Ödipus von abgemeldet (Eine Interpretation von "Sugar Pain") ================================================================================ Kapitel Eins ------------ Hey. :) Ich mag "Sugar Pain". Auch wegen dem hübschen Stöhnen am Ende und so. ^^ Das Lied ist super. Mittlerweile weiß ich, dass Ruki über Sex mit der seiner Mutter singt, und das nimmt dem Stöhnen irgendwie den Reiz. <.<° Aber ich war trotzdem inspiriert und hier ist das Resultat. Man möge es bitte nicht zu ernst nehmen, ich weiß nichts über Psychologie und möchte auch niemandem irgendetwas unterstellen. Trotzdem hat mich die Idee gereizt. Ich hoffe, ich bin da nicht die einzige. Viel Spaß beim Lesen! 1. Kapitel Ungeduldig trat Ruki von einem Fuß auf den anderen. Es war kalt, der Wind blies ihm unbarmherzig um die Ohren und noch höher konnte er seinen Mantelkragen nicht aufstellen. Seinen Schal hatte er in seiner Eile bei sich zu Hause vergessen. Im Auto war ihm nicht kalt gewesen, doch nun schien es eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis er endlich eingelassen wurde. Doch seine Ungeduld rührte nicht bloß vom Wetter her. Heute war der große Tag. Er würde seinem schärfsten Kritiker den neuen Text präsentieren, über dem er die ganze letzte Zeit gebrütet hatte, und er war mehr als gespannt auf das Urteil, das er alsbald zu hören bekommen würde. „Ja?“, ertönte endlich Uruhas Stimme aus der Gegensprechanlage. Seine Lieblingsstimme. „Ich bin’s“, entgegnete er mit klappernden Zähnen. Wie immer erwiderte sein Freund und Gitarrist nichts mehr, sondern betätigte den Summer, um Ruki die Tür zu öffnen. Während er die Treppen in den neunten Stock herauf hastete, erinnerte er sich daran, wie er Uruha vor langer Zeit einmal mehr oder weniger unauffällig gesteckt hatte, dass er von allen Backgroundstimmen, die „the GazettE“ zu bieten hatte, seine am schönsten fand. Er hatte sogar überlegt, ob es nicht vielleicht eine Möglichkeit gab, den Gitarristen in die Gesangparts mehr mit einzubeziehen, doch dann war ihm eingefallen, dass Uruha zusätzlich mit einem Instrument umgehen konnte. Er hatte nichts als seine Stimme. Und er hatte den Gedanken wieder verworfen. Oben angekommen stand sein Freund bereits in seiner Wohnungstür und lächelte ihn warm an. „Hey“, meinte er bloß zur Begrüßung und sie umarmten sich kurz. Ruki sagte zunächst nichts und trat ein. Er war noch ganz außer Atem. Uruha bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick, während er sich umständlich die Schuhe von den Füßen zog: „Sie haben den Aufzug gestern repariert, du hättest gar nicht die Treppen nehmen müssen.“ Er lachte, als er den entgeisterten Blick des Sängers sah, und fügte versöhnlich hinzu: „Wenn’s dich tröstet, ich bin gestern Abend auch noch unnötig die Treppen raufgerannt.“ Ruki konnte sich letztendlich doch zu einem Grinsen durchringen und folgte Uruha ins Esszimmer, wo er sich auf die auffordernde Geste seines Freundes hin auf das elegante Ledersofa setzte, welches sie alle für ihren Gitarristen mit vereinten Kräften mühevoll die Treppen heraufgeschleppt hatten. Er sah das Bild noch genau vor sich: er hatte rückwärts laufen müssen, weil Aoi auf die bescheuerte Idee gekommen war, dass es aufgrund seiner Körpergröße vorteilhafter für ihn wäre, wenn er voranging. Er war gestolpert, hart auf seine vier Buchstaben gefallen und obendrein unterm Sofa begraben worden. Aoi und Reita, die das hintere Ende des Möbelstücks schließlich festhalten mussten, damit es nicht mit seinem gesamten Gewicht Ruki zerquetschen konnte, hatten lautstark nach Uruha und Kai geschrien, die bereits hoch in die Wohnung gegangen waren, um Platz für den Neuankömmling zu schaffen. Rukis Steißbein war geprellt gewesen und Kai hatte ihn beim Gehen stützen müssen. Sein Hintern hatte ihm selten so wehgetan wie nach diesem Sturz. Ihr Leader hatte ihn in Uruhas Schlafzimmer versorgt, während die anderen drei weiter fleißig Möbelpacker gespielt hatten. Diesen Tag würde er nie vergessen. Er hatte sich daraufhin von der Wurzel allen Übels, sprich Uruha, zu einem ausgiebigen Entschädigungsessen einladen lassen. Seitdem jedenfalls genoss er es ausgiebig, wenn er sich auf diesem verfluchten Sofa herumwälzen konnte. Dadurch drehte er den Spieß um und konnte ungehindert seinen kindischen Rachegedanken nachgehen, dass es nun sein Gewicht war, unter dem das Sofa ächzen durfte, als Vergeltung für die gefühlten hundert Tonnen, die damals auf ihm gelegen hatten. Dass unter seinem Gewicht im Grunde genommen nicht mal ein zehnjähriges Kind ächzen würde, war ihm dabei genauso klar wie die Tatsache, dass es dem Sofa lang wie breit sein musste, wer und ob überhaupt sich jemand auf es legte. Aber Ruki war stur und in diesem Fall ging es, wie so oft, eindeutig ums Prinzip. „Was würdest du von einem Pinot Noir halten?“ Ruki lächelte den Größeren von ihnen beiden dankbar an: „Eine ganze Menge sogar.