit war ungewöhnlich. „Und warum diese? Verrätst du mir das?“ Noah grinste mich breit an und begann wieder auf meinem Bett zu hüpfen, was er ausschließlich an Weihnachten durfte. „Ja. Mel hat mir gesagt, dass seine Lieblingsfarbe rot ist.“ Erstaunt glotzte ich meinen Sohn mit offenem Mund an. Damit hatte ich nun nicht gerechnet. Mein Herz schlug plötzlich ganz aufgeregt und ich musste mich kurz setzen. Es hatte mich ganz offensichtlich schlimmer erwischt, als ich gedacht hatte. „Du magst Mel sehr, oder?“ Noah hörte auf zu springen und sah mich neugierig an. Dann kam er wie eine Katze angekrochen und schmiegte seinen Kopf gegen meine Schulter. „Ja, Mel ist lieb und er spielt mit mir. Und er mag dich.“ „Er mag mich?“ krächzte ich und musste meine Gedanken bremsen, nicht in falsche Richtungen davon zu galoppieren. „Ja, das hat er mir gesagt. Er hat gesagt, du bist ein toller Mann und dass er dich sehr gern hat.“ Die kindliche Art, in der er mir diese Nachricht verkündete, machte es für mich noch schwerer meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Was hatte das zu bedeuten? Hatte Noah einfach etwas falsch verstanden? War der Wortlaut anders gewesen, so dass es für meine Ohren nun klang, als stecke mehr dahinter? Oder war Mel womöglich...? Nein! Das ganz bestimmt nicht! „Warum bist du denn so rot, Papa? Hast du Fieber?“ Fürsorglich und in der Weise, wie ich es tat, wenn er krank war, legte er seine Stirn gegen meine und schaute mir dabei tief in die Augen. Das brachte mich zum Lachen, so dass sich meine innere Anspannung etwas lösen konnte. Natürlich gingen mir die Worte meines Sohnes nicht mehr aus dem Kopf, aber es gelang mir, sie weiter zurückzudrängen. „Na, komm. Mel ist bald da und du bist noch gar nicht umgezogen.“ Ich stand auf und band mir die Krawatte. „Muss ich wirklich die blöde Hose anziehen?“ jammerte Noah und sah mir missmutig zu. „Es ist doch nur für die Kirche, danach kannst du wieder deine normalen Sachen anziehen, hm?“ „Ziehst du auch wieder den bunten Pullover mit dem Weihnachtsmannschlitten an?“ Mein Spiegelbild grinste mir entgegen. „Natürlich.“ Es spielte keine geringe Rolle, dass dieses Kleidungsstück vornehmlich rot war und mir ausgezeichnet stand. Punkt drei Uhr klingelte es an der Wohnungstür und Noah rannte sofort hin, um unsere Gäste zu begrüßen. Sonny war bereits sauber gemacht worden, so dass mein Sohn ihn gleich nach einer kurzen Begrüßung von Mel mit in sein Zimmer schleifen konnte. „Hallo.“ grüßte ich mit dünner Stimme und schluckte. Mel sah wirklich umwerfend aus in seiner schwarzen Cordhose, dem beigen Rollkragenpullover und dem dunkelbraunen Sakko. Sehr elegant und geschmackvoll. „Fröhliche Weihnachten!“ verkündete Mel überschwänglich und wirkte auf mich sehr glücklich. Mit einem breiten Grinsen drückte er mir eine Auflaufform in die Hand. „Das muss in den Kühlschrank. Tiramisu. Ich wollte nicht mit leeren Händen kommen.“ Ich war noch ganz verdutzt und sah die Schale an, als hätte ich so ein Gebilde noch nie gesehen. „Das ist wirklich nett von dir. Ich hatte für Noah Pudding gekauft, aber das ist natürlich noch besser! Komm doch rein.“ Ich trat beiseite, so dass er endlich die Wohnung betreten konnte. Dabei bemerkte ich die große Tüte, die er vom Boden aufhob. „Soll ich dir etwas abnehmen?“ Ich nickte auf das Plastik, bekam aber ein schnelles Kopfschütteln zur Antwort. „Nein, nein, aber es wäre nett, wenn ich das vielleicht in dein Schlafzimmer stellen könnte.“ Das verwirrte mich, doch ich zeigte ihm die entsprechende Tür und eilte dann schnell in die Küche, um das Tiramisu im Kühlschrank unterzubringen. „Hier riecht es fantastisch! Ist das der Entenbraten?