Nostalgia von -Fynnian (Gefangen in der Zwischenwelt (Prideshipping)) ================================================================================ Kapitel 1: Prolog ----------------- Legende: "..." = jemand spricht '...' = jemand denkt (Geister verständigen sich durch Gedanken, daher sprechen sie mit '...'-Anführungszeichen) ------~-----~~--------------------~---------------------------------~~-------------- Prolog Hast du dir jemals gewünscht, die Zeit zurückzudrehen? Einen Fehler ungeschehen machen zu können? Ich wünsche mir nichts sehnlicher als eine zweite Chance. Kühler Wind schlägt mir gegen die geschlossenen Lider, streicht verspielt durch meine Haarsträhnen. Er wirbelt sie in kleinen Windhosen herum, lässt sie wild tanzen. Eine besonders Verwegene tanzt mitten durch mein Gesicht. Als wolle sie mich auffordern, meine Trübsal zu vergessen, hüpft sie auf und ab und kitzelt mich dabei an Lippen und Nase. Und tatsächlich. Für einen kurzen Moment gelingt es mir, die schweren Gedanken hinter mir zu lassen. Mit einem Lächeln auf den Lippen beschließe ich, dies auch meinen frechen Haaren mitzuteilen und schnappe nach einer goldenen Franse. Natürlich ohne Erfolg. Mit noch immer geschlossenen Augen setze ich mein Spiel fort, versuche, ein paar Haare zu erwischen und recke dabei den Kopf immer höher. Natürlich klappt das nicht, da der Schwung, den ich dabei hole, dem Wind zuspielt und mir nun, da mein Kopf in meinem entblößten Nacken liegt, die Mähne ringelnd in die Höhe tanzt. Nun sind meine Haare zwar aus meinem Gesicht, kitzeln mich dafür aber umso eindringlicher im Nacken. Ein wohliger Schauer durchläuft mich und ich schüttle mich aus Reflex. Damit befördere ich nun wieder alle Haare zurück an den Platz, von dem ich sie doch eben erst vertrieben habe. Ein leises, fröhliches Lachen entflieht meiner Kehle. Langsam hebe ich meine schweren Lider -- schwer von den vielen Tränen, die ich in den letzten Wochen vergossen habe -- und lasse meinen Blick über das weite Land schweifen. Eine öde Graslandschaft, möchte man meinen, aber nicht für mich. Seit ich hier bin, gibt es für mich keinen angenehmeren Ort. Auf dieser riesigen, vereinsamten Wiese, auf der soweit das Auge blickt weder Baum noch Strauch sprießen, bin ich ganz allein. Hier gibt es niemanden, der mich stören könnte. Keine anderen Geister, keine Tiere, Feen, nichteinmal ein Insekt stört die unendliche Ruhe. Kein leises Rascheln, kein gesprochenes Wort. Dies hier ist die Wiese der ewigen Stille, das Herzstück des Totenreiches. Und obwohl sie zentral inmitten der toten Stadt liegt, die keinen Anfang und kein Ende kennt, wagt sich niemand hierher. Schon seltsam. Wovor kann ein Geist sich fürchten? Meine amethystfarbenen Augen wandern über den Horizont. Sie fahren die sich sanft in der abendlichen Brise wiegenden Gräser entlang, folgen deren Bewegung bis sie wieder beim Horizont angelangen. Direkt vor mir erstreckt sich ein wunderschöner Sonnenuntergang. Warm und hell umgibt sein Licht alles in dieser Welt. Meine Umgebung wird in sanfte Gelb- und Orangetöne getaucht. Es ist ein wunderschöner Anblick. Noch immer lächelnd strecke ich eine Hand nach dem Schauspiel aus. Im Himmel, wie die Christen ihn nennen, im fernen Westen, wie mein Volk zu sagen pflegte, im ewig grünen Garten, hier ist man der Sonne so nahe wie sonst nirgendwo auf der Welt, Zeit seines Lebens. Lebens... Traurig senke ich den Blick. Eine weitere Träne entkommt meinen fest geschlossenen Lidern und bahnt sich quälend langsam ihren Weg über meine verquollenen Wangen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hat sie endlich mein Kinn erreicht. Aber was zählt schon die gefühlte Ewigkeit, wenn man in der endlosen, wahrhaftigen Ewigkeit steht. Mit einem leisen Geräusch, das ich wohl eher fühle als es zu hören, löst sich der salzige Tropfen von meiner Haut und stürzt sich zu Boden. Nach wenigen Sekunden des Fallens hinterlässt er einen kleinen Fleck auf meiner Brust. Wovor Geister sich fürchten? Ich weiß es doch...Ich weiß es besser als jeder Andere. Ich tue jeden Tag, was die Anderen vermeiden, weil sie es fürchten. Ich bin allein. Ich denke nach, viel zuviel denke ich nach. Und mit dem Nachdenken kommt jedem irgendwann, mal früher, mal später, zu Bewusstsein, wo er ist. Was er ist. Was der Tot bedeutet... Er ist unumkehrbar, unaufhaltsam, das Ende. Es gibt keinen Weg zurück. Diese Erkenntnis ist schmerzhafter als jedes Sterben. Sie ist engültig und grausam, zerstört jedwede Hoffnung im Keim. Ich war schon lange tot, bevor ich hierherkam. 