Himmel hinter roten Wolken von inkheartop (In der Gefahr liegt immer die Verletzlichkeit) ================================================================================ Kapitel 1: Akte 1: Elsternschrei -------------------------------- AKTE 1: ELSTERNSCHREI „Es begann doch alles eigentlich ganz harmlos, diese ganze Geschichte… oder? Aber wenn man so drüber nachdenkt… nein, eigentlich begann es alles andere als harmlos. Eigentlich hätte es von vorneherein klar sein müssen, dass es nur in einem Desaster enden kann.“ Wohnung der Sabakunos – China Town „Das wird ein ganz großer Coup.“ Temari grinste und fuhr mit dem Finger die dünnen Linien und Striche auf der Karte nach, die vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet lag und fast vollständig die raue Maserung des hellen Holzes verdeckte. Ihr Herz klopfte allein bei dem Gedanken, die abgebildeten Gänge und Flure tatsächlich entlang zu schleichen, immer auf der Hut, immer wachsam. Ein falscher Schritt, eine unbedachte Bewegung und es war aus. Aus und Vorbei. „Aber…“, brummte Kankuro unwillig dazwischen und sein zweifelnder, unsicherer Tonfall ließ Temari die Augen verdrehen. „Kein Aber, Kank“, seufzte sie. „Das Ding wird durchgezogen. Wir brauchen die Kohle, sonst haben Gaaras Computer bald keinen Saft mehr. Und ich kein warmes Wasser.“ Sie erschauderte bei diesem Gedanken. Temari hasste kaltes Wasser wie die Pest. Missmutig starrte ihr kleiner Bruder sie an, nicht besonders überzeugt von dieser Argumentation. Die Bedenken schienen sich geradezu in die Falten seiner Stirn zu graben, hinterließen noch tiefere Furchen. „Es ist verdammt gefährlich, Temari“, knurrte Kankuro nur und zog ihr den Plan unter der Nase weg. „Es kann so viel schief gehen! Kameras, Nachtwächter, Schlafwandler… ach, was weiß ich…“ Er raufte sich die Haare, die Karte in seiner Hand knitterte leicht. Wie die Falten in Kankuros Gesicht. Grübeln stand ihm nicht besonders. „Ich war schon in wesentlich gefährlicheren Situationen, Brüderchen“, lächelte Temari süßlich, beugte sich über den Tisch, sah ihn von unten herauf an. Seine Augen waren grün, wie ihre. Aber so viel dunkler. War es das, was ihn für die Damenwelt so anziehend machte? Diese unergründlichen Augen, deren Blick Temari nie zu deuten wusste. So verschlüsselt… „Und ich trage ja sogar diesen Technik-Schnickschnack.“ Temari rümpfte die Nase. Ihr wäre es lieber, ihre Brüder würden ihr nicht wortwörtlich im Ohr sitzen, aber Gaara hatte sie dazu überredet. Also tat sie es. Für die Nerven ihrer Brüder. „Weißt du noch, Süßer“, Temari lehnte sich wieder zurück, „als ich in das Museum eingebrochen bin? Vor sechs Wochen?“ Kankuro kniff die Augen zusammen. Er wollte gar nicht daran erinnert werden. „Dieses verfluchte Halsband hat auch für Schwierigkeiten gesorgt“, fuhr Temari fort. „Aber ich bin raus gekommen. Heil. Und diese bescheuerten Cops tappen immer noch im Dunkeln.“ Sie grinste, als sie an den Zeitungsartikel dachte, der groß auf der Titelseite geprangt hatte, schon am Morgen nach dem Diebstahl. Der Dieb hatte wieder zugeschlagen. Und wie immer hatte er keine Spuren hinterlassen. Wie immer hatte ihn niemand gesehen. Er war viel zu schnell gewesen. Er. Temari grinste. Niemand ahnte etwas. Und niemand würde je etwas ahnen. Sie war ja so gut. „Hat dir niemand beigebracht, dass man mit Feuer nicht spielt, Temari?“ Gaaras ruhige Stimme war ebenso vorwurfsvoll, wie die seines Bruders. Ebenso besorgt. Ja, Temari hatte es nicht leicht. Ein überfürsorglicher Bruder war ja schon schlimm genug. „Was soll das schon wieder heißen, Gaara?“ Die hellen Augen glänzten sie nur reglos an. Nichts verriet seine Gefühle, nichts und wieder nichts. Überfürsorgliche, undurchschaubare Brüder. Sie war wirklich gestraft. „Temari“, fuhr Kankuro noch mal auf. „Bitte! Hol dir einen Partner oder sonst was, aber zieh das bitte nicht alleine durch! Ich hab ein schlechtes Gefühl bei der Sache.“ „Ach?“, meinte Temari spöttisch. Sie unterschätzten sie. Wie sie sie immer unterschätzten. Konnten sie ihr nicht einmal vertrauen? Nur ein einziges, verdammtes Mal! War das so schwer? „In welcher Sache hast du ein schlechtes Gefühl? Der Auftraggeber? Das Haus? Das Zielobjekt? Deine Fähigkeiten? Oder Gaaras? Meine?“ Kankuro starrte sie verzweifelt an. Konnten sie sie nicht verstehen? Nur einmal? Temari wich seinem Blick nicht aus. Niemals wich sie seinem Blick, einer Konfrontation aus. Nie. Sie war stark. Sahen Kankuro und Gaara das nicht? Sahen sie immer noch das kleine, vorlaute Mädchen? Große Klappe, nichts dahinter. Dachten sie das? Dinge, die Temari wütend machten. Einmal… „Temari, er hat Recht“, sagte Gaara, zwar leiser, aber eindringlicher, als Kankuro. „Du kannst das nicht alleine. Wenn etwas passiert…“ „Es passiert nichts!