Einspruch von Arle ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Einspruch Er war noch nie zuvor einem Mann begegnet, der derart unauffällig war. Und gerade diese Unauffälligkeit war es, an die er sich erinnerte. Er kannte ihn von früher. Ein stiller, zurückgezogener Typ. Hübsch, aber stets von einer unsichtbaren Mauer umgeben. Die Freunde die er hatte waren von der Art, wie sie sich gerne um Leute wie ihn scharten. Schmarotzer. Sie heuchelten jede Art von Gefühl und Anteilnahme, wenn sie auch nur den geringsten Vorteil, die geringste Möglichkeit witterten, sich bei ihm einzuschmeicheln. Er war für derlei nie empfänglich gewesen. Er war höflich mit ihnen umgegangen und hatte ihnen brav seine Aufzeichnungen überlassen, aber keiner von ihnen war, weder mental noch emotional auch nur in seine Nähe gekommen. Als zweiter Sohn einer überaus wohlhabenden Familie, hatte er von jeher im Schatten seines Bruders gestanden. Er wurde dann beachtet, wenn es darum ging einen Vergleich für den Älteren zu finden. Niemand wusste, welche Wunden das Verhalten seiner Eltern auf der kindlichen Seele zurückgelassen hatte, aber er zeigte sie auch nie. Still lebte er sein Leben, still brachte er eine Eins nach der anderen mit nach Hause. Und tatsächlich hatten sich seine Erzeuger, ohne dass der Älteste ihre Erwartungen enttäuscht hätte, eines Tages tatsächlich reumütig gezeigt. Solche Eltern gab es. Sie finanzierten ihm ein erstklassiges Studium, welches er, vermutlich ihnen zuliebe, selbstverständlich auf Jura ausrichtete. Dort waren sie sich begegnet. Eine Ansammlung arroganter, narzisstischer Schnösel, die sich schon als Götter der rechtlichen Welt sahen. Viele von ihnen unterschätzten die Anforderungen, lieferten weitaus weniger göttliche Ergebnisse, und nicht immer konnten oder wollten ihre Geldgeber die Ausrutscher ihrer hoffnungsvollen Sprösslinge durch gewisse finanzielle oder machttechnische Einwirkungen wieder wettmachen. Ihn aber hatten sie maßlos unterschätzt. Am Ende bestand er mit Bestnote, wurde mit Auszeichnungen überhäuft und bekam, auch ohne den direkten Einfluss seines Elternhauses, ein unendlich großes und vielseitiges Stellenangebot. Niemand, der ihn nicht gewollt hätte. ...Oh ja, niemand, der ihn nicht gewollt hätte... Er wählte sich die Fälle aus, die er bearbeiten wollte. Nur eben nicht, wie die meisten seiner Kollegen, nach einer möglichst hohen Gewinnchance, sondern vielmehr danach, ob es sich um einen Prozess handelte, bei dem es sich, unabhängig von dessen Ausgang, lohnte, sich mit aller Kraft für die Menschen einzusetzen. Deshalb hatte er durchaus einige Misserfolge, verlorene Fälle, in sein Erfahrungsregister aufnehmen müssen. Dafür konnte er die Erfolge die er zu verzeichnen hatte aber auch als echte, auch moralisch einwandfreie für sich verbuchen. Er setzte sich für Familien ein, Hinterbliebene von Mordopfern, Personen mit Behinderung und auch solche, die durch bestimmte Eigenschaften der Judikative selbst -wie beispielsweise ihre mal mehr mal weniger bewusst heraufbeschworene Behäbigkeit- daran gehindert wurden, zu ihrem Recht zu kommen. Vollkommen legal versteht sich. In gewisser Weise war er so etwas wie ein Moralapostel. Das brachte ihm nicht nur Freunde ein und er selbst wollte auch nichts davon hören. Er besaß schlicht seine eigene Auffassung von Gerechtigkeit. Und zum Glück seiner Mandanten eine äußerst menschenfreundliche. Und er akzeptierte Bezahlung nur, wenn