“ Uruha nickte zufrieden, als habe er genau diese Antwort hören wollen, und verschwand in der angrenzenden Küche. Das Esszimmer war eigentlich ebenso Wohn- wie Arbeitsraum. Die Wohnung hatte nur zwei Zimmer, Küche, Bad, und da Uruha bedacht war, alles, das nichts mit Schlafen oder Sex zu tun hatte, aus seinem Schlafzimmer rauszuhalten, musste der zweite Raum eben alle weiteren wichtigen Funktionen übernehmen. Uruha kam wieder und stellte vorsichtig ein Tablett auf den Couchtisch. Er hatte eine Flasche Spätburgunder gebracht, zwei große, bauchige Rotweingläser und einen Teller mit salzigem Gebäck. Still in sich hinein lächelnd beobachtete Ruki, wie sein Freund beinahe liebevoll die Flasche entkorkte, die Nase über den Hals hielt und genüsslich das Aroma einsog. Der Gitarrist legte eine Vorliebe für Weine aller Art an den Tag und bei ganz besonderen Anlässen ließ er es sich nicht nehmen, eine ganz besondere Flasche zu öffnen. Und dieser war definitiv ein ganz besonderer Anlass. Während Uruha die beiden Gläser füllte, kramte Ruki nach dem akkurat gefalteten Zettel in seiner Hosentasche. Er brauchte länger als sein Freund, der lächelnd beide Gläser in den Händen hielt und beobachtete, wie ungeschickt der Sänger sich anstellte. „Wir tauschen“, witzelte er, „Du kriegst den Wein erst, wenn ich den Text hab.“ „Es kann sich nur noch um Stunden handeln“, feixte Ruki zurück und fragte sich gequält, warum er sich an diesem Morgen für eine dermaßen enge Hose entschieden hatte, dass der Zugriff auf die Hosentaschen beinahe unmöglich wurde. Schließlich gab er auf, erhob sich, zog das Blatt hervor und ließ sich wieder fallen, in stiller Freude darüber, den Federn des Sofas erneut eins reingewürgt zu haben. Mit einer feierlichen Geste überreichte er seinem Freund den Text: „Tadaaa!“ Uruha lachte und Ruki grummelte unzufrieden, als er sah, dass der Gitarrist noch beide Hände voll hatte. Er bekam eines der beiden Gläser in die Hand gedrückt und wurde endlich seinen Songtext los. Gespannt lehnte er sich zurück, schwenkte das Glas in seiner Hand und beobachtete seinen Freund aufmerksam, wie er seinen Wein abstellte, den Zettel auffaltete und zu lesen begann. Uruhas Urteil war ihm wichtig. Uruha sah seine neuen Texte immer zuerst, und wenn dieser fand, dass es einer letzten Überarbeitung bedurfte, war er durchaus bereit, den Gedanken zumindest in Betracht zu ziehen. Uruha war auch der einzige, der massive Kritik üben durfte, ohne dass sich Ruki gleich angegriffen fühlte. Denn nach wie vor waren seine Songtexte sehr persönlich und solange sie die Worte noch nicht in Musik umgewandelt hatten und noch nicht geschlossen als Band hinter ihrem Lied standen, war er über eine solche Textrohform sehr, sehr angreifbar. Weshalb ausgerechnet Uruha ihm als einziger das Gefühl gab, ihn nicht angreifen zu wollen, nicht an seinem Können zu zweifeln und auch sonst nicht auf ihn als Person abzuzielen, war ihm nur bedingt bewusst. Ruki, Reita und Uruha kannten sich am längsten. Sie waren gemeinsam auf dieselbe Mittelschule gegangen, und als die Oberschule begonnen hatte, waren Reita und Uruha erstmals so mutig gewesen, sich für ein Bandprojekt zu interessieren. Ruki hatte sich nicht getraut mit seiner Gitarre, wo er mit seinem Können nicht ansatzweise an seinen größeren Freund heranreichte, und hatte fieberhaft nach einem Ausweg gesucht. Bis ihn sein Musiklehrer vor versammelter Mannschaft blamiert hatte mit seinem Tipp, es doch einmal im katholischen Kirchenchor der ortsansässigen Gemeinde zu versuchen; es handele sich um einen anspruchsvollen Verein, der ständig flexible, wandelbare Stimmen suche. Uruha hatte ihn nach dieser Aktion beruhigen müssen, ihm gut zugeredet, der Musiklehrer habe es schließlich nur gut gemeint, und er habe absolut Recht, wenn er sagte, Ruki habe eine vielseitige Stimme. Ab da hatte er begonnen, sich Gedanken über seine Fähigkeiten zu machen, hatte die Gitarre nach und nach aus den Augen verloren und stattdessen angefangen, mit seiner Stimme zu experimentieren. Und da war ihm bald klar geworden, was er wirklich konnte – und wollte. Ruki suchte erfolglos nach einer Regung auf Uruhas Gesicht, einem kleinen Lächeln, einer gehobenen Augenbraue, irgendetwas. Uruha blieb stoisch ruhig, faltete den Zettel nach einigen Minuten wieder und gab ihn Ruki zurück. Um nicht ungeduldig wie ein kleines Kind loszufragen, was Uruha über den Text dachte, trank er zwei kleine Schluck Wein und war einen kurzen Moment lang überrascht, wie kräftig das Getränk auf seiner Zunge schmeckte. Uruha tat es ihm gleich und lächelte versonnen: „Schmeckt gut, oder?“ „Toll“, erwiderte er trocken, in der Hoffnung, sein Freund würde sich nicht alles aus der Nase ziehen lassen. „Hmmh“, machte jener nur und trank weiter. Ruki glaubte, vor Ungeduld auf der Stelle zerbersten zu müssen. „Uruha, jetzt sag schon!“, platzte es aus ihm heraus und auch das Funkeln in seinen Augen vermochte er kaum zu unterdrücken. Uruha indes lächelte wieder sein typisches Lächeln, mit dem er Denkpausen stets überbrückte, lehnte sich zurück und seufzte leicht. „Willst du das wirklich singen?“ Etwas überrumpelt stockte Ruki. Wenn er ehrlich war, handelte es sich bei Zweifeln selbstredend nicht um das, das er hören wollte. Er bedachte den Größeren mit einem entrüsteten Blick: „Natürlich!“ „Hmmh.“ Schweigen. „Wo ist das Problem?“, hakte er nach, schon etwas forscher, ungehalten darüber, dass sein Freund nicht mit der Sprache rausrückte. Uruha rückte sich die Brille auf der Nase zurecht und blickte Ruki sanft an: „Du weißt hoffentlich, dass der ganze Text ein bisschen...“ „Was?“ Es würde nicht mehr lange dauern und Rukis Geduldsfaden wäre gerissen. Kritik von Uruha pflegte eigentlich anders auszusehen. Normalerweise zeigte er dem Sänger die Stelle, mit der er nicht einverstanden war, und erklärte ihm, was genau ihn störte. Seine Seriosität allerdings hatte er noch nie in Frage gestellt. Dem Gitarristen entfuhr ein weiterer, etwas schwerer Seufzer, als ob er Rukis Unmut erahnte: „...ein bisschen persönlich ist.