“ Sie sprang auf, schmiss krachend den Stuhl um. Holzsplitter flogen über die grauen Fliesen. Es war ein alter Stuhl. Es waren alte Fliesen. Überhaupt war dieses Haus, diese Bruchbude, alt. Sie wollte hier weg, unbedingt. Unbedingt. Und dafür brauchte sie Geld, viel Geld. New York war ein teures Pflaster. Und Geld bekam man… bekam sie nun mal nur durchs Stehlen. Sie beschwerten sich? Sie sorgte für sie, verdammt! Sie sorgte dafür, dass Essen auf den Tisch kam, dass sie im Winter nicht jämmerlich erfroren, dass sie überhaupt ein Dach über dem Kopf hatten. Sie beschwerten sich also? „Ich werde diesen Einbruch durchziehen!“, zischte Temari, konnte förmlich spüren, wie ihre Brüder gern zurückgezuckt wären. „Allein!“ „Tema…“ „Und ohne den Technik-Kram!“ „Temari!“ Die Tür knallte hinter ihr ins Schloss und Temari ließ sich auf ihr Bett fallen, erstickte einen zornigen Schrei und die wachsende Wut in einem Kissen. Sie war in diesem Haus die älteste. Und trotzdem glaubten ihre Brüder, auf sie aufpassen zu müssen. Warum, warum zum Teufel, konnte es nicht andersherum sein? So, wie es sich in ihren Augen gehörte. „Idioten“, knurrte Temari in ihr Kopfkissen. Und wieder: „Idioten.“ Sie würde das alles allein durchziehen. Ganz allein. Ohne Hilfe. Und Kankuro und Gaara würden endlich sehen müssen, dass sie groß genug war, um auf sich selbst aufzupassen. Sie war Der Dieb. So nannten sämtliche Zeitungen New Yorks den mysteriösen Einbrecher. Wann war dieser Name das erste Mal aufgetaucht? Temari wusste es nicht mehr, es war schon lange her. Aber seitdem ging es ihnen besser. Seitdem kamen sie immer irgendwie an Geld. Für die Miete für dieses Mauseloch, in dem sie sich einquartiert hatten. Für das Wasser, das für Temari unverzichtbar war. Für den Strom, für einfach alles. Sie hatten seit langem keine Geldsorgen mehr. Zumindest keine richtigen. Luxus war und blieb ein Fremdwort. Gerade deshalb wollte Temari diesen neuen Raub durchziehen. Die Bezahlung war verdammt, wirklich verdammt gut. Damit könnten sie sich ein neues, ganz neues Leben aufbauen. Vollkommen neu. Und besser. Alles würde besser werden. Natürlich, es gab Haken. Aber gab es die nicht immer? Der Auftraggeber war wieder ein anscheinend ziemlich reicher Kerl, der – wie so viele zuvor – unerkannt bleiben wollte. Er hatte übers Internet mit Gaara Kontakt aufgenommen. Nichts Ungewöhnliches. Er bezahlte. So gut. Der Auftrag war nicht weniger gefährlich, als die zuvor. Es gab Wachmänner und Kameras und so weiter, diese ganze Technik, die Temari noch nie interessiert hatte. Darum kümmerte sich Gaara. Die Bezahlung war mehr als angemessen. Das war es, was für Temari zählte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie würde das schaffen. Und niemand würde sie hindern. Nicht Gaara, nicht Kankuro. Niemand. Einfach niemand. One Police Plaza – Park Row Ein Grinsen blitzte vor Tentens müdem Gesicht auf, zusammen mit einem hellbraunen Becher, der verführerisch duftete – und ihr dabei gleichzeitig ihre Müdigkeit ins Gesicht schrie. „Lass den Kopf nicht so hängen, Ten“, versuchte der junge Mann vor ihr sie aufzumuntern und klopfte mit einem Finger auf den Pappbecher. „Und trink erst mal was.“ Tenten schnaubte, griff aber doch zum ersehnten Kaffee, ohne ihn wirklich genießen zu können. In den letzten Wochen war es einfach zu viel Kaffee gewesen. „Was hat Hatake gesagt?“ Es war klar gewesen, dass dieses Thema früher oder später noch auf den – zugegeben ziemlich unordentlichen – Tisch kommen würde. Allerdings wäre Tenten später lieber gewesen. „Dass ich gefälligst diesen verflixten Dieb in die Finger kriegen soll, sonst werde ich zu spüren bekommen, warum er unser Chief ist und ich nicht.“ „Autsch.“ Der Mann zog eine Grimasse. „Das kannst du laut sagen“, seufzte Tenten und ließ ihren Kopf wieder auf die Tischplatte knallen. „Ich bin erledigt.“ Darauf wusste Kiba Inuzuka auch nichts mehr zu sagen. Und eigentlich war Tenten ihm sogar dankbar dafür, dass er den Mund hielt. Sie musste nachdenken. Seit ihr die Leitung des Falles um Den Dieb, wie ihn die Presse kurz und knapp nannte, übertragen worden war, war eigentlich alles schief gegangen. Mehrere Male war in Museen und des Öfteren auch in Privathäusern der Alarm losgegangen. Manchmal hatten sie jemanden erwischt. Was dann immer darauf schließen ließ, dass es nicht Der Dieb gewesen war. Es schien fast so, als wäre dieser gewiefte Kerl der Polizei immer einen Schritt voraus gewesen. Und so langsam machte sich Nervosität unter den Polizisten breit. Mitten drin stand Tenten, musste sich Klagen anhören, Nächte durcharbeiten, sich von ihrem Chef anschnauzen lassen („Sie sind ungeeignet als Polizist, Ama. Geben Sie es auf!