Heldenhaft von Voidwalker ================================================================================ Kapitel 3: Kein Anschluss unter dieser Nummer --------------------------------------------- Die Mehrheit aller Helden sind für ihre harten, Opfer fordernden Abenteuer an irgendeinem Punkt selbst verantwortlich gemacht worden, haben sich diese Bürde selbst aufgelastet. Nachdem ein Frodo Beutlin den einen Ring nach Bruchtal brachte, zwang ihn nichts und niemand, den Tand weiter zu schleppen, hätten die sich doch streiten sollen bis ans Ende aller Tage! Keiner nötigte eine Elisabeth Swan, die verfluchte Münze aus dem Aztekenschatz mit sich herum zu schleppen, hätte sie das Ding einfach irgendwo gut sichtbar abgelegt und sich versteckt, wären die Piraten der Black Pearl vermutlich zufrieden mit diesem Ding ihrer Wege gezogen, zumindest vorläufig. Und wer behauptete denn gegenüber den Zwergen und sich selbst, dass es ganz und gar unhöflich sei, sie einfach rauszuwerfen, statt mit ihnen den Drachen Smaug erschlagen zu gehen, wenn nicht Bilbo Beutlin? Die Mehrheit der Helden hat sich entschieden, Held zu werden. Aber seien wir mal ehrlich: Es hat sich für sie auch immer gelohnt. Vielleicht nicht unbedingt direkt. Frodo erfuhr viel Leid und Grausamkeit, aber er rettete das Auenland und ganz Mittelerde, durfte sogar mit in das geheiligte Land der Elben mitsegeln. Elisabeth fand auf diffusesten Abwegen die Abenteuer, die sie immer wünschte und zudem jenen Gatten, der ihr ein Kind schenkte. Bilbo wurde mir Reichtümern überschüttet und gewann die Freundschaft der Zwerge. Was aber ist mit den Menschen und anderen Geschöpfen, die sich das Heldendasein nicht ausgesucht haben? Ich weiß noch, wie ich den Halt verlor, weil das Geländer des Balkons viel niedriger war, als es eigentlich hätte sein dürfen. Ich weiß, dass ich dieser wunderschönen, traurigen Frau dafür ein banales ‚Hexe!‘ zuschreien wollte und dass meine Stimme zu keinem Ton außer dem bekannten Ausruf des in die Länge gezogenen, ersten Buchstaben im Alphabet fähig war. Ich weiß, dass ich die Laterne eisern umklammert hielt und irgendwie mit den Armen ruderte. Auf eine bestimmte Weise, sie taten es völlig von allein und es schien in genau dieser Art erfolgen zu müssen. Ich selbst hatte zu diesem Zeitpunkt irgendwie schon binnen Sekundenbruchteilen abgeschlossen. Es war nur der zweite Stock, aber ich stürzte hintenüber und würde damit Kopf voran aufkommen. Das gab garantiert eine hässliche Sauerei. Dann jedoch durchfuhr mich ein stechender Schmerz, er wühlte so arg in meinen Innereien, dass ich glaubte, ich sei von der Antenne eines packenden Autos aufgespießt worden. Die These war rasch widerlegt, denn weder parkten hinter dem Haus Autos (die verschwanden sonst so schnell wie die Fahrräder im dafür vorgesehenen Kellerraum), noch war ich bereits so tief gefallen. Überhaupt bemerkte ich mit einer plötzlichen, ungeahnten Stimmungsschwankung, ich hätte sie fast Euphorie nennen wollen, wie die Zeit unendlich zäh dahin floss und ich mir noch die Zeit für allerhand Gedanken nehmen konnte. Der Anblick, sich in Zeitlupe im freien Fall gen Tod zu befinden, war höchst verstörend, hielt meinen Schädel jedoch offenbar nicht davon ab, auch weitere Überlegungen anzustellen. Eigentlich hätte ich gern gewusst, ob die junge Frau noch immer dort oben stand, doch den