Sitting, writing, wishing von Chimi-mimi (Feder und Stift) ================================================================================ Kapitel 1: Übung I ------------------ „Danke, dass du kommen konntest.“ „Kein Problem, Noemi, was ist denn los? Es klang dringend…“ „Lass uns erst mal bestellen, okay? Entschuldigung, wir möchten gerne bestellen… Also ich nehme eine heiße Schokolade und du, Lulu?“ „Einen Latte Macchiato und ein Stück Erdbeerkuchen, bitte.“ „Ist bei James und den Kindern alles in Ordnung? Läuft die Arbeit gut?“ „Lenk nicht ab, Noemi, erzähl mir, was los ist!“ „Weißt du… Ah, da kommen die Getränke und dein Kuchen. Die Schokolade krieg ich, danke.“ „Vielen Dank.“ „Ah, ich hab mir die Zunge verbrannt, verdammt, ist die Schokolade heiß!“ „Also, du wolltest mir etwas erzählen?“ „Kann ich ein Stück Kuchen probieren? Eigentlich bin ich ja auf Diät, aber der sieht so lecker aus…“ „Du bist immer auf Diät, Süße. Hier, er ist wirklich gut.“ „Mh, sehr gut… Der ist der Wahnsinn.“ „Ja, er ist wirklich lecker, aber jetzt rück schon raus mit der Sprache, was ist los, Noemi?“ „Ich glaube, ich bestelle mir auch noch ein Stück Kuchen. Eigentlich brauche ich ja keine Diät halten… Ähm, entschuldigen Sie bitte… Ich hätte bitte gerne auch so ein Stück von der Erdbeertorte, mit Sahne aber, ja? Vielen Dank!“ „Noemi…“ „Ich finde, du klingst wirklich beängstigend, Lulu… Zieh doch nicht so ein Gesicht, das steht dir nicht.“ „Hör endlich auf damit und sag mir, was los ist!“ „Also… oh, vielen Dank. Hm, sieht der gut aus… Und diese viele Sahne dazu, das ist ja eine richtige Kalorienbombe…“ „NOEMI!“ „Waschn? Lasch misch biddä esschän… Also gut, ich sag’s dir ja, aber gib mir den Kuchen zurück.“ „Nein, erst, wenn du mir deine super-duper wichtigen Neuigkeit gesagt hast.“ „Ja, ist ja schon gut… Weißt du, Lulu, heute Morgen in der Post war ein Brief.“ „Ach ehrlich? Die Post liefert Briefe aus? Hätte ich jetzt nicht gedacht… Mensch, jetzt komm schon, mach es nicht so spannend!“ „Eines nach dem anderen, ja? Das war ein roter DIN A4 Umschlag, so etwas habe ich ehrlich noch nie gesehen und die Briefmarken, total bunt, keine deutschen.“ „Okay… Also ein bunter Brief aus dem Ausland, aber woher denn jetzt genau? Und noch viel wichtiger, was stand drin?“ „Aus Japan, auf der Briefmarke war der Tokyo Tower.“ „Und von wem ist er denn? Moment, hast du nicht einen Onkel, der vor Jahren nach Japan ausgewandert ist?“ „Hm, ja, aber der kennt mich ja nicht und weiß sicher auch nicht, wo ich wohne, außerdem weiß ich ja nicht mal, ob er noch lebt…“ „Also gut, der Onkel ist es nicht. Mensch, Noemi, hör endlich auf, mich so auf die Folter zu spannen. Jetzt sag schon!“ „Soll ich wirklich?“ „JA! Von wem ist der Brief, was steht drin?“ „Also, der Brief ist von einem gewissen Takato.“ „Kennst du den?“ „Nein, woher denn? Ich kenn überhaupt keinen Japaner, das wüsstest du dann nämlich sicher. Aber es war ein Foto dabei.“ „Zeig her, du hast es doch dabei, oder?“ „Klar, einen Moment… Ah, hier ist es!“ „Nicht schlecht, ein richtig gutes Schnitzel. Eindeutig.“ „Ja, das hab ich auch gedacht, als ich das Foto sah, ehrlich, ich hätte nie gedacht, dass ein Japaner so süß ist.“ „Okay, du kennst ihn nicht, aber er sieht verdammt gut aus. Warum schreibt der Typ dir? Was steht denn jetzt da drin?“ „…“ „Noemiiiii!“ „Na gut…“ „Und? Sag schon? Warum schreibt dich ein wildfremder Kerl an?“ „Willst du das wirklich wissen?“ „Würde ich dich sonst seit fünf Minuten danach fragen?“ „Hm… Also…“ „Ja?“ „Ich…“ „JA?“ „Ich hab keine Ahnung.“ „… Was?“ „Na ja, ich hab keine Ahnung, was der Kerl mir schreibt…“ „Wie jetzt?“ „Der schreibt Japanisch…“ „…“ „Krieg ich jetzt meinen Kuchen wieder?“ „Noemi Koiner. Du nimmst mich auf den Arm, oder?“ „Nee, ich kann wirklich keine Japanisch, du vielleicht?“ „Das ist unglaublich. Ein heißer Typ schreibt dich an, und du? Versuchst nicht einmal, es zu lesen.“ „Du kannst den Brief gerne übersetzen, wenn du willst.“ „Du machst mich fertig, ehrlich… Du machst mich einfach nur fertig.“ „Was soll ich denn jetzt tun? Vielleicht meine paar Kröten für einen Dolmetscher ausgeben?“ „Ja! Und vor allem, warum warst du erst so aufgeregt und jetzt plötzlich bist du so gelassen?“ „Keine Ahnung, irgendwie ist mir klar geworden, dass das Ganze nicht das weltbewegende Ereignis ist, wie es mir im ersten Moment vorkam…“ „Was?“ „Ja, ich meine, was sollst? Ein Brief aus Japan, da gibt es wirklich Wichtigeres.“ „Das ist der Wahnsinn, ich weiß es nicht, was ich sagen soll…“ „Dann lass es und iss den leckeren Kuchen.“ „…“ Kapitel 2: Übung II ------------------- Liebes Tagebuch, heute fühle ich mich so richtig mies. Jeden Tag immer das Gleiche und heute noch schlimmer. Meine Wohnung muss ich mir ja mit vielen Leidensgenossen teilen. Ein Zimmer, keine Fenster und die Tür kann nur von meiner, nein, unserer Besitzerin geöffnet werden und das macht sie leider viel zu selten. Statt uns mal an die frische Luft zu holen, werden wir in unserer dunklen Behausung umhergetragen und gerüttelt und geschüttelt, so dass mir hinterher alles weh tut. Dabei stoße ich dauernd mit meinen Mitbewohnern zusammen, ich komme schon gar nicht mehr mit dem Entschuldigen hinterher. Das ist wirklich eine Zumutung, das sage ich dir. Heute war es sogar noch schlimmer als sonst. Ich bin so herumgewirbelt worden, dass mir ganz schwindlig war. Als unsere Besitzerin dann endlich mal Erbarmen gezeigt hat und die Tür geöffnet hat, hat sich bei mir alles gedreht. Richtig schlecht war mir. