Familienbande von Alaska (Ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk) ================================================================================ Kapitel 1: Familienbande ------------------------ Familienbande Die Sicht betrug fast Null und Chris hatte Mühe die Straße vor sich zu erkennen. Die Seiten der Windschutzscheibe waren mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, die die Scheibenwischer immer wieder aufhäufte. Der Blizzard hatte ihn eiskalt erwischt, obwohl in den Nachrichten ein sonniger, klarer Tag angesagt worden war. Aber vielleicht hatte er sich auch den Wetterbericht für die falsche Gegend angesehen. Hier oben in den Bergen war es vermutlich anders als im Tal. Konzentriert lenkte er seinen Wagen die Serpentinen hinauf und hoffte inständig, dass nun kein anderes Fahrzeug entgegenkommen möge, denn ausweichen war auf dieser vereisten, schmalen Strecke undenkbar. Aber im Grunde musste er sich keine Gedanken darüber machen, schließlich waren ihm seit Meilen keine Autos mehr begegnet. Es war ja auch höchst unwahrscheinlich, dass es besonders viele Menschen gab, die bei solch einem Schneesturm direkt in das Herz der Wildnis fuhren. „Idiot. Wärst du mal einen Tag früher gefahren.“ brummte Chris laut, um zum ersten Mal seit Stunden wieder ein anderes Geräusch zu hören, als das Quietschen der Scheibenwischer oder das Knirschen des Schnees unter den Reifen. Wenigstens war es im Auto schön warm und der Himmel noch nicht zu dunkel. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn er hier in der Dunkelheit entlang fahren müsste. Durch das Schneegestöber konnte er nicht einmal einschätzen, ob die Wolken noch immer so dick und voller Schnee waren, wie zu Beginn dieses Sturms. Hoffentlich schneite er nicht ein, denn Chris bezweifelte, dass es hier oben in den Bergen einen regelmäßigen Winterdienst gab. „Hoffentlich bin ich bald da.“ Langsam überkam ihn die Müdigkeit, denn er war seit dem frühen Morgen unterwegs zu der kleinen Berghütte, in der er beschlossen hatte Weihnachten zu feiern. Oder eben nicht. Denn genau das war seine Intention zu diesem Ausflug. Keinerlei Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen. Er wollte dieses dumme Fest der Liebe und Freundschaft vergessen und dieses Jahr völlig aus seinem Leben streichen. Das war der Grund, warum er kein Radio hörte, um sich wach zu halten, denn dort spielte seit Tagen nur Weihnachtsmusik. Das war auch der Grund, warum in seinem Kofferraum eine enorme Auswahl an Splatter-Filmen lag, die er sich in einem Horrorfilm-Marathon ansehen würde. Die Konservendosen mit Tomatenmakkaroni und das Six-Pack Bier würden ihn bis Neujahr über Wasser halten, so dass er völlig in seinem Frust versinken konnte. Er wollte keine geschmückten Tannenbäume sehen, er wollte keine Lichterketten und Weihnachtsbraten! Er wollte nur allein sein und die Welt dafür hassen, dass er an diesem Tag niemanden hatte! Wie konnte Shawn auch eine Woche vor Weihnachten mit ihm Schluss machen? Und dann auch noch per E-mail! Hätte er ihm nicht noch bis zum nächsten Jahr eine glückliche Beziehung vorspielen können? „Verdammt!“ Chris schlug wütend gegen das Lenkrad. Er hatte nicht daran denken wollen. Jetzt war er nicht nur frustriert, sondern musste gegen die Tränen ankämpfen. Das war unfair. Shawn hatte ihm nicht einmal erklärt, warum er ihre Beziehung beendete, obwohl Chris so seinen Verdacht hatte. Sein Freund, Ex-Freund, war nie ein Kind von Traurigkeit gewesen und hatte selbst in seiner Gegenwart mit anderen Männern geflirtet. Vielleicht hatte er sich einfach gelangweilt und war nun zum nächsten Kerl weitergezogen. „Penner! Arschloch! Feigling!“ Dabei hatte er gedacht, er wäre über die Phase der Beschimpfung hinweg. Als er merkte, wie seine Sicht verschwamm, wischte sich Chris eilig die Tränen aus den Augen. „Reiß dich zusammen! Es ist dir egal! Du findest schon wieder einen neuen. Er war sowieso nicht der Richtige.“ Trotzdem vermisste er Shawn. Chris hatte sich so sehr auf ein Weihnachten zu zweit gefreut. Es hätte ja nicht einmal übermäßig romantisch sein müssen, die Hauptsache war, dass er nicht allein sein musste. Das hatte es in den vergangenen Jahren genug gegeben. „Oh, jetzt fang nicht auch noch damit an! Konzentrier dich lieber auf die Straße!“ schalt er sich nachdrücklich. Tatsächlich bedurfte es mittlerweile enormer Vorsicht den Wagen über die Straße zu lenken. Zum Glück hatte er die Serpentinen überwunden und konnte nun auf gerader Strecke bleiben, aber der Blizzard war so stark, dass er kaum die Bäume links und rechts vom Weg sehen konnte. Der Schnee auf der Fahrbahn wurde auch immer höher, die Reifen verloren ab und zu den Halt, so dass er gegenlenken musste. Wie weit war diese dumme Hütte noch? Es musste doch bald die Abzweigung kommen. Aber Chris fuhr Meile um Meile und nichts kam. Hatte er sich etwa verfahren? Plötzlich bockte das Auto und er riss erschrocken am Lenkrad, um zu verhindern, dass es zu stark ins Schlingern geriet. Dabei bewirkte er genau das Gegenteil. Panisch trat Chris auf die Bremse, doch es war zu spät. Die Reifen fanden keinen Halt mehr, der Schnee war zu hoch und er schlitterte gefährlich. Das Auto geriet immer stärker ins Trudeln, drehte sich in einer letzten Pirouette um sich selbst, rutschte die Böschung hinunter und krachte seitlich gegen einen Baum. Chris wurde nach vorn geschleudert und stieß sich die Nase am Lenkrad. Dann war es still. Vorsichtig blinzelnd öffnete Chris die Augen. Sein Herz schlug schnell und pumpte das Adrenalin durch seinen Körper. Er keuchte wie unter großer Anstrengung und bewegte vorsichtig seine Finger, die sich so stark in das Lenkrad gekrallt hatten, dass seine Nagelabdrücke zurückblieben. Bedächtig machte er eine Bestandsaufnahme seines Körpers und stellte erleichtert fest, dass alles noch am richtigen Platz war und unverletzt schien. Nur seine Nase schmerzte und blutete. Er schmeckte es auf den Lippen. Doch dagegen tun, konnte er noch nichts, denn seine Hände begannen so heftig zu zittern, als sich der erste Schock löste, dass er sie nicht gebrauchen konnte. Ihm wurde übel und schwindelig, deshalb schloss er für einige Minuten die Augen und wartete, bis beides abflaute. Irgendwie passte dieser Unfall perfekt zu seiner Antiweihnachtsplanung. Sein Pech hatte ihm noch einmal vorgeführt werden müssen! „Und nun?“ Chris öffnete wieder die Augen und suchte im Handschuhfach nach einer Packung Taschentücher, um sein Nasenbluten zu bekämpfen. Es tropfte bereits auf seinen Pullover. Danach widmete er sich dem nächsten Problem. Wie kam er nun wieder auf die Straße? Die Fahrertür war von dem Baum blockiert, also krabbelte er umständlich auf den Beifahrersitz und betätigte den Hebel. Er brauchte einiges an Kraft, um die Tür aufzustemmen, denn zum einen blies der Wind genau gegen diese Seite und zum anderen hatte sich bereits eine hohe Schicht Schnee davor abgesetzt. Dieser wurde ihm auch unerbittlich ins Gesicht geschleudert, als er ausstieg und sich die ganze Misere von außen betrachtete. Es war eindeutig, der Wagen steckte fest. Ohne die Hilfe eines Abschleppdienstes würde er es nicht auf die Straße schaffen. Grimmig holte Chris seinen Anorak aus dem Auto und stapfte dann den kleinen Hang hinauf. Er musste sich richtig gegen den Wind lehnen, um voranzukommen. Dazu kam, dass er tief einsank und es hier draußen mindestens Minus zehn Grad sein mussten! Sein Vorhaben ein Stück den Weg entlang zu gehen, um vielleicht auf ein Auto oder eine Siedlung zu treffen, verwarf Chris schnell. Seit Stunden war er keinem menschlichen Wesen mehr begegnet. Außerdem begann er bereits zu frieren. Es war unmöglich sich längere Zeit durch diesen Sturm zu schlagen. Frustriert kehrte er zum Auto zurück und krabbelte wieder auf den Beifahrersitz. „Denk nach, Chris! Denk nach. Irgendwie musst du doch Hilfe rufen können.“ Da fiel ihm sein Handy ein und er kramte es hastig aus seiner Reisetasche, die hinten auf dem Rücksitz lag. Gleich nachdem er es angestellt hatte, warf er es auch schon wieder weg. Kein Empfang! Ja, bei diesem Schneesturm auch kein Wunder! Und was sollte er jetzt tun? Etwas anderes als abwarten und hoffen, dass sich das Wetter besserte, konnte er nicht. Wenigstens musste er nicht frieren. Der Tank war noch mindestens bis zur Hälfte gefüllt. Triumphierend kletterte Chris hinters Steuer und drehte den Zündschlüssel. Der Wagen hustete einige Male und erstarb. „Nein! Tu mir das nicht an! Komm schon.“ Er versuchte es erneut. Wieder nur Husten, Krächzen und dann Stille. „Scheiße!