Kopf hochzureißen, erwies sich als äußerst schwierig. Scheinbar war ich von diesem Zeitlupeneffekt ebenso betroffen. Wäre ja auch zu schön gewesen, mal eben ein Geländer unter meiner Wohnung zu greifen. Ein Wimpernschlag, nicht einmal, und die Zeit begann wieder in alter Manier zu rasen. Gut für den Rest der Welt. Schlecht für mich. Als ich erwachte, hatte ich das Gefühl, jemand würde mit einem Presslufthammer direkt neben meinem Kopf arbeiten. Mir fiel sowieso erst ein paar Minuten später auf, dass dieses schrecklich laute Gerät nicht neben, sondern in meinem Kopf war. In meinen Ohren klingelte irgendetwas. Ich kannte diese Umschreibung aus anderen Werken, angeblich ein übliches Zeichen, wenn man gerade eine Explosion aus ungesunder Nähe verfolgt hatte. Irgendwas mit Frequenzen, die man nie wieder hören würde oder so. Ich erinnerte mich nicht. Ich erinnerte mich generell an kaum noch etwas. Nur der Sturz war gegenwärtig. Langsam und zögerlich schlugen meine bleischweren Lider auf. Die Welt stand nicht Kopf, aber sie hatte eine unangenehm irritierende Seitenlage. Zumal mein Gleichgewichtssinn mir immer noch weiß machen wollte, ich würde stehen. Harter, kalter Beton an meiner Wange, drückte gegen meinen Hals, in welchem ich heißes Blut pulsieren fühlte. Nicht etwa in einem für Panik angemessenen Rhythmus. Nein, ganz und gar nicht. Ruhig. Gelassen. Als würde man einen ganzen Tag auf dem Sofa lümmeln. Wie lange lag ich schon dort? „Kann ich dir helfen? Geht es dir gut?“ erkundigte sich nach einer Weile eine Stimme von der anderen Seite. Mühsam hob ich den Kopf, der sich indes anfühlte, als könnte er die eine oder andere Aspirin vertragen. Oder vielleicht doch lieber eine Packung. Da stand ein Junge, Sommersprossen auf der Nase, die sich langsam unter die Augen zogen, hellbraun waren diese, wach und lebendig, ein freches Lächeln lag auf den Lippen und verzog die Mimik auf eine Weise, wie nur Kinder jemanden begrüßen konnten. Seine ganze Art wirkte so lebendig, so freundlich und erfreut über seinen gegenwärtigen Fund, dass es schwer, mir schlicht unmöglich war, sich diesem Eindruck zu sperren und nicht selbst zu lächeln. Dabei fiel mir erstmals der Blutgeschmack im Mund auf. Sein viel zu weites Shirt hing über kurzen Hosen und er wippte eifrig auf den Fußballen auf und ab, unter den rehbraunen Sandalen knirschten ein paar kleine Kieselsteine auf dem Beton entlang und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich Kopf voran aus meiner Wohnung gestürzt war, hier lag und nichts mehr hatte als Kopfschmerzen und ein bisschen Blut im Mund. Unlängst hatte ich mit der Zunge meine Zahnreihen abgefahren. Das sagte mir lediglich, dass alles war, wie es sein sollte. Woher auch immer das Blut kam. Mit einem Schlag stellten sich mir zweierlei Alternativen, die allesamt vollkommen idiotisch waren: Entweder war ich Superman und hatte soeben das Schwerste erlitten, was mir an Schäden je widerfahren konnte, oder ich war tatsächlich gestorben und das hier war... Himmel oder Hölle. Jenseits zumindest. Ich wusste nicht genau, was mich zu der Annahme bewog. Vielleicht ging ich einfach davon aus, nach dem Tod gäbe es keine Schmerzen mehr. Oder es waren meine klischeehaft geprägten Vorstellungen von Engeln mit Harfen auf Wattewölkchen gegenüber fiesen, roten und gehörnten Teufeln mit Dreizack und Feuer im