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich gebetet habe, dass sie nicht nach mir greift. Ich habe mich extra unter meinen Mitbewohnern versteckt, aber leider hatte ich kein Glück. Sie hat unsere ganze Wohnung durchsucht, ohne sich um die Schmerzensschreie der anderen zu kümmern, bis sie schließlich ihre großen Finger um mich geschlossen hatte. Dann zog sie mich unter den mitleidigen Blicken meiner Mitbewohner hinaus ins Licht. Ich war zuerst völlig geblendet, so grell war es. Noch dazu ließ sie mir nicht mal richtig Zeit, dass ich mich daran gewöhnen könnte, sondern umklammerte mich sofort mit ihrem viel zu festen Griff. Wenn sie mal so zugreift, dann tut das richtig weh. Was ich auch nicht verstehen kann, dass sie mich immer mit dem Kopf nach unten nehmen muss. Ihr würde das sicher genauso wenig gefallen. Ehrlich, ich habe schon gezittert vor Angst, als ich da in der Luft hing, denn jedes Mal, wenn sie mich rausholt, dann kratzt sie mit meinem Kopf über das Papier. Davon bekomme ich dann immer schreckliche Kopfschmerzen. Aber, als wäre das nicht schon genug, nein, das reicht ihr nicht. Du glaubst nicht, was sie gemacht hat. Sie hat… es ist wirklich grausam, sie hat mich gespitzt! Ich habe geschrien, so laut ich konnte, doch das hat sie nicht gekümmert. Sogar jetzt tut es noch so weh, dass es mir die Tränen hochtreibt. Das war heute wirklich ein übler Tag, sehr übel. So gerne ich sonst an der Luft und im Licht bin, heute war ich einfach nur erleichtert, als ich zurück in unsere Wohnung durfte. Diese himmlische Ruhe. Glücklicherweise haben meine Mitbewohner Rücksicht auf mich genommen. Als die Tür zu war und wir wieder geschüttelt wurden, haben sie ihr Bestes gegeben, damit ich nicht so hart rumgeschubst werde und haben mich gestützt. Ich habe wirklich wundervolle Mitbewohner, ich bin dankbar für sie. Aber, liebes Tagebuch, bete mit mir, dass ich jetzt wieder für eine Weile meine Ruhe habe und mich erholen kann. In Liebe, dein Blei Stift. Kapitel 3: Übung III -------------------- Ungeweinte Tränen, trockene, zu trockene schmerzende Augen, die blicklos in die Ferne schauen. Das Herz klopft laut, bis in den Hals. Dom dom dom dom… Die Lippen sind ausgetrocknet, rissig, leicht geöffnet zu einem lautlosen Ruf, der nie gehört wird. Das Schlucken fällt schwer, es schmerzt, ein riesiger Kloß macht es schier unmöglich. Immer wieder räuspere ich mich, doch er verschwindet nicht und irgendwann gebe ich diesen Kampf auf. Der Körper ist zusammengesunken, macht sich möglichst klein, nicht auffallen, einfach unsichtbar werden. Die Arme werden eng an den Oberkörper gezogen, so dass der rechte Oberarm vor Anspannung schon schmerzt. Immer noch pocht das Herz laut, in dem schmerzenden Oberarm kann man es wieder fühlen, dom dom dom… Zitternde Hände, die auf der Tastatur zu ruhen scheinen. Angespannt, damit das Zittern nicht auffällt, verkrampft. Ein Gefühl im Bauch, schwer zu beschreiben. Panik, Angst, in Form von Übelkeit, doch wirklich übel ist es mir nicht. Nur dieses Gefühl, dieses Flattern, Zittern, das mich manchmal überkommt. Ich weiß nicht mal warum. Beim Gedanken daran muss ich schlucken und es wird immer schlimmer. Ich verkrampfe mich, mein Oberkörper bildet schon fast einen Kokon um meinen Bauch. Mein Magen springt schon fast, wenn ich die Hand darauf lege, fühle ich das Zittern. Woher kommt dieses seltsame Gefühl, was zieht mich so runter? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass mein Oberschenkel wieder anfängt. Das Wetter. Der eingeklemmte Nerv. Es ist als würden tausende kleiner brennenden Ameisen darauf rumspazieren. Nein, noch schlimmer. Er brennt von innen heraus und nur das ständige Auf- und Abwippen, die ständige Bewegung der Muskeln beruhigt es ein bisschen. Aber wenn ich daran denke, so wie jetzt, dann wird es nur noch schlimmer. Es brennt immer mehr und ich möchte schreien, tue es aber nie. Eigentlich bin schon daran gewöhnt, wie oft hat er mir schon den Schlaf geraubt. Unruhig bewege ich das Bein, hin und her, hoch und runter, im Kreis herum. Plötzlich fängt es an zu jucken, dieses Scheinjucken, das jeder kennt. Erst im Nacken, dann am Kopf, die Nase, der immer noch seltsame Bauch, am Bein, hinterm Ohr. Es macht mich wahnsinnig, springt hin und her und ist dann, so schnell, wie es gekommen ist, wieder weg. Und dann, eine Hitzewallung. Ich spüre die Wärme, die mir in die Wangen hochsteigt, kann förmlich spüren, wie sich diese röten. Vielleicht werde ich krank. Dieses Kratzen im Hals und der Kloß, ich muss mich schon wieder räuspern. Ja, ich glaube, ich werde krank. Kapitel 4: Übung IV ------------------- Vorsichtig räkelte sie sich in ihrem Bett, genüsslich gähnend, die Augen geschlossen, doch dann fiel ihr mit einem Mal ein, wo sie war. Ruckartig setzte sie sich auf und sah auf die andere Seite des breiten Bettes. „Kyan“, ganz leise flüsterte sie glücklich den Namen des Mannes an ihrer Seite und lächelte dabei strahlend. Dann schwang sie vorsichtig ihre langen Beine aus dem Bett, schlüpfte in ihre pinkfarbenen Hausschuhe und tapse leise in die Küche. Summend griff sie nach dem Haarband, das wie immer auf der Anrichte lag und flocht ihr langes braunes Haar geschickt zu einem Zopf. Leise vor sich hinlachend drehte sie sich einmal um sich selbst. Sie konnte es kaum fassen, endlich war sie mit Kyan zusammen. Während sie mit strahlenden Augen ein Frühstück zubereitete, kamen die Erinnerungen an ihre gemeinsame Schulzeit hoch. Seit sie auf dem Gymnasium war, hatte sie schon für ihn geschwärmt. Das hatte ihr immer viel Hohn und Spott von den anderen Mädchen eingebracht, seine Brille, die Zahnspange und die Tatsache, dass er gerne lernte, machten ihn eher unbeliebt, doch ihr war das damals egal gewesen. In Gedanken bei ihrer ersten Begegnung mit Kyan betrachtete sie den Kaffee, der langsam in die Kanne tröpfelte. Wütend weinend stand das Mädchen vor dem Regal mit den Diddl-Blöcken und sah mit roten Augen zu ihrer Mutter hoch: „Ich wollte aber diesen Block und keinen anderen.