“ Chris hämmerte auf das Lenkrad ein, bis ihm die Hände weh taten. Warum musste das alles ihm passieren? Er wischte sich über die Augen und mahnte sich zur Ruhe. Dann versuchte er es noch einmal und noch einmal. Aber es blieb immer dasselbe Ergebnis. Der Wagen sprang nicht an, die Heizung blieb aus und er in der Kälte sitzen. Jetzt sollte Plan B in Kraft treten, hätte er einen Plan B parat. Bei den niedrigen Temperaturen stand er doch keine Nacht durch! Es würde sogar noch kälter werden, sobald die Nacht hereinbrach. Er würde hier im Auto erfrieren und irgendwann gefunden werden. Wenn überhaupt. Chris kauerte sich auf seinem Sitz zusammen und begann zu weinen. Er wollte nicht erfrieren. Auch wenn er Weihnachten verfluchte, war das noch kein Grund ihn hier sterben zu lassen! Der Wind jaulte um das Auto und trieb immer mehr Schnee dagegen. Bald konnte Chris nicht mal mehr aus der Windschutzscheibe sehen. Er war gefangen in dieser Schneehölle! Wütend auf sich selbst, weil er diese dumme Idee mit der Berghütte gehabt und nicht mal jemandem davon erzählt hatte – obwohl es eigentlich auch niemanden gab, den es interessiert hätte – , begann er damit seine Reisetasche zu durchwühlen. Irgendetwas musste er schließlich tun. Einfach rumsitzen und auf seinen Gefriertod zu warten, war nicht seine Art. Zuerst holte er alle Kleidung, die er mitgenommen hatte, heraus und zog sich um. Drei Paar Socken, zwei Unterhosen und drei Boxershorts – mehr konnte er nicht anziehen, da ihm sonst seine Jeans nicht passte. Danach einige Unterhemden und T-Shirt, die dicke Schneehose, zwei Pullover, eine Strickjacke und zum Schluss seinen Anorak, den er allerdings nicht mehr schließen konnte. Chris kam sich vor wie ein Michelin-Männchen. Zum Schluss zog er sich noch die warmen Winterboots an, setzte seine Lieblingsmütze auf und wickelte den Schal um seinen Hals. Nun war er erst einmal gegen die Kälte gefeit. Sein knurrender Magen machte ihn darauf aufmerksam, dass er seit einem frühen Mittagessen nichts mehr zu sich genommen hatte. Also suchte er die Dosenmakkaroni heraus und öffnete sie mit dem Dosenöffner seines Taschenmessers. Sie schmeckten in kaltem Zustand scheußlich, aber Chris hatte Hunger. Auf das Bier verzichtete er lieber, da er mal im Fernsehen gehört hatte, dass Alkohol den Körper auskühlte und das war das Letzte, was er wollte. Stattdessen schmolz er etwas Schnee in der ausgewaschenen Makkaronidose und trank diesen. „Und jetzt? Bleibe ich hier sitzen und warte, bis etwas passiert?“ Die DVDs im Kofferraum waren nutzlos, aber vielleicht funktionierte das Radio noch. Er drehte an dem Knopf und tatsächlich, nach einer Weile des Suchens fand er einen Sender, der mit nur leichten Störgeräuschen zu ihm durchdrang. Jetzt war Chris auch egal, ob es Weihnachtslieder waren oder nicht, er wollte einfach nicht in dieser absoluten Stille sitzen. Einige Zeit hörte er der Musik zu, dann wurde er schläfrig. Das frühe Aufstehen zeigte nun seine Wirkung. Vollgegessen und warm eingepackt, fielen Chris die Augen zu. Es musste tiefe Nacht sein, als er wieder aufwachte. Er zitterte erbärmlich, denn die Temperatur im Auto war rapide gesunken. Das Radio war aus, wahrscheinlich hatte die Batterie ihren Geist aufgegeben. Steif bewegte sich Chris und spürte schon jetzt eine gemeine Verspannung in den Schultern. Der Blizzard tobte noch immer und jetzt konnte er die Tür überhaupt nicht mehr öffnen. Dabei war ihm gerade die Idee gekommen, die Wärmefolie aus seinem Erste-Hilfe-Kasten im Kofferraum zu holen. Aber zum Glück konnte er auch daran, wenn er die Hintersitze vorklappte. Durch seine dicke Kleidungspolsterung war es zwar mühsam, aber schließlich schaffte es Chris den Kasten herauszuholen und die dünne Folie auszubreiten. Sie wirkte auf ihn nicht besonders vielversprechend, aber sie musste ja etwas bewirken. Er klappte die Rückbank wieder zurück und bereitete sich dann darauf ein Lager. „Wenn ich das hier überlebe, glaube ich wieder an den Weihnachtsmann.“ schnaubte er freudlos und rollte sich unter der Decke zusammen. So klein wie möglich machen, damit nicht so viel Wärme verloren ging. Trotzdem war es kalt und Chris begann zu zittern. Wie spät es wohl war? Ob es bald hell wurde? Konnte man das bei diesem Sturm überhaupt noch sagen? Die Finger unter den Achselhöhlen vergraben, sinnierte Chris weiterhin über seine Situation. Mittlerweile musste schon der 24. Dezember sein. Wenigstens war ihm Shawn im Moment herzlich egal. Wichtiger wäre jetzt ein vorbeikommendes Auto oder ein funktionierender Motor. Wie lange er wohl in dieser Kälte überleben konnte? Sobald der Schneesturm vorüber war, würde er die Straße entlang gehen, um sich warm zu halten. Chris merkte, wie seine Augenlider immer schwerer wurden, aber er wollte nicht einschlafen. Er hatte Angst, dass er nicht wieder aufwachen würde, aber mit der Zeit nickte er immer öfter weg, schreckte hoch und döste wieder ein. Silian zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht, da ihn der Schnee unangenehm peitschte. Schon seit gestern tobten sich die Schneegeister im Wald aus und freuten sich auf das große Fest. Trotzdem fand er, dass sie es etwas übertrieben. Natürlich war Weihnachten das erste der großen Winterfeste und seiner Meinung nach auch das schönste, aber dieses Theater war wirklich nicht angemessen. Er mochte es viel lieber, wenn der Schnee nur sanft fiel. Seufzend beugte er sich weiter über die Lenkstange des Schlittens und verlagerte sein Gewicht auf die rechte Kufe. „Los, Sámi, lauf etwas schneller. Mir wird es zu ungemütlich.“ Das Ren blies eine weiße Wolke aus seinen Nüstern und trabte an. Silian musste sich festhalten, um nicht vom Schlitten geblasen zu werden. „Aber morgen müsst ihr sanfter sein, ja? Ihr könnt doch nicht solch einen Sturm zum Weihnachtsfest machen!“ rief er den Geistern laut zu und bekam eine kräftige Schneewehe zur Antwort ins Gesicht. „Ja, sehr witzig.“ brummte Silian beleidigt. Der Humor der Schneegeister war für seinen Geschmack manchmal zu feucht. Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er gar nicht bemerkte, wie Sámi den Kurs wechselte und nach Westen lief, statt nach Norden, wo er seine Hütte hatte. Erst als sie der Straße näher kamen, erkannte Silian die Gegend. „Du bist falsch, Sámi! Wir müssen in die andere Richtung. Hier kommen wir dem Gebiet der Menschen zu nahe.“ Aber das Ren steuerte gewissenhaft weiter zwischen den Bäumen hindurch, als habe es ein bestimmtes Ziel. Silian zog die Stirn in Falten und hielt nach etwas Ausschau, das Sámis Interesse geweckt haben könnte. Da entdeckte er es plötzlich nahe der Straße. Es war kaum zu erkennen, weil bereits eine dicke Schneeschicht darauf lag. Silian lenkte den Schlitten näher und hielt dann an. Neugierig näherte er sich dem Ding und wischte etwas Schnee von dessen Oberfläche. Es war ein Auto! Er hatte schon hin und wieder mal eines gesehen und wusste, dass sich die Menschen bevorzugt darin fortbewegten. Aber was machte dieses Auto hier so weit draußen? Es gab weit und breit kein Dorf, geschweige denn eine Stadt. Hatte es nur jemand hier abgestellt? Oder war es verunglückt? Die eine Seite, die gegen den Baum lehnte, wirkte verbeult. Er schabte noch mehr Schnee von dem Fenster und blinzelte ins Innere. Vorne konnte er niemanden erkennen, aber auf der Rückbank lag jemand! Eigentlich wollte er keinen Kontakt mit einem Menschen aufnehmen, aber er konnte ihn ja auch schlecht hier zurücklassen. Es war zu kalt, um im Wald ohne ein Feuer zu übernachten. Silian rüttelte am Griff der Hintertür, aber bekam sie nicht auf. Zuerst musste er den Schnee beiseite schieben. Danach konnte er sie mit einem Ruck öffnen. Vorsichtig lehnte er sich hinein und musterte den Menschen. Er war blass und seine Lippen ungesund blau. Silian berührte die Haut der Wange und erschrak. Sie war eiskalt! „Sámi, schnell! Er ist schon ganz gefroren.“ Silian seufzte, es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Menschen mit in seine Hütte zu nehmen. Mühsam packte er den Mann an den Beinen und zerrte ihn aus dem Auto. Er war schwer, aber Sámi kam mit dem Schlitten ganz dicht, so dass Silian den Menschen nur noch darauf wuchten musste. Er packte ihn dick in ein Fell ein und ließ nur einen kleinen Spalt für die Nase frei, damit er atmen konnte. „Jetzt müssen wir uns aber beeilen, Sámi.“ Silian stellte sich auf die Kufen und das Rentier setzte sich in Bewegung. Ganz von selbst begann es zu traben und brachte sie so schnell durch den Wald. Immer wieder warf Silian einen besorgten Blick unter das Fell. Der Mensch bekam nicht wirklich mehr Farbe, aber es kam ihm so vor, als wären die Lippen nicht mehr ganz so blau. „Da habt ihr ja etwas Schönes angerichtet! Wolltet ihr ihn hier erfrieren lassen?“ schimpfte er laut mit den Schneegeistern. Es war wirklich nicht richtig, wenn diese ihre Späße mit den Menschen trieben. Als sie die Hütte endlich erreichten, war auf dem Fell bereits eine dünne Schneeschicht entstanden. Silian lief eilig ins Innere und entfachte das Kaminfeuer. Sofort hängte er einen Kessel mit frisch geschmolzenem Schneewasser darüber, das eigentlich für seine Wäsche gedacht war, rückte dann seinen großen gepolsterten Ohrensessel davor und legte ihn mit einem warmen Fell aus. Danach rannte Silian wieder hinaus. „Du musst leider noch einen Moment Geduld haben, Sámi. Ich kümmere mich erst um den Mann, dann bringe ich dich in den Stall zu Loan, ja?