“ Ungläubig starrte der Sänger seinen Freund an: „Glaubst du im Ernst, dass ich wirklich mit meiner Mutter schlafe?!“ „Natürlich nicht!“ Uruha streifte Ruki mit einem leicht tadelnden Blick und wollte wohl fortfahren, doch jetzt war Ruki erst warmgelaufen: „Seit wann bist du außerdem so prüde? Ich singe noch über ganz andere Sachen, wenn du dich recht erinnerst, Inzest passt prima in die Reihe!“ 'Wenn du dich recht erinnerst.' Natürlich erinnerte sich Uruha, er war schließlich jedes einzelne Mal dabei. „Ich meinte auch eher den ödipalen Aspekt der Sache“, entgegnete der Größere der beiden ungerührt. Ruki konnte sich nicht helfen. In seinem Bauch staute sich Wut an, über derer Herkunft er sich nicht einmal wirklich sicher war. Doch sie war da und musste raus. „Wenn du jetzt wieder anfängst, klugzuscheißen, bin ich weg“, sagte er laut, viel lauter, als es nötig gewesen wäre. Uruha konterte trocken: „Wer ist denn gekommen und wollte meine Meinung hören?“ Darauf fiel ihm nichts Schlagfertiges ein, also blieb er zähneknirschend still. Ruki hasste das. Wenn er sich stritt, hatte sein Freund diese unangenehme Eigenart, mitten im Streit plötzlich so zu tun, als ginge ihn das ganze gar nichts an. Und meistens sagte er dabei Dinge, die zutrafen und deshalb wehtaten. Im Nachhinein entschuldigte er sich oft dafür, aber es machte keinen Unterschied, weil Ruki wusste, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Dann mochte es Uruha zwar leid tun, doch es änderte nichts daran, dass er auf sehr gemeine Art und Weise ehrlich gewesen war. Uruha hatte oft einen besseren Blick für die Dinge, wie sie wirklich waren, und in solchen Situationen rutschte ihm dann und wann seine distanzierte Sichtweise heraus. Aber all das zu wissen, half ihm auch nicht weiter. Es änderte nichts daran, dass es ihn unglaublich zornig machte. „Ich meine damit nur, dass ich keine Lust hätte, vor der ganzen Welt meinen Ödipuskomplex auszubreiten.“ Uruhas sachlichen Ton fand Ruki zum Kotzen. „Was heißt denn hier bitte Ödipuskomplex?!“, fauchte er ihn an, den Aufhänger, den er für eine Erwiderung gefunden hatte, sofort ausnutzend, „Ich erzähle nichts von Ödipus, es geht einfach nur um Inzest und da ich mit dem Thema nichts zu tun habe, sehe ich nicht, weshalb ich ein Problem damit haben sollte, darüber zu singen!“ Uruha atmete langsam und beherrscht aus. Ruki, ganz zittrig vor Wut und der Tatsache, dass er gerade tatsächlich seine Lieblingsstimme Uruha dumm angemacht hatte, wartete aufgebracht auf einen weiteren Schlag dorthin, wo’s richtig wehtat, aber es kam nichts. Der Gitarrist schwieg. Aber das war fast genauso schlimm wie seine Unart, richtig auszuteilen. Und solche waren genau die Momente, in denen er zickig wurde. „Schön“, patzte er und verschränkte wie ein bockiges Kind die Arme vor der Brust, „War’s das jetzt?“ „Wenn du willst, ja“, entgegnete Uruha bloß. „Dann danke ich für den Wein.“ „Gern geschehen.“ Es waren herzliche Worte, und doch könnten sie frostiger nicht klingen. Ruki stand auf, gab sich Mühe, entschlossen zu wirken, und spazierte mit forschen Schritten in den Flur. Uruha folgte ihm und hielt ihm die Tür auf, weil er sich für einen guten Gastgeber hielt und sich ein guter Gastgeber auch Gästen annahm, mit denen er eine Meinungsverschiedenheiten hatte. „Tschüss“, sagte Uruha trocken. „Tschüss.“ Der Größere sah seinem Freund nach, wie er die Treppen hinunterpolterte. Für den Aufzug war er zu stolz, natürlich. Als er die Tür hinter sich schloss, merkte er, wie anstrengend er ausgerechnet diesen Streit fand. Dankbar, dass die Flasche Pinot Noir bereits geöffnet war und nur darauf wartete, genossen und geleert zu werden, ging er zurück ins Wohnzimmer, ließ sich kraftlos auf sein Sofa fallen und machte sich daran, nachzudenken. 1. Kapitel - ENDE Kapitel Zwei ------------ Also dann. =) Weiter im Text. Viel Spaß! 2. Kapitel Uruha hatte gewusst, dass es Stress geben würde. Er hatte den Text gelesen und sich sofort gefragt, wie er Ruki am besten klarmachte, dass er nicht wirklich abertausenden von Leuten erzählen konnte, wie es um seine Beziehung zu seiner Mutter stand. Schon nach der ersten Strophe hatte er den Ärger quasi grollen hören, wie ein Gewitter, das noch zu weit weg ist und bei dem man die Sekunden zwischen Blitz und Donner zählt, um herauszufinden, wann es angekommen wäre. Ruki und seine Mutter. Die never ending story. Bei Rukis Mutter war Uruha schon immer befangen gewesen. Sie war bestimmt eine gute Frau, fürsorglich, und eine treue Gattin. Und so genau kannte er sie auch gar nicht. Jetzt waren sie schließlich weit weg von zu Hause, und damals, in ihrer Schulzeit, hatten sie sich allergrößte Mühe gegeben, sich ihre Eltern gegenseitig vom Hals zu halten. Uruha hatte Glück gehabt, seine Eltern hatten diesen Wunsch bemerkt und ihn mit dem Lächeln zweier Menschen, die sehen, dass ihr Kind allmählich den Drang verspürt, auf den eigenen Beinen zu laufen, gewähren lassen. Er war das dritte Kind, das sie durch die Pubertät gelotst hatten, und sie hatten eine gewisse Routine entwickelt. Bei Reita hatte sich das Problem ebenso nie gestellt, wenn auch aus völlig andere Gründen. Reitas Vater war damals bereits nicht mehr da gewesen und er als