er den Prozess gewann, zumindest aber eine deutliche Verbesserung der Lage seiner Bittsteller bewirken konnte. Dank seines Backgrounds konnte er sich das leisten. Das war so ziemlich alles, was er aus sicheren Quellen, und das hieß nicht aus Boulevardzeitschriften, von ihm wusste. Punkt, Ende, Finito. Nicht gerade Stoff für eine Biografie. Zumindest nicht für eine, die über das Ausmaß einer halben Seite hinausging. Vorausgesetzt man nutzte die Standardschriftgröße. Ein wenig geknickt, in jedem Fall nicht sehr optimistisch, sah er ihn an, während sie aufeinander zugingen. Erst jetzt bemerkte er ihn und sein Gesicht hellte sich deutlich auf. Auch wenn er sich offenbar nicht zu einem Lächeln durchringen konnte. „Hey“, sagte er, als sie einander gegenüberstanden. „Hey“, erwiderte der Andere zögernd. An lockere freundschaftliche Gesten wie diese, hatte er sich offenbar noch immer nicht gewöhnt. Wie auch. Er hatte keine Freunde. Respektvoll schüttelten sie einander die Hände. Er hatte einen festen, seriösen Griff. Etwas, woraus sich durchaus etwas machen ließ. Er wusste mehr oder weniger darum, aber andere überraschte diese Kraft zuweilen ganz außerordentlich. Obwohl inzwischen erwachsen, verleitete das Äußere des Anderen noch immer dazu, ihn zu unterschätzen. Und das war etwas, das man niemals tun sollte. Ihn unterschätzen. Der Verteidiger ließ ein wenig die Schultern hängen. „Wenn du mein Gegner bist, stehen meine Chancen ziemlich schlecht“, meinte er mit dieser typischen ojemine Stimme. Der Andere ließ seine Hand los. Sein Blick war unverändert ernst. „Wenn du der Verteidiger bist wird es nicht einfach“, erwiderte er und nicht einmal ein Hauch von Ironie oder Sarkasmus klang in seiner Stimme mit. Er meinte es genau so wie er es sagte. Aus seinem Munde ein geradezu unerhörtes Kompliment. Doch der Verteidiger schüttelte nur zweifelnd den Kopf, fuhr sich aber, ob des Kompliments, in einer halbechten Verlegenheitsgeste durch das kurzgeschnittene hellbraune Haar. Sein Gegenüber sah ihn an. Nicht ein einziges Mal löste sich der Blick des Staatsanwaltes von dem seinen. „Lass uns eine Wette abschließen.“ Er sah ihn verblüfft an. „Eine Wette?“ „Der Sieger darf einen Wunsch äußern, der Verlierer muss ihn erfüllen.“ Es widersprach ganz und gar seiner Natur. Der junge Mann mit dem langen aschblonden Haar nahm seinen Beruf, seine Aufgabe, ja seine Berufung viel zu ernst, als dass er sich auf so etwas wie eine Wette eingelassen hätte. Eher noch hätte er jedem gezürnt, der auch nur an einen solchen Vorschlag gedacht, geschweige denn ihn hätte verlauten lassen. Und nun brachte er selbst ihn ein. Vielleicht wollte er ihn tatsächlich aufmuntern. Wahrscheinlicher war jedoch, dass er fürchtete, er würde die Sache nicht ernst nehmen und sich von vornherein geschlagen geben. Ein geradezu beleidigender Irrtum. Ein solches Verhalten lag ihm fern. Alles was er tat war seine Fähigkeiten, ihrer beider Fähigkeiten, realistisch einzuschätzen. Er aber schien es anders zu sehen. Mochte er den Menschen auch noch so sehr helfen wollen, ohne einen angemessenen Gegner verschaffte die Angelegenheit keiner der beiden Seiten Genugtuung. Nichts war ermüdender als ein geschenkter Sieg. Zuweilen konnte er schlimmer sein als eine Niederlage. Sogar für die Mandanten. Was nützte ein Weltrekord, den man allein im Kampf mit und gegen sich selbst, fernab von jedwedem Konkurrenzkampf aufgestellt hatte. Er war nichts weiter als eine Zahl