“ Das Ren schnaubte einmal und Silian freute sich über das Verständnis. Er hatte einige Schwierigkeiten den Menschen in die Hütte zu schaffen. Er war schwer und die dicke Kleidung ließ sich schlecht packen. Endlich hatte er es geschafft. Jetzt musste er nur noch die vielen Stoffschichten entfernen. Silian wunderte sich, wie jemand so viel Kleidung tragen konnte und dann teilweise sogar mehrmals dasselbe. Kopfschüttelnd schlug er den Mann schließlich nackt in das Fell ein und stellte seine Füße in eine kleine Wanne mit Schnee, dem er dann langsam das heiße Wasser aus dem Kessel zufügte. Es dampfte schön und Silian fügte noch einige Kräuter hinzu. Das war erst einmal alles, was er tun konnte. Solange der Mensch auftaute, konnte er sich um Sámi kümmern. Er brachte den Schlitten mit Hilfe des Rentiers in den Stall und spannte es dort aus. In der großzügigen Box, die mit Heu und Tannenzweigen ausgelegt war, stand Loan und wartete bereits auf ihren Freund. „Na, wie geht es dir? Hast du auch so großen Hunger wie Sámi? Er war heute sehr fleißig. Wir haben die letzten Holzarbeiten an der Station abgeliefert.“ Silian plauderte gern mit den beiden Rentieren. Sie waren ihm gute Freunde. Sámi trottete gemütlich in die Box und begrüßte seine Freundin, während Silian aus dem Futterkasten zwei Portionen Rentierflechten, Gras und einige getrocknete Pilze holte. „Hier, lasst es euch schmecken. Ich bringe euch noch frisches Heu, falls ihr später noch Hunger habt.“ Er öffnete in der Nebenbox ein Bündel, das er im Herbst gepresst hatte und streute etwas davon zu den Rentieren. „Schlaft schön. Ich werde mich jetzt um unseren Gast kümmern.“ Damit verließ Silian den Stall und schaute nach dem Mann. Die Lippen waren nicht mehr blau und etwas dunkler war die Haut auch geworden. Trotzdem war sie noch kalt. Silian erneuerte das Wasser des Fußbades und streute einige Kräuter in den Kessel, um sie für einen starken Tee ziehen zu lassen. Den konnte er dann dem Menschen einflößen, das würde ihn von innen wärmen. „Vielleicht sollte ich ihm auch einen Kanincheneintopf machen? Wenn er Fieber bekommt, braucht er etwas Nahrhaftes.“ Überlegend strich sich Silian eine Strähne seines langen weißen Haares hinter die spitzen Ohren und musterte seinen Gast. Er hatte helle Haut und war blond, wie die Frühlingsfeen. Allerdings trug er sein Haar sehr kurz geschnitten. Silian gefiel es so nicht, es sah bestimmt besser aus, wenn es ihm bis über die Schultern fiel. Die Augen schätzte er auf ein stürmisches Graublau, doch mit Gewissheit würde er das erst sagen können, wenn der Mann wieder zu Bewusstsein kam. Solange konnte Silian ihn ungeniert ansehen, was er natürlich nutzte. Der Körperbau war zwar recht groß und kräftiger als er selbst es war, trotzdem aber feingliedrig, was Silian stutzen ließ. Er besah sich die Hände genauer, dann noch einmal das Gesicht. Es war schön. Mit geraden Brauen, mandelförmigen Augen und einer Stupsnase. Die Lippen waren voll und einladend. „Seltsam.“ murmelte Silian vor sich hin und schob das Fell ein wenig zur Seite. Die Ohren waren niedlich rund. Nein, er musste sich täuschen. Das war ein alberner Gedanke gewesen. Trotzdem konnte er die Augen nicht von seinem Gast lassen. Irgendetwas sah er in den entspannten Zügen, das in ihm eine Erinnerung wach rief. Schulterzuckend wandte er sich wieder dem Kessel zu, füllte den Tee in einen Krug um und stellte ihn nahe ans Feuer, damit er warm blieb. Danach wusch er den Kessel kurz aus und setzte den Eintopf an. Bis der Mensch wach wurde, war er sicherlich fertig. Danach gönnte sich Silian endlich eine Pause und setzte sich auf seinen Lieblingsstuhl ans Feuer. Die Wärme machte ihn schnell schläfrig und er döste leicht ein. Es war aber auch eine anstrengende Zeit gewesen. So kurz vor Weihnachten war alles immer sehr eilig. Heute Abend würden der Weihnachtsmann und das Christkind die Geschenke austeilen und morgen war dann das langersehnte Fest. Ein Geräusch schreckte Silian aus seinem Dämmerschlaf. Er schaute sich verwirrt um und erkannte dann den Ursprung. Der Mann wurde wach und regte sich in seinem Fell. Neugierig trat Silian näher und hockte sich vor den Sessel. Das Wasser in der Wanne war noch schön warm. „Na, taust du langsam auf?“ Noch bewegte sich der Mensch nur träge. Silian stand auf und schenkte einen Becher Tee ein. Er war etwas abgekühlt, so dass er keine Angst haben musste, dass er die Lippen verbrannte. Behutsam hielt er den Becher an den Mund des Mannes und brachte ihn zum Trinken. Das Schlucken schien ihm noch schwer zu fallen. Um sicher zu gehen, legte Silian eine Hand auf die Stirn und stellte erleichtert fest, dass sein Gast kein Fieber bekam. Eine Sorge weniger. Chris’ Lider flatterten und er erkannte zunächst nur verschwommene Umrisse. Irgendwie war ihm komisch zumute. So warm und wohlig, aber gleichzeitig auch befremdlich. Hörte er da nicht eine Stimme? Mit viel Mühe zwang er seine Augen gänzlich auf, die Sicht wurde klarer und er blickte direkt in ein ovales Gesicht mit einem spitzen Kinn, aus dem ihn zwei kristallklare, hellblaue Augen ansahen. Weiße Haare?, war sein erster Gedanke. Sie passten überhaupt nicht zu dem jungen Gesicht. „Hier, trink noch etwas Tee, der tut dir gut.“ Ihm wurde ein Becher an die Lippen gehalten und Chris trank gierig. Die Flüssigkeit schmeckte herb und war angenehm heiß. Er konnte fühlen, wie sie seine Speiseröhre hinunter lief und seine Brust aufwärmte. „Wer bist du?“ krächzte Chris mit schwacher Stimme und ließ den Kopf wieder zurück in das Fell sinken. „Und wo bin ich?“ Der Fremde stellte den Becher beiseite und zog einen Stuhl näher an den Sessel. „Mein Name ist Silian. Du bist in meiner Hütte. Ich habe dich im Wald gefunden und her gebracht, weil du schon ganz durchgefroren warst. Die Schneegeister haben wohl ihre Scherze mit dir getrieben.“ „Schneegeister?“ Lag es an ihm oder war dieser Mann wirklich merkwürdig? Es war nicht nur das Aussehen, das an einen Fantasy-Film erinnerte, auch die Stimme wirkte auf ihn fremdartig, ganz klar und glockenhell, zudem dieses Gefasel von Schneegeistern. Vielleicht war er einem verrückten Einsiedler ins Netz gegangen? Unwillkürlich dachte Chris an seine DVD-Sammlung und die gewohnten Horrorfilmszenarien. Er fand, dass dies hier ganz gut dazu passte. „Du musst keine Angst haben. Sobald der Sturm vorbei ist und du kräftig genug bist, bringe ich dich zum nächsten Menschendorf.“ Silian schmunzelte ob der unsicheren Miene. Es war ganz natürlich, dass der Mann etwas Angst hatte, trotzdem fand er, dass es an diesem Tag unpassend war, deshalb wollte er diese Angst zerstreuen. „Hier, trink den Tee aus. Ich mache gerade einen Eintopf, der wird dich auch noch einmal wärmen.“ Er stand auf und ging zu dem Kessel über dem Feuer, um den Inhalt umzurühren. Es roch schon herrlich. „Wie hast du mich hier her gebracht? Mit deinem Auto? Ist die Straße wieder befahrbar?“ Chris kämpfte sich ein Stück aus dem Fell, bis ihm auffiel, dass er völlig nackt war. Entsetzt sah er den weißhaarigen Mann an. „Wo sind meine Sachen? Warum bin ich nackt?“ Silian wies mit einer gelassenen Geste auf den ordentlich zusammengelegten Kleidungsstapel auf einer Truhe. „Ich musste dich ausziehen, um dich zu wärmen. Durch die vielen Stoffschichten hättest du das Feuer gar nicht gespürt. Keine Sorge, ich habe dir nichts weggeguckt, alles noch an seinem Platz.“ Er kicherte vergnügt. „Sámi hat dich gefunden. Er mag Menschen sehr gern, deshalb läuft er auch immer neugierig zu ihnen, wenn er einen wittert. Mir ist allerdings schleierhaft, wie er dich durch den ganzen Schnee riechen konnte.“ Chris sah sich um. Er konnte keinen Hund entdecken und ein Blick durch das Fenster sagte ihm, dass es grausam wäre, wenn man das Tier nur draußen hielt. Der Blizzard tobte nämlich immer noch. „Wo ist er?“ „Im Stall. Loan und er haben dort ein gemütlichen Plätzchen.“ Silian würzte den Eintopf etwas nach und holte dann zwei Schalen aus dem Schrank. Chris beobachtete ihn dabei und bekam gleich Gelegenheit sich den Rest der Behausung näher zu betrachten. Er befand sich in einem großen Hauptraum mit Blick auf einen steinernen Kamin. Zu dessen Rechten war ein Durchgang, der von einem schweren dunkelblauen Vorhang verdeckt wurde. Er vermutete das Bad dahinter. Auf der linken Seite von der Feuerstelle führte eine kleine Treppe hinauf zu einer Galerie, von der aus man direkt in den Raum sah. Chris konnte von seiner Position aus leider nicht erkennen, was sich dort oben befand, aber er tippte auf das Schlafzimmer. Silian werkelte hinter ihm an einer Art Küchenzeile herum, die Chris sehr stark an alte Bilder von den ersten Siedlern erinnerte. Ganz aus Holz und ohne jegliche technische Neuheiten. Es gab nicht mal eine Spüle, nur eine Schüssel, die in ein Gestell eingelassen war. Davor stand eine kleine Sitzgruppe mit vier Stühlen und auf der anderen Seite des Zimmers waren diverse Schränke, Kommoden und Regale platziert. Nirgends sah Chris einen Fernseher oder andere elektrische Geräte. War er an so einen Naturfreak geraten? „Ähm...Silian...lebst du hier ganz allein?