einziges männliches Familienmitglied hatte die wenig dankbare Ehre erhalten, Großmutter, Mutter und eine ältere Schwester permanent um sich zu scharen. Es war immer klar gewesen, dass er sich nie völlig von seiner Familie lösen können würde – bis sie als „Gazette“ erste Erfolge erzielt hatten. Aber das war eine andere Geschichte. Und dann war da noch Ruki. Als Uruha das erste Mal bei den Matsumotos zum Essen eingeladen gewesen war, hatte er Rukis Vater als einen devoten Typ erlebt, von dem zwar verlangt wurde, dass er die Rolle des Familienoberhauptes übernahm, doch letztendlich hielt die Mutter die Fäden lieber selbst in den Händen. So weit hatte Uruha auch gar kein Problem mit der ganzen Sache gehabt. Aber dann hatte Ruki durchscheinen lassen, dass er oft verwirrt war, was seine Mutter denn nun von ihm wollte – dass er sie in Ruhe ließ, oder dass er sie in den Arm nahm? – und das hatte ihn dazu bewogen, den ein oder anderen Versuch zu starten, Ruki von zu Hause wegzulocken. Das war ebenfalls nicht schlecht gelaufen. Er hatte sich Mühe gegeben, Ruki stärker in ihren Freundeskreis einzubinden, hatte ihm geholfen, den Gesang für sich zu entdecken, hatte lauter Dinge getan, die er sonst wohl genauso gemacht hätte, der einzige Unterschied war gewesen, dass die ganzen Prozesse für ihn bewusster abgelaufen waren. Doch dann hatte Rukis Mutter angefangen, ihm Verbote zu erteilen, die letztendlich alle dazu geführt hatten, dass er öfter zu Hause bleiben musste, fernab von allen Dingen, die ihn verführen könnten. Gleichzeitig hatte sie begonnen, sich zu beschweren, zu was für einem Stubenhocker Ruki doch geworden wäre. Der war daraufhin unsicher geworden und hatte Ängste entwickelt, und Uruha hatte viel Arbeit geleistet, um ihn etwas zu beruhigen. Womit auch die besondere Freundschaft zwischen ihnen ihre Wurzeln gefunden hatte. Bei alldem hatte es sich um Vorgänge gehandelt, die ein gewisses Maß an Empathie erfordern, etwas, das Reita währenddessen vollkommen abging, und das führte dazu, dass der Bassist eine Zeit lang gewissermaßen ausgeschlossen wurde. Wodurch Uruha die zusätzliche Aufgabe zugekommen war, einen Ausgleich zwischen Ruki und Reita herzustellen, da Letzterer sich zunehmend, wohl durchaus zu Recht, vernachlässigt gefühlt hatte. Dann war die Zeit gekommen, in der sie sich in einer Band zusammengerottet hatten. Aoi war aufgetaucht, dann Yune und später auch Kai, und mit ihnen der Erfolg. Ruki war gezwungen gewesen, seine Eltern in Kanagawa zurückzulassen, und hatte es hatte ihn gleichermaßen verzückt wie entsetzt. Uruha wusste, dass er bis heute oft mit seiner Mutter telefonierte, und als sein Vater vor ein paar Jahren an einer langwierigen Erkrankung gestorben war, schien noch vor der Trauer seine größte Sorge gewesen zu sein, wie seine Mutter die Sache wohl überstehen würde. Und in Anbetracht all dieser Umstände konnte ihm niemand erzählen, Ruki schrie sich mit diesem Text nicht sein Innerstes aus dem Herzen. Gut, darum ging es ein Stück weit. Die Musik war für sie eine Ausdrucksform, die sie alle auf derselben Frequenz sendeten. Nur deshalb hielten sie es überhaupt zusammen aus. Ihre Musik sollte ihnen helfen, auszudrücken, was für sie in Worten allein nicht beschreibbar gewesen wäre. Aber Uruha sah nicht ein, warum er seinen nicht vorhandenen Ödipuskomplex mit einer Gitarre und vier weiteren Männern zelebrieren sollte. Wenn Ruki tatsächlich bloß über Inzest singen wollte, hätte auch ein Geschwisterpaar als Thema nehmen können. Der Hauptgrund seiner Ablehnung gegenüber diesem Text war allerdings nach wie vor die Tatsache, dass Ruki viel von sich preisgab, ohne sich überhaupt darüber im Klaren zu sein. Seine Reaktion auf die Kritik hatte Uruha überdeutlich gezeigt, dass Ruki höchstens erahnte, was er tatsächlich aufgeschrieben hatte. Und seine ziemlich heftige Wut, als Uruha ihm seine Interpretation mitgeteilt hatte, bestätigte ihm, dass er voll ins Schwarze getroffen hatte. Gut, vielleicht war er ein bisschen ausfallend geworden. Kein Mensch reagiert begeistert, wenn man ihm erklärt, dass sein Unbewusstsein tatsächlich gerne Sex mit der eigenen Mutter hätte. Nur der Punkt war: die überwiegende Mehrheit aller männlichen Unbewusstseins wollte das. Zumindest im Kindesalter. Nur gab es eben auch Fälle wie Ruki, bei denen die Sache zu einem Komplex herangereift war, und genau diesen Komplex hatte er mit seinem Text relativ eindeutig beschrieben. Uruha schenkte sich Wein nach und massierte sanft seine Schläfen. Es ärgerte ihn, wie stur Ruki sein konnte. Es mochte spezielle Kritik gewesen sein, die er an diesem Text geäußert hatte, aber bisher war sein Freund immer offen für Vorschläge gewesen. Er wusste zwar, dass die in seinen Augen etwas übersteigerte, wütende Reaktion an der – gottverdammt nochmal zutreffenden – Unterstellung lag, die er ihm gemacht hatte. Und daran, dass Rukis hitzköpfige Art zu streiten bei ihm wenig Erfolg hatte, weil er lieber still dasaß und zusah, wie sein Streitpartner sich abmühte, um im richtigen Moment einen kurzen, aber effektiven Satz auszusprechen. Jetzt, wo er da saß und zur Ruhe kam, wusste er auch, dass es gemein war. Aber es hatte ihn wütend gemacht, wie Ruki sich aufgeführt hatte, und hatte er vielleicht kein Recht darauf, wütend zu sein? Wahrscheinlich hatte er Ruki verletzt und das tat ihm leid. Jedenfalls war er gespannt, was die anderen