3000 Jahre lang, um genau zu sein. Doch in all diesen Jahren war ich dem Leben nahe. Lebende Menschen waren um mich rum und erfüllten mich mit ihrer Wärme. Umso härter trifft mich Abend für Abend die Tatsache, dass ich von nun an und auf ewig allen Lebens entbehren muss. Eine zweite Träne kullert über meine kühle Wange. Eine weitere folgt ihr. Niewieder...niewieder. Ein verzweifelter Schrei hallt durch meine Ohren, ohne dass ich meine Stimme erhoben habe. An diesem Ort haben Stimmen ihre Bedeutung verloren. Sie dienen nur der Ablenkung. Aber keine Stimme, mag sie auch noch so verlockend und süß klingen, kann über die Wahrheit hinwegtäuschen. Ich werde niemals zurückkehren können. Ich bin hier gefangen. Ich werde dich niewieder sehen...Seto... Eisiger Schmerz durchflutet mein stummes Herz, als ich mit tränennassen Augen der roten Sonne mitten ins Antlitz schaue. Auf der anderen Seite bist du. Siehst du dir den Sonnenuntergang an? Siehst du vielleicht sogar in meine Richtung? Mittlerweile hat auch die dritte Träne mein Kinn erreicht. Doch sie endet nicht wie ihre Vorgängerinnen im weichen Stoff meines Hemdes. Sie fällt ungehindert ins Gras, glitzert und funkelt im freien Fall verheißungsvoll. Bei ihrem Aufprall vernehme ich ein seltsam hallendes Geräusch. Das muss wohl Einbildung sein, Tränen machen keine Geräusche. Kurz schüttele ich den Kopf, doch der zarte Glockenton hällt an. Verwundert mustere ich die Stelle im Gras, auf der die Träne gelandet sein muss. Der Boden beginnt seltsam, sich zu wellen. Ganz so, als wäre er flüssig. Womöglich Wasser, dass aus einer kleinen Quelle sprudelt? Oder eine Fatamorgana... Der schillernde Fleck wird größer. Es scheint fast so, als wolle er mich einfangen. Aber das kann nur eine Täuschung sein. Dennoch werde ich das mulmige Gefühl nicht los, lieber ein paar Schritte zurücktreten zu sollen. Gerade hebe ich meinen Fuß um den ersten Schritt zu tun, als der sich wellende Boden unter mir nachgibt und ich stürze. Mein erschreckter Aufschrei verhallt schnell in der Dusternis. Es ist so dunkel, ich kann die Hand vor Augen nicht sehen. Doch ich spüre, dass ich falle. Panik ergreift von mir Besitz und ich beginne zu zappeln. Hier muss es doch etwas geben, an dem ich mich festhalten kann! Irgendetwas... Meine rudernden Hände greifen ins Nichts. Jedoch spüre ich im selben Augenblick etwas noch viel Verstörenderes: Mein Herz schlägt vor Angst rasend schnell. Ungläubig presse ich eine Hand auf meine Brust und halte den Atem an. Moment...Ich atme?! So viele Fragen rauschen mir im Kopf, lähmen meinen Verstand. Ein harter Aufprall raubt mir für einige Augenblicke das Bewusstsein. Mir ist schwindlig und alles dreht sich... Mein Kopf tut so weh! Wankend stehe ich auf und schaffe es endlich, die Augen wieder zu öffnen. Milchiger Nebel umgibt mich, dick und undurchlässig. Er ist feucht und kalt. Innerhalb kürzester Zeit bin ich bis auf die Haut durchgefroren. Ich bin noch immer zu verwirrt, um die neue Umgebung richtig in mich aufzunehmen. Diese grauenhafte Kälte... Ich sehe meinen Atem vor meinem Gesicht kleine Wölkchen bilden. Wo bin ich hier nur? Auf zittrigen Beinen taumle ich wenige Meter, als mir unerwartet jemand entgegenkommt. Noch sind die Konturen unklar, doch es kommt rasch näher. Es muss wohl ein anderer Geist sein. Erleichtert gehe ich ihm entgegen, öffne schon den Mund, um ihn anzusprechen, als ich erstarre, von eisiger Kälte aus meinem Inneren heraus geschüttelt werde, während die junge Frau mich gar nicht zu bemerken scheint. Sie wird noch in mich hereinlaufen...Urgh...Ich kann mich nicht bewegen...Diese Schmerzen...Sie werden immer schlimmer! ,Hilf- ng!' Meine Stimme versagt mir den Dienst. So hilf mir doch jemand! Die Schmerzen steigern sich fast bis zur Besinnungslosigkeit. Vor meinen Augen verschwimmt alles. Und dann... Dann geht sie einfach so durch mich hindurch! Vor Entsetzen und Pein schreie ich laut auf. Dieses Gefühl, dieses schreckliche Gefühl! Sie geht durch mein Innerstes. Als würde mich jemand auseinanderreißen...von innen heraus. Wimmernd breche ich auf dem Bordstein zusammen, keuche und atme schwer, nach Fassung ringend. Die Frau geht weiter als wäre nichts gewesen... Angstvoll sehe ich ihr nach. Mit ihr geht auch der Schmerz. Was war das bloß? Als sich mein Atem endlich wieder beruhigt hat, kämpfe ich mich vom Boden hoch und sehe mich erneut um. Direkt vor mir erhebt sich eine große Uhr aus den Nebeln. Aber...diese Uhr kenne ich doch! Fassungslos stolpere ich näher heran. Ja! Das ist die Uhr vom Dominoer Stadtplatz. Hier hat damals Battle City begonnen. Wie ist das möglich? So langsam haben sich auch meine Augen an die undurchdringliche Nebelsuppe gewöhnt und sehen klarer. Hier sind überall Leute... Alte, junge, Kinder. Jetzt weiß ich es! Das muss ein Traum sein! Etwas Anderes ist undenkbar. Schnell hebe ich eine Hand und kneife mir fest in den Arm. ,Aua!', entfährt es mir. Okay, das ist definitiv ein sehr realer Traum. Und wieder wird mir so furchtbar kalt... Eine Hand packt mich von hinten und zerrt mich mit sich. ,Idiot! Was machst du denn?!', werde ich angeschnauzt. Als wohlerzogener Pharao müsste ich wohl zu mehr fähig sein, doch in diesem Moment bringe ich lediglich ein verdutztes ,Hä?' zu Stande. ,Was >Hä< ?! Du Dumpfbacke! Jetzt lass dich nicht so mitschleppen, sondern komm!' Jetzt erst erkenne ich die Gestalt, die mich da im Schraubstockgriff hinter sich herschleift. ,BAKURA?!?' ,Was dagegen?' Oh, das ist heute eindeutig zuviel! Was für ein Tag... Worauf muss ich mich noch gefasst machen? Während ich so in Gedanken bin, verfrachtet mein Erzfeind mich in eine besonders neblige Wolke und zwingt mich, mich zu setzen. Ich begnüge mich vorerst damit, ihn finster anzustarren. Das Reden überlasse ich zunächst ihm. Er lässt sich mir gegenüber nieder und grinst mich breit an. ,Du kommst wohl von oben, was?' Von oben? Was redet der