“ Dabei deutete sie auf einen Jungen, der an der Kasse gerade bezahlte. „Elaine, das war nun mal der Letzte davon, da kann ich nichts machen. Such dir doch einen anderen aus“, sprach ihre Mutter beschwichtigend auf sie ein. „Nein!“, bockig schüttelte die Kleine den Kopf. „Ähm, Entschuldigung?“, höflich schaute der Junge von der Kasse die beiden an, „Wolltest du den haben?“ Dabei deutete er auf den Block in der Einkaufstüte. Stumm vor sich hin schluchzend nickte Elaine und rieb sich die Tränen weg. Nachdenklich und ernst schaute der Kleine immer wieder von dem Mädchen zu seinem Block, bis er ihr die Tüte hinstreckte: „Ich schenk ihn dir.“ „Was?“, erstaunt vergaß Elaine zu weinen und ein kleines Lächeln erschien auf ihren Lippen, „Wirklich?“ „Ja“, war die schlichte Antwort. Während das Mädchen sich schon längst den Block gegriffen hatte, schüttelte ihre Mutter den Kopf: „Das geht nicht, das kann sie nicht annehmen.“ Doch der Junge war schon weggelaufen und Elaine rief ihm laut hinterher: „Vielen, vielen Dank. Wie heißt du überhaupt?“ Er drehte sich noch mal um und sah sie über seine Brille hinweg an: „Ich bin Kyan.“ Dann war er endgültig weg. Kopfschüttelnd schenkte Elaine den duftenden Kaffee in zwei Tassen. Das war typisch für sie, sich wegen eines lächerlichen Diddl-Blocks zu verlieben. Obwohl sie zugeben musste, dass sie den Block immer noch besaß. Als sie das Tablett mit dem Frühstück zu Ende gerichtet hatte, ging sie auf Zehenspitzen zurück ins Schlafzimmer. Möglichst leise, um Kyan nicht zu wecken, stellte sie es auf dem Nachttisch ab. Sie wollte das Zimmer heller machen und zog darum den Rollladen hoch. „Mh…“, gähnend drehte er sich im Bett um und sah sie dann lächelnd an, „Guten Morgen.“ „Hey, auch schon wach?“, mit einem Schritt war sie beim Bett und beugte sich über ihn, um ihm einen sanften Kuss zu geben, „Hast du gut geschlafen?“ „Ja, sehr gut…“, er schlang seine Arme um sie und zog sie zu sich, „Rieche ich da etwa Kaffee?“ „Kann gut sein“, grinsend antwortete sie ihm, gab ihm noch einen Kuss und befreite sich dann, „Kaffee, Orangensaft, Toast, Eier, Marmelade, Butter, Wurst…“ „Oh wow…“, staunend unterbrach er ihre Aufzählung, „Du bist wirklich unglaublich.“ „Danke“, verlegen stammelte sie vor sich hin, stellte dann das Tablett auf das Bett und kroch an seine Seite. „Elaine?“ „Ja? Was ist? Fehlt irgendwas?“, schon fast ein bisschen ängstlich betrachtete sie das übervolle Frühstückstablett. „Nein… Schau mich an“, sanft drehte er ihr Gesicht zu sich. Die junge Frau musste schlucken: „Kyan…“ „Elaine, ich liebe dich.“ Glücklich fiel sie ihm um den Hals und flüsterte leise in sein Ohr: „Ich dich auch, schon immer, seit unserer ersten Begegnung…“ Lachend küsste er sie und betrachtete sie dann genau: „Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“ „Hm?“ „Den Block damals, ich habe ihn für dich gekauft.“ „Was?“, erstaunt richtete Elaine sich auf. „Ja, ich habe dich schon vorher beobachtet und ich wollte ihn dir schenken“, etwas verlegen spielte er mit ihrem Haar. „Kyan… Du bist einfach wundervoll, ich liebe dich…“ Kapitel 5: Übung V ------------------ „Vielen Dank noch mal, dass Sie das machen“, zögernd legte die Rektorin eine Hand auf seine Schulter, „Ich weiß, es fällt ihnen sicher nicht leicht, aber…“ „Schon in Ordnung. Wirklich, kein Problem“, erwiderte Kay leise. Natürlich war es das doch. Es fiel ihm nicht leicht, es schmerzte ihn immer noch, die Erinnerungen, alles, was passiert war, doch er wusste, wenn er heute zu den Schülern und Schülerinnen der Sankt-Raphael-Schule sprach, konnte er vielleicht ein bisschen was verändern. Nicht seine Vergangenheit, aber die Zukunft einiger Kinder. Er holte noch einmal tief Luft und trat dann auf die kleine erhöhte Bühne in der Aula. Sein Blick wanderte über die Reihen gelangweilter Jugendlicher und sofort wurde er an seine Schulzeit erinnert. „Schüler, hört mir bitte zu“, mit ihrer durchdringenden Stimme verschaffte die Schulleiterin sich Gehör, „Ich möchte euch Kay vorstellen. Auch er war mal Schüler an unserer Schule und…“ Sie unterbrach sich kurz und warf ihm einen traurigen, weichen Blick zu: „… und er möchte euch heute erzählen, warum er die Schule unterbrochen hat.