“) und dann natürlich nach Dem Dieb suchen. Jede Spur wurde verfolgt, sollte sie auch noch so klein sein. Die Anspannung war groß. Über dem One Police Plaza schwebte eine gefährlich drückende Gewitterwolke. Direkt unter ihr stand Tenten Ama. Und sie hatte keinen Regenschirm dabei. „Kommst du heute noch nach Hause, Ten?“ Etwas besorgt sah Kiba aus, wie er da stand, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf etwas gesenkt. Neben ihm saß ein unglaublich großer Hund. Selbst Akamaru erschien Tenten erschöpft. „Ich glaube nicht, Kiba“, meinte Tenten. Ihr Lächeln sollte beruhigend wirken, aber Kiba zog nur enttäuscht die Augenbrauen zusammen. Es war lange her, dass sie zusammen nach Hause gegangen waren. Sie, Kiba und Lee. Es war lange her. Aber gerade das, dieses Schuldgefühl, ließ Tenten noch härter arbeiten, noch härter und immer noch schwerer. Das alles würde erst ein Ende finden, wenn sie Den Dieb gefasst hatte. Und mit eigenen Händen abführte. Sich selbst die Worte sagen hörte „Sie sind verhaftet.“. Im Moment alles nur ein Traum. Und eigentlich waren alle Träume, die mit Dem Dieb zu tun hatten, eine Niederlage. Alpträume. „Mensch, Ten!“ Selbst Lee sah besorgt aus. Die dicken Augenbrauen bildeten einen unheimlichen Strich über seinen großen Augen. Wenn selbst Lee besorgt war. „Du arbeitest zu viel in letzter Zeit. Der Dieb wird auch nicht ausgerechnet heute wieder irgendwo einbrechen, wenn du ausnahmsweise mal früher Schluss machst.“ Tenten knurrte. „Danke für die Aufmunterung, Lee.“ Kiba schlug seinen Freund und Kollegen auf den Hinterkopf. „Toll gemacht, Lee, jetzt kommt sie garantiert nicht mit!“ Lee rollte mit den Augen. Fast hätte Tenten gelächelt, aber sie war zu müde. Eigentlich hatten die beiden Recht, aber sie konnte trotzdem nicht hier weg. Sie wollte nicht weg. Sie wollte diesen unverschämten Einbrecher fassen, der ihr schon seit Monaten das Leben schwer machte, sie selbst in ihren Träumen heimsuchte. Der Dieb wusste es vielleicht nicht. Aber gerade dadurch, dass er nicht zu fassen war, hatte er Tentens Ehrgeiz geweckt. Sie würde ihn schon hinter Gitter bekommen. Auch wenn das bedeutete, auf dringend benötigten Schlaf zu verzichten und Kaffee zu ihrem Hauptnahrungsmittel zu erklären. „Jetzt zischt schon ab“, seufzte sie Richtung Lee und Kiba, die sie immer noch so unmöglich besorgt anstarrten. Richtig süß sahen sie aus. Aber auf den Hundeblick war Tenten noch nie reingefallen. „Versprichst du, dass du früher nach Hause kommst?“, fragte Kiba, so langsam ging ihr die Fürsorglichkeit ihres Freundes auf den Wecker. Dachte er, sie würde sich zu Tode arbeiten? Etwas mehr Vertrauen bitte. Trotzdem seufzte Tenten noch einmal mit einer Mischung aus Genervtheit und Gleichmütigkeit und nickte. „Sag es!“, forderte Lee sie auf, zeigte übertrieben mit dem Zeigefinger auf sie und kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Sonst windest du dich letzten Endes doch noch raus!“ Sie sah zwischen Kiba und Lee hin und her, die beide gleichermaßen ernst und noch nicht überzeugt wirkten. „Gut, gut“, sagte Tenten, hob ergebend die Hände und musste doch nun doch lächeln. „Ich verspreche es.“ Zumindest Lee wirkte einigermaßen zufrieden, als er grinste, noch ein „Versprochen ist versprochen!“ zum Abschied rief und dann endlich verschwand. Nur Kiba stand noch unschlüssig vor ihrem Schreibtisch. „Lee hat Recht“, lächelte er, beinahe entschuldigend. „Versprochen ist versprochen.“ Er drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Stirn, grinste verlegen. „Bis dann.“ Dann ging auch er, Akamaru dich auf den Fersen. Tenten schüttelte den Kopf, fasste sich kurz an die Stirn. Es war seltsam. Kiba und sie waren die besten Freunde, schon immer. Sie waren zusammen zur Schule und schließlich zur Polizei gegangen. Sie hatten den gleichen Traum, die gleichen Wünsche. Beste Freunde eben. Fast schon Geschwister. Eine Zeit lang waren sie sogar ein Paar gewesen. Unvermeidbar, fand Tenten. Immerhin wohnten und arbeiteten sie zusammen. Dass diese Beziehung ziemlich schnell in die Brüche ging, war ebenso unvermeidbar. Wenigsten waren sie immer noch Freunde. Aber etwas hatte sich seitdem doch verändert. Lee hatte mal gesagt: „Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Wir müssen mit dem leben, was wir haben und das Beste daraus machen. Auch wenn es schwer fällt.