da? Unwillkürlich hebe ich den Kopf und blicke zum Himmel empor. Oder besser dorthin, wo der Himmel hätte sein sollen. Stattdessen starre ich genau auf das Totenreich. Von unten wirkt es merkwürdig verzerrt... ,Hey! Hörst du mir überhaupt zu!', reißt mich Bakuras lautes Organ von dem Anblick los. Sofort sehe ich wieder ihn an. ,Äh...ich, äh...ja. Natürlich.', murmele ich. Ich wüsste immernoch gerne, was der Typ von mir will. Zum Glück spart er es sich nicht lange auf und spricht gleich weiter. ,Pah, von wegen! Aber mir doch egal. Ist ja schließlich dein Problem. Aber holla, Mann! Ich habe echt noch niemanden von da oben hier herunterkommen sehen! Dazu muss man schon ganz schön unfähig sein.' Erneutes Grinsen. Oh wie ich ihn hasse! ,Wie hast du das geschafft? Ich meine...Du warst doch schon längst tot!' Mein Herz macht einen Sprung und plötzlich hänge ich geradezu an Bakuras Lippen. ,Ich war? Heißt das etwa, dass ich jetzt-' ,Nein, heißt es nicht!', unterbricht er mich rüde. Aber was kann man von so einem schon großartig an Manieren erwarten? Eben, nichts. ,Du bist jetzt noch viel dümmer dran. Hach ja~ Willkommen in Nostalgia.' Als würde sich das selbst erklären, nickt er mir hämisch lachend zu und steht auf. Schnell springe auch ich auf meine Füße und halte ihn am Ärmel fest. ,Was soll das heißen? Und was ist Nostalia?', fordere ich zu wissen. Da lacht mich der Kerl doch tatsächlich aus! ,Nostalia, eure Hohlheit', höhnt er feierlich und deutet eine Verbeugung an, ,Ist direkt hier, vor deiner Nase. Willkommen also im Reich derer, die den Weg ins Jenseits nicht gefunden haben. Und bevor du fragst; nein, es gibt keinen Weg zurück. Du sitzt hier fest und das für immer.' Er freut sich geradezu spitzbübisch. Dieser...Grrrr! Ich könnte ihn erwürgen. Das merkt auch er und grinst mich nur scheinheilig an. ,Na was denn? Fühlt sich unser ehrenwerter Pharao hier etwa nicht wohl?' Ich will ihm schon eine gepfefferte Bemerkung an den Kopf werfen, als mir ein Gedanke kommt. ,Du, Bakura? Das da...ist das die Welt der Lebenden?' Er nickt. ,Und wir können sie sehen?' Wieder nickt er, etwas verwirrt, was plötzlich in mich gefahren zu sein scheint. ,Aber geh nicht zu nah ran. Wie du ja schon gemerkt hast, ist das äußerst schmerzhaft. Warte mal...wenn ich es mir recht überlege: Geh ganz nah ran!', rät er mir ?freundschaftlich?. Das bedeutet dann ja, dass ich Seto sehen kann! Freudig renne ich los, den Weg zur KaibaCorp suchend. ,Braver Pharao!', ruft es mir nach. Zu spät merke ich, dass ich mitten in eine Horde Kinder reinlaufe. Kapitel 2: Wahrheit und Verdrängung – Ein ganz normaler Tag? ------------------------------------------------------------ Kapitel 1: Wahrheit und Verdrängung -- Ein ganz normaler Tag? ~++ Achtung! Neuer POV ++~ "Kaiba-sama, Kaiba-sama!Auf Leitung drei ist ein wichtiger Anruf für Sie. Ich stelle durch.", flötet die dauerfröhliche Quietschstimme meiner Sekretärin. Kurz darauf ist das übliche Tuten zu hören. Ich nehme meine eifrig tippenden Finger von der Tastatur und greife nach dem Telefon. Kurz drücke ich die Taste mit der Nummer drei und einen kleinen roten Knopf an der Seite des Geräts, den Lautsprecher. Den Hörer lasse ich auf der Tischplatte daneben liegen. Ohne meinem Gesprächspartner ein Zeichen zu geben, richte ich den Blick wieder auf den Bildschirm. Meine Finger flitzen in gewohnter Manier über die glatten silbernen Tasten. Fast ebenso schnell huschen meine Augen über die Zahlenreihen, Diagramme und Statistiken, die über den Bildschirm flimmern. "Herr Kaiba?", ertönt die Stimme eines wohl schon betagteren Mannes aus dem schwarzen Hörer. Mit einem kurz gebrummten "Hm." Gebe ich zu verstehen, dass ich zuhöre. "Wir machen uns so langsam Sorgen, ob Sie nicht möglicherweise vergessen haben, den Vertrag signiert an uns zurückzufaxen. Verstehen Sie bitte, dass wir keinesfalls an Ihnen zweifeln, doch die Umstände machen es dringend, dass Sie-" Nervig. Einfach nur nervig. Ich bin CEO, kein Kindermädchen, das sich den lieben langen Tag lang um die Sorgen zweitklassiger Strohmänner kümmert. Dieses Rumgedruckse ist ja nicht auszuhalten. "Ich habe keineswegs vergessen, den Vertrag zu unterzeichnen.", erwidere ich kalt. "Meine Firma sucht verlässliche Geschäftspartner, keine blutsaugenden Parasiten, die von alleine nicht mehr aus den roten Zahlen herauskommen. Einen schönen Tag noch." Mit diesen Worten löse ich eine Hand vom PC und knalle damit kompromisslos den Hörer auf die Gabel. Was denken sich die Leute eigentlich? Ich bin doch keine staatliche Hilfsanstalt. "Kaiba-sama, Herr Kinomoto noch einmal auf Leitung zwei." Das darf doch nicht wahr sein. Dass der es tatsächlich wagt, hier nochmal anzurufen. Sogleich hebe ich den Hörer ab und schnauze diese unfähige Kuh an: "Sie Desaster von einer Tippse, was glauben Sie eigentlich, wozu Sie da sind? Wimmeln Sie den Kerl ab und zwar sofort!" Wumm. Wieder landet der Hörer auf der Gabel. Unfähiges Personal... Und da soll man in Ruhe arbeiten können. Eine halbe Stunde später habe ich endlich meine wohlverdiente Kaffeepause. Wird auch höchste Zeit. Brummend massiere ich mir mit den Fingerspitzen die Schläfen, während ich tief den betörenden Duft meines Kaffees einatme. Was könnte es besseres