“ Sie trat zur Seite und überließ ihm das Mikrofon. Er zitterte, kaum wahrnehmbar, aber trotzdem zitterte er. Nicht aus Angst vor den Schülern, nein, er hatte Angst davor, seine Geschichte zu erzählen, Angst davor noch einmal daran erinnert zu werden. Ohne ein Wort der Begrüßung fing er an zu erzählen, leise und schnell, aber dennoch deutlich: „Ich war 15, als ich von der Schule abgegangen bin. Ein Säufer, ein Schläger, ein Idiot. Zu der Zeit war alles noch schön, ich hatte Spaß, trieb mich gerne auf den Straßen herum, blieb wochenlang von zu Hause weg. Heute ist mir bewusst, was für Sorgen ich meiner Mutter und meinem Stiefvater bereitet haben musste, aber damals war mir das alles egal. Scheiß auf die Alten, die dich sowieso immer bevormunden und dich keinen Spaß haben lassen. Ich brauchte nur zwei Freunde, die Zigaretten und den Alkohol. Wenn ich diese beiden hatte, dann war ich glücklich, mehr brauchte ich nicht. Natürlich wollte ich auch mal mehr und habe Huren besucht oder mich mit Mädchen von der Straße eingelassen, aber das Wichtigste war, Tag und Nacht besoffen zu sein. Anfangs hatte ich noch Geld für den Alk, habe mein gesamtes Gespartes dafür ausgegeben. Doch irgendwann war ich pleite, in meiner Not habe ich meine Mutter beklaut. Sie wusste es, hat jedoch geschwiegen, wahrscheinlich hatte sie Angst mich ganz zu verlieren und diese Angst war nicht unbegründet. Um ehrlich zu sein, kam ich damals nur noch heim, um Alk oder Geld zu klauen. Aber irgendwann, irgendwann hat es Klick gemacht. Ich bin nicht mehr heim, ich dachte mir, hey, du kannst deine Mutter beklauen, warum beklaust du nicht gleich Passanten oder holst dir den Alk direkt aus dem Geschäft? Tja, das habe ich danach getan und es hat funktioniert. Ich bin tatsächlich nicht erwischt worden, ich hatte einfach Schwein gehabt. Kontakt zu meiner Familie gab’s keinen mehr, zumindest keinen, den ich wollte. Meine Mutter wurde zu der Zeit krank und sie starb kurz darauf, sie kam mich also nicht besuchen. Ja, mein Stiefvater hatte es ein paar Mal probiert, mich heimzubringen, zu meiner kranken Mutter, die Schuldnummer, aber das war mir scheißegal. Nach einer Zeit hat er dann wohl auch aufgegeben, hat mich nie mehr besucht, er hat auch meine Mutter nicht lange überlebt. Der Einzige, der mich nicht aufgeben wollte, war mein Stiefbruder, Alec. Ein Medizinstudent, der am liebsten die ganze Welt retten wollte, vor allem mich. Jeden verdammten Tag kam er zu mir, redete auf mich ein und versuchte mir mit ein paar ekligen, aber anschaulichen Bildern das Rauchen ausreden. Und die Drogen. Damals hatte ich ne kurze Drogenphase. Aber egal, auf jeden Fall gelang es keinem von ihnen mich aus dem Abgrund zurückzuholen. Ich war nicht mal auf der Beerdigung meiner Mutter, wenn ich mich richtig erinnere, lag ich da vollkommen zugedröhnt in einer Seitengasse und hab gekotzt. Kurz nachdem auch mein Stiefvater abgetreten war, hab ich ein Straßenmädel kennen und lieben gelernt. Finn, meine erste große Liebe. Ich weiß nicht mal ihren richtigen Namen. Na ja… Oh man, das waren Wochen. Sex, Drogen, Alkohol, ein einziger Rausch. Es war eine schöne Zeit, zumindest erschien es mir so, aber pausenlos im Dreck miteinander schlafen und sich dauernd übergeben, nein, das ist wirklich nicht das Beste, was einem passieren kann. Aber die Zeit war eh ziemlich schnell vorbei. Eines Abends setzte Finn sich den goldenen Schuss, das war’s, ein ziemlich unrühmliches Ende. Keine Ahnung, was danach passiert ist, da hab ich einen ziemlichen Filmriss. Das Erste, an das ich mich wieder erinnere, ist Alecs Wohnung. Ich lag in der Badewanne und er hat mich eiskalt abgeduscht, in Klamotten. Wütend ging ich auf ihn los, schrie tobte, zerstörte einige Dinge in seiner Wohnung, nur um dann abzuhauen. Ich frag mich, warum er damals nicht aufgegeben hat, aber auf alle Fälle verdanke ich ihm wohl mein Leben. Ihr fragt euch jetzt sicher, was danach geschehen ist…“ Schweigen herrschte im Saal, alle sahen ihn erwartungsvoll an und Kay sprach auch schnell weiter: „Das Gleiche wie vorher, nur auf die Drogen habe ich verzichtet. Die haben mich zu sehr an Finn erinnert. Als ich von Alec geflohen war, hab ich mir von ein paar Kumpels ne Flasche Whisky geschnorrt und schnell geleert. Erst danach hatte ich mich wieder halbwegs unter Kontrolle. Am nächsten Abend stand er wieder vor mir, in seinen sauberen Klamotten, der besorgte Gesichtsausdruck und auch die Angst um mich. Er beschwor mich, mitzugehen, bei ihm zu leben, in den Entzug zu gehen, doch ich habe abgelehnt, kein Interesse, außerdem war ich doch gar nicht süchtig. Süchtig war der alte, irre Max an der Straßenecke, nicht ich. Ich habe alles verleugnet, es verdrängt, mich selbst belogen. Alec musste unverrichteter Dinge abziehen. Trotzdem kam er jeden gottverdammten Abend wieder und redete auf mich ein. Ich erinnere mich, dass ich ihn einmal verprügelt habe und er am nächsten Tag trotzdem wieder vor mir stand. Eines Abends blieb er aber aus, ebenso den nächsten und den übernächsten Abend. Eine ganze Woche kein Alec. In meinem Suff fragte ich mich, ob er wohl wirklich aufgegeben hatte, doch dann war er plötzlich wieder da. Aber nicht alleine. Das war ein Anfang für mich, wenn auch noch nicht der entscheidende Wendepunkt. Egal, auf alle Fälle hatte Alec einen Koch dabei. Einen Koch. Ich lachte ihn herzhaft aus und griff nach meiner Flasche. Doch der Koch war schneller, griff nach der Flasche und trank sie aus. Schreiend und zitternd vor Wut ging ich auf ihn los, doch er wich aus. Nachdem er mich ko geschlagen hatte, was ne Weile gedauert hatte, verfrachteten die beiden mich in ein Auto und dann in das Restaurant. Eine üble Stelle sag ich euch. Als ich wieder aufwachte, konnte ich mich nicht bewegen, die hatten mich gefesselt. Leider nicht geknebelt und so schrie ich, so laut ich konnte. Die Zwei haben mich nur angesehen und gewartet, bis ich zu erschöpft zum