“ Tenten versuchte damit zu leben. Sie versuchte es wirklich. Aber es war seltsam, mit anzusehen, wie Kiba mit anderen Frauen zusammen war, wenn sie doch vor wenigen Monaten noch eine von ihnen gewesen war. Eifersucht? Nicht wirklich. Aber schließlich verschwanden die meisten Frauen wieder aus Kibas Leben – und somit auch aus Tentens. Tenten selbst war jedoch geblieben. Sollte sie stolz darauf sein? Sie wusste es nicht. Nur Kibas neueste Eroberung hielt schon ziemlich lange an. Vielleicht war sie ja doch eifersüchtig, ein bisschen nur. Aber nicht wegen der vergangenen Beziehung – wie gesagt, vorbei ist vorbei –, sondern wegen ihrer Freundschaft, die unter diesen Frauen, die Kiba da abschleppte, litt. Wäre Tenten nicht so in ihrer Arbeit vertieft gewesen, sie hätte Lees Vorschlag, sich doch einfach auch einen neuen Typen zu angeln, verwirklicht. Vermutlich wäre das ganze dann leichter. Lee war auch ein Freund. Tenten kannte ihn nicht so in- und auswendig wie Kiba und auch noch nicht so lange. Genauer gesagt hatten sie sich erst auf der Akademie kennen gelernt und relativ schnell Freundschaft geschlossen. Obwohl sie Lee anfangs etwas… oder sogar vollkommen seltsam fand. Wer konnte es ihr auch verübeln? Lee hatte die wildesten Augenbrauen, die die Welt je gesehen hatte, einen Topfhaarschnitt, der den Beatles Konkurrenz machte und einen äußerst gewöhnungsbedürftigen Kleidungsstil. Von seiner außergewöhnlichen Energie ganz zu schweigen… Aber Lee war nett. Er brachte sie mit seiner übermütigen Art ständig zum Lachen und eine Beziehung mit ihm war ohnehin unvorstellbar. Das hatte Lee selbst von Anfang an – auf seine eigene, charmante Weise – klar gemacht. Tenten war nicht sein Typ. Es war schon weit nach Mitternacht, als Tenten ihre Sachen zusammenpackte und sich auf den Heimweg machte. Mehr oder weniger freiwillig, denn sie hätte lieber noch weiter gearbeitet. Sie hatte es aufgegeben, als die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen und sie einen Rest kalten Kaffees fast über der Tastatur ihres Computers verschüttet hätte, weil sie eingenickt war. Müde starrte Tenten hinauf in den Nachthimmel über New York, der nie wirklich dunkel zu sein schien. Es gab Zeiten, da wünschte sie sich in irgendeine kleine Stadt mitten im Nirgendwo. Wo es dunkel war und still. Wo sie die Sterne sehen konnte. Tenten schüttelte den Kopf. Jetzt wurde sie schon sentimental. Dabei liebte sie ihren Job und ihr ganzes Leben in New York. Sie hatte es sich ja auch selbst ausgesucht. Und sie hatte immer davon geträumt. Sie lebte nicht nur in New York. New York war ihr Leben. Noch einmal warf sie einen missmutigen Blick hinter sich und wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass der Tag mindestens achtundvierzig Stunden hatte. Sie steuerte schon die nächste U-Bahn-Station an, als Tenten sich noch einmal anders entschied. Etwas frische Luft würde ihr sicher gut tun, vielleicht die Müdigkeit, die auf ihren Schädel drückte, vertreiben und sie wieder klar denken lassen. Ihre Füße wurden leichter, je länger sie lief, ihre Sinne schärften sich und endlich einmal genoss sie es wieder, einfach nur zu laufen, nichts zu denken und die kalte Frühjahrsluft einzuatmen. Fast hätte sie vergessen, wie es sich anfühlte, inmitten der Lichter zu sein, in der Ferne die Wolkenkratzer über alle anderen Gebäude aufragen zu sehen. Den pulsierenden Rhythmus der Stadt zu spüren. Tenten liebte ihre Stadt. Es gab für sie nichts Besseres, nichts Schöneres. Und sie, Tenten Ama, würde höchstpersönlich dafür sorgen, dass nichts und niemand diese Schönheit gefährdete. Sie würde Den Dieb, oder wer auch immer sich hinter dieser scheinheiligen Maske verbarg, schnappen und selbst dafür sorgen, dass er nicht so schnell wieder den Duft der Freiheit zu spüren bekam. Koste es, was es wolle. Washington Square N – Greenwich Village Es war viel zu einfach. Temari musste fast lachen, als sie die Tür aufdrückte, die augenscheinlich ins Schlafzimmer des Hauses führte. Es war bereits weit nach Mitternacht, aber der Bewohner des edlen Gebäudes würde sicher nicht vor sechs Uhr morgens zurückkommen. Und dann wäre Temari schon längst wieder verschwunden. Vermutlich würde es sogar noch Stunden, wenn nicht sogar Tage dauern, bis der Bestohlene den Verlust seiner Schätze bemerkte. Temari war gut vorbereitet. Und Gaara hatte schließlich nicht umsonst tagelang das Haus beobachtet. Still und leer kam es ihr vor, nicht ein Geräusch schien von draußen hereinzudringen, als Temari das dunkle Schlafzimmer ihres Opfers betrat. Auf leisen Füßen, wie immer. Es würde alles gut gehen, sie war sich sicher. Wie immer. Das Licht ließ sie aus, nicht einmal eine Taschenlampe hatte sie mitgebracht und Temari hatte ihr Versprechen – ihre Drohung – wahr gemacht: Keine Technik. So musste sie auch auf die Nachtsichtbrille verzichten, die