geben, wenn meine Nerven am Ende sind. Natürlich trinke ich ihn schwarz. Frisch gebrüht, vier Löffel auf eine Tasse. Heiß und wohltuend. Schon bei meinem ersten Schluck merke ich, wie das Koffein sich in meinem Körper verteilt und meine stark strapazierten Nerven erstarken lässt. Wie gut das doch tut. In letzter Zeit bin ich einfach viel zu leicht reizbar. Ich bin übermüdet und unaustehlich, wie Mokuba es gestern beim Frühstück ausgedrückt hat. Wenn ich das doch auch so sehen könnte... Ich kneife meine Augen fest zusammen und reibe weiterhin mit festem Druck meine Schläfen. Ich kann mich seit Tagen kaum konzentrieren. Ich werde noch verrückt! Nachts kann ich nicht schlafen, meine Träume sind verworren und abstrus, ich werde paranoid. Ich! Kaum zu glauben. Aber ich sehe ständig und überall Gesichter. Oder eher ein Gesicht. Violette Augen scheinen mich zu verfolgen. Wo ich auch hinsehe, funkeln sie mir erwartungsvoll, manchmal gar sehnsuchtsvoll entgegen, bringen mich um den Verstand. Ich hätte nie gedacht, dass ich sowas mal sagen würde, aber ich brauche dringend Urlaub. Vielleicht eine Woche nach Ägypten. Argh! Da ist es schon wieder. Dieser ganze Humbuk von Pharaonen und Geistern in irgendwelchen pyramidenförmigen Kettenanhängern, den diese Gruppe von Kleinkindern um Jonouchi und seine Freunde mir jahrelang geprädigt hat, hat mir total das Gehirn gewaschen. Ich sollte sie alle wegen Störung des Seelenfriedens anzeigen! Dieser ganze erlogene Schwachsinn über irgendeinen Atemu, dessen Hohepriester ich angeblich sein soll, treibt mich noch zur Weißglut. Mental brenne ich bereits wie ein Magnesiumröhrchen in einer offenen Flamme. Diesen Atemu gibt es doch gar nicht. Diesen Zwergpunk, der mir zum Schluss sogar noch weißmachen wollte, wir seien in die Vergangenheit gereist, indem er eine Gruppe Schauspieler engagiert und sich einen kurzen weißen Fummel übergeschmissen hat, der seinen knackigen Hintern zugegebenermaßen doch gar nicht so schlecht betont hat... Schnell schüttele ich den Kopf. Nagut, diesen Atemu gibt es vielleicht doch, aber ein Pharao ist der nicht! Wohl eher ein versteckter Bruder von Muto, mit dem zusammen er seine Freunde reingelegt und ihn danach einfach wieder nach Hause geschickt hat. Ob Muto mir wohl seine Adresse geben würde, wenn ich frage? Stopp! Jetzt ist aber gut. Ich brauche dringender Urlaub, als ich dachte. Über solchen Unfug nachzudenken, wo ich doch viel Wichtigeres zu erledigen hätte. Die neue Konsole »Tritemna« wartet noch immer auf ihre Fertigstellung. Mit diesem Produkt werde ich Sony entgültig vom Markt kicken und unangefochten auf Platz 1 der Spieleindustrie stehen. Nicht, dass Sony jemals eine Chance gehabt hätte, doch sicher ist sicher. Eine kleine Demonstration meines Könnens kann ja nicht schaden. Immerhin wartet die ganze Welt mit Spannung auf KaibaCorps neues Produkt. Also los. In einem Zug leere ich die Tasse und greife gleich danach nach einem Bleistift. In irgendeinem der vielen Hefter in meiner Schublade müssen auch meine Aufzeichnungen sein. Ungeduldig wühle ich in einem Stapel ungeordneter Papiere, aber Fehlanzeige. Dann muss der Ordner irgendwo im Schrank sein.* "Kaiba-sama? Es ist schon 23.23 Uhr. Ich mache jetzt Feierabend, wenn es Ihnen recht ist." "Jaja, wie auch immer.", winke ich ab. Meine Sekretärin, die zum Abschied ihren Kopf durch meine Bürotür gesteckt hat, lächelt mich an. Was maßt sich diese Frau nur an? Ich sollte dringend in Erwägung ziehen, bei einer Vermittlungsagentur eine Neue zu verlangen. Schlimmer kann es immerhin nicht werden als dieses geliftete, überschminkte Etwas auf Stöckelschuhen, in seinem kurzen Minirock und der rosa Rüschenbluse. Dieses Frauenzimmer denkt auch noch, es wäre attraktiv. Doch stille Anerkennung muss ich ihr doch zukommen lassen. Nicht jeder schafft es, in einem Alter von 29 Jahren auszusehen wie 83 und das auch noch mit der Selbstsicherheit eines bockigen Kindes, denke ich sarkastisch. "Was ist denn noch?" Diese Nervensäge scheint nicht gehen zu wollen. Sie kichert mich an wie eine Erbse und meint: "Grüßen Sie Ihren Schatz von mir." Moment mal. "Meinen was?!" Wieder kichert sie dumm herum. "Sind Ihnen schon Ihre leuchtendroten Bäckchen aufgefallen? Sie sind ja zu süß~ Es ist unübersehbar, dass Sie bis über beide Ohren verliebt sind." "RAUS!" Knall. Da fliegt die Tür hinter ihr zu. Zum Glück! Die hat sie doch nicht mehr alle, die ist gefeuert! Fristlos! Wütend knalle ich die soeben beendete Akte auf den Tisch und stehe so heftig auf, dass der Stuhl hinter mir umfällt. Ich bin so wütend, ich könnte einen Mord begehen! Am besten an meiner nutzlosen Sekretärin. Schwer atmend stütze ich mich auf der voll beladenen Schreibtischplatte ab. Mein Körper zittert vor Aufregung. Ich muss dringend ins Bett. Mein Kopf tut weh und mir verschwimmt schon alles vor den Augen. Oh man, jetzt werde ich hier auch noch zur Memme. "Verdammt! Was ist nur mit mir los?!", schreie ich meine unschuldige Schreibtischlampe zusammen. Mit einem schnellen Wisch meiner Hand säubere ich sogleich auch den gesamten Tisch. Krachend gehen Computer und Telefon zu Boden, einige Stifte klappern und zuletzt vernehme ich das Rascheln der ganzen Blätter, die zuvor wohlgeordnet