Schreien war, das ging schnell, denn mein Körper brauchte seinen Alkohol. Ich zitterte, der Schweiß lief mir runter, Panik kam in mir hoch, ich war auf Entzug. Doch der Koch, der sich später als Pat vorstellte, hatte Erbarmen mit mir und flößte mir ein paar Schlücke Alk ein. Dann erklärten sie mir, was sie wollten. Pat war Patient bei Alec und hatte zufällig mit angesehen, wie mein Stiefbruder jeden Abend zu mir kam und auf mich einredete. Er erinnerte sich an früher, als er noch drogensüchtig war und entschloss sich dann, Alec oder eher mir zu helfen. Der Plan der Beiden sah vor, dass ich eine Ausbildung unter Pats strenger Aufsicht durchführen sollte. Mit Alkohol. Kontrolliertes Trinken, das war ihr erstes Ziel. Vermutlich war beiden klar, dass ich bei einem vollkommenen Entzug ganz schnell wieder weggewesen wäre. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie ich die Ausbildung abgeschlossen hatte, aber ich bin tatsächlich Koch geworden. Früher, als Kind, hatte ich immer gerne gekocht und das war wohl nicht schlecht. Im ersten Jahr meiner Lehre lebte ich bei Pat, musste ihm wie ein Schlosshündchen folgen und hab nur Mist gebaut. Doch dann hab ich meine eigene Wohnung bekommen und tatsächlich hatte ich mich in der Zeit relativ gut im Griff. Zwar weiß ich nicht, wie die beiden es geschafft hatten, aber ich trank in Maßen. Rauchte zwar wie ein Schlot und konnte nicht auf den Alk verzichten, aber ohne Wutausbrüche, kontrolliertes Trinken. Nach der Ausbildung übernahm Pat mich in seinem Betrieb und ich fühlte mich eigentlich ziemlich wohl dort, mir ging es gut. Aber dann musste er, nach einem schweren Autounfall, das Restaurant schließen. Da stand ich nun, hatte zwar die Wohnung, die Alec mir unter der Bedingung arbeiten zu gehen weiter bezahlte, musste mir aber einen Job suchen. Das war aufgrund meiner Vergangenheit alles andere als einfach. Ich fand Jobs und verlor sie wieder. Überall eckte ich an, konnte mich nicht einfügen. Ganz langsam, fast unmerklich trank ich wieder mehr, ich war unglücklich, unzufrieden. Trotzdem hielt ich, irgendwie und zumindest anfangs, das Ganze vor Alec geheim. Doch eines Tages, ich hatte wieder mal meinen Job verloren, ging ich heim und sah mich im Spiegel an. Gott, sah ich aus. Blutunterlaufene Augen, Bartstoppeln, eingefallenes Gesicht. Das sollte ich sein? In diesem Moment fasste ich einen Entschluss. Könnt ihr es euch denken?“ Eine Schülerin hob zaghaft die Hand und fragte nach Kays Zunicken leise: „In den Entzug zu gehen?“ „Nein. Leider nicht. Ich entschloss mich zu sterben. Mich in den Tod zu saufen. Und so trank ich und trank und trank. Ich weiß nicht mehr, wie viele Flaschen es waren, aber ich trank so viel, wie noch nie zuvor. Die Flaschen rutschten mir aus der Hand, zerbrachen auf dem Boden, es stank nach Whisky, nach abgestandenem Alkohol, aber es war mir egal. Ich sank ganz langsam in eine schon fast wohltuende Apathie, vergaß alles um mich herum, spürte nicht einmal die Schnitte in den Fußsohlen, die ich mir dabei zuzog, es war ein wundervolles Gefühl. Irgendwann war dann auch alles schwarz, ich habe keine Erinnerungen mehr an das, was passiert ist. Da ist einfach nur schwarze Leere bis zu dem Moment, wo ich in einem weißen Zimmer aufwachte. Strahlendweiß, zu weiß, ich bekam Kopfweh davon, mein Hals tat weh, meine Zunge fühlte sich pelzig an und mein Magen schmerzte. Die Augen konnte ich nur mühsam öffnen und dann sah ich etwas, dieses Bild hat sich mir eingebrannt. Alec saß erschöpft auf dem Stuhl vor meinem Bett, den Blick auf den Boden gerichtet. Er weinte, meinetwegen. Und nicht nur das, im Hintergrund stand Pat und er betete. Mit einem Rosenkranz, auch er hatte glänzende Augen. Im ersten Moment bemerkten sie nicht, dass ich wach war, denn ich bewegte mich nicht, doch als sie es bemerkten, liefen Alec noch mehr Tränen herunter und auch Pat wischte unauffällig eine Träne weg, vor Freude. Ich hatte ihnen so viel Kummer bereitet und sie freuten sich, dass ich noch lebte. Es war… es war eine schönes und bedrückendes Gefühl.“ Hier endete Kay mit seinem Bericht und sah die Schüler an, die seinen Blick nachdenklich erwiderten. „Habt ihr noch Fragen?“ „Wie… wie haben sie dich gefunden und gerettet?“ „Alec hat erfahren, dass ich meinen Job verloren hatte und ist dann in meine Wohnung gefahren. Dort hat er mich gefunden, kurz vor knapp…“ „Bist du freiwillig in den Entzug? War es schwer?“ „Es war die Hölle. Ich bin zwar freiwillig rein, wollte aber genauso schnell wieder raus…“ „Warum hast du mit dem Trinken angefangen?“ „Trinkst du heute noch Alkohol?“ „Alle haben es gemacht, also habe ich auch probieren wollen und es hat mir geschmeckt. Heute trinke ich nicht mehr, ich bin trocken…“ Die Rektorin, die Kay genau beobachtete, trat dazwischen, um das die Fragerunde zu unterbrechen: „Das reicht jetzt. Vielen Dank, dass Sie heute hier waren, Kay.