zu dem Text sagen würden. Ob sie ihn überhaupt so differenziert betrachten würden, wie Uruha es tat. Wahrscheinlich konnten sie es gar nicht. Reita hatte keine Ader für solche Dinge, und die anderen beiden kannten Ruki vielleicht nicht lange genug. Oder hadern selbst mit ihrem Ödipus und fühlen sich voll angesprochen, setzte er seinen Überlegungen resignierend ein Ende, setzte den Korken wieder auf die Flasche und stellte sie zurück in die Küche. Er würde sehen müssen. Der Vorfall war zwei Tage her, als sie die nächsten Proben abhielten. Uruha ging davon aus, dass Ruki seinen Text nicht überarbeitet hatte und ihn den anderen vorstellen würde. Aoi und Reita waren bereits da, als er eintraf. Kai kam zuletzt. Sie begrüßten sich alle freundlich, allerdings spürte Uruha, dass Ruki nicht bereit war, wieder unbefangener mit ihm umzugehen. Es ging lediglich darum, ihren Streit nicht nach außen zu tragen. „Ich hab den Text fertig“, verkündete Ruki schließlich, als sie es sich alle im Raum bequem gemacht hatten. Er hatte vor einer knappen Woche erzählt, dass er zur Zeit an einem Text arbeite. Normalerweise war er kaum zu halten, wenn er eine neue Grundlage für ihre Arbeit liefern konnte, aber an diesem Tag fehlte seine deutlich spürbare Begeisterung. „Rück raus!“, forderte Aoi sofort. Sie waren alle immer gespannt auf Rukis Produktionen. Einzig Uruha ging es dieses Mal um etwas anderes. Ruki verteilte Kopien. Uruha bekam auch eine. Er las den Text nicht minder aufmerksam durch als die anderen. Nein, definitiv, er verhüllte die Aussagen zwischen den Zeilen nicht. Und Ruki hatte natürlich nichts geändert. Schließlich blickten sie auf und tauschten untereinander flüchtige Blicke. So lief das immer. Sie vergewisserten sich, dass niemand einen erheblichen Einwand hatte, und taten dann ihre persönliche Meinung kund. Uruha spielte das Spiel mit und ließ sich nichts anmerken. Er wollte seine Kollegen nicht beeinflussen. „Also?“, fragte Ruki offen in die Runde. Er mochte es sich bloß einbilden, aber Uruha glaubte, einen herausfordernden Unterton in der Stimme des Sängers gehört zu haben. Reita lehnte sich in seinem Sessel zurück, ließ das Blatt lässig in seinen Schoß segeln und nickte deutlich: „Ich find den Text gut.“ Uruha musste sich einen resignierenden Seufzer verkneifen. Weshalb bloß war ihm das klar gewesen. „Er ist provokant.“ Aoi Nicken war zögerlich, er hielt die Augen auf das Blatt gerichtet, doch dann blickte er auf und lächelte Ruki an. „Klingt gut. Man könnte was ziemlich Dramatisches draus machen.“ „Dramatisch“, knüpfte Reita an, „Oder bedrohlich.“ „Da geht auch viel mit Stimme“, fügte Aoi wiederum hinzu. Seine Augen leuchteten. Aoi! Drama, Baby! Wenn Aoi seine wirkungsvolle Inszenierung hatte, war er glücklich. Ihr Bassist hatte ebenso sofort weitere Ideen: „Die Verwirrung muss deutlich werden.“ „Aber auch Entschlossenheit.“ Die zwei grinsten sich an. So ging das oft. Während Uruha und Kai sich Mühe gaben, einen Text zunächst bis ins kleinste Detail zu verstehen, warfen sich Reita und Aoi bereits ihre Ersteindrücke an den Kopf. Uruha fand es oft hilfreich, ihre Assoziationen zu hören, um seinen Blick auf Inhalt und Hintergrund erweitern zu können, doch in diesem Fall brachte es ihn nicht weiter, da er den Text auf einer gänzlich anderen Ebene betrachtete als die beiden. Kai räusperte sich. Sein Gesicht sah freundlich aus, wie immer eigentlich. Wenn andere neutral dreinschauten, trug Kai sein stilles Lächeln auf den Lippen. „Wenn du das tatsächlich singen würdest, hab ich nichts dagegen“, sagte er zu Ruki und grinste ihn an. Uruha horchte auf und musterte Kai von oben bis unten. Ihr Leader hatte Vorbehalte, aber er gab nicht preis, welche. „An mir soll’s nicht scheitern“, entgegnete Ruki trocken und nickte schließlich. Der Gitarrist verstand den Seitenhieb und zog mürrisch die Augenbrauen zusammen. „An wem dann?“ Kai lächelte freundlich in Uruhas Richtung. Uruha hatte sich immerhin bis dorthin dezent zurückgehalten. „An mir auch nicht“, sagte dieser lediglich, bemüht, seiner Stimme jeglichen Unterton abzusprechen. Er gab auf. Erstens war er überstimmt, zweitens schien keiner seiner Kollegen die Sache ähnlich zu betrachten wie er und drittens täte er seiner Beziehung zu Ruki keinen Gefallen, wenn er ausbreiten würde, was er tatsächlich dachte. Ruki nickte wieder. Sein Körper schien sich ein Stück zu entspannen. Scheinbar schien er bereit, die Sache abzuhaken, da Uruha den Schwanz einzog. „...auch wenn das gestern noch ganz anders aussah“, versetzte er. Fast bereit. „Warum?“, mischte sich Kai ein und warf Uruha einen fragenden Blick zu. „Er hat mir eine ziemlich schräge Interpretation geliefert und sich gewundert, dass ich ihm einen Vogel gezeigt hab“, antwortete der Sänger anstelle des Angesprochenen kühl. Uruha nahm sich fest vor, nichts mehr zu sagen, das irgendwie zu diesem Streit beitrug. Er empfand die Sache als abgehakt. Sie würden den Song schreiben, also würde er sich mit dem Text arrangieren. Dass Ruki seinen Sieg auskostete, ärgerte ihn, und es ärgerte ihn auch, dass er es überhaupt zu einem Machtkampf hatte kommen lassen. Es ärgerte ihn nach wie vor, dass er mit seinem gut gemeinten Hinweis auf eine Problematik neben der des Inzests auf taube und äußerst undankbare Ohren stieß, aber einer von ihnen beiden musste schließlich nachgeben und wenn Ruki nicht bereit war, einen Kompromiss zu schließen, würde er eben derjenige sein, der Frieden schloss. Mit sich selbst und mit dem anderen. „So?