neben mir lagen. Noch immer geht mein Atem schwer. Was ist nur mit mir los? Liebe? So ein Quatsch. Ich und verliebt sein, das ist ja wie...wie...wie Eis und Feuer! Absolut unvereinbar. Dieses alte Klatschweib wollte mich bestimmt nur ärgern. Ach verdammt nochmal! Ich gehe jetzt einfach nach Hause und schla... Da! Da ist es wieder. "DU!", schreie ich hysterisch und zeige auf die kaum sichtbare Lichtgestalt, die auch unmittelbar darauf zusammenzuckt. Ha! Habe ich mir das doch nicht nur eingebildet. Es ist zwar nur ein schwach glimmender menschlicher Umriss, aber so überreizt, wie meine Wahrnehmung ist, entgeht mir selbst das nicht. "Du da! Komm her!" Aber was? Das Ding haut ab! Na warte. Wer auch immer mich mit diesem Trick verschaukeln will, kann was erleben! Hastig schreite ich auf die Lichterscheinung zu. Sie ist an die Wand gedrängt. Damit kann sie mir nicht entkommen. Ich lache hämisch, zeige dabei meine Beißerchen. Gleich ist der Spuk vorbei... Da huscht das Teil einfach mal eben durch die Wand davon. Schnell hinterher! Ich rase aus dem Büro in den nachtschwarzen Flur und stolper auch direkt über meine eigenen Füße. "Verdammt! Verdammt! Verdammt!!" Ich könnte ausrasten! Läuft denn heute alles schief? Das dumme Ding ist weg! Außer mir vor Zorn schlage ich mit meiner rechten Faust auf den weichen Teppich ein. "Ich krieg dich noch!", rufe ich in die Dunkelheit. Und bei meinem Namen, ich meine es todernst. Niemand spielt Seto Kaiba ungesühnt einen Streich und hält mich obendrein noch tagelang wach! 1.53 Uhr. Ich sitze auf der schwarzen Sitzgarnitur und umklammere mit zittrigen Händen eine heiße Tasse extra-starken Kaffees. Nach diesem Tag liegen meine Nerven entgültig blank. Ich kann nicht mehr. Vorsichtig schlürfe ich die starke schwarze Brühe. Mein Blick wandert zur Uhr. Es ist wohl zu spät, um noch heimzufahren. Obendrein sollte ich in meinem Zustand kein Steuer anfassen und mich noch viel weniger von einem Chauffeur so sehen lassen. Ich werde die Nacht einfach hier verbringen. Darauf bedacht, den Kaffee nicht zu verschütten, strecke ich mich auf der Couch aus. Ich brauche unbedingt Schlaf, tiefen, ruhigen Schlaf. Doch mein Flehen nach Erlösung bleibt ungehört. Stunden später liege ich noch wach und starre über mir an die Decke, die inzwischen kalte und leere Tasse in der Hand haltend und auf dem Bauch abstützend. Dann stehe ich plötzlich wie in Trance auf, nehme mir den angeknacksten Laptop vom Boden und setze mich mit ihm an den Tisch. Weiß der Teufel, was mich dazu treibt -- wahrscheinlich die Schlaflosigkeit, oder ich schlafwandel und weiß es nur nicht -- ich starte das Internet, öffne die nächstbeste Suchmaschine und gebe den Suchbegriff »Geister« ein. Kapitel 3: Die Wahrsagerin -------------------------- Kapitel 2: Die Wahrsagerin Seufzend ziehe ich mir den Schal höher ins Gesicht und überprüfe im Spiegel nochmal meine Sonnenbrille. Sie bedeckt einen großen Teil meines Gesichts, der Schal tut ein Übriges. Hoffentlich reicht das aus, um unerkannt zu bleiben. Obwohl...kritisch mustere ich mein Spiegelbild in dem kleinen Fahrerspiegel. So wirklich inkognito kann man das auch nicht nennen. Zweifelnd fahre ich mir mit der Hand durch die Haare. Der braune Haarschopf ist so eindeutig... Oder kommt das nur mir so vor? Immerhin weiß ich ja, wen ich da im Spiegel sehe. Jedenfalls ist sicher sicher und eine Kopfbedeckung umso mehr. Kurz wühle ich in einer Sporttasche, die auf dem Nebensitz steht. Ah, da ist es ja. Bedacht setze ich mir das schwarze Cappy auf den Schopf, ziehe es so weit runter wie möglich und verdecke mit seinem Schirm zusätzlich mein Gesicht. Nach einem letzten prüfenden Blick auf mein Spiegelbild stelle ich zufrieden fest, dass mich so wohl niemand identifizieren wird und steige aus dem Wagen. Das Haus, das ich suche, muss ganz in der Nähe sein. Mit den Händen in den Manteltaschen, schlendere ich scheinbar unbeteiligt die verdreckte Straße entlang, wobei mein Blick angewidert über die zahllosen Exkremente und den Abfall auf dem Gehweg gleitet. Ekelhaft. Aber was kann man schon erwarten von einer Gegend, in der der Putz von den Wänden bröckelt und die Häuser entweder keine oder nur eingeworfene Scheiben haben. Das ist definitiv nicht mein Umfeld. Ich werde meinen Aufenthalt so kurz wie möglich halten. Mit ein wenig Glück kann ich dann heute nacht vielleicht schon wieder schlafen. Heute lag ich ja wieder nur wach. Mir ist pausenlos das Gelaber von Mutos Großvater durch den Kopf gegangen, von wegen, dass ich meine Vergangenheit nicht ewig ignorieren könne. Dazu kam nach etwa drei Stunden des Wachliegens auch noch das Geschwafel meiner Sekretärin. Ich weiß nicht wieso, aber jedesmal, wenn ihr Satz, man würde mir die Verliebtheit ansehen, den sie gestern losgelassen hat, mir in den Ohren klingelte, hatte ich das Bild von Atemu vor Augen. Er stand da, in seinem kurzen Röckchen und lächelte dieses herausfordernde Lächeln, welches er während Duellen immer trägt...trug... Lange schien dieses Bild vor meinem inneren Augen aufzuleuchten wie an einer Kinoleinwand, bis ich die Augen öffnete und wieder diesen Amethysten begegnete. Sie schwebten wenige Schritte von mir entfernt in der Luft, sahen auf mich herab, aber nicht verurteilend...nein...sie blickten so sanft, als beobachteten sie ein spielendes Kind. Mir war, als hätte ich Sehnsucht und vielleicht auch einen Hauch von Schmerz in ihnen gelesen. Lange starrte ich sie einfach nur an, fing ihren Blick auf. Ich hatte einfach nicht mehr die Kraft, mich aufzuraffen und sie zu jagen. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, sahen die Augen in meinem Büro den Augen von Atemu sehr ähnlich. Ob er es ist, der mich verfolgt? Muto behauptet ja ständig, Atemu sei tot... Wütend über mich selbst reiße ich mich zusammen und zwinge meine Gedanken wieder auf meine Umgebung. Na klasse, jetzt bin ich mindestens vier Straßen zu weit gegangen. Ungläubig starre ich das Straßenschild an. Wie konnte mir das schon wieder passieren? Dreck, das ist doch alles nur Mutos...nein Jonouchis...nein Ishtars...argh!...die Schuld meiner Sekretärin! So sieht' s aus! Nur wegen ihren gedankenlos fallengelassenen Worten bin ich jetzt hier. Verärgert knurrend drehe ich auf dem Absatz um und rausche den Weg zurück. Also wo war ich? Ach ja, Atemus Augen. Das war bestimmt nur Einbildung. Nur weil der Kerl durch irgendein leuchtendes Tor tritt glaub ich noch lange nicht, dass er tot ist. Das kann ja jeder behaupten. Hat denn schonmal irgendwer gesehen, wo dieses Tor hinführt? Und dann auch noch dieser dramatische Showeffekt. Die unterirdische Höhle einstürzen zu lassen überzeugt mich genausowenig davon, dass Atemu in den Tod gegangen sein soll. Die müssen mich ja für super bescheuert halten, ansonsten würden sie glaubhaftere Lügen erzählen. Wollen die doch tatsächlich mir etwas vorspielen. Ich bin der Vater des Cyber Space, die virtuelle Welt und Hologrammtechnik sind meine Erfindung. Mir macht keiner etwas vor, indem er mir ein paar bewegte Bilder und Lichteffekte zeigt, in der Hoffnung, ich möge sie für wahr halten. Idioten. Ein vorfreudiges Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als ich mein Ziel erreicht habe und die Hand auf die Klinke der Tür lege. In wenigen Augenblicken werde ich ihnen allen beweisen, wie falsch sie liegen mit ihrem Geistergeschwafel. Ein letzter prüfender Blick auf das Türschild "Kassandra, Wahrsagerin" bestätigt mir, dass ich richtig bin. Beim Eintreten vernehme ich über mir das nervige Klingeln einer dieser Türglocken, die in jedem zweiten Billigladen zu finden sind. Na das verspricht doch schonmal viel, sage ich mir sarkastisch. Ein erster Überblick zeigt mir schnell, was ich von diesem Establissement zu erwarten habe. Grellbuntes Licht von komisch geformten Lampen, knallige Flauschteppiche in Rot-, Gelb- und Orangetönen, eine gänzlich von Tüchern behangene Wand und überall von der Decke baumelnde Stoffstreifen und Perlenketten. Na jetzt weiß ich ja, wie die vielgerühmte Hölle aussieht. Religion war noch nie mein Ding -- viel zu esoterisch und verrückt -- aber das ist definitiv ein Ort des Todes. Man kann den guten Geschmack hier förmlich verwesen sehen, mit einer süßen Note von vergammelndem Stil. Oje, nach 86 Stunden ohne eine Minute Schlaf geht die Poesie mit mir durch. Das gilt es schnellstens zu unterbinden. Von der anderen Seite des Ladens aus kommt eine rundliche, doch recht große Frau auf mich zu. Abschätzig lasse ich meine Augen an ihr herabwandern, bevor ich ihr die Hand gebe. Sie passt wirklich perfekt in diese vier Wände. Ihr langes, ungekämmtes schwarzes Haar kräuselt sich unter einem leuchtend pinken Kopftuch hervor, ihr blasses Gesicht ist übermäßig mit Rouge, Lidschatten und dunkelrotem Lippenstift bedeckt, haargenau die Farben, die sich auch auf ihren Finger- und Fußnägeln wiederfinden; Pink und Orange. Sie trägt ein (zum Glück) unförmiges dunkelrotes Kleid ohne Ärmel, das ihr bis auf die nackten Füße fällt, die zu meinem Ekel über und über mit Warzen bedeckt sind. Die nackten Arme sind umschlungen von irgendwelchen Hennah-Zeichnungen, die in der Achselhöle ihren Anfang nehmen und in dicken, rasselnden Armbändern ihr Ende finden. Diese Frau sieht einfach nur grauenhaft aus. Tja, wenn das hier die Hölle ist, ist sie definitiv der Teufel. Obwohl...Satan traue ich mehr Geschmack zu. Sie schenkt mir ein eher angsteinflößendes Lächeln und lotst mich zu einem Tisch, an dem ich doch bitte schonmal Platz nehmen solle, und verschwindet hinter einem Vorhang. Ich setze mich, froh, den Anblick ihrer Füße vorerst los zu sein, und betrachte argwöhnisch den runden Tisch mit der langen flatternden Tischdecke und der komisch funkelnden Glaskugel darauf. Wenn ihr mich fragt, diese Frau braucht dringend einen Therapeuten. Rasselnde Ketten kündigen ihr baldiges Wiedererscheinen an und ich bereite mich innerlich bereits darauf vor, mit einer geistig Verwirrten zu palavern. "Wir hatten heute Morgen telefoniert, nicht wahr? Herr...?" Ich habe ihr keinen Namen genannt, als ich sie heute vormittag angerufen habe. Im Internet wird diese Frau zwar hoch gelobt, aber ich wäre nicht ich, wenn ich darauf etwas geben würde. Und das zu recht, wie mir nun scheint. Diese Vogelscheuche wird mir kaum weiterhelfen. Viel mehr kann ich wohl weitere Predigten über die Existenz angeblich übernatürlicher Lebensformen erwarten. "Mein Name tut nichts zur Sache.", stelle ich deswegen auch gleich mal