Heldenhaft von Voidwalker ================================================================================ Prolog: PR is everything ------------------------ Ein jeder wird ihn zweifellos kennen, diesen Typ von Politiker, jung, motiviert, enthusiastisch. Er spricht mit dem Feuereifer der Jugend, gehört er ihr ja schließlich zu einem gewissen Teil noch an, seine flammenen Reden würden selbst im anarchistischsten Herzen die Inkarnation des Patriotismus wecken, er könnte zweifellos in einem Dialog selbst jene, denen er für gewöhnlich Opposition bietet, von seinem Standpunkt überreden. Diesen Mensch sieht man für gewöhnlich in feinen, stets sauberen Schuhen von Format, edle Stücke, die ein unsichtbares ‚Ich bin zu teuer!‘ – Schild tragen, dazu ein feiner Anzug, von der Stange zwar, aber mit Geschmack. PR is everything, behauptet mancher Spruch auf die eine oder andere Weise und demzufolge wird natürlich auch jener Politiker sich hüten, sein Äußeres, seine Repräsentationsfläche, verwahrlosen zu lassen. Selbst in seinem Fachgebiet – der Rede – verhält er sich auf professioneller Ebene ungemein galant und gewitzt, er sieht sich gern als den kleinen David, der große, böse Goliaths niederwirft und genau diese Rolle spielt er auch perfekt: Mit der Schleuder bewaffnet und viel Geschick, mit sprachlicher Finesse schlägt er dem ‚Feind‘ ein Schnippchen nach dem Anderen, bis er seinen Rivalen entweder zur notgedrungenen Einsicht getrieben hat, oder ihn letztlich in verbale Ketten gelegt bezwingt. Kein Zweifel, dies ist ein Erfolgsmensch, er hat in der Regel hart dafür gearbeitet und wird sich in aller Regel ein paar Jahre länger bescheiden und dankbar zeigen, als seine Alternativprodukte es tun. Dieser Mann ist ausdauernd, willensstark und er weiß, wie eine Situation anzupacken ist, denn Improvisation ist beim Golaithmord schließlich auch wichtig! Dem Mann jedoch, der dort gegenwärtig panisch aus der Tür stürzt, merkt man von all dem nicht viel an. Er ist einer dieser Politiker, zweifellos, die Schuhe, der Anzug, der passende Aktenkoffer, ja er entkommt sogar einem Gebäude, welches zu seiner Arena passt, groß, grau, starr. Doch der Rest, der mag so gar nicht zu jenem Bild passen. Stoppeln an seinem Kinn zeugen von der seit Tagen schon fehlenden Rasur, die Haare wüst und offenkundig ebenfalls schon seit einigen Tagen nicht mehr gewaschen, tiefe, furchenhafte Augenringe zeichnen sich in feinstem Lila unter den blass und matt wirkenden Augen ab, die zwar nicht mehr jene Euphorie tragen, dafür im Moment jedoch den Eindruck eines vom Fuchs zur Linken und Jäger samt Hundemeute zur Rechten gehetzten Hasen machen. Auf eben jene Weise tippelt er geschwind die Treppen vor dem Gebäude herab, man hätte ihm fast einen Zickzackkurs unterstellen wollen, doch selbst für sowas ließ ihm sein unter Adrenalin funktionierender Körper keine Zeit, er musste nämlich dringend hier weg, weg von Fuchs und Meute. In Sicherheit. Ja, da musste er hin. Da begannen aber auch schon die Probleme, denn der Grund, warum er so leidlich aussah, das Abbild des Grauens darstellte, war eben jene sich allmählich einstellende und durchnagende Erkenntnis, dass es nirgendwo Sicherheit gäbe. Nicht für ihn, denn die Meute fand ihn überall. Gehetzt spähten seine Augen umher. Da waren zu beiden Seiten die kleinen Büsche, die man der Verschönerung des plumpen Gebäudes wegen geplanzt hatte. Nett anzusehen, auch wenn man im Sommer der Betrunkenen und ihrer eindeutig zu riechenden Bedürfnisse wegen nicht zu nah heran treten sollte, doch immerhin erkannte sein Gehirn irgendwo im Hinterkämmerchen noch, dass von ein wenig Grünzeug keine Gefahr ausging. Eine Stimme hallte in seinen Ohren, die junge und doch dogmatische Stimme einer Frau, sie schwoll zu einem tosenden Wasserfall an, der sich kräftig und durchdringend seiner Konzentration bemächtigen wollte. „Nicolai, warte doch verdammt!