Fight the Future von Ulysses (Jeremiah's Odyssey) ================================================================================ Kapitel 1: The City of Ruins ---------------------------- „Verdammt, ich habe schon wieder verschlafen! Warum weckst du mich nicht, Mum?!“ Jeremiah stürmte die Treppe seines Elternhauses hinab, draußen schien bereits die Morgensonne auf die grünen blühenden Gärten der ruhigen Vorstadtstraße. Bald würde wie immer der Schulbus vorbei kommen... und Jeremiah, kurz Jerry, würde ihn wie immer nur mit knapper Not erreichen. Oder auch nicht. Sein Hund Cosmo erwartete ihn mit dem Schwanz wedelnd am Fuß der Treppe, bekam aber nur ein schnelles Kraulen über den Kopf, dann setzte sich der junge blonde Mann an den Tisch und schlang seine Cornflakes in sich hinein. „Hast du heute Nachmittag noch Schwimmtraining?“ Seine Mutter, für Jeremiah ein Engel auf Erden, gesellte sich zu ihm und lächelte. „Ja.“, schmatzte der Blonde, „Hab ich, von nix kommt nix.“ „Dann trockne dir aber gut die Haare ab, ja?“ „Mum, ich bin fast zwanzig!“, lachte ihr Sohn. Er hatte sein Essen beendet und schnappte sich bereits die Schultasche. „Morgen, mein Sohn.“ Sein Vater kam aus dem Bad, er trug bereits seinen ordentlichen Anzug für die Arbeit, wie jeden Morgen. Eine gemütliche Routine. „Morgen, Dad. Ich muss los.“ “Wie immer!“, lachte sein Vater, „Deine Schwester ist schon vor zwanzig Minuten los gegangen.“ So war das immer. Dorothy war immer pünktlich. Aber wirklich böse war Jeremiah niemand, er war eben so und so wurde er geliebt. Sein Leben war perfekt. „Ist Experiment C5 bereit für die Test?“ Der ganz in Weiß gekleidete Mann mit dem Laborkittel, dem Mundschutz und der Schutzbrille ließ den Knopf der Gegensprechanlage los und wartete auf eine Antwort. Es knisterte kurz, dann kam ein „Positiv!“ zurück. „Gut, bringen sie ihn her. Es ist alles bereit.“ Nur weniger Minuten später öffneten sich die Schleusentüren und eine Rollliege wurde hinein geschoben, auf der ein blonder junger Mann lag. Bis auf ein Tuch über seiner Körpermitte war er nackt. Die Liege wurde in die Mitte des Raumes gebracht und dort festgeschnallt. So auch der blonde Mann. Zusätzlich klebten sie Kontrollpads auf seine Brust, Elektroden an seine Schläfen und schoben kleine Kabel bewehrte Nadeln unter die Haut. „C5ist fertig für die Test.“ verkündete eine Frauenstimme. Das Geschlecht war den vermummten Gestalten nur schwer zuzuordnen. „Was wird es diesmal?“ Der Mann mit dem Mundschutz beugte sich über das Testobjekt, besah dann kurz seinen kleinen Taschencomputer, scrollte durch die Datei, die geöffnet war. „Wir mischen Crichnin mit einem doppelten Dosis Anti-Lorazin. Dazu bekommt er noch Zon gespritzt.“ „Ist es mit der Regierung abgeklärt, dass wir hier Zon benutzen? Es ist sehr gefährlich.“ Der Arzt lachte auf und musterte seine Kollegin mit einem abschätzigen Blick. Sie war neu... und sehr naiv wie es schien. „Die Regierung hat dieses Zeug in Umlauf gebracht. Das war ein Testlauf. Jetzt sind wir über die mutagenen oder tödlichen Nebenwirkungen informiert und konnten einen Blocker einbauen, der diese Reaktionen hoffentlich verhindert.“ „Hoffentlich?“, fragte die Frau. „Es wurde noch nicht getestet, wir werden sehen, welche Wirkung es auf C5hat. Schließen Sie die Maschinen an. Wenn er uns verreckt, heißt es eben zurück ans Reißbrett und wir machen mit C4 weiter.“ „Jawohl, Doktor.“ Die Kabel, die aus dem Körper der Testperson ragten oder an ihr befestigt waren, wurden an die Geräte angeschlossen. Als der Strom eingeschaltet wurde, ging ein kurzes Zucken durch den schlaffen Körper. Über eine Kanüle im Handrücken, die aussah, als wäre sie bereits mit der Haut verwachsen, wurden die Medikamente gegeben. Gebannt starrten alle auf die Monitore und Ausschlagnadeln. Auf einem Bildschirm konnte verfolgt werden, wie sich die Mittel im Körper ausbreiteten. „Er sollte gleich eine Reaktion zeigen.