klar. Sie blinzelt mich verwirrt an, sagt aber nichts und setzt sich mit einem aufgesetzten Lächeln mir gegenüber. "Nun denn, werter Herr,", beginnt sie mit ihrer rauen Reibeisenstimme zu erklären, "Dann lassen Sie sich wenigstens gesagt sein, dass ich Kunden, deren Gesicht ich nicht sehen kann, nicht bediene. Wenn Sie also so freundlich wären." Sie deutet mit einer Hand auf meinen Kopf. Unwillig löse ich den Schal und lasse ihn mir lose um den Hals baumeln. "Reicht das?", erkundige ich mich genervt. Ein Kopfschütteln verneint. Seufz. Also auch runter mit der Brille. Leise Zweifel, ob ich mich wirklich vor so einer zeigen sollte, habe ich ja schon, aber andererseits kann ich es mir nicht leisten, herausgeworfen zu werden. So nehme ich unwillig auch die verspiegelte Sonnenbrille ab und entblöße somit meine blutunterlaufenen, von tiefen Augenringen verunstalteten Augen. Aber eines schwöre ich: Sollte dieses Weibsbild es wagen, in der Öffentlichkeit auch nur ein Wort über meinen hiesigen Besuch zu verlieren, wird sie sich wünschen, nie geboren worden zu sein. Sie nickt kurz zufrieden. "Ich danke Ihnen." Ein unerklärliches Unwohlgefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Aus einem mir unbekannten Grund beunruhigt mich die Offenbarung meines Antlitzes ihr gegenüber. ,Das ist völlig unsinnig. Was soll schon geschehen?', rede ich mir selbst gut zu. ,Was kann sie schon tun. Mich verfluchen?' Ungeachtet des Faktums, dass ich mir sehr wohl darüber im Klaren bin, dass soetwas wie Flüche nicht existiert, bildet sich bei mir eine eisige Gänsehaut, als die Wahrsagerin ihre Hände an die Kugel legt, welche augenblicklich ein unheimliches, gräulich-weißes Licht auszustrahlen beginnt. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Durch die Kugel konnte man eben noch durchsehen, jetzt ist sie absolut undurchsichtig. Bestimmt ist eine Lampe in den Tisch eingebaut... ,Sei doch nicht dumm.', mahnt mich eine belustigte Stimme in meinem Kopf. ,Du selbst hast einst die Macht einer solchen Kugel angerufen. Ich schließe kurz die Augen, um wieder Klarheit zu bekommen, und reibe mit einer Hand fest darüber. Da durchzuckt mich plötzlich ein Kribbeln, mir wird schwindlig und ich fühle mich, als fiele ich gleich in Ohnmacht. Alles dreht sich. Wo ist oben, wo ist unten? Ich fühle meinen Körper nicht mehr...Etwas zieht an mir. Erschöpft wie ich bin habe ich dieser reißenden Kraft nichts entgegenzusetzen und gebe rasch nach. Vor mir erscheint ein dunkler Flur, durch den mich die unsichtbaren Arme zu führen scheinen, bis an meiner Linken eine ebenso dunkle Tür sichtbar wird. Ich soll da wohl rein... Nicht mit mir! Ich bleibe hier steh- Hey! Von hinten versetzt mir jemand einen kräftigen Stoß, so dass ich durch die Tür in den kleinen, kerkerartigen Raum stolper. Na warte! Ich drehe mich um, um den Angreifer zur Schnecke zu machen -- jedoch ist der Flur hinter mir leer. Noch so ein dummer Streich. Haben wir April, oder was ist mit der Welt los? Hat die Regierung aus Rache für den abgewiesenen Staatskredit einen Ärgert-Seto-Kaiba-Tag eingeführt? Das erscheint mir immer mehr so. Denen werde ich was husten, sobald ich aus diesm stickigen, engen Loch raus bin! Vorher sehe ich mich allerdings der Neugier halber -- Ja, auch ich bin mal neugierig! -- in dem kleinen Raum um. Hier gibt es nicht viel. Eine abgenutzte Matratze links an der Wand, eine Schüssel mit Wasser und einem Abtrockentuch daneben, ein Stapel säuberlich zusammengefalteter Kleider und ein junger Mann, der vor mir sitzt. Er hat mir den Rücken zugewandt. "He, du!", schnauze ich ihn missgelaunt an. Er kann vielleicht nichts für meine Laune, aber es ist ja niemand anderes da, an dem ich sie auslassen kann. Da der Typ mich nicht gehört zu haben scheint, rufe ich noch einmal, diesmal lauter. Wieder nichts. Keine Reaktion. Das ist doch Absicht. Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann ignoriert zu werden! Den knöpfe ich mir vor. Drohend mache ich einen Schritt vor und greife nach seinen Haaren. In dem Moment, als ich sie eigentlich gepackt haben müsste, greife ich jedoch ins nichts, mitten durch ihn hindurch. Sofort ziehe ich meine Hand zurück, betrachte sie misstrauisch von allen Seiten. Was war das? Ein erneutes Lichtspiel? Ich greife wieder nach ihm, diesmal vorsichtiger, und beobachte genau, wie meine Hand durch den gebeugten Kopf gleitet. In dem Glauben, den Trick damit aufgedeckt zu haben, besehe ich mir Boden, Wände und Decke, doch Spiegel finde ich keine. Nagut, dann funktioniert das eben anders. Ich komme schon noch dahinter. Zunächst umrunde ich den jungen Mann, um zu sehen, ob es sich um ein zweidimensionales Hologramm handelt. Ich gehe einen Halbkreis um ihn herum. Er ist also ein Produkt dreidimensionaler Technik. Interessant. Prüfen wir doch mal die Detailgenauigkeit. Vorsichtig knie ich mich vor ihn, um ihn ins Gesicht sehen zu können und erstarre. Das bin ja ich! Schonwieder dieses Fantasiebild von mir als angeblicher Hohepriester. Und auch erst jetzt werde ich der Kugel gewahr, vor der ich knie. Sie lag bis eben gerade noch im Schatten, deswegen konnte ich sie nicht sehen. Mein Herz zieht sich zusammen, in meinem Kopf höre ich eine Stimme lachen. Meine