sie sonst oft dabei hatte. Eigens von Gaara für sie konstruiert. Sie musste nicht fragen, woher er die nötigen Mittel herbekommen hatte. Im Zimmer stand ein riesiges Bett, das den größten Teil des Raumes einnahm. Schwer und teuer sah es aus, edel wie alles hier. Temari konnte nicht verhindern, dass sie neidisch wurde. Luxus. So oft hatte sie von solch einem Bett geträumt… Verärgert über sich selbst schüttelte Temari hastig den Kopf, die dummen Gedanken sollten verschwinden. Sie passten nicht an so einen Ort. Genauso wenig wie Temari selbst. Der Tresor war gut getarnt. Viel besser, als manch anderer, den Temari schon geknackt hatte. Aber die Bewohner von New York wurden immer trickreicher. Safes im Boden, versteckt unter Teppichen, in Kleiderschränken, verborgen von dicken Pelzmänteln und sogar hinter Bücherregalen. Der Safe der Frau, die sie um eine Kleinigkeit ärmer machen sollte, war wieder etwas für sich: Hinter einem Spiegel. Das Problem hierbei war, dass sowohl für das Zur-Seite-Klappen des Spiegels, als auch für den Safe dahinter jeweils ein Code eingegeben werden musste. Problem? Temari grinste und sah ihr finsteres Spiegelbild zufrieden an. Für Temari Sabakuno, die berühmteste Diebin New York Citys, gab es keine Probleme. Klischee. Das war das erste, woran sie dachte, als sie das kleine, quadratische Kästchen betrachtete, das ihr, in blauen Samt eingeschlagen, furchtbar unschuldig entgegenblinzelte. Darum herum lagen Schmuckschatullen und einige Bündel grüner Scheine. Sie könnte sie mitnehmen… Dieser Gedanke schoss Temari kurz durch den Kopf, ganz kurz nur, flüchtig. Es juckte sie in den Fingern, ihr Herzschlag beschleunigte sich unruhig, als sie das Geld betrachtete. Niemals wieder hungern, im Gegenteil. Luxus pur. Zusammen mit dem Geld des Auftraggebers… Nein! Temari biss sich wütend auf die Lippen. Niemals. Das widersprach ihren eigenen Regeln, widersprach allem, was Den Dieb so ausmachte. Temari stahl nur für Geld. Es lag nicht in ihrer Absicht, Leuten zu schaden, selbst wenn sie reich waren. Jeder Auftraggeber musste einen guten, wirklich sehr guten Grund vorbringen, warum Der Dieb etwas beschaffen sollte. Du stiehlst für die gute Absicht. Temari rief sich ihren Leitspruch immer und immer wieder ins Gewissen, während sie das blaue Kästchen nahm und langsam die Tresortür schloss, alles wieder in seinen Normalzustand zurückversetzte. Dann stand sie da, regungslos und plötzlich hatte sie das Gefühl von der drückenden Stille erschlagen zu werden. Ihr Herzschlag kam ihr unheimlich laut vor. Kurz warf Temari einen Blick in das blaue Kästchen, bevor sie es in ihre Tasche gleiten ließ. Alles wie geplant, alles wie gewünscht. Sie atmete tief durch und ging. Wieder so leise, so geschmeidig und elegant wie eine Katze. Und genauso gefährlich… Sie kam nicht weit. Sie wurde erwartet. Haus der Sabakunos, China Town Er hatte etwas übersehen. Gaara starrte auf den flimmernden Bildschirm, der sein Zimmer in gespenstisch blaues Licht tauchte, als wäre er unter Wasser. Seine Augen waren müde, brannten, sein angespannter Körper schrie geradezu nach Schlaf, nach Ruhe, nach Erholung. Er zwang sich, nicht daran zu denken. Zwang sich, weiter Temaris Bild im Kopf zu behalten und stierte weiter fieberhaft auf den Computer. Was hatte er übersehen? Er hatte kein gutes Gefühl. Er hatte von Anfang an kein gutes Gefühl gehabt, schon beim Auftraggeber nicht. Erst recht nicht mehr, als er mit der Spionage angefangen hatte. Warum hatte er nur nicht auf sein Gefühl gehört? Warum hatte er in seinem dummen Stolz glauben müssen, dass schon nichts schief gehen würde? Immerhin war es Temari. Es war Temari! Und es waren Kankuro und er selbst. Das perfekte, perfekt eingespielte Team. Perfekt. Es würde etwas schief gehen. Er war sich sicher. Etwas würde schief gehen. Wenn er nur wüsste, was. Verzweifelt betrachtete Gaara diese Aufnahmen und jene Berechnungen, verschiedene Kamerawinkel und verschiedene Zeitangaben. Wenn sie wenigsten die Technik mitgenommen hätte. Er hätte sie zurückpfeifen können, er hätte… Gaara seufzte. Was dachte er da? Er kannte doch Temari, kannte doch seine große Schwester. Kannte ihr schlagfertiges Mundwerk, ihre skurrile Sachlichkeit und ihr aufbrausendes Temperament. Aber auch ihre Fürsorglichkeit, ihre Vertrauendwürdigkeit und ihre Aufopferungsbereitschaft. Nur Kankuro kannte sie besser. Temari würde sich nicht zurückpfeifen lassen. Temari war schon immer so gewesen. Einfach Temari. Sein Blick schweifte über den Monitor, er zoomte eine Kameraeinstellung heran und wollte schon… Die Erkenntnis durchzuckte ihn wie ein Blitz, schlug ein und brachte sein Herz zum Rasen. Da war es. Da war das, was er übersehen hatte. „Schon Arthur Conan Doyle schrieb, dass nichts trügerischer als eine offenkundige Tatsache ist. Was auf einen anderen Grundsatz der Kriminalliteratur schließen lässt: Niemals den Gärtner vergessen!