“ „Sehr gerne“, erschöpft von seiner langen Rede erwiderte er ihren Blick und verließ dann mit einem letzten Winken in Runde die Aula. Kapitel 6: Übung VI ------------------- „Ach Mama…“, verzweifelt sah Chloe auf ihre Mutter runter, „Wie konnte das nur passieren? Warum ausgerechnet du? Ich versteh es nicht, ich versteh es einfach nicht. Ich brauch dich doch noch, Mama, du kannst doch nicht einfach so weg sein. Das darfst du nicht! Bitte, komm doch zurück, bitte… Lass mich nicht alleine, Mama! Oh Gott, das darf doch nicht wahr sein, du darfst nicht… Nein, du kannst nicht, bitte, sag, dass es nicht wahr ist. Atme doch! Bitte, atme…“ Schluchzend warf sie sich auf den noch warmen Körper ihrer Mutter und schrie ihren Schmerz hinaus. Sie zitterte unkontrolliert, die Tränen liefen ihr übers Gesicht, das Haar zerzaust, die Augen rot. „Bitte, ich flehe dich an, komm zurück! Nein, ich lass dich nicht gehen, ich kann nicht, ich brauche dich doch noch, Mama. Es ist viel zu früh, viel zu früh. Lass mich nicht allein, lass mich nicht allein. Lache, rede mit mir, atme. Irgendwas, aber komm zurück. Sei nicht… Lebe!“ „Chloe…“, leise sprach der Mann im Hintergrund auf seine Frau ein, „Chloe, lass los, bitte. Deine Mutter ist tot.“ „Nein! Sie ist nicht tot, sie kann nicht tot sein! Nein, lüg mich nicht an!“, verzweifelt schlang sie ihre Arme um den Hals ihrer Mutter, „Hau ab, Steven, du Lügner, Verräter, was sagst du da? Sie ist nicht tot, nein, sie kann nicht…“ Ihr Körper wurde von unkontrollierten Schluchzern gebeutelt, sie war nicht mehr in der Lage weiterzusprechen. Sanft wurde sie von Steven weggezogen, in die Arme genommen, doch das bekam sie nicht mit. Ihre Gedanken waren nur bei ihrer Mutter. Ihrer lebendigen Mutter… “Chloe, mein Schatz, ich freu mich dich zu sehen!“ Bei ihrer toten Mutter. Die Gesichter vermischten sich, wurden eine Fratze. „Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein!“, verzweifelt schlug Chloe auf ihren Mann ein, „Sie darf nicht tot sein, ich… Nicht so, bitte, nicht so!“ „Beruhige dich, bitte…“, Steven war bewusst, dass seine Worte nicht zu ihr durchdrangen, „Chloe, deine Mutter ist tot. Verstehst du?“ „Ich… ich konnte mich nicht einmal verabschieden. Nein, das darf nicht sein, ich will sie zurück. Bitte, komm doch zurück, Mama. Ich will mich entschuldigen, mit dir reden, bitte, lass es nicht so zu Ende gehen, bitte…“ Sie wollte es nicht so enden lassen, nicht im Streit, nicht ohne die Möglichkeit Frieden zu schließen. Es war doch so eine Nichtigkeit gewesen, so unwichtig, bedeutungslos, alles war ohne Bedeutung mit diesem Ende, alles… „Lass mich los“, klar sprach sie auf ihren Mann ein, löste sich von ihm. Sie kniete neben das Bett, auf dem ihre Mutter mit friedlichem Blick lag und nahm ihre Hand. „Es tut mir Leid, Mama, es tut mir so leid. Ich habe einen Fehler gemacht. Wie konnte ich nur so blöd sein? Wie? Oh, wie gerne würde ich es rückgängig machen, aber… Es ist zu spät, viel zu spät. Warum hast du dich nicht gemeldet? Warum hast du nicht gesagt, dass es dir nicht gut geht? Mama, ich… Ich liebe dich doch. Wie soll ich nur ohne dich leben? Ohne deine Ratschläge, ohne dein Lachen, deine Umarmungen? Ich brauche dich doch noch, Mama.“ „Chloe, es wird Zeit, wir müssen gehen…“ „Mama, ich hoffe, dir geht es gut, da oben. Bitte verzeih mir für meine Dummheit. Ich liebe dich, hörst du?“, flehend sah sie nach oben, „Leb wohl.“ Eilig lief sie aus dem Zimmer, mit gesenktem Kopf. Sie lief an Steven vorbei, an den Ärzten, den Schwestern, raus, raus ins Freie. Weg einfach nur weg. „Chloe!“, rief ihr Mann ihr noch hinterher, doch sie war schon weg. Er sah auf seine Schwiegermutter runter, bekreuzigte sich: „Ich kümmere mich um sie. Wie ich es dir damals versprochen habe, ja? Ruhe in Frieden, Mama.“ Mit Tränen in den Augen folgte er seiner Frau. “Steven, pass gut auf mein Kind auf. Kapitel 7: Übung VII -------------------- Der Himmel war strahlendblau, nur zwei, drei vereinzelte Wolken zogen ihren einsamen Weg entlang. Es war ein wunderschöner Tag und gleichzeitig einer der wichtigsten meines bisherigen Lebens. Also stand ich wartend in der prallen Mittagssonne, es war kurz vor 15 Uhr, und betrachtete die Menschen, die gemütlich den kleinen Platz vor dem alten Rathaus entlang spazierten. Es war ein seltsames Gefühl, einerseits brannte sich wirklich jedes kleine Detail dieser Minuten in mein Hirn ein, andererseits war alles irgendwie unfassbar, unwirklich und ich sah es nur verschwommen. Trotzdem kann ich mich an alles genau erinnern, die vielen kleinen alltäglichen Szenen, die sich abspielten. Da war zum Beispiel dieses junge, verliebte Pärchen, das händchenhaltend über das Kopfsteinpflaster spazierte und nur ein paar Meter vor mir stehen blieb, die Burg betrachtete und dann leise diskutierte, ob es sich lohnen würde, zu diesem malerischen alten Gebäude in den Weinbergen zu wandern. Entscheidungshilfe bekamen sie von einem älteren Ehepaar, das ihnen erzählte, dass sie seit Ewigkeiten jedes Jahr hier Urlaub machen würden und dass sie jedes Jahr den Ausblick von der Burg genossen, da er einmalig schön war. Das kann ich nur bestätigen, immerhin war ich am Tag vorher ebenfalls die engen Gässchen hoch gewandert und trotz Regens war der Blick auf diese wunderschöne kleine Stadt einmalig gewesen. Auf alle Fälle entschieden die Vier sich gemeinsam den Berg zu erklimmen, so dass die Älteren den Jüngeren einige Anekdoten und kleine Geschichtchen über die Vergangenheit der Stadt erzählen konnten. Ich sah ihnen noch einen Moment hinterher, dann fiel mein Blick auf eine Taube, die zwischen zwei Geranienkästen saß und gierig ihren Durst am Wasser des alten Brunnen stillte. Sie wurde schließlich von dem lauten Fluchen eines Mannes vertrieben, der verzweifelt nach seinem Feuerzeug suchte, es aber nicht fand. Eine junge Frau, eher noch ein Mädchen bot ihm schließlich ihres an und mit einem Lächeln bedankte er sich höflich bei ihr, um