“ „Brenda schaut dich an.“ Clint, Jerrys bester Freund, boxte ihn in die Seite und nickte in Richtung der großen Glasscheibe an der Schulschwimmhalle. Die Sonne fiel dort hinein und ein paar Mädchen drückten sich an dieser Stelle herum, rein zufällig natürlich, nicht etwa um einen Blick auf die Jungs mit ihren vom Schwimmen geformten Körpern in den engen Badehosen zu erhaschen. „Ja und?“ „Hallo-ho?! Na und?! Das ist Brenda! Die Brenda! Ms. Traumbusen!“ Jeremiah lachte auf und schüttelte nur den Kopf. „Du spinnst, komm wir müssen noch...“ Er konnte den Satz nicht beenden, die Kopfschmerzen raubten ihm fast den Verstand, nicht ein Gedanke blieb mehr hängen. Gleichzeitig wurde ihm schlecht. „Jerry? Warum bist du so blass?“ Der Blonde torkelte zur Seite, alles drehte sich, verschwamm zuckend vor seinen Augen. Er verlor den Halt, sein Fuß trat ins Leere als er rückwärts ins Schwimmbecken stürzte. Clint schrie etwas, doch Jeremiah sah nur die Mundbewegung, hörte es nicht. Dann schlug das Wasser über ihm zusammen, eiskalte Hände schienen an seinem Körper zu zerren, ihn immer weiter in die Tiefe zu reißen. Jeremiah öffnete den Mund, schluckte Wasser. Vor seinen Augen wurde es schwarz. Fühlte es sich so an, wenn man starb? „Die Werte spielen völlig verrückt!“ Der Arzt zuckte zurück und schaute sich die Monitore an. Der Herzschlag des jungen Mannes raste, seine Augen bewegten sich wie wild unter den Lidern, der Körper zuckte wie unter elektrischen Stößen. Eine Kanüle riss aus der Haut und Blut quoll hervor. Dann trat auf einmal Stille ein. „Ist er... tot?“ „Nein...“, beantwortete der Chef der Wissenschaftler. „Alle Werte sind wieder völlig normal.“ Alle starrten wie gebannt auf die Bildschirme, keiner sah die Hand des Blonden, deren Finger sich langsam bewegten. Sie ballten sich zur Fäusten, lösten sich wieder und krampften erneut zusammen. Die Geräte gaben keinen Ausschlag für die plötzlich erhöhte Gehirnaktivität. Und selbst wenn, hätte das Team es nicht bemerkt, da sie gerade eifrig darüber diskutierten, welche Wirkung die Drogen nun hatten und vor allem welche Folgen. Plötzlich schlug das Testobjekt die Augen auf. Langsam, wie in Zeitlupe lösten sich die Riegel der Armschlingen, auch die an den Beinen rutschten aus ihren Halterungen und gaben den jungen Mann frei, der sich ruckartig aufsetzte und umsah. Sein Gesicht zeigte absolute Verstörung, er wusste nicht wo er war oder was mit ihm geschah. „Doktor! C5 ist aufgewacht!“ stieß eine junge Assistentin aus und wich einige Schritte zurück. „Bitte bewahren Sie alle die Ruhe. Verabreichen Sie C5 eine Dosis Phetalin und schnallen sie ihn wieder fest.“ „Wo bin ich...?“ Die Worte kamen klar aus dem Mund des jungen Mannes. „Wo bin ich? Wo habt ihr mich hingebracht?!“ „Es ist alles gut.“, meinte der Arzt so ruhig wie möglich. „Sie sind im Krankenhaus und sehr krank. Bitte legen Sie sich wieder hin, damit wir Sie heilen können.“ „Wo bin ich?!“, donnerte der Blonde. „Ganz ruhig, alles okay.“ Der Arzt hob beschwichtigend die Hände. „Wir regeln das alles. Ich werde Ihnen alles erklären.“ In diesem Moment war der Assistenzarzt bei dem jungen Mann und wollte ihm eine Spritze setzen, doch urplötzlich wurde er von den Beinen gerissen und flog durch den Raum. Er schlug so heftig mit dem Schädel an die Wand, dass dieser brach und der Mediziner tot zu Boden fiel. „Schießen Sie!“, brüllte der Oberarzt. So etwas war nicht geplant gewesen. Wie konnte es sein, dass C5 schon die Art Kräfte besaß, die man ihm eigentlich hatte geben wollen. Die Experimente waren doch bisher ohne Ergebnis. Neben der Tür stand ein Wachmann, der nun seine Waffe zückte und abdrückte. C5 hob die Hand und die Kugel stoppte vor deren Fläche, rotierte weiter in der Luft, wie eingefroren. „Was zum...?