“ brüllte sie ihm nach, krallte die Hand um die vergoldete Klinke der Tür, dass die Äderchen fein pumpend sich unter der dünnen, weißen Haut abzeichneten. Sie war ein hübscher Anblick, das hatte er schon bemerkt, als er den Raum vor gut anderthalb Stunden betreten hatte. Vielleicht lag es an den langen Beinen, an der makellos unter dem Make-up blitzenden Haut oder dem watteweich wirkenden Haar, vielleicht aber auch subtil an ihrem Ausschnitt, das machte letztlich keinen Unterschied. Man hatte ihn offenkundig damit beruhigen wollen, dass man ihm das schönste Vögelchen im Käfig als Richter sandte. Oder eher wohl Henker. Es kam einfach in keiner, aber auch wirklich gar keiner Partei gut an, wenn ein eingeschworenes Mitglied sich eine Auszeit nahm. Die Öffentlichkeit wurde in solchen Fällen neugierig, die Klatschpresse entsandte ihre Bluthunde und am Ende hatte man die Misere: Der Flammenredner und Feuerschwinger hatte sich therapeutische Hilfe genommen. Ja aber warum das denn? War er schwer krank? Litt er unter etwas Spektakulärem, dass den Hunger der nach Sensation geifernden Leserschaft würde stillen können? Nun, selbst wenn nicht – dann druckte man eben eine Berichtigung, falls verlangt, und gut war’s. Aber die Auflage und die Verkaufszahlen hätten sich erhöht. Entsprechend machte auch rasch die Runde, dass jener Ärmste, der hier nun als Nicolai enttarnt war, vielleicht unter den Entzugserscheinungen von Psychopharmaka leiden könne oder gar Halluzinationen hätte, vielleicht sah er in den Parteiversammlungen die Mitglieder alle nackt? Gewiss, manchen mochte die Vorstellung reizen, doch möge man sich nur vor Augen führen, dass dies dann gemeinhin für alle im Raum galt, Männer wie Frauen, hässlich wie hübsch, jung und alt. Das Leben zeichnet gern einmal ein paar Striche Ironie ins Bild einer Existenz, das machte immer alles gleich irgendwie viel erträglicher, man konnte darüber Witze reißen oder zumindest schmunzeln. Nicolai konnte das nicht. Er war nämlich der Gejagte, der Hase, der vor Fuchs und Meute floh. Die Meute dort drinnen, im Saal, die hatte sich ‚Komitee‘ genannt und ihn heute freundlich vorgeladen. So war das immer. Alles geschah freundlich. Selbst Hinrichtungen. Bitte verzeihen Sie uns, bitte nehmen Sie das nicht persönlich, bitte beachten Sie, dass wir es nur gut meinen. Der Kopf rollte trotzdem. Nicolai wusste das und er hatte damals noch eine ganz andere Panik verspürt, damals vor ein paar Tagen erst, als er die Zeitung aufschlug, die Erste des Tages und von seinen angeblichen Halluzinationen las. Ihm stockte der Atem und fast wortwörtlich hielt auch sein Herz ein paar Schrecksekunden inne. Niemandem hatte er etwas erzählt, schlicht aus dem Grund, dass er es selbst nicht glaubte. PR is everything, wusste doch jedes Kind und er – ein Politiker, ein Aufstrebender zudem –, hätte sich wohl besser noch an diese Lektion gehalten als jeder sonst. Natürlich erzählte man soetwas nicht herum! Und doch stand es dort, bunt auf altpapierweiß. Ihn ergriff Panik und in Panik verlor man sprichwörtlich den Kopf, das Körperteil, welches einem gerade dann am besten in Ruhe und Geduld eindringlich vermitteln sollte, was jetzt klug und ratsam wäre. Nicolai hatte diesen Kopf nicht mehr und beging damit Fehler. Der Erste war, ein Dementi rauszubringen. Niemand glaubte einem Politiker, der etwas verneinte, das machte nur die verwehrte Aussage glaubwürdiger. Diesmal auch noch zu Recht. Der Zweite war, jemanden, den er für vertrauenswürdig