“ Mel stand in der Tür, als ich mich umdrehte. „Ja, er ist fertig, wir müssen ihn nachher nur noch einmal aufwärmen. Möchtest du etwas trinken? Ich habe Adventstee aufgebrüht. Oder lieber Kaffee?“ Ich hatte mir vorsorglich von meiner Nachbarin ein wenig geliehen, weil ich selbst keinen trank. „Nein, danke, Tee ist prima. Ich mag Kaffee nicht.“ Noch eine Gemeinsamkeit, über die ich mich freuen konnte. Wir setzten uns mit dem Tee ins Wohnzimmer und bekamen bald Gesellschaft von Noah und Sonny. Die Zeit bis zur Kirche verging für meinen Geschmack zu schnell. Ich genoss Mels Nähe viel zu sehr, als dass ich mich gleich wieder davon trennen wollte. Der Gottesdienst war schön und Noah war ganz fasziniert von dem Krippenspiel, das die anderen Kinder vortrugen. Er saß auf Mels Schoß und reckte den Hals, wie eine dieser Schlangenhalsschildkröten. Danach spazierten wir betont langsam nach Hause, was meinen Sohn furchtbar ärgerte, denn er wollte endlich mit der Bescherung beginnen. Aufgeregt zog er abwechselnd an Mels und meinem Arm und trieb uns zur Eile an, was nur bewirkte, dass wir Erwachsenen noch langsamer gingen. In der Wohnung begrüßte uns ein schwanzwedelnder Samson und ich befürchtete irgendwo in eine Katastrophe. Entweder hatte er die Ente gefressen, den Tisch abgedeckt oder die Sofakissen nach bester Frau-Holle-Manier zerrissen und den Inhalt überall verteilt. Nichts von alle dem war eingetreten und ich ließ einen neckenden Kommentar über seine Erziehung fallen, die Mel sofort aufgriff und sie mir auf Noah bezogen zurückgab. Wie jedes Jahr schickte ich Noah in sein Zimmer, während ich seine Geschenke unter dem Baum aufbaute. Mel half mir dabei. Danach stellte ich den Ofen an, so dass die Ente wieder warm wurde, während wir Bescherung machten. Mel zündete derweil einige Kerzen an und legte passende Musik ein. Mir wurde nun richtig weihnachtlich zumute und ich war froh, dass ich Mel eingeladen hatte Heilig Abend mit uns zu verbringen. „Darf ich jetzt rauskommen?“ ertönte es ungeduldig aus dem Kinderzimmer und ich grinste Mel an, der in der Wohnzimmertür stand und diese hinter sich zuzog. „Ja, du darfst.“ Noah erschien mit hinter dem Rücken versteckten Armen und grinste uns spitzbübisch an. Vermutlich verbarg er das gemalte Bild für Mel. „Dann wollen wir doch mal sehen, was dir der Weihnachtsmann alles gebracht hat.“ leitete ich das Prozedere ein und legte ihm den Arm um die Schultern. Mel öffnete feierlich die Tür vor uns und wir traten in den schummrig erleuchteten Raum. Es war so schön, so wunderbar weihnachtlich, dass ich kurz mit den Tränen kämpfte. So hatte ich es mir immer gewünscht. Auch wenn Mel leider nicht für immer bleiben würde. „Fröhliche Weihnachten!“ verkündeten wir alle noch einmal und Noah huschte schnell zum Baum, um dort zwei kleine Papierrollen abzulegen. „Wer fängt an?“ wollte er gleich wissen und setzte sich brav auf den Sessel. Ich konnte sehen, wie seine Füße zu zappeln begannen und wollte ihn noch etwas länger auf die Folter spannen. „Wie wäre es mit unserem Gast?“ Kurz enttäuscht nickte Noah, dann sprang er auf und holte eine seiner Rollen, um sie Mel zu überreichen. Die andere war wohl für mich. „Das habe ich für dich gemalt!“ „Oh, danke. Dabei habt ihr mir doch schon genug geschenkt.“ Er lächelte mich an und umarmte Noah zum Dank. Dieser trat von einem Bein aufs andere, während Mel bedächtig das Geschenkband löste und dann das Blatt auseinander rollte. Kurz blieb es still und ich erkannte in seinem Gesicht die Überraschung. Da ich das Bild nicht zu Gesicht bekommen hatte, wusste ich nicht, was er dort sah. „Darf ich es auch sehen?