“ Washington Square N, Greenwich Village Wie erstarrt stand Temari im Flur – und starrte in den Lauf einer Pistole. Nicht einmal die Tatsache, dass dieser Lauf leicht zitterte, vertrieb den Schrecken aus ihren Gliedern. Ruhig bleiben. Sie musste jetzt ruhig bleiben. Sonst… konnte es ganz schnell vorbei mit ihr sein. Gaara und Kankuro hatten Recht. Temari war wütend auf sich selbst, weil sie ausgerechnet jetzt daran denken musste. Und Wut macht verletzlich. Und Verletzbarkeit konnte Temari sich nicht leisten. „So, jetzt nimmst du ganz langsam die Hände nach oben, Dieb!“ Der Mann zuckte mit dem Kinn in ihre Richtung. Seine Stimme war nicht sonderlich kräftig, aber das düstere Flüstern machte sie eindrucksvoll. Er wirkte überhaupt eindrucksvoll, trotz seiner Falten, der fleckigen Kleidung und dem unrasierten Gesicht. Seine Augen wirkten klar und wach. War es das? Aber da war noch das Zittern, das seine ausgestreckten Arme durchfuhr. Es schien ihn selbst zu ärgern. „Mach schon!“, knurrte er sie wieder an, als Temari sich nicht rührte. „Dann geschieht auch nichts.“ Wäre das eine Szene im Kino, Temari hätte mit dem Augen gerollt. Macho-Spruch! Was für ein Klischee. Aber das war kein Kino. Realität. Das war es. Gefährlich reale Realität, die ihren Mund austrocknete, das Atmen schwer machte. Noch nie war Temari in eine vergleichbare Situation geraten. Gaara! Kank! Ihre Brüder… sie musste hier unbedingt rauskommen, unter allen Umständen! Für ihre Brüder! Aber die Angst. Temari spürte, wie sie in ihre Knochen kroch, sie lähmte, ihr Denken angriff und nur noch um wenige Wörter kreisen ließ. Sie kam nicht an. Sie konnte nicht gegen die Angst kämpfen. Sie war überall, überall und in ihr drin. Angst. Sie hatte noch nie bemerkt, wie viel Angst sie haben konnte. Lag das daran, dass sie nie Angst hatte? Dass sie es sich verbot, Angst zu haben. Angst war eine Schwäche. Und Schwächen konnte sie sich nicht… „Hände hoch!“, zischte der Mann nun etwas nachdrücklicher. Die Pistole rückte näher. Nein. Niemals, sie konnte doch nicht… das war Verrat. Sie konnte sich nicht ergeben, durfte es nicht, konnte nicht… Gaara und Kankuro… sie brauchten sie! Sie durfte nicht… „Los!“ Zitternd hob Temari die Hände, verfluchte sich dafür und verfluchte ihre Wut und ihre Angst, verfluchte ihren dummen Stolz. Warum hörte sie denn nie auf andere? Man sah ja, wozu das führte. „Sehr schön“, flüsterte der Mann. „Und jetzt werde ich die Polizei anrufen. Schön stillhalten.“ Temaris Herz klopfte, als würde es im nächsten Moment zerbersten. Angst. Kank… Gaara… Es tut mir so leid… Sie nickte langsam. Ihr Schicksal war besiegelt. Wenn sich ihr nicht bald eine Fluchtmöglichkeit ergab, wäre alles vorbei. Aus und vorbei. Der Mann zog aus seiner Jackentasche ein Mobiltelefon und wählte, während die andere Hand immer noch die Pistole auf sie gerichtet hielt. War es das nicht? War das nicht die Chance? Er war abgelenkt, sie könnte fliehen. Warum also tat sie es nicht einfach? Weil es nicht einfach war. Es war nicht einfach, wegzulaufen, während ihre Beine zitterten, während ihre Hände in die Luft zeigten, während ihre Augen in einen Pistolenlauf stierten. Es war nicht einfach, ganz und gar nicht. Auch wenn ihr Verstand ihr die Fluchtmöglichkeit ins Ohr brüllte, die Angst war lauter. War nun mal lauter. Angst ließ sich nicht einfach abstellen. Gar nichts war einfach. „Polizei?“ Fast wäre Temari zusammengezuckt. Fast. Gerade noch konnte sie sich beherrschen, gerade noch schaffte sie es, ihre Angst nicht auch noch offensichtlich werden zu lassen. „Ich habe hier einen Einbrecher gefasst“, raunte der Mann in den Hörer. „Ich glaube,…“ Sie wollte es nicht wissen. Sie wollte nicht wissen, was er glaubte, was er dachte und was er tun wollte. Sie wollte nicht wissen, was mit ihr geschehen würde. Mit ihr. Mit Temari, nicht mit Dem Dieb oder Der Diebin oder wen immer sie auch darstellte. Es war alles nur Farce. Nichts weiter. „In Ordnung, ich…“ Nein! Nein… Temari wollte sich die Hände auf die Ohren pressen, wollte sich bockig geben, wie ein kleines Kind, wollte einmal, nur ein einziges Mal Kind sein. Kind… Hey, Temari! Tema, hilfst du mir? Tema, wo ist Mama? Und Papa? Wo sind sie, Tema? Tema? Wer ist das, Temari? Wo gehen wir hin? Ich hab Hunger, Temari. Schwester! Mein Bauch tut weh, hilf mir Temari. Wo ist Mama? Wo ist Papa? TEMARI! Einmal Kind sein dürfen, ohne Verpflichtungen, ohne Verantwortung. Sorglos sein dürfen, nicht daran denken müssen, wie man den nächsten Tag überleben sollte, wie man Essen auftreiben konnte. Oder ein Dach über dem Kopf. Nicht fliehen aus etlichen Waisenhäusern, nicht frieren, keine Angst haben. War das zuviel verlangt? War es schlimm, wenn sie sich einmal eine Mutter, einen Vater wünschte, irgendjemanden, der ihr alles abnahm, die ganze Last, die sie herumschleppte, die ganze verfluchte Verantwortung. Für einen Tag. Keine Angst. „Vielleicht noch Komplizen…?