Stimme. Das Hologramm vor mir rührt sich nicht. Doch es rührt an mir, in mir. Es rüttelt irgendetwas wach, eine Ahnung, eine ferne Erinnerung... Nein, Unsinn! Schluss damit, auf der Stelle! Ich falle nicht auf euch rein! Ein Ruck fährt durch meinen Körper und ich reiße die Augen auf. Ich sitze noch immer auf dem Stuhl im billigen Laden der Kassandra. Rasselnd stoße ich die Luft aus meiner Lunge. Ein Alptraum, nur ein Alptraum! Doch etwas hat sich verändert...Es ist stockfinster geworden. Wie lange habe ich geschlafen? Ich blicke vor mich -- in das fies grinsende Gesicht Kassandras, das unheimlich vom fahlen Licht der gläsernen Kugel zwischen uns beschienen wird. Als wäre zwischen dem Betreten des Geschäfts und meinem Erwachen keine Sekunde vergangen, legt sie beide Hände an die Kugel und fährt unbeirrt fort. "Ich weiß, wer Sie sind, Herr Kaiba. Ich wusste es schon, als Sie hereinkamen. Und ich weiß auch, weswegen Sie hier sind." Sie macht eine bedeutungsschwere Pause, die meine schleichende Panik wohl zusätzlich nähren soll und bedenkt mich mit einem unergründlichen Blick. "Du willst deinen Herren zurückholen, Priester." Mir läuft ein unheimlicher Schauer über den Rücken, ich bringe kein Wort heraus. Meine Stimme, mein ganzer Körper, scheint wie gelähmt. Sie scheint es zu wissen und spricht direkt weiter, ihren Blick wieder auf die leuchtende Kugel richtend. Automatisch folgen meine Saphire der Richtung und richten sich auf das Instrument. "Du hast es damals versucht und bist gescheitert, weil dein Liebster nicht in der Welt der Toten, sondern noch immer in der Welt der Lebenden weilte. Jetzt willst du es wieder versuchen. Wie damals hast du ihn verloren, du Depp, und wie damals weilt er nicht in der Welt der Toten. Nein, er verweilt in einer Zwischenwelt. Niemand weiß, wo sie liegt, wie man sie erreicht. Niemand ist je von dort zurückgekehrt. Was du brauchst, ist die Prophezeiung, die du schon damals in der Kugel gelesen hast. Erinnerst du dich an sie?" Ihr Blick ruht streng auf mir. Ohne die Augen von der Kugel zu nehmen schüttele ich den Kopf. Diese ganze Szene ist so irreal, mutet an wie ein Traum. Es kann unmöglich wahr sein. Es gibt keine Totenwelt, Zwischenwelt oder irgendsowas. Und Atemu ist nicht mein Liebster! "Priester!!", werde ich fluchs zur Ordnung gerufen. Sofort richtet sich meine volle Aufmerksamkeit wieder auf sie. Zufrieden nickend führt sie weiter aus: "Dann leg deine Hand auf die Kugel. Ja, genauso. Und jetzt frag." Ich hab keine Ahnung, was sie von mir erwartet. Ein Experiment ist es aber wert. "Zeige mir Atemu.", murmele ich. Das Bild des blassen Pharaos erscheint. Er sieht nicht besonders gesund aus. Sein schwarzes Gewand ist zerrissen, seine Haut aschfahl, seine Haare haben ihren Glanz verloren und hängen stumpf um sein Gesicht, um ihn herum ist dichter Nebel. Traurig betrachte ich das Bild. Es versetzt mir einen Stich ins Herz. "Ächem!" Oh, stimmt ja, diese ominöse Prophezeiung. Die gibt's doch eh nicht, aber wenn sie meint. Ich will sie nicht erzürnen. Nur...wonach genau soll ich die Kugel jetzt fragen? Ganz unvermittelt verändert sich das Licht der Kugel. Das Bild von Atemu verschwimmt, bis es schließlich ganz verschwunden ist. Das weiß-graue Licht färbt sich dunkelbläulich und seltsame Töne dringen aus ihr hervor. In silbrig goldenen Lettern erscheint ein Text in Hieroglyphen, den ich nicht entiffern kann, und eine dunkle Stimme beginnt zu singen. Mitternacht Wenn die Gondeln Trauer tragen Und es hallt der Toten Klagen, Tief im Nacken das Grauen sitzt. Wenn die Uhr beginnt zu schlagen, Kalte, dichte Nebelschwaden Berührn dich sacht. Mitternacht. Gefriert das Blut dir in den Adern, Schnürt dir Angst die Kehle zu, Hörst du dein Herz und die Glocken schlagen Ist es Nacht. Mitternacht. [*] Aufmerksam lausche ich den fremdartigen Worten. Es ist eindeutig kein Japanisch, doch trotzdem verstehe ich den Gesang, jedes Wort. Komischer Text. Was soll der mir helfen? Ich will gerade fragen, da geht das Licht im Zimmer wieder an, die Kugel erlischt. Meine Gesprächspartnerin erhebt sich und zeigt mit ausgestrecktem Arm zur Tür. Ich soll also gehen. Was denkt die sich? Ich habe Fragen, viele Fragen! Noch bevor ich sie aussprechen kann, werde ich in Richtung der Tür geschoben. "Gehen Sie und finden Sie ihn. Die Prophezeiung wird Ihnen helfen, Herr Kaiba. Ach ja, und grüßen Sie meine Schwester schön von mir, wenn Sie sie sehen." Sie zwinkert mir zu. Hat diese Frau gerade einen Sinneswandel durchlebt? Aber ich will einfach nur noch heim. "Ihre Schwester?" "Ishizu Ishtar." Ich zische verhalten. Das war eben wieder alles nur Show! Und ich wäre denen beinahe auf den Leim gegangen! Ich nehme meine Beine in die Hand und mache mich aus dem Staub. ---------------- [*] Das ist der Text des Liedes, das ich während dem Schreiben die ganze Zeit über höre. Es heißt Mitternacht und ist von E Nomine. Nach einer Weile ist mir aufgefallen, dass der Inhalt des Liedes teilweise im Text wiederzuerkennen ist. Da dachte ich, es würde doch perfekt passen. Es wird auch weiterhin eine Rolle spielen. Hörts euch doch mal an. Auch hier bedanke ich mich im Voraus schonmal für alle Kommentare. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)