“ Der Blick, den mir Mel zuwarf, irritierte mich etwas. Er war halb belustigt, halb...ja, was? Erwartungsvoll? Neugierig? Schweigend reichte er mir die Zeichnung und ich betrachtete sie. Dann wurde mir plötzlich ganz heiß und ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg. Noah hatte drei Figuren gemalt, die entfernt an Menschen erinnerten. Eine kleine, die zwei große an den Händen hielt. In krakeliger Schrift standen dort die Namen Noah, Papa und Mel. Ich hatte meinem Sohn seinen Namen beigebracht zu schreiben und seit dem, lernte er freudig das Alphabet mit Hilfe eines Bilderbuches. Er musste die Buchstaben herausgesucht haben. Mel war mit zwei l geschrieben, wovon eines wieder durchgestrichen war. Deshalb hatte er mich also gestern ganz unschuldig gefragt, wie man den Namen schrieb. Doch das eigentlich Wichtige an dem Bild – jedenfalls für mich – waren die Herzchen, die von uns allen aufstiegen. Natürlich hatte das aus Noahs Sicht nichts Gravierendes zu bedeuten. Für mich allerdings war es wie ein Liebesgeständnis. „Das ist aber schön.“ brachte ich mit belegter Zunge hervor und lächelte gezwungen. Mel sah mich noch immer durchdringend an und ich wurde langsam nervös. „Willst du jetzt nicht...deine Geschenke auspacken?“ Nur einen Grund finden, um unseren Gast nicht länger anschauen zu müssen. Wie ein kleiner tasmanischer Teufel stürzte sich Noah auf seine Geschenke und zerriss euphorisch das Papier. Abwechselnde Oh- und Wow-Laute begleiteten das ganze Unterfangen. Schließlich kam er zu einem großen viereckigen Paket, an das ich mich gar nicht erinnerte. Ich blickte Mel fragend an und dieser grinste breit. „Wow, das ist ja cool.“ stieß Noah aus, nachdem er das Papier heruntergefetzt hatte und der Karton eines ferngesteuerten Autos zum Vorschein kam. „Das ist noch viel besser als der Panzer! Danke, Papa!“ „Moment, das ist nicht von mir.“ stoppte ich ihn und deutete auf Mel. Noahs Augen wurden noch größer und er warf sich dem Mann quietschend um den Hals. Auch ich bedankte mich stumm bei Mel, doch dieser winkte nur ab und flüsterte Noah etwas ins Ohr. Dieser sah mich an, kicherte und holte ein anderes Geschenk, das ebenfalls nicht von mir war. „Für dich.“ Er drückte mir das kleine Päckchen in die Hände. Es gab unter dem Druck meiner Finger nach. Meine Augen richteten sich auf Mel, der gemütlich im Sessel saß und mich abwartend musterte. Verlegen öffnete ich das Papier und brachte einen roten Schal zum Vorschein. Er war ganz weich und als ich auf das kleine Schildchen sah, bemerkte ich, dass es echte Kaschmirwolle war. „Du bist verrückt! Wie...wann?“ „Der Weihnachtsmann hat es vor meiner Tür verloren.“ Ich dankte ihm überschwänglich, weil ich mich wirklich sehr darüber freute. Nun hatte ich ein ganz persönliches Geschenk von Mel, das zudem noch wundervoll kuschelig war. „Aber ich habe gar nichts für dich!“ Plötzlich kam ich mir sehr dumm vor, weil ich nicht den geringsten Gedanken daran verschwendet hatte, Mel etwas zu schenken. Natürlich war alles sehr kurzfristig gekommen, aber wie man sah, konnte man auch kurzfristig noch eine Kleinigkeit, was in diesem Fall relativ war, besorgen. „Ich habe von dir mehr bekommen, als ich mir zu diesem Heilig Abend vorgestellt hatte.“ Mel ließ sein unvergleichliches Lächeln aufblitzen und ich war mir fast sicher, dass er flirtete, was mir mein von Glück trunkenes Hirn natürlich nur vorgaukelte. „Papa, ich hab Hunger.“ Noah tauchte neben mir auf, den Karton seines neuen Autos fest gegen die Brust gedrückt. Ich strich ihm einmal über den Kopf und tippte dann gegen die Pappe. „Dann frag Mel, ob er dir das hier auspackt und ich mache solange das Essen, einverstanden?