“ Temari zuckte zusammen. Komplizen? Gaara! Kankuro! Verdammt… Wenn sie verhaftet wurde, wäre es ihre Schuld. Sie wäre schuld an all dem. Ihre Brüder im Gefängnis… Ja, es war Verantwortung und Temari wünschte sich nichts sehnlicher, als einmal nicht verantwortlich zu sein. Aber andererseits… war sie so auch in der Lage, es wieder zu richten. Alleine. Es gab ihr Kraft. Sie sah sich um. Der Weg bis zur Tür war zu lang. Außerdem wäre es nicht gerade klug, einfach auf die offene Straße zu rennen. Die Cops waren sicher schon unterwegs. Am praktischsten wäre ein Balkon, aber da konnte sie sich gleich selbst die Kugel geben, komplizierter ging es nur noch durch ein Kellerfenster. Obwohl… ein Fenster wäre gar nicht so schlecht. Für ein Stadthaus war es ziemlich geräumig, weitläufig, groß. Aber Temari hatte auch gar nichts anderes erwartet, ihre Opfer gehörten grundsätzlich zur New Yorker Oberschicht. Die Fenster hatten Normgröße und waren nicht vergittert, wie die im Erdgeschoss. Eigentlich perfekt. Den Sprung würde sie auch einigermaßen hinbekommen, sie hatte den Grundriss des Hauses perfekt im Kopf. Eines der Fenster im Wohnzimmer zeigte Richtung Park, nicht direkt zur Straße hin. Im Park wäre es leichter, sich zu verstecken. Temari fixierte das Fenster, lauschte mit halbem Ohr dem Mann, der immer noch in ein Telefonat verwickelt schien. Nicht mehr mit der Polizei, wie es schien. Christie? Die Hausbesitzerin hieß Christina Adgecomb. Der Mann. Die Hand mit der Pistole zitterte immer noch, aber er hatte den Blick von Temari abgewandt. War er schnell genug, um sie davon zu hindern, aus dem Fenster zu springen? Sie musste es auf jeden Fall riskieren. Temari wusste, dass es riskant war. Es konnte so viel passieren und vermutlich war die Polizei schon fast da. Sie musste schnell handeln. Jetzt… oder nie. Warum fing ihr Herz eigentlich in den ungünstigsten Momenten an, wie verrückt gegen ihren Brustkorb zu hämmern? Etwas mehr Ruhe wäre doch angebracht, oder? Der Mann telefonierte immer noch, aber er sprach jetzt noch leiser, zischte nur noch unverständliches Zeugs in sein Handy, er schien aufgebracht. Jetzt oder nie. Jetzt oder nie! Jetzt oder… Temari rannte los. Das Fenster erschien ihr plötzlich meilenweit entfernt, hinter sich hörte sie, wie der Mann irgendetwas schrie, etwas umstieß oder fallen ließ und ihr hinterher hechtete. Aber Temari war schnell. Sie hatte jahrelange Übung im Rennen – und auch ihm Fliehen. Sie würde sich nicht fassen lassen, sie konnte sich nicht einfach schnappen lassen! Einfach! Ha! Der Mann war wirklich nicht gut zu Fuß. Es war Temaris Glück. Hätte sie es sonst rechtzeitig geschafft? Sie riss das Fenster auf, war schon auf dem Fensterbrett… und sprang. Noch im freien Fall bereitete Temari sich auf den Aufprall vor, während sie den Drang unterdrückte, zu schreien. Sie musste nur richtig aufkommen und sofort abrollen, das Verletzungsrisiko möglichst klein halten. Kurz bevor ihr rechter Fuß als erster mit voller Wucht auf den Boden krachte, wusste Temari, dass es nicht funktionieren würde. Panik schwappte in Wellen durch ihren Körper, verdrängte den stechenden Schmerz. Jetzt bloß nicht ohnmächtig werden! Sie rappelte sich auf, starrte kurz nach oben, dann in die Dunkelheit vor sich und rannte, versuchte, die Schmerzen in ihrem rechten Bein zu ignorieren, sie zu einem pochenden schwarzen Punkt zu degradieren, der irgendwo im hintersten Winkel ihres Kopfes gedrängt war. Er war da, aber im Moment war es der denkbar ungünstigste Augenblick, um an so etwas Banales wie ein gebrochenes Bein zu denken. Der Washington Square Park lag stockdunkel vor ihr, düster erhoben sich die Schatten der Bäume um sie, unendlich laut erschien jeder Schritt, jeder Atemzug, jeder Herzschlag. Und von allem gab es viel zu viele. Temari kämpfte sich vor, achtete nicht auf Wege und Abgrenzungen. Nur weg. Weg und weg und weiter weg. So weit, dass sie ihre eigene Angst nicht mehr spürte, so weit, dass ihre eigene Angst ihr den Weg nicht mehr versperren konnte, wie sie es noch vor wenigen Minuten getan hatte. Nie wieder durfte ihre Angst sie hindern! Nie mehr! Noch während sie lief, riss Temari sich