auf einer Digitaluhr. Vielleicht auf einem Blatt Papier. Er wollte keine Schlammschlachten, keine schmutzigen Affären, Bestechungen und Betrügereien, aber er brauchte einen Gegner. Einen würdigen Gegner. Und warum eigentlich nicht? Er war niemand, der Unmögliches von ihm verlangen würde und im schlimmsten Fall konnte er sich immer noch unauffällig aus dem Staub machen. Das war zwar nicht die feine englische Art, aber erstens war er kein Engländer und zweitens war es einfach ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass man, zumindest theoretisch, eine Exit-Option zu seiner Verfügung hatte. Wenngleich er ebenso zu wissen glaubte, dass keine Notwendigkeit bestehen würde davon Gebrauch zu machen. Er konnte sich im Gegenteil durchaus vorstellen, dass es ihm eine gewisse Freude bereiten würde, dem Anderen einen Gefallen zu tun. Es würde schon klappen. Wozu war er schließlich Verteidiger? Was hatte er schon zu verlieren. Er schlug ein. „Top, die Wette gilt“, sagte er und fing sich dafür nun doch einen missbilligenden Blick seines Gegenübers ein. Sein Glück, dass er es nicht auch noch laut gesagt hatte. Nur wenige Minuten später, diesmal in Begleitung ihrer Mandanten, standen sie, als seien sie einander völlig unbekannt oder zumindest spinnefeind, in geradezu feierlicher Haltung vor der Tür zum Gerichtssaal. Und als die großen Flügel sich öffneten, gaben sie, wie so viele Male zuvor, den Blick auf ihre Kampfarena frei. Es war kein Desaster, das wäre zuviel gewesen. Zumindest hatte er einen kleinen Vorteil für seinen Schutzbefohlenen herausholen können und auch sonst hatten sie sich ganz gut geschlagen. Aber wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatten sie den Kampf verloren. Und sie würden auch nicht in Revision gehen. Er hatte seinen Mandanten davon überzeugen können, dass das wenig Sinn hatte und er mit dem Ergebnis noch ausgesprochen zufrieden sein konnte. Und glücklicher Weise hatte er sich einsichtig gezeigt. Damit war die Sache, zumindest vorerst, erledigt. Sie trennten sich im Guten, was bei weitem nicht immer der Fall war und der Mann ließ sich sogar noch einmal seine Visitenkarte aushändigen. Der Verteidiger hoffte einfach darauf, dass es mehr ein Ausdruck seiner Zufriedenheit, als ein sicheres Zeichen für die Planung eines weiteren Regelverstoßes war. Tief in Gedanken versunken schlenderte er den marmornen Gang entlang, als er plötzlich Schritte hörte und jemand seinen Namen rief. Er wandte sich um. Von unaufdringlicher Eleganz - das war die Formulierung nach der er gesucht hatte. Auch wenn man es ihm nicht ansah, im Gerichtssaal war der Herr Staatsanwalt ausgesprochen leidenschaftlich. Nun ja, zumindest konnte er es sein. Heute war es, trotz des durchaus würdigen Duells, kaum vonnöten gewesen. Dennoch war sein Gesicht leicht gerötet, als er jetzt hinter ihm herkam. Offenbar hatte er sich beeilt ihn einzuholen. „Du hattest doch nicht etwa vor zu verschwinden?“, erkundigte er sich halb vorwurfsvoll, während er an seiner Manschette herumniftelte und ein wenig seine Krawatte lockerte. Eine sehr erotische Geste, wenngleich ihm die bewusste Ausführung einer solchen mit Sicherheit fern lag. „Natürlich nicht“, antwortete er lachend und durchaus wahrheitsgemäß. Er hatte es weder vergessen, noch hatte er ernstlich vorgehabt sich seiner Verpflichtung zu entziehen. Es war nicht seine Art, nicht sein Stil, wie man es gelegentlich auch auszudrücken pflegte. Und wenn es auch eine sehr merkwürdige Geschichte und vielleicht nicht einmal besonders ernst gemeint war, so waren Wettschulden doch Ehrenschulden. Wer auch immer sich diese Regelung ausgedacht hatte. Idiot. „Also mein Herr“, er breitete die Arme aus, „Was ist Euer Begehr?