“ Kai indes blieb hartnäckig und zeigte sein erwartungsvollstes Grinsen: „Was hast du ihm denn erzählt, Uruha?“ Uruha grinste gequält. Er hasste es, dieses Grinsen enttäuschen zu müssen. „Das soll er dir selbst sagen, wo es doch so großer Stuss ist“, antwortete er ausweichend und wunderte sich gleichzeitig, seit wann Kai so penetrant in den Angelegenheiten anderer bohrte, von denen doch offensichtlich nichts verraten werden sollte. Rukis und Uruhas Blicke trafen sich. Kai blickte nach wie vor neugierig zwischen ihnen hin und her. „So einen Blödsinn wiederhole ich nicht“, wehrte Ruki ab und es war offensichtlich, dass er der Unterhaltung plötzlich doch gerne ein Ende gesetzt hätte. Also gab Kai auf und begann stattdessen, sie alle zu motivieren für die Probe, die vor ihnen lag. Uruha war die Lust auf Musik für den Augenblick zwar gründlich vergangen, aber auch das gehörte dazu zu dem Leben, das sie sich ausgesucht hatten. Also biss er in den sauren Apfel, doch es kam wie so oft und machte ihm letztendlich doch Spaß, als er erst einmal in die Musik eingetaucht war. Nach drei knappen Stunden einigten sie sich, dass es genug war. Sie packten ihre Instrumente zusammen, das hieß, abgesehen von Ruki, der wie immer unübersehbar gemütlich im Sessel hing und den anderen genüsslich dabei zusah, wie sie Gitarren, Verstärker und Hats umherschleppten. Er weigerte sich konsequent, Instrumente zu tragen, mit dem irgendwo durchaus berechtigten Argument, er sei schließlich nicht umsonst Sänger geworden. ‚Ja, weil du nichts anderes auf die Reihe kriegst’, pflegte Reita daraufhin zu brummen und Uruha musste jedes Mal lachen, da sie beide Rukis Versuche mit einer Gitarre damals amüsiert verfolgt hatten, und Ruki feixte zurück: ‚Zum Glück!’ Dafür musste er allerdings seine Koffer immer alleine tragen, wenn sie durch aller Herren Länder tourten, während die anderen Uruha in aller Regelmäßigkeit als Gepäckträger zur Hand gingen, obwohl der Sänger nur geringfügig weniger Bagage hatte als sein größerer Freund. Er hatte sich ein Mal über diese Unsitte beschwert und danach nie wieder, als die kollektive, etwas spottende Antwort gelautet hatte, er habe im Gegensatz zu den anderen ja sonst nichts zu befördern. Ruki begann mit seinen Abschiedsumarmungen bei Aoi. Uruha war der Letzte. Er drückte seinen Freund kurz an sich und ließ ihn sofort wieder los, damit der Kleinere sich triumphierend aus dem Staub machen konnte. Doch Ruki ließ nicht los. Er legte sogar die Arme von Uruhas Rücken um dessen Hals. Der Gitarrist konnte nicht anders. Er musste lächeln. Langsam machte er sich daran, die Umarmung doch wieder zu erwidern. In dem Augenblick wusste er, warum er sich auf den Rückzug begeben hatte. Im Knatsch mit Ruki, das war kein Zustand. „Willst du... nachher noch vorbeikommen?“, wurde ihm zögerlich ins Ohr geflüstert. Er konnte einfach nicht verhindern, dass sein Lächeln immer breitere Züge annahm. „Ja“, erwiderte er bloß, vergrub ein letztes Mal die Nase in Rukis Haar und ließ dann die Hände von dessen Rücken gleiten. Ruki wartete noch kurz, bis er seinerseits die Umarmung löste. Sie lächelten sich still an, dann sagte Ruki ein letztes, allgemeines „Tschüss“ in die Runde und ging. Reita hängte sich seine Tasche über die Schulter, gab Kai und Aoi kurz die Hand, nur Uruha bekam wie immer eine spartanische Umarmung, die so typisch für den Bassisten war. Es handelte sich dabei mehr um ein Aneinanderlehnen ihrer Oberkörper als um ein In-die-Arme-Schließen, doch die Bedeutung blieb dieselbe. „Ist alles klar bei euch?“, fragte er und berührte Uruha beiläufig am Arm. Der Größere lächelte sanft: „Alles in Ordnung.“ „Sicher?“ „Ja, Rei.“ Reita lächelte knapp und nickte, er schien ihm zu glauben. Dann ging auch er. „Uruha...“ Kai grinste ihn etwas verlegen an. Der Angesprochene riss sich aus seinen Gedanken, die in diesem Augenblick um Reita drehten – und um die Frage, ob der Bassist wieder eifersüchtig war. „Was denn?“ „Könntest du mich heimfahren?“ Uruha musste grinsen, stimmte aber ohne zu Zögern zu. Es kam oft vor, dass einer von ihnen Kai nach Hause kutschierte, weil der vergessen hatte zu tanken, oder weil er erst zu spät gemerkt hatte, dass es höchste Zeit für den Aufbruch zur Probe war, und seinen Autoschlüssel nicht fand. In der Nähe seiner Wohnung gab es einen Taxistand (in der PSC ging das Gerücht um, dass jener Taxistand einer der Hauptgründe gewesen war, weshalb sich Kai überhaupt für diese Wohnung entschieden hatte), die Hinfahrt war also kein Problem. Und die Rückfahrt auch nicht wirklich, denn keinem Bandmitglied machte es tatsächlich etwas aus, seinen Leader heimzufahren. Außerdem bestand das ernst zu nehmende Risiko, dass sich Kai aus lauter Schusseligkeit selbst während einer so trivialen Sache wie dem Heimweg in den größtmöglichsten Schlamassel reinritt. Also verließen sie zu dritt den Probenraum. Auf dem Parkplatz verabschiedeten sich Uruha und Kai von Aoi, setzten sich in Uruhas Wagen und fuhren los. 2. Kapitel: ENDE Kapitel Drei ------------ 3. Kapitel Uruha hatte das dringende Gefühl, dass Kai mit ihm reden wollte. Vielleicht verwechselte er auch die Tatsachen, und er wollte unbedingt, dass Kai mit ihm reden wollte. Jedenfalls hatten sie kaum den Parkplatz verlassen und waren auf eine der Hauptstraßen abgebogen, da stellte Uruha fest, dass ihn sein Gefühl eben doch nicht betrogen hatte. Sofort kam Kai von dem Smalltalk über das, was sie an diesem Abend kochen wollten, und dass der Leader seinen Gitarristen, der unheimlich auf Kais Kochkünste stand, mal wieder zum Essen einladen sollte, auf Ruki. „Habt du das vorhin mit Ruki geklärt?