“ Der helle Mann kam mit einem kleinen Lächeln zu ihm und füllte die Schüsseln mit Eintopf. Chris musste zugeben, dass es fantastisch roch, tausendmal besser als seine Dosenmakkaroni. „Ich lebe hier mit Sámi und Loan, aber nicht ganz allein. In der Umgebung sind um diese Zeit viele andere Winterelfen und natürlich die Schneegeister. Aber ich habe nicht viel mit ihnen zu tun. Sie sind mir zu wild und aufgeblasen.“ Silian hatte sich zur Wahrheit entschlossen, da es sowieso nicht lange dauern würde, bis dem Mann einige Dinge seltsam vorkamen. Er wusste, dass die Menschen ihre Häuser mit viel neumodischem Zeug ausstatteten, dem Silian aber nicht viel abgewinnen konnte. Wozu brauchte er einen Fernseher, wenn er doch direkt in der Natur lebte, wo es jeden Tag so viele aufregende Dinge zu sehen gab? „Winterelfe?“ Chris sah seinen Gastgeber entgeistert an. Dieses wirre Zeug sollte er doch nicht etwa glauben? Aber Silian schien völlig entspannt und reichte ihm lächelnd die Schale. Jetzt war Chris doch etwas misstrauisch und schnüffelte zunächst an dem Eintopf. Alles roch normal und mehr als genießbar. Dennoch wartete er, bis Silian den ersten Löffel verspeist hatte. „Er ist nicht vergiftet.“ bemerkte der Winterelf schmunzeln, wobei Chris fasziniert feststellte, wie ein Blitzen über die hellen Augen zog, wie ein Windhauch, der sich in den Pupillen widerspiegelte. „Tut mir leid, ich bin nur...“ „Ich verstehe schon. Ihr Menschen glaubt nicht an Elfen, Feen und Geister. Das ist auch gut so. Aber ich dachte mir, du würdest es vielleicht früher oder später selbst herausfinden, deshalb wollte ich gleich Klarheit schaffen.“ Silian kicherte ob der völlig entgleisten Gesichtszüge. Dabei hätte er den jungen Mann eigentlich für jemanden gehalten, der an solche Dinge glaubte, denn er sah irgendwie...vertraut aus. „Wie heißt du eigentlich?“ „Chris.“ Mechanisch löffelte er den Eintopf und nahm den Geschmack kaum wahr nach dieser Eröffnung. Elfen, Geister und Feen? Daran sollte er glauben? Das musste ein Scherz sein, den sein Gastgeber sich mit ihm erlaubte. Kein normaler gesunder Mensch glaubte an diese Sachen. Höchstens in der Kindheit und selbst da war er für diese Phantasien unempfänglich gewesen. Chris hatte immer sein wollen wie alle anderen. Aber das Gefühl des Nichtdazugehörens hatte ihn durch sein ganzes Leben begleitet. Damals im Waisenhaus und später im Berufsleben. Erst Shawn hatte ihm ein richtiges Zuhause geschenkt. „Ja, das er mir jetzt wieder genommen hat.“ brummte Chris missmutig und aß auf. Silian musterte ihn verstohlen über seine Schale hinweg. Er konnte die trüben Gedanken spüren und fragte sich, was einen Menschen an Weihnachten dazu veranlasste. Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, räumte Silian die Schüsseln in den Abwasch und reichte Chris eine Boxershorts. „Es ist noch sehr früh, die Sonne wird erst in ungefähr drei Stunden aufgehen. Was hältst du davon, wenn wir uns noch etwas hinlegen? Ich musste meine letzten Arbeiten heute Nacht an die Weihnachtspackstation ausliefern, deshalb bin ich schon gestern Nachmittag aufgebrochen. Aber nun würde ich gern noch ein paar Stunden schlafen und dir tut das bestimmt auch gut.“ Er zeigte auf die Galerie und lächelte, damit Chris nicht glaubte, er habe irgendwelche Hintergedanken. „Du kannst auch einen Schlafanzug von mir haben.“ Chris hatte seine Boxershorts umständlich unter dem Fell angezogen und fühlte sich nun nicht mehr ganz so nackt. Tatsächlich wäre ihm ein warmes Bett sehr recht. Der leckere Eintopf hatte ihn schläfrig gemacht. „Einverstanden.“ Er stand auf und ging zu seinem Kleidungsstapel, um sich ein dickes Paar Socken herauszusuchen. Silian beobachtete ihn und stockte dann plötzlich. Auf dem Schulterblatt des Mannes befand sich ein ovales Mal. Es sah aus wie ein breiter Ring in einem zarten Rosa. Wusste Chris davon? Konnte es sein, dass er... „Was ist?“ riss ihn die Stimme des anderen aus seinen Gedanken. Silian errötete tief und lief hastig nach oben, um dort einen Pyjama aus einer Truhe zu holen. Er brachte ihn Chris und musterte ihn dabei genauer. Die Augen waren tatsächlich blaugrau, doch nicht stürmisch, sondern sanft wie die ersten Schneewolken. Die Stupsnase wirkte für einen Menschen ungewöhnlich grazil und niedlich. Hohe Wangenknochen verstärkten Silians Vermutung noch mehr. Aber war das möglich? Während Chris sich anzog, bemerkte er die Blicke des weißhaarigen Mannes und fragte sich, ob dieser etwas im Schilde führte. Doch als er ihn direkt ansah, errötete Silian und wandte sich ab. Verwundert zog Chris eine Augenbraue hoch und beobachtete nun seinerseits, wie sein Gastgeber etwas Ordnung schaffte und dabei eher wirkte, als wolle er nur seine Finger beschäftigen. Sehr schöne Finger, wie Chris feststellte. Mit langen Gliedern und schmalen Handflächen. Sie erinnerten ihn tatsächlich an eine Elfe. Dazu kamen die langen weißen Haare, die wie flüssige Seide über die Schultern fielen und das zarte Gesicht umrahmten. /Er ist wirklich schön/, fuhr es ihm durch den Kopf. Warum lebte ein so schöner Mann allein im Wald? Hatte er gar keine Angst? Aber Silian hatte ihm ja erzählt, dass es noch mehr Leute in der Umgebung gab. „Ich habe leider nur ein Bett, aber es ist breit, so dass wir beide Platz darin finden. Ich hoffe, es macht dir nichts aus?“ Der Winterelf sah seinen Gast entschuldigend an und ging dann vor. Oben auf der Galerie befand sich ein schlichter offener Raum, in dem ein wirklich sehr breites Bett stand, das mit dicken Fellen ausgelegt war. Chris zog es magisch an. Silian löschte die Kerzen, so dass nur das leicht flackernde Kaminfeuer sein Licht und seine Wärme durch die Hütte strömen ließ. Sie legten sich hin und deckten sich mit den Fellen zu. Chris fand es wundervoll weich und kuschelig, viel besser als ein Federbett. Er drehte sich auf die Seite und war binnen kürzester Zeit eingeschlafen. Silian dagegen lag noch einige Zeit wach und dachte über den blonden Mann nach. Das Mal auf der Schulter gab ihm Rätsel auf. Er hatte es noch nie zuvor gesehen, aber wusste genau, was es bedeutete. Immer wieder fragte er sich, wie es Chris in diese Gegend verschlagen hatte und ob der Unfall tatsächlich nur ein Unfall gewesen war oder ob jemand dabei seine Finger im Spiel gehabt hatte. Das musste er unbedingt herausfinden. Aber vorher brauchte er etwas Schlaf. Müde schloss er die Augen und schlummerte bald ein. Als Silian aufwachte, war es bereits hell und der Wind rüttelte nicht mehr ganz so stark an den Fenstern. Chris schlief noch und so hatte er die Gelegenheit den Mann noch etwas anzusehen. Er gefiel ihm, weil er nicht so grobschlächtig war, wie die Menschen, die er bis jetzt gesehen hatte. Vor allem die Stupsnase hatte es ihm angetan. Der Winterelf streckte eine Hand aus und strich mit einem Finger über sie. Chris regte sich murmelnd und drehte sich auf die andere Seite, so dass Silian nur noch seinen Hinterkopf sehen konnte. Er schmunzelte und streckte die Finger aus, um nun das Haar zu berühren. Es war trotz seiner Kürze sehr fein und weich. Erneut stieg dieser Verdacht in ihm auf. „Aber das wäre ein zu großer Zufall.“ Leise erhob sich Silian und stieg die Treppe hinunter. In seinem Waschraum, der hinter dem Kamin lag und von einem Vorhang vom Hauptraum abgetrennt wurde, füllte er etwas warmes Wasser in eine Schüssel und wusch sich den Schweiß des vergangenen Tages vom Körper. Danach fühlte er sich gleich viel besser und suchte sich aus seiner Truhe eine warme Fellhose und das dicke Wollhemd heraus, das ihm sein Vater zur letzten Wintersonnenwende geschenkt hatte. Für Chris legte er eine Auswahl aus dessen Kleidung auf das Fußende des Bettes und verließ dann die Hütte, um nach den Rentieren zu schauen. Chris erwachte langsam und drehte sich immer wieder von einer Seite auf die andere. Es war so herrlich warm unter dem Fell, dass er gar nicht aufstehen wollte. Schließlich setzte er sich aber doch auf. Silian schien bereits wach und es wäre unhöflich, wenn er den ganzen Tag im Bett verbringen würde. Die Müdigkeit war ebenfalls größten Teils von ihm abgefallen und er fühlte sich erfrischt. Überrascht stellte Chris fest, dass Silian ihm Kleidung hingelegt hatte, was er sehr aufmerksam fand. Sein Misstrauen gegenüber dem anderen Mann flaute ab. Er war vielleicht nicht ganz richtig im Kopf, aber trotzdem sehr freundlich und hilfsbereit. Außerdem hatte er ein süßes Lächeln und faszinierende Augen. Schnell zog Chris sich an und stieg die Treppe hinunter. „Silian?