“ Dies waren die letzten Worte des Wachmannes, denn die Kugel löste sich von C5s Hand und raste zurück. Direkt in die Stirn des Mannes. Er brach zusammen. „Wo bin ich?“, wiederholte der Blonde die Frage wie in Trance. Es brach Panik im Team aus, denn einige, vor allem die Schwestern, erkannten, dass diese Situation aus dem Ruder lief und man besser daran tat, zu fliehen. Der Oberarzt versuchte einen weiteren Beschwichtigungsversuch, nachdem er seinen Mundschutz herunter gerissen hatte. „Ihnen passiert nichts. Bitte beruhigen Sie sich. Sie sind im Krankenhaus, Sie hatten einen Unfall.“ Schweiß stand auf seiner Stirn und er ging, entgegen seinen Worten, vorsichtig rückwärts. „Wo bin ich?!“, schrie sein Gegenüber nur erneut und eine Schockwelle löste sich aus seinem Körper. Sie schleuderte den Arzt von den Füßen, eine Schwester hatte weniger Glück. Sie raste hilflos direkt in die Wand von Bildschirmen und Konsolen und starb zuckend in einem Funkenregen, eine andere wurde gegen den Türrahmen geschleudert und sank mit blutendem Gesicht zusammen. C5 schaute den Arzt an, der immer noch am Leben war, drehte sich dann aber um und ging zur Tür. Die Schläuche und Kanülen rissen aus seiner Haut, hinterließen Blutspritzer auf dem Boden. „C5! Du kannst nicht gehen! Du kommst hier nicht raus! Wenn du versuchst, dieses Gebäude zu verlassen, wird man dich erschießen! Komm zurück!“ schrie der Mann ihm nach und rappelte sich wieder auf, um zum Alarmknopf zu stürzen. Doch der Blonde hörte nicht auf ihn. Die Alarmsirenen schrillten auf als er den Gang hinab ging, in der Decke brachen Leitungen, sprühten Funken. Bildschirme in den Wänden gingen krachend zu Bruch. Ein Einsatzkommando der Sicherheitskräfte stürmte heran, begann aus allen Rohren auf ihn zu feuern. Doch es waren nicht die Schreie von C5, die daraufhin durch die Gänge hallten. ~~~ Dreizehn Stunden später war das Chaos immer noch nicht beseitigt. Einsatzkräfte hasteten durch die Korridore, schleppten Leichen oder Schutt beiseite und zogen Kabel an langen Rollen durch die Gänge. Was seit Jahrzehnten nicht mehr passiert war, war nun eingetreten – ein Stromausfall. Und das trotz des ausgeklügelten Versorgungssystems, das die Anlage durchzog. „Allerdings hatten wir auch noch nie einen solchen Zwischenfall“, bemühte sich ein verschwitzter Wissenschaftler, seinen Vorgesetzten zu beruhigen. „Ich kann Ihnen versichern, wir konnten damit nicht rechnen, wer sollte wissen, dass C5 so… durchdrehen würde!“ „Ich weiß. Ich weiß, Dr. Filburt, ich weiß.“ Dr. Chokers Stimme war leise, sanft und sehr verständnisvoll. „Glauben Sie mir, ich mache Ihnen keinen Vorwurf deswegen, nicht einmal im Traum…“ Filburt schien erleichtert. „Gut, Sir, ich möchte auch noch hinzufügen, dass wir alles menschenmögliche tun werden, um C5 wieder sicherzu…“ „Menschenmöglich. Hm.“ Choker unterbrach ihn, immer noch verträumt und abwesend wie vorhin. „Wissen Sie, ich glaube, das wird nicht genug sein.“ Er legte jovial einen Arm um die Schulter seines Untergebenen und stieg beiläufig über einen abgetrennten Arm, der immer noch zwischen Schutt und Schrott lag. Filburt zuckte zusammen. „Sie sind doch ein kluger Mann, nicht wahr, Dr. Filburt?“ Der Forscher wusste nicht, was er sagen sollte und murmelte etwas Unverständliches in sich hinein. „Guter Mann“, fuhr Choker fort, mit einem Grinsen als hätte Filburt mit aller Inbrunst ‚Ja’ geschrieen und salutiert. „Und als was genau würden Sie C5 nun bezeichnen?“ „Als… als… experimentellen Träger des ADAM-Genoms, der als Neuster in einer Reihe von Versuchobjekten…“ Wieder wurde er unterbrochen. „Also alles andere als ein Mensch, nicht wahr, mein Freund?