Hintergrund. Wahrscheinlich jedoch gefiel mir die Vorstellung einfach nicht, tot zu sein. Wohingegen es sich doch besser anhörte, ein unverwundbarer Held zu sein. So oder so jedoch, konnte dies kaum mehr als ein übler oder eben guter Traum sein. Es gab keinen Superman und kein Jenseits, nicht in meiner Überzeugung. Dass ich nicht, aber auch auf gar keinen Fall, Superman sein konnte, wurde mir in dem Moment bewusst, als die Augen des Jungen sich vor Entsetzen weiteten. Schrecksekunden nur, in denen ich das Geschehen nicht begriff. Blut spritzte mir entgegen, benetzte meine Kleidung und schlimmer noch mein Gesicht, ich schmeckte es auf meinen Lippen, metallisch und warm, während der Junge mit einem Einschussloch in der Stirn zurückgerissen wurde, auf den Betonboden stürzte und liegen blieb, während ich zusah, wie aus der blutig verklebten Öffnung am Hinterkopf eine Mischung aus verquirlter, zerfetzter Hirnmasse und Haarbüscheln quoll. Zu diesem Zeitpunkt ungefähr spürte ich auch meinen Magen wieder. Er fühlte sich noch immer an, als hätte ihn jemand durchstochen, aber in diesen Sekunden des Begreifens mischte sich das nackte Entsetzen so sehr mit ein, dass er am liebsten flüchend durch meinen Mund heraus gekrochen wäre. Gehetzt warf ich den Kopf wieder in die andere Richtung. Da stand eine Frau, beide Arme ausgestreckt an einer Waffe, einer grässlich großen Waffe. Ich kannte mich mit Projektilgeschützen nicht aus, aber für eine Pistole wirkte dieses Ding einfach zu... wuchtig. Keine einzige Sekunde gab ich mir, diese Frau zu betrachten, mein Blick fokussierte schlicht die Kanone, mit der sie soeben ein Kind erschossen hatte. Sie hatte einem kleinen Jungen in die Stirn geschossen. Der Satz wollte und wollte einfach nicht in meinen Kopf. Eisernen Schrittes kam sie näher, blaffte mir irgend etwas zu, ich aber sah nur die Pistole, den Lauf, der auf mich gerichtet war. Auf meine Stirn. Würde mein Hirn auch so widerlich aus dem Schädel laufen? Als könnte ich damit irgend etwas ändern, riss ich die zunächst bleischweren, jedoch kaum bewegt, federleicht wirkenden Arme empor. Vor dem Kopf, dem Gesicht verkreuzen, wahrscheinlich versprach ich mir davon tatsächlich etwas. Die Kugel hätte erst meine Arme durchschlagen und dann meinen Kopf. Ungebremst. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Das Einzige jedoch, was die Fremde tat, bestand darin mich auf die Beine zu zerren. Die packte mein Handgelenk und riss so schmerzhaft daran, dass ich glaubte, bei allen Supermanqualitäten sei sie Hulk und würde mir jetzt den Arm ausreißen. Irgendetwas in meiner Schulter knackte auch ganz widerlich, was diese Befürchtung nur noch unterstützte. Damit war das definitiv ein Alptraum geworden. Und ich kein Superman. Denn der hätte die Kugel bemerkt, hätte die Frau gespürt, hätte den Jungen beschützen können. Ich war kein Held. Hätte man mir Abenteuer angeboten, ich hätte dankend abgelehnt. Mein Leben war schön wie es war, einfach, bequem, angenehm. Irgendwie schaffte ich es tatsächlich, auf die Beine zu kommen, während sie mich mit scheinbarer Mühelosigkeit tatsächlich voran zerrte, mich über den Beton schleifte und mir damit den Rücken aufriss. In diesem Moment erst bemerkte ich, immer noch nur die Boxershort zu tragen. Natürlich, ich hatte Christine die Tür geöffnet, ihre Einladung angenommen, ich war duschen und dann wollte kam