“ Niemand antwortete. Neugierig nutzte er die Gelegenheit und schaute sich genauer um. Wie erwartet, befand sich nicht ein elektrisches Gerät im ganzen Haus. Es fehlte aber auch an nichts Lebensnotwenigem und ihm gefiel diese Einrichtung mehr und mehr. Vielleicht hätte seine Hütte ähnlich ausgesehen? Allerdings wusste er vom Vermieter, dass es einen Fernseher und DVD-Player gab. Die Tür ging auf und Silian trat ein. Auf seinen Schultern lagen einige Schneeflocken, die er sich fröstelnd abklopfte. Als er Chris sah, erschien ein Lächeln auf seinen Lippen, das den blonden Mann innerlich aufwärmte. „Du bist ja wach. Ich war kurz bei den Rentieren und habe den Schlitten entpackt.“ Erst jetzt bemerkte Chris den Beutel, den Silian sich über den Rücken gehängt hatte. „Ich muss dir allerdings sagen, dass du wohl nicht so schnell von hier weg kannst. Die Schneegeister haben sich noch nicht beruhigt. Aber es würde mich freuen, wenn du noch bleibst und mit mir Weihnachten feierst.“ Der Winterelf streifte seine Stiefel ab und schlüpfte in warme Hausschuhe. Danach leerte er den Inhalt des Beutels auf dem Tisch aus. Chris stellte fest, dass es ihm nichts ausmachte noch länger hier zu bleiben. Silian war ihm auf eine seltsame Weise vertraut und sympathisch. Er mochte seine kleinen Verrücktheiten haben, aber wer hatte das nicht? „Eigentlich wollte ich Weihnachten ja ausfallen lassen, aber wenn du mich so nett einlädst.“ Silian hielt verwundert in seinem Tun inne. „Du wolltest Weihnachten auffallen lassen? Ja, aber warum das denn? Das ist doch eines der schönsten Winterfeste! Und ihr Menschen freut euch doch immer darüber, wenn der Weihnachtsmann euch Geschenke bringt.“ Es machte ihn traurig, dass Chris das wohl anders sah. „Der Weihnachtsmann? Wer glaubt denn an den?“ lachte der junge Mann leise auf und setzte sich zu seinem Gastgeber an den Tisch. Dieser sortierte gerade einige Kräuter, die er in seinem Beutel gehabt hatte und verschnürte sie anschließend zu Bündeln. Jetzt unterbrach er seine Arbeit allerdings und sah Chris sehr unglücklich an. „Du glaubst nicht an den Weihnachtsmann?“ „Natürlich nicht. Das tun doch nur Kinder.“ Diese prompte Antwort brachte den Winterelf durcheinander. Es war für Chris so selbstverständlich. Ob alle Menschen so waren? „Entschuldige, habe ich deine Gefühle damit verletzt?“ Er beugte sich vor und berührte Silians Hand. Der weißhaarige Mann sah plötzlich so niedergeschlagen aus, dass es ihm selbst richtig weh tat. Eine tiefe Sorgenfalte war zwischen den hellen Augenbrauen entstanden. „Du glaubst an den Weihnachtsmann?“ „Aber selbstverständlich! Ich habe ihn sogar einmal persönlich getroffen, weil ein Vetter von mir Weihnachtselfe ist.“ Chris zog zweifelnd eine Braue hoch und presste die Lippen zusammen. Offenbar war Silian von all dem wirklich überzeugt. Aber warum auch nicht? Jeder brauchte einen Traum, an den er sich halten konnte. Und dieser war vermutlich nicht der schlechteste. „Was hast du gegen Weihnachten, Chris? Mir ist schon aufgefallen, dass du bedrückt aussiehst, obwohl es doch eigentlich Grund zur Freude gibt.“ Nun drehte der Winterelf seine Hand, so dass er die des Mannes halten konnte. Er mochte das Gefühl der warmen Haut an seiner und das leichte Prickeln in den Fingerspitzen. „Gibt es den? Dir macht es vielleicht nichts aus an Weihnachten allein zu sein, aber ich hasse das! Mein Freund hat vor einer Woche mit mir Schluss gemacht und ich habe niemanden, mit dem ich hätte feiern können. Deshalb wollte ich auch zu dieser Berghütte fahren, um dort alles zu vergessen.“ Chris starrte gedankenverloren auf ihre verschränkten Hände und atmete tief aus. Ihm war so sehr nach jemandem zumute, der ihn in den Arm nahm und sagte, dass alles gut werden würde. Wenigstens hatte er Silian nun gleich über seine sexuelle Orientierung aufgeklärt und es war ihm egal, ob dieser das akzeptierte, beschloss er grimmig. „Dann verstehe ich deine Traurigkeit. Es ist nicht schön verlassen zu werden. Aber weißt du, an Weihnachten ist niemand wirklich allein. Es gibt Familie und Freunde, mit denen man feiern kann oder die an einen denken. Schneegeister und Eisfeen, die dich freundlich grüßen, wenn du nach draußen gehst...“ „Hör auf mit diesem Quatsch.“ Chris ließ verärgert die Hand los und ballte seine zur Faust. „Ich habe keine Familie oder Freunde. Ich bin im Heim aufgewachsen und finde nur schwer Kontakt zu anderen. Deshalb war ich ja so glücklich, als Shawn mit mir ausgegangen ist! Mit ihm wäre Weihnachten wundervoll geworden, aber auch er hat mich einfach fallen lassen! Also schwärm mir jetzt nicht von einer heilen Welt vor! Ich kenne die Wahrheit.“ Silian schaute seinen Gast traurig an. Er konnte den Schmerz spüren, der von ihm ausging. Allerdings erinnerte ihn die Erwähnung des Waisenhauses erneut an seinen Verdacht. „Sei mir bitte nicht böse, Chris, ich wollte dich nicht verletzen oder alte Wunden aufreißen.“ Der Winterelf stand auf und ging zum Kessel, um Wasser für einen Tee aufzusetzen. Das gab ihm Gelegenheit ein wenig über die Worte nachzudenken. Chris sah ihm schweigend zu und bereute seinen Ausbruch. Silian konnte nichts für seine Vergangenheit. Der junge Mann hatte ihn gerettet und bot ihm nun sogar an, Weihnachten mit ihm zu verbringen. Das war es doch, was er gewollt hatte, oder? An Weihnachten nicht allein sein. „Entschuldige, Silian. Ich wollte dich nicht so anfahren.“ Der Weißhaarige drehte sich um und lächelte. Er streute noch einige Kräuter ins Wasser und setzte sich dann wieder zu Chris. „Schon gut, ich kann dich ja verstehen. Lass uns doch morgen einfach zusammen ein gemütliches Fest verbringen, ja? Ich könnte uns einen Stollen backen und wir schmücken noch etwas das Haus mit Tannenzweigen und Ilex.“ „Wieso morgen? Weihnachten ist doch heute.“ Chris stutzte. Er war sich dessen ganz sicher, schließlich war er am 23. Dezember losgefahren und sein Unfall war erst gestern gewesen. „Ach ja, ihr Menschen feiert ja am 24., nicht wahr? Wir Elfen feiern erst am 25., weil die ganze Arbeit dann vorbei ist. Heute Nacht verteilen Weihnachtsmann und Christkind die Geschenke und danach beginnt das große Fest.“ Chris musste unwillkürlich schmunzeln. Silians kindliche Ausführung und fester Glaube an die Magie von Weihnachten war niedlich. Es steckte vor allem an. „So, das Christkind hilft also auch mit?“ „Natürlich! Oder glaubst du, der Weihnachtsmann schafft es in einer Nacht die ganze Welt zu bereisen? Nein, nein. Er kümmert sich um die Nordhalbkugel und das Christkind um die Südhalbkugel.“ Silian lächelte, weil Chris sich langsam daran zu gewöhnen schien, dass er tatsächlich eine Winterelfe war. Menschen brauchten immer sehr lange, um solche Dinge zu glauben, was ja nicht unbedingt schlecht war. Nicht jeder musste von der Existenz seines Volkes wissen. Für Chris war diese Unterhaltung erfrischend und er beschloss, sich zumindest für die Zeit, die er hier verbrachte, darauf einzulassen. Schlicht aus dem Grund, weil es schön klang und ihm ein Gefühl von Friede vermittelte. Sie unterhielten sich noch eine Weile gemütlich bei Tee und Gebäck, das Silian aus einem Schrank hervorholte. Chris erzählte ihm von seiner Vergangenheit und der Winterelf steuerte Geschichten aus seiner eigenen Kindheit bei. Sie genossen die Gesellschaft des jeweils anderen und nachdem Silian ihnen beiden einen Schuss des Himbeergeist in den Tee gegeben hatte, wurde das Gespräch sogar noch richtig lustig. Wie Silian es vorgeschlagen hatte, schmückten sie zusammen am frühen Abend das ganze Haus mit duftenden Tannenzweigen und Ilexbüscheln, an denen sich Chris immer wieder stach. Der Winterelf fand das sehr amüsant und zog ihn bald damit auf, egal was er berührte. Diese Neckereien setzten sich auch beim Stollenbacken und Plätzchenausstechen fort, bis Chris es für genug empfand und Silian einfach eine Mehlnase verpasste. Kichernd setzte der weißhaarige Mann zum Gegenangriff über und zum Schluss waren sie beide über und über mit Mehl bestäubt. „Jetzt fehlt nur noch die rote Karottennase.“ lachte Chris und wischte sich vorsichtig mit dem Ärmel über die Augen. „Och, mir gefällt deine Stupsnase aber besser.“ gab Silian unbedacht zurück und sie erröteten beide. Es lag schon die ganze Zeit eine seltsame Stimmung in der Luft. Ausgelassen, aber auch angespannt, sobald bestimmte Themen gestreift wurden. Chris konnte sich das nicht erklären, obwohl er durchaus bemerkte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann, wenn Silian ihn berührte. So schnell konnte man sich doch nicht verlieben! Allerdings fühlte er sich bei dem jungen Mann schon jetzt viel wohler, als jemals zuvor mit Shawn oder einer anderen Bekanntschaft. Wie kam das nur? „Wenn du dich waschen möchtest, setze ich dir gern Wasser auf.