hielt, einzuweihen. Die Politik, so sagte man, sei eine Hure und als solche gab es Niemandem, dem man vertrauen durfte. Vielleicht hätte er doch lieber seine Scham überwinden sollen, vielleicht hätte er lieber zu Mutter und Vater gehen und ihnen Bericht erstatten sollten, statt sie drei Mal am Telefon vertrösten zu lassen, weil er sich vor der Schmach scheute, ihnen die Wahrheit einzugestehen. Es gab schließlich Menschen, die Anforderungen stellten, Erwartungen hatten, Menschen, die er nicht enttäuschen durfte. Dabei verlor er natürlich keinen Gedanken an seine Wähler, die waren im Moment sowieso das Letzte, was ihn interessierte. Nun jedoch war es eine ganz andere Panik. Nicht dieses Kopflosgefühl, aus welchem Fehler geboren wurden. Solch eine Angst war hinderlich, sie wurde mühselig und war in ihren Konsequenzen in aller Regel höchst unangenehm, andererseits jedoch war sie im Grunde harmlos. Nein, diese tief verwurzelte, gärende Furcht, die ihn jetzt packte, die zeugte von etwas, dass sich in die dunkelsten Winkel seiner Seele eingegraben hatte. Instinkte besaß jeder Mensch und seine trieben ihn gegenwärtig voran, unablässig die Stufen hinab, er keuchte, seine Lunge brannte, aber es gab kein Stop, nicht hier, nicht jetzt, vielleicht irgendwann, wenn seine Muskeln aus Sauerstoffmangel heraus längst auf Milchsäuregärung umgeschaltet hätten und sich völlig übersäuert langsam zuckend jeglicher weiterer Anstrengung verwehrten, um ihm diese Aktion mit tagelangem Muskelkater zu quittieren. Nicolai fürchtete um sein Leben. Nichts, was dieses Komitee hätte erzählen können, interessierte ihn, würde ihn überraschen können, doch dort war noch etwas im Raum gewesen, noch jemand und dies war seine persönliche Nemesis. Er erinnerte sich daran, an diese Augen, diese meerblauen, tief traurigen Augen. ‚Es ist vorbei‘, hatte darin gestanden. Wunderlich, nicht? Menschen sprechen viel, unzählige Worte für unzählige Dinge, sie geben allem einen fein säuberlich sortierten und nummerierten Namen, verstauen das Ding XY in ihrer Schublade AB und nennen den Aktenschrank Welt, das funktioniert soweit auch gut, Sprache ist ein nützliches Ding, doch manchmal gab es Momente, da wurde sie völlig bedeutungslos, weil man die Botschaft, die Worte zu greifen versuchten, ganz banal erahnte, mit purem Bauchgefühl und Intuition begriff, was eine andere Person einem sagen wollte. Die Frau, die sich nachts im Park zu ihrem Verfolger umdrehte, die musste nicht erst von ihm hören, dass er ihr Übles antun wollte, sie sah es in seinen Bewegungen, der gedrungenen, gespannten Art. Der Mann, der gleich aufschreien würde, obwohl er doch schon seit Minuten in einen Pistolenlauf starrte, der schrie nicht plötzlich, weil er bereits getroffen war, sondern weil er just in diesem Moment in den Augen des Waffenträgers die Tötungsabsicht erkannte. Dieses tiefe Meerblau hatte es ihm gesagt. Es war zu Ende. Nicolai verstand nicht, was es war. Was zu Ende sein sollte. Aber das akute Gefühl der Bedrohung, das Bedürfnis, sich von diesem Meerblau zu entfernen, er wollte rennen, um sein Leben rennen und kaum, dass er alle verwirrten Nachfragen ignorierend die Tür durchschritten hatte, spürte er es. Er wollte es nicht nur – es war nötig! Er musste rennen, sonst wäre es wirklich um ‚es‘ geschehen. Eilig hastete er bis zum Absatz hinunter, sprang in jugendlichem Leichtsinn die letzten fünf Stufen und spürte seine Beine zitternd unter dem Körpergewicht nachgeben. Instinktiv, wie er auch rannte, rollte sich der Politiker über den nunmehr restlos verdreckten Anzug ab, um die Wucht zu mildern, den Schaden abzufangen. Ein paar Passanten starrten ihn ungläubig an, als er vor ihnen