“ Diesmal sah er ihn wirklich herablassend an. Aber als Verteidiger war der Braunhaarige einiges und auch ganz anderes gewohnt. Mit so etwas konnte man ihn nicht schocken. Sein Gegenüber verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und eine seiner Augenbrauen wanderte nach oben. Schon wieder so eine Geste. Es war ihm offensichtlich nicht bewusst. „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass der Gewinner, der ja ohnehin schon der Begünstigte ist, auch noch das Recht hat, etwas vom Zweitplatzierten zu fordern“. Wie nett er das ausdrückte. Blieb die Frage, was er damit meinte. Als er bemerkte, dass er nicht verstand, atmete er hörbar aus, zeigte sich jedoch gewillt ihm zu Hilfe zu kommen. „Es ist doch offensichtlich, dass es dem Benachteiligten gebührt, einen Wunsch an den Sieger zu richten.“ Jetzt begriff er, schüttelte aber ablehnend den Kopf. „Eine Wette ist eine Wette“, erwiderte er, schenkte dem Anderen aber einen dankbaren Blick. Diesmal seufzte sein Gegenüber. Schon wieder! Was zum Teufel tat er denn in seiner Freizeit? Mitwirkung bei Pornofilmen?! Er nahm den Gedanken sofort zurück. Er war nicht billig. Ganz und gar nicht. Und er tat es nicht absichtlich. Er war einfach von Natur aus... „Das ist so typisch für dich.“ Das überraschte ihn jetzt doch. Sie kannten einander von früher, das ja, aber sie hatten nie viel miteinander zu tun gehabt. Was sie voneinander wussten, und das war zumindest von seiner Seite weiß Gott nicht viel, wussten sie von Dritten beziehungsweise war diversen Tagesblättern und anderen Zeitschriften entnommen. Sehen und Hörensagen, das war ihre Basis. Aber sie waren nie mehr als entfernte, sehr weit entfernte Bekannte gewesen und niemals Freunde. Nicht, weil sie grundsätzlich nicht miteinander ausgekommen wären oder sie nun einmal auf verschiedenen Seiten standen, sondern schlicht und ergreifend deshalb, weil es sich nicht ergeben hatte. Woher also glaubte der Andere zu wissen, was typisch für ihn war? In den Medien kursierten über ihn mehr Gerüchte als Fakten, mehr Falschmeldungen als Wahrheiten. Aber dafür war der Herr Staatsanwalt ohnehin zu gründlich. Er hätte sich nie auf nur eine Meinung verlassen. Ja nicht einmal auf Statistiken. Er war gründlich, in allem was er tat. In allem? Stumm fragte er sich, ob der Andere ein Privatleben hatte. Er trug keinen Ring, war also nicht verheiratet. Seine Manieren waren stets tadellos, aber allesamt antrainiert. Das fiel nur deshalb nicht übermäßig auf, weil sie ihm mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen waren. Der Gerichtssaal war der einzige Ort, an dem er sich leidenschaftlich zeigte. Ließ er sich denn niemals gehen? Unter keinen Umständen? Er wollte es herausfinden. Es interessierte ihn. Es ging nicht einmal so sehr darum, dass er selbst es erforschte, aber... „Nun, wenn es so ist, dann besteht meine Forderung als Sieger der Verhandlung darin, dass du deinen Wunsch äußerst. Wenn das nicht deinen Vorstellungen entspricht, dann unter der Auflage, dass ich entscheiden kann, ob ich deinem Anspruch Folge leiste oder nicht.