“ Sofort wandte sich mein Sohn an unseren Gast, welcher sich mit ihm auf den Boden setzte und begann den Karton zu öffnen. Ich verzog mich in die Küche und wärmte den Rotkohl auf, warf die Klöße ins Wasser und versuchte den Entensaft vom Fett zu trennen, um daraus eine Soße zu machen. Ich war so vertieft in meine Arbeit, dass ich das markante Surren hinter mir gar nicht hörte. Als mich dann etwas in voller Fahrt am Fuß erwischte, schreckte ich zusammen, dass mir fast der Löffel in die Soße fiel. Hinter mir ertönte einstimmiges Gelächter. An meinem Fuß hing Noahs ferngesteuertes Auto, das dieser mit Mels Hilfe auf mich gehetzt hatte, denn auf der Motorhaube war ein Zettel angebracht, auf dem stand: Fütter mich! „Ich bin ja gleich fertig! Ihr könnt mir gern beim Auftragen helfen, wenn ihr schon mal da seid. Noah, zeig Mel, wo die Schüsseln sind.“ Ich warf einen Blick in den Ofen und schnupperte zufrieden. Der saftige Duft von knuspriger Entenhaut und zartem Fleisch verwandelte meinen Mund in eine Tropfsteinhöhle. Zur Bestätigung knurrte mein Magen einmal laut, ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Die Eieruhr schrillte und ich machte mich mit spitzen Fingern daran, die heißen Klöße aus ihrer Haut zu zupfen und in die bereitgestellte Schüssel fallen zu lassen. Mel war gerade dabei den Rotkohl aus dem Topf umzufüllen und brachte ihn dann mit meiner Schale zusammen ins Wohnzimmer. Noah durfte die frisch angerührte Soße tragen, wobei ich ihn mehrfach darauf hinwies, dass sie heiß war und er nicht zu schnell gehen sollte, damit sie nicht schwappte. Ich selbst setzte die Ente auf den niedrigeren Deckel des Bräters und trug diesen ins Wohnzimmer. „Das sieht hervorragend aus, Nick. Ich will mir gar nicht vorstellen, was das für eine Arbeit gewesen ist.“ „Ach wo.“ winkte ich schnell ab, fühlte mich von dieser Würdigung meiner Anstrengungen aber geschmeichelt. Mel war einfach die Art Mann, die solche Dinge nicht für selbstverständlich hielt und ihnen deshalb besondere Beachtung schenkte. Wir schmausten lang und ausgiebig, bis unsere Bäuche rund waren. Ich heimste diverse Komplimente für das gute Essen ein und gab diese gern an Mels Tiramisu zurück. Noah blieb bei seinem Pudding, da weder der Amaretto, noch der Espresso etwas für seinen Gaumen war. Danach setzten ich mich mit Mel auf die Couch, den Esstisch ließen wir einfach so wie er war, da wir beide zu satt waren, um uns jetzt sofort so viel zu bewegen, und sah meinem Sohn zu, wie er das Fernlenkauto mit Freude gegen Sonny fahren ließ, der dieses gelassen nahm und nur immer wieder über die Motorhaube schleckte. Irgendwann wurde jedoch auch das langweilig und Noah schleppte die neuen Spiele, die ich ihm geschenkt hatte, an. Wir lachten viel und versanken völlig in dieser ausgelassenen Stimmung, so dass keiner von uns merkte, wie die Zeit vorankroch. Erst als sich Noah immer öfter die Augen rieb, beschloss ich, dass für ihn der Abend zuende ging. Das war zuerst mit großem Protest verbunden, verlief dann aber doch recht friedlich, als Mel versprach, ihn mit ins Bett zu bringen. Ich verliebte mich mit jeder Minute mehr in diesen Mann. Und das war nicht gut. Noah fielen überraschend schnell die Augen zu, so dass ich mich wieder meinem Gast widmen konnte. Mel hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und schaute gedankenversunken aus dem Fenster. Es schneite wild und ich bedauerte jeden, der bei diesem Wetter noch raus musste. Dabei fiel mir ein, dass Mel ja zu diesen bedauernswerten Menschen gehörte. Ich wollte nicht, dass er schon ging. Der Abend war zwar schön gewesen und ich würde nie behaupten, dass mein Sohn störte, aber nun wollte ich Mel wenigstens eine Weile für mich allein haben. „Ich räume kurz den Tisch ab, häng du ruhig noch etwas deinen Gedanken nach.