die schwarze Maske vom Gesicht, war mit einem Mal auch froh, keine Technik bei sich zu haben, die sie wegwerfen musste, um nicht erkannt zu werden. Die Maske war ersetzbar. Und außerdem löste sie sich nach sechs Stunden auf. Sie rannte, soweit wie möglich, ohne den Schutz der Bäume, des Parks zu verlassen. Es war noch zu früh, noch konnte sie nicht nach Hause, es war zu gefährlich. Für sie selbst. Und für ihre Brüder. Ob die Cops sie verfolgten? Hatte der alte Mann gesehen, wohin sie geflohen war? Vielleicht waren sie ja sogar schon da, lauerten hinter ihr, bereit. Allzeit bereit… Hastig sah Temari sich um, warf einen Blick zurück in die Dunkelheit, lauschte kurz. Doch außer ihren eigenen ungleichmäßigen Schritten war nichts zu hören. Stille. Sie blieb stehen. Da war niemand hinter ihr. Sie würden sie nicht finden, sicher nicht. Sie war in Sicherheit, sie hatte es geschafft. Hatte es mal wieder geschafft… Seht ihr, Jungs. Ich hab’s euch gesagt… Mit einem ächzenden Stöhnen brach Temari zusammen. Washington Square Park Das Geräusch zerschnitt die Ruhe des Parks wie ein Pistolenschuss. Tentens Sinne, im ersten Moment noch träge und müde, waren mit einem Mal hellwach. Sie hatte eindeutig etwas gehört. Ein Tier? Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, versuchte, das Geräusch zu orten. Irgendwo zwischen den Bäumen, etwas weiter weg. Was war das gewesen? Wer? Sie tastete sich an den rauen Stämmen entlang, ihre Augen suchten die Dunkelheit ab. Aber was – oder wen – suchte sie überhaupt? Einen Toten vielleicht? Hatte jemand einen Herzinfarkt gehabt? Oder so… „Verdammt“, zischte Tenten, stolperte über die Wurzeln, hielt sich Äste aus dem Gesicht. Wer trieb sich um diese Zeit mitten im Washington Square Park herum? Außer ihr selbst. „Hallo? Hallo, ist da jemand?“ Seufzend ging sie weiter, blieb immer wieder kurz stehen, um zu lauschen. Da! Da war doch was. Ein Rascheln. Ein Stöhnen, schmerzhaft verzerrt. „Verdammt.“ Sie rannte los, rannte, bis sie die Gestalt am Boden sah, schemenhaft, das Bein seltsam abgewinkelt. „Was ist los? Was ist passiert? Oh, Scheiße“, fluchte Tenten und kramte hastig nach dem Handy in ihrer Jackentasche. Ein paar Knopfdrücke und schon… „Nein, nicht jetzt, du blödes Teil“, heulte sie verzweifelt, als das Gerät so dunkel und unwirklich blieb, wie die Nacht um sie herum. Akku leer. Sie wusste schon, warum sie diese schwachsinnigen Geräte nicht ausstehen konnte. Die Gestalt zu ihren Füßen bewegte sich, stöhnte wieder. Tenten kniete sich neben sie. „Können Sie mich hören? Mein Name ist Tenten Ama, bitte, können Sie mich verstehen?“ „Mein Bein… gebrochen… glaub ich“, flüsterte die Gestalt leise, krächzte es. Ein Glück, sie konnte sprechen. Wenigstens etwas. Der Stimme nach musste es eine Frau sein, die da am Boden lag, eine junge Frau. Wieso war sie um diese Zeit unterwegs? Und wieso war ihr Bein gebrochen? „Gebrochen? Ähm… okay, dann hol ich jetzt Hilfe.“ Tenten stand auf. Ein Krankenwagen, sie musste einen Krankenwagen bestellen. Am besten ging sie zu einer Telefonzelle. Vielleicht sollte sie auch Kiba und Lee… Plötzlich schloss sich eine Hand um ihr Bein, krallte sich fest, mit immenser Kraft. Erstaunlich, dass sie noch so viel Kraft hatte. „Bitte… nicht…!“ „Was?“ Sie wollte doch nur Hilfe holen. „Keine Sorge, ich bin gleich wieder da. Ich rufe nur im Krankenhaus an.“ „Nein!“ Mit einem Mal war die Stimme kraftvoll, laut und schneidend. „Nein! Bitte, kein Krankenhaus, bitte…“ „Aber Sie müssen in ein Krankenhaus, Sie müssen behandelt werden, wenn Ihr Bein…“ „Nein!“, fuhr die Frau dazwischen. „Bitte!“ Sie sagte es eindringlich, geradezu flehend. Was sollte das? Was ging hier vor? In Tenten regte sich das detektivische Gespür. Irgendetwas lief hier falsch, sie erkannte nur nicht, was es war. Diese Frau brauchte Hilfe, und zwar dringend. „Ich werde jetzt einen Krankenwagen holen!“, sagte Tenten bestimmt. Sie ließ sich doch nicht von einer Fremden herumkommandieren, die nicht einmal ganz bei Verstand schien. Immerhin war sie einer Ohnmacht nahe. Sie wollte einen Schritt zurück machen, doch sie wurde zu Boden gezerrt. Wie machte sie das? Mit nur einer Hand? „Hilf… mir!“, flüsterte die Frau und aus der Dunkelheit blitzten grüne Augen auf. „Ich schwöre… du wirst es nicht bereuen!“ ******* Anmerkung: "Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache." Dieses Zitat stammt aus der Feder von Sir Arthur Conan Doyle, dem Erfinder von Sherlock Holmes. "Niemals den Gärtner vergessen!" Dies stammt aus dem Programmheft einer Volkshochschule zu einem Kurs, wie man selbst Krimis schreibt ;) LG inkheartop Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)