weiterzuziehen. Das sind nur einige dieser kleinen Szenen, die ich noch in Erinnerung habe, die sich tief eingebrannt haben. So betrachtete ich die gesamte idyllische Szenerie, die vor mir lag, versuchte zu vergessen, was vor mir lag. Ein Blick auf mein Handy sagte mir, dass es zwei Minuten vor 15 Uhr war, bald war es so weit. Meine Mutter, die sich bereit erklärte hatte, mir beizustehen, lief unruhig auf und ab, zog nervös an ihrer Zigarette. Immer wieder bedeckte sie die Augen mit ihrer Hand, um sie vor der grellen Sonne zu schützen. Mit einem Seufzer schob ich meine Sonnenbrille zu Recht, die sich auf meiner Nase abwärts bewegt hatte und zog wieder unruhig mein Handy hervor. Noch eine Minute. Mein Herz pochte immer schneller, angesichts dessen, was gleich passieren würde. Auch mein Magen zog sich zusammen und ich bereute, dass ich überhaupt gefrühstückt hatte, mir war schlecht vor Angst. Dann rannte meine Mutter plötzlich los, auf eine mir völlig unbekannte Frau zu, die beiden umarmten sich, unterdrückten Tränen. Ich stand vor dem Brunnen, fühlte mich etwas verloren und hilflos, blieb mir doch nichts anderes übrig, als die kleine Familie vor mir zu betrachten. Vater, Mutter, Tochter. Eigentlich mir völlig fremd, aber andererseits… mein Onkel, meine Tante, meine Cousine. Das erste Mal, dass ich meine Verwandtschaft väterlicherseits kennen lernte. Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum, fragte mich, was ich eigentlich erwartete. Etwa, dass ich diesen Fremden gegenüber auf Anhieb ein Gefühl der Verbindung empfand? Nein, nicht wirklich, eigentlich wusste ich nicht, was nun passieren sollte. Ich war da, sie waren da, noch nicht alle, aber die Ersten. Sie kamen auf mich zu, stellten sich vor, gaben mir die Hand und dann herrschte ein verlegenes Schweigen. Seltsam, für beide Seiten, nach 21 Jahren die Verwandtschaft kennen zu lernen. Wieder ein Aufschrei, dieses Mal von meiner Tante, sie deutete die Gasse runter auf eine riesige Menge an Menschen. Nun zumindest erschien sie mir im ersten Moment riesig. Zwei weitere Tanten, zwei Onkel, drei Cousinen und ein Cousin marschierten als geballte Einheit dem Brunnen und somit auch uns entgegen. Wieder stellten sich alle vor, reichten uns artig die Hände, wie sollte ich mir das nur merken? Ein seltsames Gefühl, wie wir da vor dem Brunnen standen, auf einer Seite diese elf mir völlig fremden Menschen, mit denen ich verwandt war, auf der anderen Seite meine Mutter und ich. Das war nicht unbedingt ausgeglichen. Während alle durcheinander redeten, stand ich schweigend da und dachte dabei nur eines: „Das ist ein Neuanfang… Oder?“ Es war schließlich die Tante, die ich als Erstes kennengelernt hatte, die alle zusammen in das Café scheucht, das nur zwanzig Meter von dem Brunnen entfernt lag. Sie hatte einen Tisch reserviert und so konnten wir direkt die breite, gepolsterte Treppe hoch gehen und uns im Obergeschoss hinsetzen. Unmut kam auf, als sie entdeckten, dass es drei einzelne Tischchen waren und so suchte meine Verwandtschaft sich zwei Tische und schoben sie zusammen. Ein lauter lärmender Haufen. Bis alle bestellt hatten, hatte ich mir die Einrichtung des Cafes eingeprägt. Wände in den wirklich grausamen Farben Babyrosa und Babyblau, goldene Leuchter, die sowohl an der Decke hingen als auch an den Wänden angebracht waren. Stühle und kleine Eckbänke in goldgrün, Tischdecken mit rosa Blümchen und Spitze, ein paar grüne Pflanzen auf den Fensterbänken und im Raum verteilt. Es sah furchtbar aus, wie später auch meine Cousinen lautstark feststellten. Zwar kann ich es namentlich nicht mehr festlegen, aber ich weiß noch ganz genau, wer wo saß. Meine Mutter und ich saßen an einem Kopfende. Meine Cousinen und mein Cousin saßen rechts von mir auf zwei Eckbänke gequetscht. Links von mir saß meine Mutter und dann kamen meine drei Tanten und der einzige Onkel, der mit mir blutsverwandt ist. Am anderen Kopfende hatten sich die beiden „angeheirateten“ Onkel hingesetzt. Noch immer redeten alle durcheinander, von der Arbeit, von der Schule, von Krankheiten, vom Studium. Und von Läusen. Ich weiß nicht warum, aber dieses Thema und die fleischfressende Pflanze haben sich mir eingeprägt. Es war eine unangenehme Situation, angespannt, nervös, keiner wusste, was er sagen sollte, also wurde geplappert. Ich glaube, ich war die Einzige, die wirklich kein Wort gesagt hat, stattdessen habe ich nur beobachtet. Um ehrlich zu sein, die, die nicht direkt mit mir verwandt waren, also die zwei Onkel und die eine Tante, interessierten mich nicht. Zuerst musterte ich den Onkel, der meinem Vater anscheinend so ähnlich sah, das sagte zumindest meine Mutter. Es war ein seltsames Gefühl ihn zu betrachten, mir war klar, dass er meine einzige Chance war, rauszufinden, wie mein Vater aussieht, den ich nie kennenlernen werde. Dann wanderte mein Blick aber doch weiter zu meinen Tanten, ich suchte Ähnlichkeiten und fand… eigentlich keine. Zu meinem Onkel ja, aber die Frauen waren grundverschieden von uns. Bei meinen älteren Cousinen war auch wenig Ähnlichkeit, vielleicht charakterlich, aber vom Aussehen her nein. Vielleicht unsere Naturhaarfarbe und die Augenfarbe, aber das wars dann auch schon. Meine kleine Cousine und mein kleiner Cousin hingegen, ja, so ähnlich sah ich als Kind auch aus. Meine Betrachtungen wurden von der Bedienung, die unsere Bestellung brachte, unterbrochen. Ich weiß, dass die meisten Erdbeerkuchen hatten, meine Mutter hat Käsekuchen, aber was hatte ich? Nur an die Schokolade, die ich eigentlich immer trinke, kann ich mich noch erinnern, vielleicht war es Himbeerkuchen, vielleicht auch Johannisbeertorte, ich weiß es nicht mehr. Während des Essens herrschte gefräßige Stille und danach fing es an. Endlich stellten sie ihre Fragen und dieses Unangenehme, Angespannte wurde ein bisschen weniger. Insgesamt waren es drei Stunden, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkamen. Dann liefen wir die kleine Altstadt runter, brachten sie zu ihrem Parkhaus. Ich glaube, was wir dort ansprachen, war der nächste Schritt dieses Neuanfangs: Meine Mutter bot ihnen an, uns mal besuchen zu kommen und meine Tanten waren einverstanden. Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich froh, dass wir dieses Treffen vereinbarten, so konnte ich endlich meine andere Verwandtschaft kennenlernen. Wir gehen in kleinen Schritten voran, einen nach dem anderen, denn es ist ein empfindliches Band, das uns verbindet. 21 Jahre sind eine lange Zeit, es wird also auch seine Zeit brauchen, diese Jahre zumindest ein bisschen aufzuarbeiten, mehr übereinander zu lernen. Ich hoffe, dass es nicht nur bei diesem einen Treffen bleibt, dass ich mehr über meine Verwandten erfahren kann… _________________________________________________________________________________ Das hier mache ich normalerweise nicht, aber hier noch eine Anmerkung von meiner Seite: Ja, es ist autobiografisch und genauso geschehen ^^' Vielleicht sollte ich noch sagen, dass ich meinen Vater noch nie gesehen habe und er keinen Kontakt zu mir haben möchte. Zu dem Treffen kam es nur dadurch, dass meine Großmutter gestorben ist und uns allen Schulden hinterlassen hat. Meine Großmutter war übrigens mit ein Grund für die Ablehnung. Kapitel 8: Übung VIII --------------------- Atemlos Immer wenn ich diesen Traum habe, schnürt es mir die Luft ab, obwohl es doch alles, nur keine Realität ist und dennoch schrecke ich auf, huste, keuche, bete darum, endlich Luft zu kriegen, denn zu sehr erinnert es mich an das, was einmal war und was ich niemals wieder erfahren will. Dabei fing alles so harmlos an, ein Pferd, ich sehe es, ich renne hin, denn ich liebe Pferde. Ich will es streicheln, will mich auf es schwingen, will es reiten. Anfangs spüre ich es nicht, dann diesen leichten Druck, der mir das Atmen erschwert. Ich ignoriere es, schiebe es auf das schnelle Laufen, mangelnde Kondition, doch es wird immer stärker, ich werde langsamer. Es fängt an zu schmerzen, meine Brust wird immer enger, sie wird zu einem engen Panzer, schnürt mich ein. Das Pferd ist zum Greifen nah, ich strecke die Hand aus, doch ich schaffe es nicht, es zu berühren, es zu streicheln, mein Atem geht schneller, immer schneller und trotzdem kriege ich keine Luft, Panik ergreift mich. Langsam sinke ich auf Knie, stütze mich auf, spüre das Gras zwischen meinen Fingern, feucht, kühl, zu real im Angesicht meines Kampfes. Husten schüttelt mich, hin und her, ich spüre es, wie er meine Brust fast zum Springen bringt. Ich keuche, kralle mich fest, ringe nach Luft, doch es geht nicht. Um mich herum wird alles schwarz, meine Augen, mein Gesicht, heiß, angeschwollen, es erschwert mir das Atmen. Obwohl ich so kämpfe, höre ich, was um mich herum geschieht, höre das Wiehern, die Hufe, die langsam weg traben, spüre den kühlen, erfrischenden Wind auf meinen Wangen. Eine eigentümliche Ruhe erfasst meinen Geist, während mein Körper noch kämpft, ich höre mich keuchen, praktisch aus dem letzten Loch pfeifen, schleimigen Husten, der meinen Körper schüttelt. Weiße Pünktchen erhellen das Schwarze vor meinen Augen, die brennen und schmerzen. Es ist als würde meine Lunge mit aller Macht versuchen die Fesseln, den Panzer zu sprengen, doch es geht einfach nicht. Die Schmerzen werden immer stärker, immer unerträglicher, ich kann einfach nicht mehr und dennoch atme ich keuchend weiter, obwohl ich trotzdem keine Luft bekomme, es schmerzt, es schmerzt so sehr. Und dann… … dann wache ich aus diesem Traum auf, meine Lunge pfeift, mir ist schwindelig, alles dreht sich. Suchend taste ich nach der Rettung in der Not, dem kleinen Asthmaspray, das immer bereit liegt, für diesen Fall. Mit zittrigen Händen schaffe ich es, atme so tief ein, wie es die Faust, die immer noch meine Lunge umfasst hält, zulässt. Schließlich kommt sie, die Erlösung, langsam aber stetig. Der Druck lässt etwas nach, die Schmerzen werden zwar stärker, durch die Anspannung, die abfällt, aber ich merke, wie die Luft wieder ihren Weg findet. Das Pfeifen lässt nach, nur noch ein schwacher Hustenreiz bleibt übrig, zusammen mit den Schmerzen. Ich lasse mich zurückfallen auf mein Kissen und sehe nach oben, obwohl ich doch nichts sehe. Mein Herz pocht schnell und unregelmäßig, mein Hals kratzt, ich atme tief und bewusst ein, versuche mir vorzustellen, wie die Luft ihren Weg findet. Ich habe Angst wieder einzuschlafen, habe Angst, dass ich irgendwann mitten in der Nacht, in meinen Träumen ersticke, und nicht mehr rechtzeitig zurückkehre. _______________________________________________________________________ Kleine Anmerkung: Ich bin tatsächlich gegen Pferde allergisch und habe diese Atemnot schon erleben müssen. Als ich das Ganze geschrieben habe, habe ich die Schmerzen gefühlt und schlechter Luft bekommen >.< Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)