“ Ich lächelte ihn an und erhielt sofort ein Echo. „Kommt nicht in Frage. Ich helfe dir.“ Er war wirklich ein Schatz. Zuerst die Lebensmittel, die ich dann in der Küche in Plastikdosen umfüllte und sie in den Kühlschrank stellte, während Mel das Geschirr zusammenräumte. Ich war gerade dabei den Soßentopf in der Spüle einzuweichen, damit sich kein Satz bildete, als ich Mel ganz dicht hinter mir bemerkte. „Du kannst die Teller hierhin stellen.“ Ich deutete neben mich auf die Ablage und drehte mich um, aber er hielt gar keine Teller in Händen, die standen bereits auf der Arbeitsfläche. Fragend sah ich zu Mel auf. Dieser blieb stumm und beugte sich nur ohne Vorwarnung zu mir herunter. Es dauerte lange, bis ich begriff, dass er mich küsste. Seine Lippen waren warm, wie alles an ihm, sein Kinn kratzte leicht an meinem. Wie selbstverständlich legten sich seine Hände auf meine Taille und zogen mich näher. Ich folgte willenlos. Dann setzte sich auf einmal mein Verstand wieder ein. Mel küsste mich! Er küsste mich und ich stand da wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Unsicher zuckten meine Hände. Sollte ich ihn umarmen? Durfte ich? Da lösten sich seine Hände schon und führten die meinen zu sich. Ich glaube, ich krallte mich etwas zu stark in seine Oberarme, denn er gab ein leises belustigtes Schnauben von sich. Mir war mittlerweile egal, was er denken mochte, ich erwiderte den Kuss so sehnsuchtsvoll, dass er meine Gefühle einfach spüren musste. Mir war ganz heiß und kribbelig, ich merkte, dass ich leicht zitterte vor Aufregung und Glück. Mel küsste mich! Nein, eigentlich küssten wir uns. Ich versank so sehr in dem Gefühl, das er bei mir bewirkte, dass ich noch einige Sekunden so stehen blieb, auch nachdem er sich wieder von mir getrennt hatte. „Ich habe den ganzen Tag auf diese Gelegenheit gewartet. Ich wollte es nicht vor Noah tun, weil es ihn vielleicht verwirrt hätte.“ Wieder so rücksichtsvoll und bedacht. Ich öffnete die Augen. „Du hast mich geküsst.“ Er grinste und nickte langsam. „Gut beobachtet. Das hätte ich schon viel früher tun sollen.“ Ich verstand immer noch nicht ganz, was er mir zu sagen versuchte, weil es einfach zu unglaublich war. Ich hatte mich damit abgefunden, dass dies eine reine Männerfreundschaft bleiben würde, weil er... „Aber du bist hetero.“ gab ich wenig geistreich von mir und er zog nur die Brauen hoch, das amüsierte Glitzern in den Augenwinkeln. „So? Bin ich das?“ Das brachte mich wieder zu Sinnen und ich schüttelte den Kopf. „Entschuldige, ich bin nur etwas...überrascht...und..“ Glücklich, denn für mich war gerade ein Wunder geschehen. „Warum hast du es mir nicht eher gesagt? Du musst doch gemerkt haben...“ „Ich war mir nicht sicher. Du bist nicht besonders leicht zu lesen, Nick. Das eben hat mich viel Mut gekostet, ich habe alles auf eine Karte gesetzt. Aber lass uns doch wieder ins Wohnzimmer gehen, dort ist es gemütlicher.“ Er ergriff meine Hand und zog mich sanft hinter sich her. Ich fühlte mich wie Noah, wenn ich ihn gerade geweckt hatte und er noch so verschlafen war, dass ich ihn führen musste, damit er nicht gegen den Türrahmen lief. Mel setzte sich und ließ gar nicht erst zu, dass ich mich weit von ihm entfernte. Anscheinend wollte er mich nicht mehr so leicht frei geben. „Willst du noch etwas trinken?“ Meine Stimme klang heiser und unsicher. „Eigentlich würde ich dich viel lieber noch einmal küssen.“ Mel lächelte und ich konnte die Frage in seinen dunkelblauen Augen sehen, ich hatte sie heller in Erinnerung. Zögerlich nickte ich. Wir küssten uns lang und ausgiebig, ich war von dem allen so überrumpelt, aber meine innere Freude gewann überhand. Ich wurde mutiger, legte eine Hand auf seine Brust und ließ ihn mich halten. Erst als wir beide aus Sauerstoffmangel keuchten, trennten wir uns wieder. „Ich kann das alles nicht glauben. Die ganze Zeit...ich war so fest davon überzeugt, dass du hetero wärst.