“ Oh, er hatte weiß Gott nichts dagegen und die Logik seiner Argumentation war ja unbestreitbar. Davon einmal abgesehen sah er wenig Sinn darin, sich gegen etwas zu sträuben dass, je nachdem wofür er sich entschied, für sie beide mehr oder weniger zufriedenstellend sein würde. Eine Weile musterte er ihn und der Blonde machte interessanter Weise nicht den Eindruck, als würde es ihn übermäßig stören. Andererseits waren sie es gewohnt, dass die Blicke der Anwesenden auf ihnen ruhten. Es war normal, quasi ihr Alltag. Warum sollte es ihn also kümmern. Umgekehrt war es doch genauso. „Wenn es nicht zuviel verlangt ist, möchte ich, dass du einen Abend mit mir verbringst.“ Der Blick der blau-grauen Augen ging in ein Starren über. Ein Handy klingelte. Mit einem kurzen Seitenblick auf ihn, zog der Staatsanwalt das kleine Gerät aus seinem Jackett und hielt es sich ans Ohr. Das Gespräch schien wichtig zu sein, aber keiner von beiden zog sich diskret zurück. Nur ein paar Minuten -zwei, drei vielleicht- dann beendete er die Unterredung. Lange noch hielt er das praktische Mobiltelefon in der Hand und sah einfach nur zu ihm herüber. Sein Gesicht blieb unbewegt, doch in seinem Inneren arbeitete es. Allein sein Zögern verriet es. Ein normaler Mensch, im Sinne des fest eingebunden seins in das tägliche Leben, Interaktion und soziales Handeln allgemein, hätte für diese Entscheidung höchstens ein paar Sekunden gebraucht. Doch der Blonde war nicht fest eingebunden in das alltägliche Leben. Viele vollkommen normale Handlungen von und zwischen Personen waren ihm, wenn auch nicht völlig fremd, so doch in ihrer Ausführung weitestgehend unbekannt. Er musste über so etwas nachdenken. Er musste nicht nur zwischen Zeit und nicht Zeit entscheiden, er musste überhaupt erst einmal sondieren, was er damit meinte. Aber natürlich fragte er auch nicht. DAS war typisch für IHN. Er fragte nie. Machte die Dinge immer mit sich selbst aus. Warum wusste er nicht. Minuten verstrichen, ohne dass etwas passierte. Er fühlte sich unwohl. Schon wollte er die Bitte zurückziehen, als der Andere plötzlich wieder zu sprechen begann. „In Ordnung.“ Er konnte sich nicht erinnern, ihn jemals zuvor lachen gesehen zu haben. Ein mildes, freundliches Lächeln vielleicht, aber nie so ausgelassen wie an jenem Abend. Man merkte, dass das Metier in dem sie sich bewegten ungewohnt für ihn war, aber er kaschierte es, zumindest im Bezug auf andere, ganz hervorragend. Es waren Bars der gehobeneren Klasse die sie besuchten. Sie sprachen viel und tranken wenig. Gespräche mit anderen ergaben sich ganz natürlich und der Herr Staatsanwalt genoss es ganz offensichtlich. Irgendwann, es musste so gegen Mitternacht sein, hatten sie genug vom Gaststättenflair und machten es sich in der Wohnung des Braunhaarigen gemütlich. Sie sprachen viel. Es schien kein Thema zu geben, mit dem sein Gast sich nicht auskannte und es waren überaus fruchtbare Gespräche. Der Klassiker - Politik. Dann Wirtschaft. Etwas über den Job, ein wenig über den persönlichen Werdegang, wenn es auch kaum über das allgemein Bekannte hinausging. Ob es stimmte, dass er Probleme mit der Familie hätte. Nein, antwortete der Blonde und nippte an seinem Drink. Ihm seien keine bekannt. Und schließlich fragte er ihn, ob er über Nacht bleiben würde. Er hatte zu wenig getrunken. Zu wenig, als dass er sich damit hätte herausreden können. Der elegante Anzug wie achtlos hingeworfen. Die Decke bedeckte seinen Körper bis zur Hüfte. Er lag auf dem Bauch und schlief. Das strahlend weiße Hemd war über seinen