sich überschlug, kaum auf die Beine kommend und strauchelnd mit den Armen nach Gleichgewicht ruderte und doch bereits wieder voran stürmte. Kein Stehenbleiben, er durfte einfach nicht rasten! Selbst jetzt nicht, da er am Hupen und Quietschen der Autoreifen bemerkte, direkt auf einer Straße zu stehen. Gehetzt blickte er sich um. Das Meerblau konnte überall sein, sie konnte es, vermutlich war sie es sogar, beobachtete ihn jetzt und hier, sah mit ihren traurigen Augen auf ihn herab, die noch immer flüsterten, dass alles vorbei sei. Warum hatte sie ihn verfolgt? Warum ausgerechnet ihn und nicht Stephan, dieses hinterhältige Arschloch aus seinem angeblichen Freundeskreis, der ihn kurzentschlossen an die Presse verkauft hatte? Warum war sie nur so erpicht auf ihn? Hatte er ihr etwas getan? Er kannte doch nicht einmal ihr Gesicht! Hatte er es vergessen? Unmöglich. Solch ein Gesicht vergaß man nicht. Filigrane Züge, blasse Haut, dichte, auffällige Wimpern, eindeutig von Natur aus auf jene eindrucksvolle Weise gewachsen, darunter lagen sie, jene Augen. Schmale Lippen, doch sie lächelte nie. Zweifellos hätte ihr dies gut zu Gesicht gestanden. Ein Lächeln. Doch dafür war keine Zeit und Nicolai erinnerte sich im Moment auch nur jener Augen, der Rest verschwamm, selbst diese Fragen waren zu Bedeutungslosigkeit verdammt. Einige Tage lang hatte er sich über ihre Beantwortung den Schädel zerrissen und wahrhaftig, er hätte siegen können, hätte er nur eine brauchbare Erwiderung gefunden, er hätte sie bezwingen können, so dies dann überhaupt noch sein Wunsch gewesen wäre. Hier und jetzt jedoch, da trampelte er nur vorweg, ruderte noch immer torkelnd mit den Armen, trat vom grasbewachsenen Mittelstreifen zwischen den Fahrbahnen auf die zweite Straßenhälfte und verspürte es. Seine rechte Hand, weit vom Körper ausgestreckt, traf auf ein Hindernis, wurde gestaucht und gestaucht, ein Gefühl, als vergingen die Sekunden so zähfließend, dass er sich in aller Ruhe hätte zurück auf den Grasstreifen begeben können. Doch sein Körper war gleichsam in jenem Zeitlupeneffekt gefangen. Einzig sein Geist schien auf das Hundertfache beschleunigt. Aus dem Augenwinkel sah er einen großen, verchromten Kühlergrill, die längliche Schnauze eines beeindruckenden Lastwagen. Mit diesem Modell hatte er in seiner Kindheit immer gern gespielt, bemerkte er geradezu nüchtern beiläufig. Einmal mehr ein ironischer Pinselstrich – dieses Modell würde ihn binnen Sekundenbruchteilen überfahren. Er sah seine Hand, wie sie zurückgeschoben wurde von der Trägheitsmasse einer rasch nahenden Kraft von viel zu vielen Tonnen. Kaum, dass er dies registrierte, bemerkte er auch langsam wieder den Geruch des verbrannten Gummis, der Fahrer hatte seinen Fehler offenbar bemerkt und auf die Bremsen getreten, doch so einen Lastwagen, den hielt man nicht ‚mal eben‘ an. Immerhin ein guter Mann, er tat das einzig vernünftig Erscheinende. Besser als Fahrerflucht. Auch das Geräusch der Hupe kehrte langsam zurück, tief dröhnend und laut durchdringend. Warum nur hatte er sie vorher nicht gehört? Warum den Gummi und das Reifenquietschen nicht vorher bemerkt? Natürlich – weil es vorbei war. Sie hatte es ja gesagt. Mehr oder weniger. Die Zeit bequemte sich wieder in ihren Fluss zurück und die ungemein hässliche Szenerie wurde fortgeführt. Nicolai geriet nicht unter die Räder, er schlug hart mit der Stirn gegen den Grill, wurde vorgestoßen und hatte das Glück, direkt unter dem Laster zu landen, dessen Bodenverbindung ihn verfehlte. Das war gut für den Leichenbeschauer, so hatte er nicht die Arbeit, in einer Suppe herumstochern zu müssen, doch für Nicolai machte dies keinen Unterschied mehr. Er starb. Seine