“ „Nun…“ Filburt holte tief Luft, erhaschte dann aber einen Blick aus Chokers blassgrünen Augen und schluckte seine Entgegnung hinunter. „Ja, Sir. Ich meine, nein, Sir.“ „Ergo wird ‚alles Menschenmögliche’ zuwenig sein. Viel zuwenig.“ Er ließ seinen Untergeben los und faltete die Hände wie zum Gebet. „Sie sind doch das Ass hier in dieser Firma, nicht wahr? Der ungekrönte König der Biogenetik.“ Filburt versuchte erst gar nicht, eine Antwort zu finden. „Ich schlage vor, Sie wachsen über sich hinaus, mein Freund. Das Ass ist zuwenig. Seien sie der Joker.“ Er klopfte ein letztes Mal kumpelhaft auf Filburts Schulter. „Der Joker schlägt jede andere Karte, ich hoffe Sie wissen das. Seien Sie der Joker, oder ich werde es sein. Und Sie, das Ass, landen irgendwo unten bei den Groundrunnern.“ „Sir, ich…“ Choker wandte sich um und ging. „Holen Sie C5 zurück. Sie haben genau eine Woche.“ Filburt ließ die Schultern hängen. ~~~ Cassiopeia kannte die Ruinen Bostons besser als ihre eigene Westentasche – mit der sie die Ruinen auch gerne und oft verglich. „Dreckig, kaputt und mit einem Riesenloch im Boden.“ Das traf es eigentlich ziemlich genau – von der Stadt war seit dem Krieg nichts mehr übrig, außer Schrott. Tote Reste von Wolkenkratzern ragten wie verfaulte, abgestorbene Arme hilfesuchend in den Himmel, Glas, Beton und Schutt lagen auf den Straßen – ein Kriegsgebiet, in dem niemand mehr lebte, nicht einmal die ärmsten Schlucker aus den Slums. Nur Leute wie sie waren hier, Leute die von anderen gleichwohl bewundert und gefürchtet wurden. Meistens nannte man sie einfach nur Jäger, andere sagten auch schon mal Leichenfledderer. Aber schließlich musste man ja überleben. Cassiopeia lehnte ihren schlanken Körper an eine der nackten Betonwände und rutschte daran herunter. Sie zog ihre zerfranste Tasche näher an sich heran und angelte nach ihrer Beute – ein paar alte Medikamente und etwas Munition. Vielleicht würde Isaac es gebrauchen können. Auf dem Schwarzmarkt waren Dinge aus den Ruinen oft viel wert. Und was sie noch gefunden hatte, würde sich definitiv zu Geld machen lassen. Eine kleine metallene Flasche, vollkommen rostfrei, also noch relativ neu. Sie enthielt eine glasklare Flüssigkeit, die ein wenig nach Zitrone roch. Zon. Sie nannten sie Zon. Die Droge, die fast schon unheimlich plötzlich in Umlauf gekommen war und die rasend schnell ihre Opfer gefordert hatte. Und ihre Wirkung auf Menschen war furchterregend. Wenn die Abhängigkeit nicht in den Tod führte, wechselte derjenige bald in einen Zustand, der weit schlimmer war als das. Man sprach sogar vom vollkommenen Verlust der Menschlichkeit. Nach dem Verbot von Zon wurde die Beschaffung immer schwieriger und obwohl es niemand zugab, viele Labore in der Stadt rissen sich um Proben für Experimente. Cassiopeia wühlte in ihrer Tasche und förderte eine Wasserflasche hervor. Die Luft in der Zone war trocken und roch nach Tod, sie brannte im Hals und man durfte nie zu lange hier sein. Gierig trank sie das kühlende Nass, als sie aus den Augenwinkeln etwas entdeckte. Eine Person. Aber keinen Groundrunner. ~~~ Was war denn nur geschehen? Jerry torkelte durch die kalte abgestanden schmeckende Luft in dieser unwirklichen Ruinenwelt in die er geraten war. Wie? Warum? Die Fragen konnte er sich nicht beantworten. Sein Kopf dröhnte, unter seiner Haut schienen Milliarden Ameisen zu krabbeln, das Gefühl machte ihn schier verrückt. Der Wind pfiff um seinen nackten Körper an dem sich sein eigenes aus vielen kleinen Wunden fließendes Blut mit dem vermischte, das bereits auf seiner Haut klebte. Wie war es dahin gekommen? Und wie hatte er sich verletzt? Schritt für Schritt ging Jerry vorwärts. "Ach du scheiße, noch so einer." Cassiopeia resignierte. Was