“, fragte er vorsichtig lächelnd und blickte Uruha ruhig an. „Ja... so ungefähr. Ich fahr nachher mal bei ihm vorbei, danach müsste es gut sein.“ Eigentlich fand er, dass es eine Sache war, die unter Ruki und ihm bleiben sollte, aber er wusste gleichzeitig, dass Kai durchaus ein Mensch war, dem man getrost Dinge anvertrauen konnte. „Darf ich fragen, was du ihm über seinen Text gesagt hast?“ Uruha warf Kai einen kurzen Blick zu. Er setzte den Blinker, als sie an einer Ampel anhalten mussten, und seufzte. Er spürte, dass ein Anflug von Ärger wiederkehrte. Wenn das nun jeden Tag so gehen würde, wenn sie an dem Song arbeiteten, konnte das noch heiter werden. „Ich hab ihn darauf hingewiesen, dass er seinen Ödipuskomplex vielleicht besser nicht in einem unserer Lieder verscherbelt. Woraufhin er sich ziemlich entrüstet beschwert hat, das Thema wäre nichts weiter als Inzest und ich solle keinen Schwachsinn labern.“ Kai schwieg einen Moment, dann grinste er schief: „Der hat Nerven. Diese Ödipus-Sache ist eigentlich ziemlich unübersehbar.“ Uruha konnte seine Überraschung kaum verbergen. Kai sah die Sache also genauso wie er, und doch schien der sich nicht im geringsten so viel daraus zu machen wie er selbst. „Dennoch findest du den Text gut?“, hakte er nach. Der Drummer stieß ein fröhliches Lachen aus. „Wenn er es gerne singen möchte, habe ich kein Problem damit.“ „Aber er weiß nicht, was er singt“, hielt Uruha dagegen, „Er denkt, er faselt etwas von Inzest, dabei ist es sein persönliches Thema.“ Geräuschvoll atmete er aus. Dann besann er sich und murmelte eine Entschuldigung für die respektlosen Worte, die ihm in Bezug auf Rukis Dichtkunst herausgerutscht waren. „Ich will nicht, dass er etwas singt, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was es eigentlich ist“, ergänzte er schließlich, weil er das Gefühl hatte, sich irgendwie rechtfertigen zu müssen. „Ich verstehe“, sagte Kai ernst und nickte bekräftigend, „Aber so ganz ahnungslos scheint er ja nicht zu sein, sonst hätte er sich nicht dermaßen aufgeregt.“ Uruha zuckte die Schultern: „Ich hab es mir so erklärt, dass ich ihn einerseits bevormundet hab und andererseits hat er gemerkt, dass an dem, was ich sage, was dran ist.“ „Entweder so“, stimmte Kai ihm zu, „Oder er ist enttäuscht, weil du den Wunsch, über seine Mutter zu singen, nicht unterstützt hast.“ Der Größere der beiden nahm die Hand vom Schaltknüppel und fuhr sich übers Gesicht. Kai könnte recht haben. Es klang plausibel. „Gut, oder so“, gab er zu. Wenn er mit Ruki darüber geredet hätte, ob er mit seiner Deutung richtig lag, wäre das eine Sache gewesen. Aber mit Ruki ging das nicht, denn Ruki wollte keine Deutung hören. „Was ich damit sagen will, ist nicht, dass das eine jetzt richtiger wäre als das andere“, fuhr Kai fort und lächelte unentwegt, „Aber so könnte es aussehen.“ „Ja.“ Es war Kais Art, Kritik zu äußern. Er lächelte ununterbrochen, rückte sich selbst in den Schatten dabei, gab allerdings Denkanstöße, die oftmals die ein oder andere Grübelei wert waren. Dennoch hatte Uruha das Gefühl, dass aus dem Gespräch noch etwas herauszuholen war. „Aber gesetzt den Fall, ich hätte recht...“ Er brach ab. „...dann würdest du dir Vorwürfe machen, wenn er irgendwann erkennt, was er da eigentlich singt, und es bereut?“, schlug der Drummer ihm vor. Uruha nickte zögerlich. Ausgesprochen hörte es sich lächerlich an. Als ob er, der Ironie der Situation angemessen, Rukis Mutter wäre und auf ihn aufpassen müsste. Als ob Ruki nicht auf sich selbst aufpassen könnte. Als ob Ruki irgendetwas je bereut hätte. „Ruha.“ Kai lächelte ihn liebevoll an. Es irritierte ihn, dass er bei seinem Kosenamen genannt wurde. Aber er mochte es, wenn einer seiner Bandkollegen sanft zu ihm war, und ließ sich nichts anmerken. „Vielleicht kennst du Ruki ein bisschen zu gut. Am besten von uns allen, würde ich sagen.“ Stumm pflichtete Uruha seinem Freund bei. Damit hatte er wohl recht. „Ich nehme an, dass außer dir niemand auf die Idee kommen wird, aus dem Thema Rukis persönlichen Ödipuskomplex herauszulesen. Zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen.“ Kai lachte heiter und Uruha musste dann auch lächeln. Kais kokette Bemerkung zum Schluss hatte die Situation gelöst. Bis zu ihrem Ziel plauderten sie wieder über kulinarische Abenteuer, die sich Kai wesentlich öfter traute als der Gitarrist, und als sie endlich vor Kais Wohnhaus hielten, grinsten sie sich fröhlich an. „Du solltest wirklich mal vorbeikommen zum Abendessen“, sagte Kai und streckte seinen Kopf durch die heruntergekurbelte Fensterscheibe zu Uruha ins Auto. „Mit Vergnügen“, versprach der Größere und schenkte seinem Freund ein sanftes Lächeln. „Danke, Kai.“ „Kein Thema. Ich habe zu danken. Für’s Mitnehmen. Bis morgen.“ „Mach's gut.“ „Tschüss.“ Uruha fuhr die Fensterscheibe hoch und fuhr an. Das Lächeln auf seinen Lippen erlosch nur langsam. Jetzt gab es bloß noch eine Sache zu tun. Es wurde bereits dunkel, als er vor der Tür von Rukis Wohnhaus stand. Der Wind umwehte ihn eiskalt, auf seinen Armen und Beinen hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Ungeduldig trippelte er von einem Fuß auf den anderen. „Hallo?