der erste ‚Überfall‘ von Miss Meerblau. Warum ich ihr gedanklich gerade diesen Namen gab, war eine unumstößliche Tatsache – nichts an ihr, weder das hübsche Kleid, noch dessen Kürze, nicht die feine Figur und auch nicht die Trauer in ihren Augen, nichts davon bestach so sehr wie dieses endlos tiefe Meerblau. Unter Schmerzen kreischte ich auf, was dieses Miststück über mir jedoch ganz offensichtlich nicht störte. Wieso auch sollte es, mein Rücken blutete, aber das konnte ihr ja egal sein – sie erschoss schließlich auch kleine Kinder. Durch den Hintereingang zottelte mich die Fremde in das Gebäude zurück und einen Moment lang packte mich neben der Angst, selbst erschossen zu werden, zusätzlich die Sorge um eventuelle unglückliche Seelen, die jetzt auftauchen würden. Was, wenn sie einen jeden davon gnadenlos niederschießen würde? Könnte ich das verhindern? Vielleicht. Ich stand nah bei ihr, hätte sie die Waffe gehoben, ich hätte ein Leben retten können, indem ich mich gegen sie warf. Jedoch war ich starr vor Angst und meine Beine bewegten sich aus dem reinen Mechanismus der Notwendigkeit heraus, nie und nimmer hätte ich gewagt, ihr zu widersprechen oder eines fremden Lebens wegen mein Eigenes zu riskieren. Dafür hing ich einfach zu sehr an meinem Eigenen. Vielleicht werden die Helden dadurch erst zu dem, was sie sind. Ob sie heil aus der Sache raus kommen, ist ihnen völlig egal, Hauptsache man redet nachträglich gut von ihnen. Zumindest vermutete ich in einem verbitterten Anflug von Sarkasmus in diesem Moment derlei. ‚Wie werde ich ein Held? – Lektion 1: PR is everything‘, das klang doch gut, nicht? Wir liefen zum Glück jedoch niemandem über den Weg, keine weiteren Toten. Nur ein Junge im Hinterhof mit zerfetzter Stirn. Als die Bilder wieder vor meinem Auge aufkeimten, konnte ich mich nicht mehr beherrschen, mein Magen krampfte sich grässlich zusammen, drückte alles, was sich darin finden mochte, mit absoluter Sturheit die Speiseröhre herauf, die folgsam das Förderband auf umgekehrten Betrieb stellte und mir Säure und Galle durch den Mund trieb. Mit einem Ruck nur riss ich mich los. Was genau mich dazu brachte, wusste ich auch nicht, aber ich dachte mir, ich sollte wenigstens in Ruhe mich übergeben können. Natürlich richtete sie in der Ahnung eines Fluchtversuches sofort die Waffe auf mich und nur mühsam konnte ich einen Arm an das kalte Metall heben, die Waffe wegdrücken. Selbst das ließ sich die Mörderin gefallen. „Kannst du nicht die beschissenen zwanzig Meter bis zur Toilette warten?“ keifte sie mich an, packte mich am Handgelenk, kaum das ich das Nötigste hinter mir hatte und zerrte mich weiter. In meine Wohnung. Als ich die Türnummer las, dachte ich, es müsste gleich der Moment des Erwachens folgen. Fehlanzeige. Das war meine Wohnung, bis zum letzten Kleiderbügel im Schrank, bis zu den Schuhen, die vor der Balkontür bereit standen, bis zur Zahnbürste auf dem Waschbeckenrand. Sie warf mich auf das Bett und begann erneut irgendwas zu erzählen. Das alles spielte für mich keine Rolle, ich hörte nicht zu, verstand nicht, war vielleicht nicht einmal fähig, diese Dinge zu tun, denn meine Augen hatten etwas entdeckt, dass mir eine Erlösung versprach, Flucht vor dieser Qual – Flucht vor ihr. Sie legte die Waffe weg. Nein, ein Held war ich noch immer nicht und ich wusste, dass sie mit einer raschen Drehung