Stirn drückte schwer, schlimmer noch als die übelsten Kopfschmerzen, die er je erlebt hatte, zudem spürte er die Kälte seiner Hand, genauer genommen darin, dass er die Hand eben gar nicht mehr spürte. Seine Leiste dagegen umso deutlicher, sie brannte wie Feuer und da möge man nicht diese verniedlichende Metapher romantischer Idealisten herbei ziehen, sondern sich tatsächlich großräumig innerhalb des eigenen Leibes den Schmerz vorstellen, er die Finger durchzuckte, wenn man sie zu lange über eine Kerzenflamme hielt. Irgendwann jedoch wich der Schmerz. Die Qual, das Leid, das hatte keinen Sinn mehr und in einer einschrumpfenden Welt war dafür auch kein Platz übrig. Da war sie wieder. Das Meerblau. Eine junge Frau, kleiner als er, eine zarte Figur, die offenkundig nie zu schwerer körperlicher Arbeit genötigt worden war. Bis zu den Knien und ein unschicklich empfundenes Stück darüber hinaus konnte er spähen, denn sein Blickwinkel, so verdreht, wie er da lag, war vom Boden aus ein reichlich ‚günstiger‘. Nein, seine letzten Gedanken waren nicht die eines Lüstlings. Er bemerkte jedoch ihre Haut. Sie machte den Eindruck eines aus der Ferne beobachteten, tropischen Sandstrandes, weiß, völlig ebenmäßig. Sie trug ein kurzes Kleid, die Farben verschwammen unlängst vor seinen Augen, doch es endete auf der Hälfte ihrer Oberarme in kleinen, aufgeplusterten Rüschen, der Eindruck dieses Outfits erweckte irgendwie das Gefühl, man befände sich auf einem Mittelaltermarkt und eine adrett gekleidete Dame wäre nicht ihres Kleides wegen, sondern der Kombination von Schlichtheit und Ausstrahlung Blickfang der Menge. Selbst jetzt lächelte sie nicht. Obwohl sie doch Recht hatte. Obwohl es doch vorbei war. Noch immer wirkte sie so endlos traurig und erstmals packte Nicolai der Drang, zu ihr zu gehen, sie zu fragen, warum sie so bekümmert sei. Ihre Hand hielt eine kleine Laterne. Der Holzgriff in ihren Fingern fuhr in metallische Träger aus, daran sich das verschnörkelte Gehäuse befand, feine, dünne Glasscheiben schlossen ein darin brennendes Lichtlein ein. Während die Welt immer trüber wurde, schrumpfte und sein Blickfeld sich zunehmend verengte, schien das Licht jedoch an Intensität zu gewinnen. Es schien sich ganz und gar nicht mit dem Gedanken anfreunden zu können, einfach so von der alles verzehrenden Schwärze verschluckt zu werden wie alles andere. Ein letztes Mal spähte unser junger, enthusiastischer Politiker zu ihr herauf. Selige Wärme durchströmte seinen Geist, nahm den letzten, weiter wegbrechenden Rest seiner Welt ein, als er sie lächeln sah. Noch immer traurig, noch immer zutiefst bekümmert, doch sie lächelte. Für ihn. Machte ihm deutlich, dass alles gut sei. Er sich nicht zu fürchten brauche. Es war jenes Lächeln, dass man als allgemeingültigen, freien Wunsch aussandte. ‚Stell dir vor, ich sage jetzt, was immer du hören willst‘, so hätte man es wohl beschreiben können. Das Licht glomm noch hell und ungebrochen, als selbst ihr Gesicht schon verschluckt wurde, als die Welt schon verblasst war, als alle Namen von Freundinnen, seine Eltern und großen Pläne aus seinem Gedächtnis getilgt und die Erwartungen auf ein Nichts reduziert worden waren. Ein grässlich grelles Aufblitzen der Laterne, ein beißender Schmerz und ein schrilles Klingeln in seinen Ohren, als das Licht ihn einhüllte. Jetzt hatte er verstanden. Eine Traube von Schaulustigen versammelte sich, begaffte fasziniert wie angewidert den Toten, einen Mann im Anzug, von der Stange, aber trotzdem geschmackvoll. Ein Politiker, eindeutig – selbst im Tod trug er ein paar bösen Zungen nach noch dieses falsche, aufgesetzte Lächeln! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)