sie sah, war wohl ein weiteres Opfer einer Zon-Überdosis, das innerhalb kürzester Zeit zu einem Groundrunner werden würde. Kurz überlegte sie, ob es Zweck hätte, aufzustehen, starrte kurz von ihrer Flasche zu dem Neuling und wieder zurück - seufzte dann aber auf und erhob sich. "Alles klar, Mann? Wieviel von der Scheiße hast du dir denn reingeknallt?" Jerry zuckte zusammen und starrte die junge Frau an, die sich ihm da näherte. Er stolperte recht hilflos ein paar Schritte zurück und verlor das Gleichgewicht. Der staubige Boden fing seinen Sturz ab. Komplett neben sich, aber nicht unter Drogen - Cassiopeia musste ihre Meinung über den jungen Mann zurücknehmen, als sie näher kam. Zon-Junkies sahen anders aus, rochen anders, bewegten sich anders. Aber was zur Hölle machte der Kerl hier, splitternackt und in den Ruinen von Boston? "Du bist hier definitiv falsch", murrte das Mädchen und musterte den Besucher ungläubig. "Mach dich vom Acker, sonst legen sie dich um." Sie musterte ihn noch einmal und wandte sich dann ab. Sie war kein Engel der Armen. „Warte...“ Jerry streckte die Hand aus. Er wusste nicht genau, warum er es tat. Diese fremde Frau erschien ihm auf einmal wie ein Rettungsring in tosender See. Jerry war zutiefst verstört und verwirrt, in seinem Kopf tobten die Bilder aus seiner Heimat, seine Freunde, das Schwimmbad. Was war nur geschehen. Wo waren alle? Wo war sein Leben hin verschwunden? Sie drehte sich wieder zu ihm um. Cassiopeia war normalerweise niemand von der Sorte, der sich um das Schicksal anderer kümmerte - aber irgendwie tat ihr dieser arme Kerl vor ihr leid. Wenn sie ihm nicht schleunigst half, würde ihn der nächstbeste Groundrunner in Stücke reißen. "Woher kommst du eigentlich?", fragte sie deshalb, während sie ihre alte Tasche nach ein paar Kleidungsfetzen durchsuchte, die er tragen konnte. "Ich meine, was macht so ein Kerlchen wie du in der Einöde? Selbstmordgedanken oder was?" „Ich weiß nicht... da waren...“ Er starrte seine dreckigen und blutverklebten Hände an. „Warum...? Da waren Schreie... und diese Menschen... ich war doch eben noch in Boston im Schwimmbad... wir hatten Schwimmunterricht...“ "In Boston im Schwimmbad?" Cassiopeia hielt inne und schüttelte befremdet den Kopf. "Hier gibt es kein Schwimmbad. Keine Ahnung, ob's mal eins gegeben hat, aber wenn, dann ist es garantiert seit Jahren hinüber..." „Was... du... du lügst...“ Jerry hob den Blick. „Du lügst... sag mir sofort, wo ich bin!“ In seinen Augen flackerte etwas. „Sag mir, wo ich bin!“ In der nächsten Sekunde ging eine schwache Druckwelle von dem Jungen aus und wirbelte Staub und kleine Steinchen durch die Luft. Cassiopeia wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück und blinzelte. Hatte sie das soeben wirklich gesehen? Alles deutete darauf hin, dass der Wind den Staub aufgewirbelt hatte - allerdings war es nun windstill. Die wenigen Strähnen ihrer langen roten Haare, die sich aus dem ordentlichen Zopf befreit hatten, senkten sich wieder, nachdem sie kurz in der merkwürdigen Brise getanzt hatten. "Du bist in Boston", antwortete sie nach einer Pause, seufzte dann und kramte das Shirt hervor, das sie für Notfälle bei sich trug. "Oder zumindest in dem, was davon übrig ist. Hier, das sollte zumindest als Lendenschurz reichen, bis du was besseres hast - Himmel, in dieser Gegend nackt rumlaufen...." Jerry knotete sich das Kleidungsstück ungeschickt um. Ihm war kalt als er sich erhob und schwankend auf die Beine kam. „Wer bist du?“ Cassiopeia lächelte kurz. "Nenn mich Cassie", antwortete sie und wies dann mit einem Finger auf eine halb verschüttete Gasse rechts neben ihr. "Hör zu, du hast nur dann eine Chance, wenn du das Gebiet schleunigst verlässt. Du folgst mir jetzt, diese Straße entlang zur Grenze des Sperrgebiets." Sie schulterte ihre Tasche. "Da gibt's so nen jungen Kerl, der manchmal Geschäfte mit mir macht, der sollte dich hier rausbringen können." „Geschäfte?