nackten Oberkörper ausgebreitet. Fasziniert musterte er ihn. Genau so, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Ein schöner Mensch. Ein schöner Körper. Ein brillanter Geist. Er war perfekt. Mit allem was er war und wie er war, war er perfekt. Ein strahlend schönes Geschöpf. Von unaufdringlicher Eleganz. Er hatte sich nicht gewehrt. Obwohl er nicht betrunken gewesen war, hatte er sich nicht mehr gewehrt, als es für gewöhnlich bei einem Liebesspiel der Fall war. Und ebenso wenig hatte er seine Stimme gedämpft. Ein einziges Mal hatte er es versucht, sich den Handrücken auf den Mund gepresst und sich zu beherrschen versucht. Doch als er ihn daran gehindert, ihm die Richtigkeit dessen was sie taten bestätigt hatte, hatte er es nicht wieder getan. Er hatte sich ihm hingegeben. Mit Haut und Haar, mit Leib und Seele. Es war unglaublich gewesen. Auch wenn er es nicht verstand, war es das Wunderbarste, was er je getan hatte. Er hob den Blick und sah auf die Uhr. Viertel nach acht. Er selbst hatte keine Termine, war völlig frei in der Gestaltung des heutigen Tages. Doch soweit er wusste, war der Andere es nicht. In eben diesem Moment öffnete der Blonde die Augen und sah erstaunlich munter zu ihm auf. Stumm sahen sie einander an. „Guten Morgen“, sagte der Verteidiger schließlich, brachte jedoch kein echtes Lächeln zustande. Der Andere nickte nur. Wieder Schweigen. Die Frage stand im Raum, doch brauchte es einige Zeit, bis er es wagte sie auszusprechen. „Warum?“ Ein aufmerksamer, aber vollkommen regloser Blick. Dann drehte er das Gesicht in Richtung des Kopfkissens. „Du bist anders.“ Das hatte er sich schon gedacht, blieb nur die Frage, wie sein Gegenüber es meinte. „Du hast nie versucht einen Vorteil aus der Bekanntschaft mit mir zu ziehen.“ „Deshalb hast du es getan?“ „Ja.“ „Magst du mich?“ „Vielleicht.“ Er seufzte und lehnte sich zurück. „Das ist der Klassiker, weißt du das?“ Er sah zu ihm auf. Das gleiche ausdruckslose Gesicht wie immer. „Einspruch, Euer Ehren. Der Verteidiger bezieht sich hier auf Allgemeinplätze und setzt Wissen voraus, das dem Mandanten nicht zwingender Weise zur Verfügung steht.“ Pause. „Mag sein, aber wie ich hörte und soweit ich weiß ist es ganz normal, dass man jemanden bevorzugt, der für einen besonders ist.“ Er richtete sich auf und es war, als legte sich eine dünne Eisschicht auf seine Züge. Der Braunhaarige beobachtete ihn dabei wie er sich anzog. Wie er seine Unterwäsche zusammensuchte, sorgsam sein Hemd zuknöpfte, seinen Anzug abklopfte und sich schließlich, um seine Schuhe besser binden zu können, auf dem Bett niederließ. Wie gut, dass er immer sehr aufrecht ging, sich gerade hielt. So würde sein Gang nicht weiter auffallen. „Es tut mir leid“, sagte er und betrachtete den eher schmalen Rücken des Anderen. „Aha“, erwiderte der Blonde, beendete seine Arbeit und stand auf. Etwas an der Art wie er die Worte gesprochen hatte ließ ihn stutzen. „Dass du Schmerzen hast meine ich“, und mit Nachdruck, „Nicht, dass wir uns missverstehen. Für das was wir getan haben werde ich mich nicht entschuldigen. Es war kein Versehen und ich bereue nichts davon.“ Inmitten des Zimmers blieb der Staatsanwalt stehen. „Aha“, sagte er wieder, dann herrschte einen Moment Schweigen. „Wie gut dass du es sagst. Ich HÄTTE es missverstanden.“ „Viel Glück mit deinem Mandanten.“ „Danke.“ Er sah ihm nach. Starrte auf den Rücken des Anderen, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)