“ bot Silian an und klopfte die letzten Mehlreste von seiner Kleidung. Chris war auf einmal so nachdenklich, ob das an seiner Bemerkung lag? Vielleicht war es ihm unangenehm, obwohl er bereits deutlich gemacht hatte, dass er für Männer empfand. /Aber möglicherweise nicht für Elfen./ Während Chris sich im Waschraum sauber machte und danach die Kleidung gezwungenermaßen wechseln musste, räumte Silian auf und dachte weiter über das Mal auf der Schulter nach. Er hatte schon viel darüber gehört, aber noch nie eines gesehen. Es interessierte ihn sehr, ob Chris davon wusste oder nur als ein einfaches Muttermal abtat. Was es im Grund ja auch war. Nachdenklich stellte er sich ans Fenster und beobachtete das Fangenspiel der Schneegeister. Sie wirbelten übermütig durch die Luft und um die Bäume herum, so dass man hin und wieder ihre hauchzarten Gestalten sehen konnte. Wie Schatten aus Schnee. Silian erfreute sich an diesem Anblick und vergaß darüber völlig seine vorherigen Gedanken. „Chris, komm doch einmal her.“ Er zeigte nach draußen und wartete, bis sich der blonde Mann hinter ihn gestellt hatte. Neugierig folgte der dem Finger mit den Augen. Der Schnee wurde wild vom Wind umhergetrieben. Es war ein schönes Bild, aber nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches. Silian musste seinen Blick richtig gedeutet haben, denn er schmunzelte und tippte leicht gegen die Scheibe. „Sieh genauer hin, dann weißt du, was ich meine.“ Chris beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. Dabei stieg ihm der kühle Duft von Silians Haaren in die Nase. Der Elf, wie er ihn nun für sich nannte, da er einem solchen doch sehr ähnlich war, löste in Chris das Bedürfnis aus, ihn zu umarmen. Die zarte Gestalt schmiegte sich bestimmt perfekt an seinen Körper an. „Dort!“ riss ihn Silians Ausruf aus den Träumereien. Chris konzentrierte sich wieder auf das Geschehen vor dem Fenster, erkannte jedoch nur das gewohnte Schneetreiben. Dann plötzlich glaubte er eine Gestalt zu sehen. Er hielt es für Einbildung, aber schon in der nächsten Sekunde tauchte eine zweite auf. Sie waren immer nur kurz sichtbar, die nächste Schneewehe nahm sie bereits mit sich fort, aber er war sich sicher etwas gesehen zu haben. „Was ist das?“ „Die Schneegeister. Sie spielen fangen. Pass auf.“ Silian klopfte stärker gegen das Glas und winkte den Gestalten zu. Christ fiel die Kinnlade herab, als sich eine Schneewehe aus der Luft löste und in kleinen Kreisen auf sie zu trieb. Man konnte ganz deutlich ein Gesicht erkennen, das immer wieder vom Wind verwischt wurde. Direkt vor der Scheibe blieb es in der Luft schweben. Handförmige Schneeflocken legten sich auf das Glas, das sofort beschlug. Ein Lächeln erschien auf dem geisterhaften Gesicht, dann war es plötzlich mit dem nächsten Windstoß wieder fort und ließ nur eine wunderschöne Eisblume am Fenster zurück. Chris konnte seinen Augen nicht trauen. Da war etwas gewesen! Ein kalter Schauer rann über seinen Rücken. „Du musst keine Angst haben. Sie tun dir nichts, auch wenn sie für deinen Unfall verantwortlich waren. Ich gebe zu, manchmal übertreiben sie es mit ihren Späßen.“ Silian drehte sich zu dem blonden Mann um und lächelte ruhig. Er hätte Chris gern umarmt und gezeigt, dass er nicht träumte, aber er traute sich nicht. „Es gibt sie wirklich? Schneegeister?“ „Ja, genauso wie es Winterelfen gibt.“ Der Elf grinste breit und zwinkerte. Er schob sich an Chris vorbei und setzte sich mit einer Tasse Tee an den Tisch, um seinem Gast etwas Zeit zu geben, seine Gedanken zu ordnen. Das hatte dieser auch dringend nötig. So viele Fragen wirbelten durch seinen Kopf. Wie war das möglich? Er hatte so etwas immer für Unsinn und Träumerei gehalten. Jetzt sollte das alles wahr sein? Langsam ging er zu Silian hinüber und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Kopfschüttelnd blickte er den weißhaarigen Mann an. „Wie konntet ihr euch so lange vor uns Menschen versteckt halten?“ Silian schmunzelte in seinen Tee und nahm einen tiefen Schluck bevor er antwortete. „Wir leben sehr zurückgezogen, wie du sehen kannst. Für uns Winterelfen ist es natürlich einfacher, da die Menschen für gewöhnlich wärmeres Klima dem Schnee und Eis vorziehen, die hoch in den Bergen und im Norden vorherrschen. Aber auch sonst haben wir Wege uns bedeckt zu halten. Viele meiner Verwandten leben weiter nördlich in Grönland oder Alaska. Dort werde ich im Sommer auch wieder hingehen.“ „Du willst weg?“ Chris wusste nicht, warum ihn dieser Gedanke störte, denn er kannte Silian zu kurz, um etwas für ihn zu empfinden – jedenfalls glaubte er das – , aber trotzdem wollte er diese Freundschaft nicht sofort wieder verlieren. Zu kostbar war sie ihm, denn er war überzeugt, dass er nicht so schnell wieder jemanden wie Silian treffen würde. „Im Sommer ist es mir hier zu warm, da wandere ich immer zu meiner Familie aus. Aber im Herbst komme ich zurück.“ Es berührte den Winterelfen, wie traurig Chris diese Nachricht aufnahm. Und es bestätigte seine Vermutung, dass dieser sehr einsam war. Mitfühlend ergriff er die etwas größere Hand und drückte sie leicht. „Würdest du mich etwa vermissen?“ „Ist es verrückt, wenn ich ja sage?“ Silian dachte darüber nach und schüttelte dann lächelnd den Kopf. „Nein, denn ich habe dich auch sehr gern. Du bist nicht wie gewöhnliche Menschen, sondern eher wie...“ Er stoppte sich und schluckte den Rest des Satzes herunter. Silian wollte Chris keine unnötigen Flausen in den Kopf setzen, falls dieser überhaupt so weit dachte. „Wenn du möchtest, kannst du mich auch einmal besuchen kommen.“ Chris machte große Augen und lächelte strahlend. Dem Elfen gefielen die kleinen Grübchen, die dabei entstanden. „Geht das denn? Muss ich nicht schwören, euch nicht zu verraten und so?“ „Nein, ich vertraue darauf, dass du alles, was ich dir erzählt habe, für dich behältst. Vermutlich würde dir sowieso niemand glauben. Du hast mir ja zuerst auch nicht geglaubt.“ „Stimmt. Selbst jetzt habe ich noch Zweifel, es ist einfach zu fantastisch! Und zu Weihnachten fast schon kitschig romantisch.“ Silian wurde etwas rot und kicherte vergnügt. Chris’ Freude steckte ihn immer mehr an und er hatte das Bedürfnis dem Mann mehr über sein Volk zu erzählen. Vielleicht konnte er so auch etwas sein Wissen testen. Chris war ein guter und aufmerksamer Zuhörer. Er stellte kluge Frage an den richtigen Stellen und amüsierte sich köstlich über kleine Anekdoten, die Silian anbrachte. Draußen wurde es immer dunkler und der Winterelf musste immer öfter seine Erzählungen zu Gunsten eines versteckten Gähnens unterbrechen. Auch Chris fühlte sich schwer und müde. Sie hatten zwar am Morgen noch etwas geschlafen, aber es konnte die verlorene Nacht davor nicht ersetzen. „Ich möchte dich nicht unterbrechen, Silian, aber wie wäre es, wenn wir an diesem Punkt aufhören und morgen neu ansetzen? Ich kann sehen, wie deine Augen beim Reden zufallen und ich freue mich auch schon auf das Bett.“ Chris trank den letzten Schluck Tee und stellte dann seine und Silians Tasse in den Abwasch. „Das ist eine gute Idee, Chris. Ich schaue nur noch kurz nach Sámi und Loan. Leg du dich ruhig schon hin.“ Damit stand der Winterelf auf, zog sich seine Stiefel und die dicke Felljacke an und ging nach draußen. Auf der kleinen Veranda entdeckte er einen Umschlag, der an den Stützposten geheftet war. „Na nu. Ein Weihnachtsbrief für mich?“ Doch als er die Adresse überprüfte, wies sie Chris als Empfänger aus. Ein kleiner Schock wallte durch Silian. Sollte das ein...Weihnachtsgeschenk sein? Er hatte die Glöckchen am Weihnachtsschlitten gar nicht gehört! Vermutlich waren sie so sehr in ihr Gespräch vertieft gewesen, dass er sie überhört hatte. Er musste gleich Sámi fragen. Gewissenhaft steckte er den Umschlag in seine Jackentasche und besuchte die beiden Rentiere. Sie hatten ihr Futter bis aufs letzte Blatt verputzt, so dass Silian ihnen noch eine kleine Portion nachgab. Er fragte Sámi nach dem Schlitten, der ihm mit einem Schnaufen bestätigte, dass der Weihnachtsmann da gewesen war. Chris lag bereits im Bett, als er die Haustür hörte. Silian werkelte noch kurz leise an der Küchenzeile herum, verschwand hinter dem Vorhang des Waschraumes, was Chris an dem Schleifen der Metallringe auf der Stange erkannte, und stieg dann die Treppe hinauf. „Ich schlafe noch nicht, du musst nicht schleichen. Und? Geht es ihnen gut?“ „Wem?“ fragte Silian verwirrt und setzte sich auf die Bettkante. Vom Nachttisch nahm er eine Bürste und begann sein langes Haar zu kämmen, damit es über Nacht nicht verfilzte. „Die Rentiere natürlich.“ Bildete Chris sich das ein oder wirkte der Elf tatsächlich durcheinander? „Oh, ja, ihnen geht es gut.“ Silian lächelte kurz über die Schulter und fuhr in seiner Arbeit fort. Fasziniert wurde er dabei von Chris beobachtet. Die Kerze auf dem Nachttisch brachte das weiße Haar zum Leuchten. Kleine Lichtreflexe ließen es wirken, als wären Perlen hineingewoben, die nun auffunkelten. Chris konnte gar nicht anders als die Hand auszustrecken und Silian die Bürste abzunehmen. „Darf ich?“ Bereitwillig überließ der Elfenmann ihm die Arbeit und schloss genießend die Augen. Chris kam ihm ganz nahe, er konnte die Wärme an seinem Rücken spüren. Ein aufgeregtes Gefühl ergriff von ihm Besitz und breitete sich von seinem Magen über den Rest seines Körpers aus. Silian merkte erst, wie lange sie schon so saßen, als er sich seiner kalten Füße bewusst wurde. „Das wird reichen. Danke.