“ Jerry wankte hinter ihr her. „Von welcher Art Geschäfte reden wir?“ Allmählich wurde sein Kopf klarer, obwohl er immer noch nicht begriff, was hier eigentlich vor sich ging. Das Kribbeln unter seiner Haut wurde immer unangenehmer, wenigstens hatten die Wunden an seinem Körper aufgehört zu bluten. Woher hatte er die nur? "Geschäfte halt." Cassiopeia zuckte mit den Schultern. "Ich schmuggle Zon-Reste und anderen Kram heraus." Sie blinzelte. "Du hast wirklich keine Ahnung, wo du bist, richtig?" Sie seufzte angesichts seines ratlosen Gesichtsausdrucks. "Aus welchem Eck des Universums kommst du nun... oh, oh." Cassiopeia erblickte die humpelnden Gestalten, die einige Meter vor ihr aufgetaucht waren und sich langsam, aber zielstrebig näherten. "Junkies... verdammt, was machen die hier draußen. Und dann noch so viele?" „Was... was wollen die?“ Jerry schaute die merkwürdigen Wesen an, die sich ihnen näherten. „Wollen wir... wollen wir, dass die uns sehen?“ "Das willst du nicht, glaub mir!" Cassiopeia wich zurück und schob ihren neuen Schützling mit sich. "Überdosis Zon - sie haben ihre Menschlichkeit verloren und bestehen nur noch aus niederen Trieben - wenn du Glück hast, töten sie dich, bevor sie dich schänden und dann fressen." Sie sah sich hastig um - auch hinter ihr waren mehrere Groundrunner erschienen, die brabbelnd und gebückt auf sie zu schlurften. "Okay, bleib ganz dicht bei mir... und nur nicht zu schnell bewegen..." „Schon okay... kein Widerspruch.“ Jerry blieb in Cassiopeias Nähe. Die merkwürdigen Wesen schlurften auf sie zu. Sie stanken widerlich nach Blut und Kot. „Jetzt!“ Cassiopeia packte seine Hand und gleichzeitig öffnete sie die andere und warf etwas in die Luft. Das kleine Metallfläschchen. Zon spritzte hervor und in der nächsten Sekunde brach unter den Wesen das Chaos aus. Cassie und der junge Mann waren vergessen, ein Wust aus stinkenden Leibern prügelte sich um die Flasche, Blut spritzte als sich die Wesen gegenseitig deswegen zerfleischten. Cassiopeia achtete nicht mehr darauf. Kein Zon war das eigene Leben wert. Sie hielt die Hand des Jungen fest und rannte mit ihm durch die Straßen, bis sie sicher sein konnte, die Gefahr hinter sich gelassen zu haben. „Was ist das nur für eine Welt... wie komme ich hierher?“, flüsterte der junge Mann. "Das würde mich auch interessieren", murmelte Cassiopeia in sich hinein. In der Richtung, aus der der merkwürdige Kerl gekommen war, lag nichts - außer Ruinen und einem Sperrgebiet der Regierung, angeblich war dort alles verseucht. "Du hast noch mal Glück gehabt, Kleiner." Sie kratzte sich am Kinn. "Und jetzt sag mir mal, wie du heißt und woher du kommst." „Ich heiße Jeremiah und ich komme aus Boston. Ich gehe auf die Highschool und bin im Schwimmteam.“, antwortete Jerry wahrheitsgemäß. Dann sah er an sich hinab und wieder zu seiner Begleiterin. „Okay... ich weiß wie das klingt... aber es ist die Wahrheit.“ "Du kannst nicht von hier sein. Das hier IST Boston" Cassiopeia machte ein Gesicht, als wüsste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. "Ich würde ja sagen, dass man dich nach der Diagnose einer Überdosis hier abgesetzt hat, aber ich habe bisher noch niemanden gesehen, der sich davon erholt hätte." Sie runzelte die Stirn und blickte auf das Blut an seinem Körper. "Du bist doch nicht verletzt, oder?" Pause. "Und ist das alles überhaupt dein Blut?" „Ich weiß es nicht.“ Jerry wischte fahrig über seine Haut. „Ich glaube... ich glaube, dass ist nicht mein Blut. Ich hab ein paar Verletzungen... aber das ist soviel Blut.