“, knisterte es ihm aus der Gegensprechanlage entgegen. „Uruha“, sagte Uruha knapp. „Moment!“ Die Tür summte und Uruha trat eilig herein. Es tat gut, der Kälte endlich zu entkommen. Das Haus hatte nicht viele Stockwerke. Ruki wohnte im dritten, Uruha nahm den Aufzug. Rukis Wohnungstür stand auf, wie immer, wenn er Besuch erwartete. Uruha klopfte der Form halber an. „Komm rein!“, hörte er Rukis muntere Stimme aus dem Inneren der Wohnung. Uruha ging in den Flur und zog sich artig die Schuhe aus. Dann tapste er etwas zögerlich in den Wohnraum. Er war sich nicht sicher, inwiefern Ruki wieder locker war und vor allem: welche Entspanntheit von ihm erwartet wurde. „Hallo“, sagte er leise, als er Ruki am Esstisch sitzen sah. Auf Rukis Lippen schlich sich ein leises Lächeln: „Hey.“ Er stand auf und kam auf ihn zu. Schweigend fielen sie sich in die Arme. Uruha mochte diese Situationen, in denen Ruki einen Teil seiner Haltung fallen ließ und anhänglich wurde. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder voneinander lösten, sich scheu in die Augen sahen, verlegen lächelten. „Ich finde es nicht so prickelnd, wenn wir uns streiten“, gab der Kleinere mit gespielter Leichtigkeit zu, während er den Tisch umrundete und sich wieder setzte. Mit einem Kopfnicken bedeutete er Uruha, es ihm gleich zu tun. Uruha musste grinsen, während er sich gegenüber seines Freundes niederließ: „Andere mögen drauf stehen, aber ich kann mich auch nicht besonders dafür begeistern.“ Ihm wurde ein Glas Wasser zugeschoben: „Sorry, hab grad nichts anderes da.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung und trank ein paar durstige Schlucke. Es war eine Art Zeitschinden; er wusste, was anstand. Sie schwiegen sich an und als Uruha merkte, dass Ruki sich nicht so recht traute, den Anfang zu machen, fand er, dass sein Moment gekommen war. „Es tut mir leid“, fing er deswegen an und vergewisserte sich mit einem flüchtigen Blick in die Augen seines Freundes, dass dieser zuhörte. Ruki wich ihm unangenehm berührt aus und betrachtete die Tischplatte. Uruha lächelte matt und fuhr fort: „Ich hab Dinge zu dir gesagt, die man eigentlich noch nicht einmal denken sollte.“ „Äh... macht nichts“, beteuerte Ruki sofort und grinste hilflos ins Nichts, „Meine Reaktion war, hm, vielleicht auch nicht gerade angemessen.“ „Na ja, passt schon.“ „Wieso?“ Irritiert blinzelte er den Größeren an. Uruha hätte jetzt vor ihm ausbreiten können, was er zuvor mit Kai besprochen hatte. Er könnte eine lange und ausführliche Argumentation vorlegen, die alle Lücken füllte und eine genaue Erklärung lieferte, weshalb er Rukis Wut nachvollziehbar und eigentlich auch verständlich fand. Aber er zog es vor, denselben Fehler nicht wieder zu begehen. „Vergiss es.“ Uruha lächelte ihn sanft an. Ruki sprang sofort darauf an und grinste zurück: „Okay.“ Er trank einen weiteren Schluck, um sich vor der nächsten Schweigepause zu retten. Der Kleinere musterte ihn währenddessen zurückhaltend. Er seufzte, als er Uruhas fragenden Blick sah. „Kommst du trotzdem klar? Mit dem Text, meine ich.“ Uruha lächelte ihn an: „Natürlich.“ „Okay.“ Ruki lächelte zurück. Und die Sache schien endlich geklärt. „Also dann. Es tut mir echt leid.“ „Mir auch.“ Uruha beugte sich vor und wollte dem Kleineren einen Kuss aufdrücken, aber Ruki drehte den Kopf und sorgte dafür, dass die Lippen seines Freundes statt auf seiner Wange auf seinen eigenen landeten. Der Kuss dauerte nicht lange, und als sie wieder auseinander fuhren, grinsten sie sich nahezu verschwörerisch an. Dann senkte Ruki die Stimme: „Findest du auch, dass Reitas neues Shirt eine ziemlich schreckliche Farbe hat?“ Die Moral, die Uruha aus der ganzen Geschichte ziehen konnte, war mehr als deutlich. Er hatte es gut gemeint, hatte Ruki eine Hilfestellung geben wollen, aber die beste Psychoanalyse brachte einen keinen Schritt weiter, wenn der Patient sie nicht freiwillig über sich ergehen ließ. Offenheit war zwar eine Möglichkeit, aber vielleicht nicht immer die richtige. Taktgefühl spielte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, aber ebenso die vielzitierte Empathie, die in diesem Fall wohl ein bisschen zu kurz gekommen war – auf beiden Seiten. Nun, wo sie zusammen bei Ruki saßen, als wäre nie etwas passiert, und in ihren alten Trott verfielen, bekam er eine Ahnung, was er aufs Spiel setzte, wenn er Streit mit seinem Freund riskierte. Doch gleichzeitig war er unglaublich erleichtert, dass sie es immer irgendwie schafften, sich wieder zusammenrauften. Es ging vielleicht gar nicht darum, sich gegenseitig auswendig zu kennen. Es kam womöglich darauf an, dass man zusammenpasste. Dass man sich liebte. Und dass man füreinander einstand. So gesehen war das definitiv der Fall bei Ruki und ihm. Sie ergänzten sich, liebten sich, übernahmen Verantwortung füreinander. Sollte der Sänger wirklich mit seinem Text auf die Nase fallen, wäre Uruha da, um ihn aufzufangen. Damit leistete er ihm wohl den besten Dienst. Und vielleicht wäre es ja auch gar nicht notwendig. 3. Kapitel: ENDE Ödipus: ENDE So. ^^ Sense. Das war der letzte Teil. Ich bedanke mich wärmstens für das Interesse und hoffe, jemand hatte ein bisschen Spaß hiermit. Bis bald. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)