“ „Nun, ich auch, schließlich hast du einen Sohn und warst verheiratet. Ich dachte immer, ich würde kleine Zeichen von dir empfangen, wie an dem Tag im Eiscafé, wo du mir den Puderzucker vom Pullover gewischt hast. Aber dann sahst du danach so verschreckt aus, dass ich wieder unsicher wurde.“ Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass Mel unsicher sein konnte. Er war immer ruhig und gelassen, sehr bedacht und auf keinen Fall...hetero! Das Lachen brach sich ganz von selbst in mir Bahn und ich musste mein Gesicht an seiner Schulter verstecken, um es nicht ausarten zu lassen. Mel ließ mich und wartete einfach. „Es klingt vielleicht verrückt, aber nach jedem Treffen wollte ich dich nur noch mehr.“ gestand ich leise und sah ihn an. „Du warst immer so rücksichtsvoll und freundlich. Und du hast dich so wundervoll um Noah gekümmert.“ Ich lehnte mich wieder gegen ihn und er zog mich mit seinem Arm noch näher. Für falsche Scham war gar kein Platz mehr, denn wir waren viel zu lange umeinander herumgestrichen. „Dabei war er der Grund, warum ich mich nicht an dich getraut habe. Ich kenne nicht viele schwule Männer, die Kinder aus einer Ehe haben.“ „Ich bin bi...oder vielleicht war ich es.“ Denn im Moment konnte ich mir nicht vorstellen, je wieder mit einer Frau zusammen zu sein. „Lisa und ich haben jung geheiratet und irgendwann war es dann einfach nur noch Gewohnheit, bis Noah unterwegs war. Du kennst ja die Geschichte. Ich wollte eine Familie sie nicht, aber das größte Problem war wohl, dass ich merkte, wie meine Blicke immer mehr den Männern hinterher schweiften. Als ich es ihr sagte, schien sie weder überrascht, noch böse. Ich glaube, sie war auch erleichtert, dass wir es beenden konnten.“ Mel strich mir über die Schulter und verschränkte die Finger der anderen Hand mit meinen. „Meine letzte Beziehung ging kaputt, weil ich wie du eher ein Familienmensch bin und mich nicht gern in das nächtliche Schwulenleben stürze. In meinem Alter finde ich das albern und es ist wesentlich schöner hier mit dir vor dem Tannenbaum zu sitzen.“ Er lächelte und küsste mich noch einmal. „Nachdem du mich gestern eingeladen hattest, habe ich mir vorgenommen heute den Schritt zu wagen.“ „Ich bin froh, dass du es getan hast. Ich war schon immer etwas begriffsstutzig in solchen Angelegenheiten.“ „Ja, das habe ich gemerkt. Aber jetzt lasse ich dich nicht mehr los, Nick. Ich habe mich in dich und Noah vermutlich gleich nach dem kleinen Unfall im Einkaufszentrum verliebt und mir seit dem gewünscht, zu dieser Familie zu gehören. Ihr geht so liebevoll miteinander um. Ich würde aber vorschlagen, dass wir es Noah nicht sofort sagen, sondern ihn langsam darauf vorbereiten.“ Ich presste die Lippen fest zusammen, da mir die Tränen kamen. Das war die einzige Angst, die ich noch gehabt hatte, denn mein Sohn würde es bestimmt nicht verstehen, wenn ich am ersten Weihnachtsmorgen mit Mel gleich so vertraut tat. Aber Mel, mein Mel, hatte diese Sorgen sofort beseitigt und nahm erneut Rücksicht. Ich lächelte ihn an und küsste zärtlich seine Lippen, die sich mir ganz natürlich öffneten. Wir sanken tiefer in die Polster, deckten uns zu und kuschelten uns so dicht wie möglich aneinander. Mel knabberte sanft an meinem Ohr und sein warmer Atem kitzelte mich, schickte Schauer über meinen Körper und ließ mich alles andere vergessen. Egal, was morgen sein würde, dieser Weihnachtsabend gehört allein uns. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)