“ Er schaute Cassiopeia an. „Bitte lass mich nicht allein, ja? Ich weiß nicht, wo ich bin und was ich getan habe... das macht mich sicher nicht attraktiv, aber... na ja...“ Er senkte wieder den Blick. „Was ist nur los? Und dieses Kribbeln macht mich irre...“ Cassiopeia schien eine Weile zu überlegen, bevor sie weitersprach. "Nun, du bist definitiv kein Zon-Junkie, sonst wärst du nämlich genauso daneben wie die Groundrunner. Die Droge hat aber auch nicht deine Zellen zerstört." Sie ging langsam los, Jeremiah im Schlepptau. "Ich habe heute meinen netten Tag, also bringe ich dich einfach zur Grenze. Isaac kann dich vielleicht hier raus und zu einem Arzt bringen." „Und du? Warum bleibst du hier?“ Jerry trottete ihr wie ein ergebener Hund hinterher. Obwohl sie ihm vollkommen fremd war, begann er Vertrauen zu ihr zu fassen. „Was ist das alles hier? Warum gibt es hier nur Ruinen.“ Sein Blick wanderte zum dunkel bewölkten Himmel. „Und dieses schummerige Licht...“ Innerlich seufzte Cassiopeia auf - zu allem Übel schien Jeremiah wirklich überhaupt nichts über die Welt zu wissen. "Seit dem Marskrieg ist der Himmel verdunkelt, daran kann man nichts ändern. Und es gibt nicht nur Ruinen, aber in den gesperrten Gebieten kümmert sich natürlich niemand darum, irgendetwas aufzubauen." Sie wies mit einer verächtlichen Handbewegung auf die zerstörten Gebäude, während sie an ihnen vorbeiging. "Und ich bleibe nicht hier, ich arbeite hier nur, wenn du es so nennen willst. Und ich kann mich sicher nicht um einen Waisenknaben kümmern." Sie sah verwundert auf, als mehrere schwarze Gleiter über ihrem Kopf über die Stadt surrten und die Straßen mit Scheinwerfern ausleuchteten. "Hm, erst die Runner, die wandern, dann Regierungsgleiter... was zur Hölle ist heute denn los?" Jerry schaute sich die fliegende Ungetüme mit wachsender Sorge an. Immer wieder mischten sich Erinnerungsfetzen unter seine Gedanken, die nicht zu seinen Erlebnissen in Boston passen wollten. Schreie, Blut... „Das heißt, wenn ich hier rauskomme... also durch diesen Isaac... dann trennen sich unsere Wege?“, fragte er regelrecht unsicher. So etwas war gar nicht seine Art, wie erbärmlich. Cassiopeia lachte freudlos auf. "Wer einmal in dieser Zone ist, den lassen sie so schnell nicht wieder raus." Sie blickte stirnrunzelnd einem weiteren Hubschrauber nach. "Außer, du hast irgendwelche Freunde in der Grenzkontrolle oder ein paar Riesen dabei. Oder einen Forschungs-Pass wie ich. Aber der gilt nur für mich." Forschungs-Pass, das war sowieso eine Lachnummer. Sie hatte ihn von Isaac fälschen lassen und konnte sich so als Wissenschaftlerin der Uni von Boston ausweisen. Und die Jungs an der Grenze waren ebenso krank wie blöd. Für sie war allein das Wort Wissenschaft schon beeindruckend genug um keine Fragen zu stellen. Sie kratzte sich beiläufig an der Wange. "Die Typen an der Grenze sind alles kranke Schweine. Wenn du Glück hast, geben sie dir ordentliche Kleidung und ein Messer. Und danach filmen sie, wie du damit gegen die Groundrunner kämpfst, geschlachtet wirst und dann stellen sie es für ein paar Perverslinge ins Internet." Sie sah sein entsetztes Gesicht und lachte kurz. „Besser also du kennst andere Wege aus der Zone heraus, Isaac hat sicher eine Idee. Er ist ein ziemliches Schlitzohr.“ Das Isaac einem gutaussehenden Jungen wie ihm sowieso nur schwerlich widerstehen konnte, verschwieg sie wohlweißlich. „Na wenigstens etwas Hoffnung...“ Jeremiah blieb kurz stehen. „Scheiße... elende Kopfschmerzen...“ Er hielt sich die Stirn, kniff die Augen fest zusammen. „Die Luft ist so trocken... und der Juckreiz unter meiner Haut wird immer heftiger...