“ Er nahm die Bürste an sich und flocht noch schnell einen lockeren Zopf. Dann kroch er unter das Fell und lächelte Chris müde an. „Schlaf gut. Ich freue mich schon auf morgen, wenn wir zusammen Weihnachten feiern.“ „Ich auch. Gute Nacht.“ Chris beugte sich vor und küsste Silian auf die Wange. Danach hatte er es allerdings sehr eilig sich auf die andere Seite zu drehen. Der Winterelf starrte den blonden Schopf an, der unter dem Fell herauslugte und lächelte dann innig. „Gute Nacht, Chris.“ Der Weihnachtsmorgen war klar und eisig kalt. Silian beschloss, heute nicht viel Zeit draußen zu verbringen. Er stellte den Rentieren nur frisches Wasser und Futter bereit, öffnete dann die Box und ließ sie raus, damit sie sich im Wald etwas bewegen konnten. Chris schien ein Langschläfer zu sein, denn er kam erst die Treppe herunter, als Silian schon den Frühstückstisch gedeckt, einen Kessel Tee aufgesetzt und das frisch gebackene Brot aus dem Ofen geholt hatte. Das verschlafene Gesicht ließ den Winterelfen grinsen, denn es sah wirklich niedlich aus, wie Chris sich die Augen rieb und dann verhalten gähnte. „Hast du gut geschlafen? Du siehst erholt aus.“ „Ja, so fühle ich mich auch. Es geht doch nichts über ein warmes, weiches Bett.“ Chris kratzte sich am Hinterkopf und bestaunte still die Auswahl an Leckereien, die Silian bereit gestellt hatte. Es gab die verschiedensten Marmeladensorten, Honig, Käse, getrocknete Beeren, duftendes Brot und süßen Stollen. „Du verwöhnst mich.“ lächelte er und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Silian. „Schließlich ist doch Weihnachten.“ „Ach ja, ein fröhliches Fest wünsche ich dir.“ „Danke, dir auch.“ Silian freute sich richtig auf den Tag und goss ihnen beiden eine Tasse Tee ein. Das Frühstück verlief sehr harmonisch und gemütlich, so dass sie hinterher keine Lust hatten abzuwaschen, sondern sich vor den Kamin setzten und ihr Gespräch vom vergangenen Tag wieder aufnahmen. Silian streckte seine Füße dem Feuer entgegen und kuschelte sich in den Sessel. Den ganzen Morgen hatte er überlegt, ob er Chris auf sein Muttermal ansprechen sollte, denn er wollte endlich wissen, ob sein Verdacht richtig war. Der blonde Mann nahm es ihm allerdings ab, auf Umwegen dieses Thema anzuschneiden, denn er fragte plötzlich mit leicht geröteten Wangen: „Kommt es eigentlich vor, dass sich ein Elf in einen Menschen verliebt?“ „Oh ja, ab und zu kommt das vor. Es ist natürlich etwas komplizierter als normale Verbindungen, aber ich kenne einige solcher Mischlingspaare, die alle Schwierigkeiten gemeistert haben und nun glücklich zusammen leben.“ Silian musterte Chris und überlegte sich seine nächsten Worte sehr genau. „Manche Paare entscheiden sich sogar dafür Kinder zu bekommen.“ Chris horchte auf und zog die Brauen zusammen. „Ist das so ungewöhnlich?“ „Nun ja, es ist schwierig. Es kommt darauf an, welcher Elternteil elfisch ist. Wenn es der Vater ist, sind die Merkmale unseres Volkes stärker ausgeprägt. Ist es die Mutter, sind sie meist schwächer.“ Silian zögerte und warf Chris einen schnellen Blick zu. Er wusste nicht, ob es richtig war, aber er wollte die Frage stellen, die ihn nun so lange schon auf der Zunge brannte. „Weißt du, was ein Wechselbalg ist, Chris?“ Der blonde Mann sah ihn nachdenklich an und nickte leicht. „Ich habe einmal davon gelesen. Es ist ein alter Aberglaube. Er besagt, dass das Feenvolk ab und zu Menschenkinder rauben und dafür ihre eigenen in die Wiege legen. Meist sind diese missgebildet oder schreien sehr viel. Früher wurden so Behinderungen erklärt.“ Silian lächelte nachsichtig. Die Menschen legten sich gern ihre Wahrheit zurecht oder übertrieben fürchterlich. „Nicht ganz. Als ein Wechselbalg bezeichnet man eigentlich ein Feen- oder Elfenkind, das einen menschlichen Elternteil hat. Wie gesagt, kommt es auf die Stärke der Ausprägung der Elfen- oder Feeneigenschaften an. Diese entscheiden darüber, ob das Kind in unserer Welt aufwächst oder in die Menschenwelt gegeben wird.“ Silian nippte an seinem Tee und beobachtete Chris genau. Dieser zeigte keine Anzeichen des Verstehens. „Es wird weggegeben? In eine Pflegefamilie oder so etwas in der Art?“ Chris bekam plötzlich ein ganz mulmiges Gefühl. „Nun, wenn das Elfenkind in die Menschenwelt gegeben wird, geht der menschliche Elternteil gewöhnlich mit ihm. Das bedeutet aber auch, dass er alle Erinnerungen an unser Volk verliert. Deshalb entscheiden sich viele Mischlingspaare gegen Kinder, wenn die Gefahr besteht, dass sie zu große menschliche Teile haben würden. Du kannst dir ja vorstellen, dass niemand gern sein Kind weggibt.“ Chris starrte den weißhaarigen Mann ausdruckslos an. Ihn überkam eine hässliche Taubheit, die ihn innerlich lähmte. „Du hast gesagt, dass der menschliche Elternteil für gewöhnlich mitgeht. Gibt es auch einen anderen Fall?“ Silian biss sich auf die Unterlippe. Chris schien langsam zu verstehen. Er wollte ihn nicht verletzen, aber der blonde Mann hatte ein Recht darauf alles zu erfahren. „Entweder der Mensch zieht das Kind selbst auf, nachdem er gegangen ist oder...es kommt in ein Waisenhaus und die Eltern bleiben in der Elfenwelt. Das geschieht aber nur, wenn die Hoffnung besteht, dass-“ „Was willst du damit sagen?“ unterbrach Chris ihn heftig. „Dass mich meine Eltern ausgesetzt haben?! Dass sie irgendwo ein glückliches Leben führen, aus dem ich verbannt wurde?“ Erschrocken sprang Silian auf und kniete sich vor Chris’ Sessel, um seine Hand zu ergreifen und sie fest zu drücken. „Nein! Chris, so war das nicht gemeint und es tut mir leid, wenn ich mich unglücklich ausgedrückt habe.“ Er drückte seine Lippen gegen die weiß hervortretenden Knöchel und löste den verkrampften Griff um seine Hand. Chris sah ihn mit brennenden Augen an. In ihm tobte ein Sturm, der den Schneegeistern in nichts nachstand. Er weigerte sich schlicht zu glauben, was Silian ihm hier erzählte! „Chris, bitte hör mir bis zum Ende zu. Es ist wichtig.“ „Ich weiß nicht, ob ich das will.“ Chris zog seine Hand zu sich und stand auf. Vielleicht war das alles, was Silian ihm bis jetzt berichtet hatte doch nur ein Gespinst eines Verrückten. Den Schneegeist hätte er sich gestern auch einfach einbilden können, verzaubert von den Geschichten des Elfen. Elfen! Silian war wahrscheinlich nur ein ganz normaler Mann, der sich die Haare gebleicht hatte und so zurückgezogen lebte, um sich seine eigene Welt schaffen zu können. Der Winterelf stand betreten am Kamin und sah Chris traurig an. Da war so viel Verwirrung und Wut in dem Mann, dass er sich selbst überwältigt davon fühlte. Trotzdem musste er beenden, was er begonnen hatte. Er holte einmal tief Luft und ging um seinen Gast herum. Ernst blickte er zu ihm auf. „Chris, manchmal passiert es, dass solch ein Kind zu uns zurückfindet. Es wächst in der Menschenwelt auf, aber findet sich dort nicht zurecht. Dann haben sich die Elfengene doch stärker ausgeprägt als gedacht und es verspürt den inneren Drang seine wahre Familie zu finden.“ „Natürlich verspürt man das, wenn man keine Eltern hat und immer allein war!“ fuhr Chris auf und packte Silian an den Schultern. Der Elf verzog das Gesicht, denn es tat ihm weh. „Ich weiß, dass es nicht leicht ist ohne Eltern aufzuwachsen, das muss sehr schlimm für dich gewesen sein. Aber hattest du nie das Gefühl, dass du anders bist? Dass es etwas gibt, das dich von den Menschen in deiner Umgebung eher wegtreibt? Eine innere Sehnsucht nach einem fernen Ort?“ Chris zog seine Hände weg, als habe er sich an dem hellen Mann verbrannt. Silians Worte schmerzten, weil sie in ihm eine Hoffnung aufkommen ließen, die er nie hatte zulassen wollen. Der Winterelf machte einen Schritt vor und wollte ihn in den Arm nehmen, um ihn über diese Verwirrung hinwegzuhelfen, doch Chris schlug die ausgestreckten Arme beiseite. „Hör auf mir diese Dinge einzureden! Ich bin ein ganz normaler Mensch, der einfach nur Pech hatte, okay?“ Wütend drehte er sich um und lief die Treppe ins Schlafzimmer hinauf. Er wollte nichts mehr davon hören. Diese Erklärung für seine Einsamkeit war doch lachhaft! Chris warf sich aufs Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen. Wieso hatte Silian davon anfangen müssen? Jetzt ging ihm dieser Gedanke nicht mehr aus dem Kopf und ihm fielen immer mehr Situationen ein, die perfekt zu dieser Geschichte passten. Der Winterelf stand traurig im Hauptraum und seufzte leise. Vielleicht war er zu voreilig gewesen. Chris litt unter seiner Vergangenheit und dem Alleinsein, das konnte er deutlich sehen. Jetzt auf einmal gesagt zu bekommen, dass er tatsächlich nicht in diese Welt gehörte, war bestimmt ein Schock. Silian wollte ihn jetzt nicht allein lassen, deshalb folgte er ihm leise ins Schlafzimmer und setzte sich aufs Bett. Zärtlich strich er durch die kurzen blonden Haare. „Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht weh tun. Kann ich irgendetwas tun, um-“ „Geh...bitte. Lass mich einfach etwas allein.