“ "Scheiße, verreck mir hier nicht noch!" Cassiopeia blieb stehen und starrte das zweibeinige Wrack nervös an. Hastig kramte sie ihre Tasche durch, aber fand nichts außer dem Zeug, das man fand, wenn man Häuser durchforstete. Und ihre Wasserflasche. Sie hatte ihr Med-Kit verbraucht und musste erst ein neues beschaffen "Hör mal, du bist der erste Kerl hier, der ein paar halbwegs vernünftige Sätze herausbringt und nicht an Körperteilen anderer Leute nagt, also kipp jetzt bloß nicht um!" „Gib es zu, du hast mich nackt gesehen und jetzt bist du heiß auf mich, deswegen bist du so besorgt.“, grinste Jerry und zum ersten Mal schimmerte etwas von seiner normalen Persönlichkeit durch. „Keine Angst, ich bleib schon stehen...“ "Diese Zeiten habe ich hinter mir", erwiderte Cassiopeia würdevoll und reichte ihm die Wasserflasche. "Hier, Wasser ist hier ohnehin selten und wenn du keine Angst hast, dich an mir zu vergiften..." „Danke.“ Er riss sie an sich und trank gierig, mahnte sich dann aber zur Mäßigkeit. „Danke... das tat gut.“ Das tat es wirklich. Für einen Moment fühlte sich Jerry stärker, ihm wurde wärmer und das Kribbeln nahm ab. Cassiopeia nahm die Flasche zurück und zog eine Schnute, als sie die Wasserreste sah - die nächste funktionierende Wasserleitung war mindestens einen halben Kilometer weit weg - aber sie sagte nichts, war nur froh, dass ihr Schützling nicht einfach starb. "Gut, also das ist der Plan fürs Erste", meinte sie dann. "Erst bringen wir dich zu Isaac, dann sehen wir, was als nächstes passiert." So lief ihr Leben jetzt schon seit Jahren ab - nie weiter denken als bis zum nächsten Tag. Als Jäger in der Ruinenstadt wusste man nie, wie lange man noch lebte. And ihrem Gürtel hing ihre Waffe, die sie aber nur ungern abfeuerte. Groundrunner waren meistens allein, Gruppen wie die vorhin waren höchst selten. Wenn sie die Runner umgehen konnte, tat sie es, Waffenfeuer lockte nur noch mehr an. "Und mit etwas Glück bist du der Sohn irgendeines Bonzen und der holt dich dann hier raus." „Der Sohn... kann sein.“ Jerrys Augen wanderten über die Ruinen. Sein Blick war klarer als vorher, zumindest hatte er den Eindruck. Deswegen nahm er auch die Bewegung wahr, als aus dem Schatten eines zertrümmerten Gebäudes jemand hervor gestürmt kam. Es war ein vollkommen deformierter Mann in zerfetzten Klamotten, der sich eher wie ein Raubtier auf allen Vieren fortbewegte, während zäher Geifer aus seinem Mund rann. Statt Cassiopeia zu beachten, stürzte er sich schnurstracks auf Jeremiah, der panisch die Hände hochriss. In der nächsten Sekunde wurde der Runner von den Füßen gerissen, flog irre kreischend durch die Luft und schlug gegen eine Hausmauer. Still sank er zusammen, rührte sich nicht mehr. Cassiopeia verstummte, blickte erst von Jeremiah zu dem Runner, wieder zu Jeremiah und wieder zurück, mit einem Gesichtsausdruck, als sei sie nicht sicher, ob sie sich das eingebildet hatte. "Was um alles in der Welt war das jetzt?", fragte sie schließlich fassungslos. "Kannst du.. Karate?" Aber das glaubte sie selbst nicht - er hatte den Wahnsinnigen nicht einmal berührt, egal, was sie sich einredete. „War... war ich das?“ Jeremiah starrte den reglosen Mann an. „Habe ich das... ist er tot?“ Seine Hände zitterten. Das Kribbeln flammte wieder auf, stärker denn je und die Kopfschmerzen donnerten brutal durch seinen Kopf. Beinahe knickten dem jungen Mann die Beine zusammen. „Ich will hier weg... sofort...“ Cassiopeia beschloss spontan, das Ereignis als Halluzination abzutun - sie griff nach Jerrys Arm und stützte ihn, um mit ihm so schnell wie möglich verschwinden zu können - Tote lockten die Groundrunner an und sie schienen sie auch noch über Meilen hinweg riechen zu können. "Wir klären das später", knirschte sie nur und zog ihn durch die - noch - leeren Gassen. "Wir müssen die Grenzlinie erreichen, dann sind wir sicher – zumindest halbwegs." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)