“ Chris vergrub das Gesicht tiefer in seinem Kissen und kniff die Augen zusammen. Silians Gegenwart war im Moment genauso verstörend, wie die Offenbarung, dass er ein Halbelf sein sollte. Kurz presste der Weißhaarige die Lippen zusammen und nickte. Es war wohl wirklich besser, wenn er Chris sich selbst überließ. „Na gut, wenn du mich suchst, ich bin draußen und hole Holz.“ Genauso leise wie er gekommen war, verschwand Silian wieder. Das Feuerholz war eigentlich nur eine Ausrede gewesen. Die Hütte war ihm plötzlich zu klein vorgekommen für sie beide und die kalte Luft würde ihm bestimmt gut tun. So konnte er möglicherweise auch etwas Klarheit in seine eigenen Gefühle bringen. Diese wirbelten genauso verrückt herum wie die Schneegeister, wann immer Chris ihn anlächelte oder berührte. Umso schlimmer war es nun, dass er ihn so vor den Kopf gestoßen hatte. Mit einem Eimer Hafer und Nüssen bewaffnet, stapfte Silian tiefer in den Wald und streute an den gewohnten Stellen Futter für die Vögel und Nagertiere aus. Bei der hohen Schneedecke würden sie wohl kaum Nahrung freibuddeln können. Plötzlich stupste ihn etwas in den Rücken. Als Silian sich umdrehte, standen Sámi und Loan vor ihm. „Hallo, ihr zwei! Habt ihr auch einen Spaziergang gemacht?“ Die Renkuh schnaubte und trat näher, um einen Blick in den Eimer zu werfen. Bereitwillig gab Silian seinen Freunden jeweils eine handvoll Hafer und streichelte die kräftigen Hälse. „Du wusstest es von Anfang an, oder, Sámi? Dass Chris kein gewöhnlicher Mensch ist?“ Das Rentier bewegte den Kopf und schabte mit einem Huf. „Ja, ich habe es ihm gesagt, aber er hat es nicht gut aufgefasst. Er ist sehr verwirrt von dieser Neuigkeit und hinterfragt nun wahrscheinlich sein ganzes Leben. Ich wollte ihn trösten, aber er hat mich abgewiesen.“ Loan stieß ihn etwas unsanft in die Seite. Silian konnte gerade noch ihrem riesigen Geweih ausweichen. „Ich weiß, dass er jetzt erst mal Zeit für sich braucht! Trotzdem....ich möchte ihm beistehen.“ Die zwei Rentiere sahen sich an und schnaubten. Silian wurde rot und drehte sich beleidigt um. „Und wenn schon! Dann mag ich ihn eben mehr!“ Auf diese Neckereien seiner Freunde konnte er im Moment gut verzichten! Selbstverständlich mochte er Chris sehr sehr gern, ob es nun an seinem Halbblut lag oder natürliche Anziehung war. Der blonde Mann hatte sich in sein Herz geschlichen und es tat Silian weh, wenn er sich vorstellte, dass Chris ihn nun womöglich hasste. Schweigend trottete er weiter durch den Wald. Sámi und Loan begleiteten ihn. In einem großen Bogen kehrten sie zur Hütte zurück und die Rentiere verabschiedeten sich in den Stall. Da er gesagt hatte, er würde Holz holen, ging er mit einem Korb zu dem Unterstand, wo er die Scheite gestapelt hatte und suchte einige trockene heraus. „Woher wusstest du es?“ ließ ihn Chris’ Stimme auf einmal hochfahren. Silian ließ das Holzscheit, das er gerade herausgezogen hatte, vor Schreck in den Schnee fallen. „Chris! Schleich dich doch nicht so an.“ Der Winterelf verzog den Mund zu einem Lächeln und hoffte, dass sich einige Dinge für seinen Gast geklärt hatten. „Entschuldige.“ Chris hob das Scheit auf und legte es in den Korb. Dann sah er Silian ernst an. „Woher wusstest du es?“ „Dass du ein Halbelf bist?“ „Ja.“ „Das Muttermal auf deiner Schulter.“ Silian berührte die Stelle sanft mit einer Hand. Chris machte ein sehr verdutztes Gesicht. Offenbar hatte er mit etwas Spektakulärerem gerechnet. „Was hat das denn damit zu tun?“ „Alles, Chris. Hast du es dir einmal genau angesehen? Vermutlich nicht, schließlich ist es auf deinem Rücken. Es ist kein gewöhnliches Muttermal, sondern ein Elfenkuss.“ Der Winterelf lächelte traurig und stellte den Korb mit dem Holz auf den Boden, da er ihm zu schwer wurde. Chris wartete auf eine Erklärung. „Wenn eine Elfe ihr Mischlingskind in die Menschenwelt geben muss, weil es zu wenig Elfisches in sich trägt, gibt sie ihm zum Abschied einen Kuss. Dieser hinterlässt solch ein Mal, wie du es trägst.“ Silian sah den jungen Mann mitfühlend an und nahm den Korb wieder auf. Chris zog die Stirn kraus und presste die Lippen fest zusammen. Das Mal stammte von seiner Mutter? Der Abschiedskuss für vielleicht ein ganzes Leben? Plötzlich schien die Stelle auf seinem Rücken zu brennen. Er wurde sich ihr überdeutlich bewusst. „Komm, lass uns hineingehen. Es wird kalt.“ Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, gingen sie in die Hütte. Beim Ausziehen seiner Jacke fiel der Brief aus Silians Tasche. Er hob ihn auf und gab ihn Chris. „Der ist für dich. Er lag gestern Abend vor der Tür. Ein Weihnachtsgeschenk.“ Chris musterte das dicke Büttenpapier und zog eine Braue hoch. „Von dir?“ Vielleicht enthielt der Brief noch mehr von Silians folgenschweren Enthüllungen. „Nein, vom Weihnachtsmann.“ Chris ersparte sich die Frage, woher der Weihnachtsmann wusste, wo er sich aufhielt. Wollte er wirklich wissen, was dieser ihm schrieb? Lange starrte er auf den Brief und seinen in filigraner Schrift geschriebenen Namen. Silian hielt die Luft an, als Chris zögerlich begann den Umschlag aufzureißen. Er wusste selbst nicht, was für eine Mitteilung darin enthalten war. Normalerweise verteilte der Weihnachtsmann keine Briefe. Chris zog eine einfache Karte aus dem Umschlag. Drei Worte standen darauf, die sich in seine Netzhaut brannten, wie glühende Eisen. Erkenne dich selbst. Stumm reichte er den Zettel an Silian weiter und wartete dessen Reaktion ab. Der Winterelf las die Nachricht und begann zu lächeln. Ja, das war typisch Weihnachtsmann. Schlichte Worte und doch wurde alles gesagt, was wichtig war. „Es ist alles wahr, oder? Ich träume nicht und du erzählst mir auch keine Märchen.“ Chris schluckte schwer, denn nun konnte er die Wahrheit nicht mehr leugnen. Eine Stimme tief in seinem Inneren sagte ihm, dass er Heim gekehrt war, endlich an dem Ort angekommen, den er sein ganzes Leben lang gesucht hatte. „Ja, Chris, du bist ein Nachkomme des Elfenvolkes, der als Wechselbalg zu den Menschen geschickt wurde und nun ein Faríl ist, ein Zurückgekehrter.“ Silian machte einen Schritt vor und umarmte Chris. „Ich freue mich so für dich.“ „Was muss ich jetzt tun?“ Die Stimme des blonden Mannes versagte. Er schloss den Winterelf fest in die Arme und schluchzte leise. Bedeutete das, er konnte seine Eltern sehen? Er würde eine Familie haben und endlich einen Platz, wo er willkommen war? „Du musst gar nichts tun. Es steht dir frei, ob du weiterhin bei den Menschen leben oder deine Wurzeln suchen willst.“ Liebevoll streichelte Silian über die bebenden Schultern und fühlte sich dabei wundervoll, weil er Chris trösten durfte. Seine Brust wurde ganz warm vor Glück und sein Herz klopfte eilig. „Kann ich auch bei dir bleiben?“ Silian erschauderte. Chris drückte ihn noch enger gegen sich. „Natürlich.“ hauchte der Winterelf sprachlos und löste sich leicht, um sein persönliches Weihnachtsgeschenk zu betrachten, denn nichts anderes war der blonde Mann für ihn. Silian freute sich unheimlich, dass Chris bei ihm bleiben wollte. Natürlich würden sie sich zu gegebener Zeit auf die Suche nach den Eltern machen, aber wahrscheinlich war das noch zu früh. Zuerst musste sich Chris an sein neues Leben und seine neue Identität gewöhnen. Der blonde Mann lächelte leicht. Wenn er daran dachte, was noch alles auf ihn zukam, wollten seine Knie nachgeben. Tausende von Fragen wirbelten in seinem Kopf herum und kaum war eine beantwortet, taten sich hundert neue auf. Doch für den Moment wollte er sie alle vergessen und das Gefühl genießen, wie Silians Körper sich gegen seinen drückte. Er hatte Recht, sie passten sich perfekt aneinander an. „Ich bin froh, dass du mich gerettet hast, auch wenn ich jetzt nicht mehr weiß, wer ich bin.“ Silian lachte und schaute mit geröteten Wangen zu Chris auf. „Du bist immer noch der gleiche Mann mit der niedlichen Stupsnase, den ich gestern kennen gelernt habe. Nur bedeutest du mir mittlerweile viel mehr als zu Beginn.“ Silian stellte sich auf die Zehenspitzen und legte seine Lippen sacht auf Chris’, der sie ihm bereitwillig entgegen streckte. Der Kuss war süß und hatte etwas winterlich-frisches an sich. Erquickend und befreiend. „Obwohl ich darauf brenne meine Eltern zu finden, können wir ruhig noch etwas unter uns bleiben. Ich wäre glücklich, wenn du mir alles über Elfen beibringen würdest, was du weißt.“ Silian kicherte und schmiegte sich gegen Chris. „Einverstanden. Wenn du möchtest, kann ich auch gleich anfangen.“ Er küsste die weichen Lippen noch einmal. „Elfen mögen es, wenn man sich mit ihnen vor den Kamin auf ein großes Fell legt und kuschelt.“ „Tatsächlich? Nun, ich glaube aber nicht, dass ich das mit allen Elfen tun möchte.“ „Oh, das musst du gar nicht. Ich stehe dir gern stellvertretend für mein Volk zur Verfügung.“ Chris grinst und drängte Silian rückwärts Richtung Feuerstelle. „Unser Volk.“ berichtigte er leise. Silian lächelte und umarmte Chris fest. „Stimmt, du gehörst ja jetzt zur Familie.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)