die Pistole wieder in der Hand hätte, bereit mich ohne eine Regung ihrer Mimik zu erschießen. Vielleicht löcherte sie mir in ihrer Gnade ja auch nur die Kniescheibe, offenbar hatte sie mit mir ja mehr vor als mit dem Jungen. An dieser Stelle setzte mein Denkvermögen wieder halbwegs ein. Ganz kühl betrachtet – wozu ich kaum fähig war – warum lebte ich noch? Warum ich und der Junge nicht? Sie hatte ihn einfach erschossen. War er ein potenzieller Augenzeuge gewesen? So oder so schien es hierbei um mich zu gehen und nein, ich fühlte mich davon in keiner Weise geschmeichelt, denn dies würde bedeuten, dass der Junge meinetwegen starb. Ein leises Klirren zerrte mich aus aufsteigenden Schuldgefühlen zurück und eröffnete mir, dass die Unbekannte gerade in meinem Kühlschrank wühlte, den Whiskey und Milch zu Tage förderte. Wenn sie beides zu mischen vor hatte, sollte vielleicht ich sie erschießen. Stattdessen jedoch lehnte sie sich gegen den Tisch und forderte mich auf, ich solle je zwei Gläser befüllen. Sie kannte sich in meinem Haushalt also nicht aus. Hatte einen Schlüssel für die Tür, aber kannte sich in den Schränken nicht aus. Gut zu wissen, vielleicht käme ich so an ein Küchenmesser heran? Gewiss, das war mit geschätzten neun Millimeter nicht zu vergleichen, aber immerhin ein Anfang. Folgsam wühlte ich herum, ließ mir dabei mehr Zeit als nötig und beobachtete sie. Meine Vermutung fand neues Futter. Sie besaß einen Schlüssel, die Bilder an den Wänden aber betrachtete sie mit einer Faszination, als hätte sie die Wohnung nie zuvor betreten. Ich holte die gewünschte Anzahl an Gläsern hervor, umschloss die Whiskeyflasche und in diesem Moment wurde mir eines bewusst: Die Flasche war voll, massiv und besaß einen schweren Glasboden. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, holte ich aus und zerschmetterte die Flasche mit seitlichem Schwung an ihrem Hinterkopf. Schade um den Whiskey, aber er wurde für eine höhere Sache geopfert. Mich jedoch packte nacktes Entsetzen. Ich war kein gewalttätiger Mensch, hatte in Schlägereien immer höchstens den Schlichter gespielt, nie einen Schlag kassiert, mein ganzes Leben lang war ich ein Diplomat gewesen und hier nun verließ ich mich natürlich auf die überzogenen Klischees der wenigen mir bekannten Actionfilme. Jemand bekam eine Flasche auf den Kopf und hatte gefälligst bewusstlos umzukippen! Nur tat sie das nicht. Benommen taumelte sie ein paar Schritte vom Tisch weg, griff nach der Waffe, die mit eben jenen Schritten gerade außer Reichweite gekommen war und gab mir damit die wenigen Sekunden, die ich zu bloßem Panikverhalten benötigte. Ich konnte sie schlecht mit einer Milchtüte bezwingen. Deshalb umschloss meine Hand eisern den verflixten Toaster und ich zog ihr ohne Umschweife auch den mit Schwung über. Ein Treffer direkt an der Schläfe, Plastik splitterte umher, die Innereien des Gerätes schepperten in der indirekten Erklären, mir nie wieder ein verfluchtes Toast machen zu wollen. Auch gut, denn sie ging zu Boden... und blieb Gott sei Dank liegen! Wenn man gerade das erste Mal einen Menschen niedergeschlagen hat, ist das ein merkwürdiger Moment. Stille breitete sich im Raum aus, völlige Stille und die eben noch vorhandene Panik war wie weggeweht. Natürlich lag das am FFS. Fight-or-flight – Syndrom, ich erinnerte mich noch aus dem Biologieunterricht daran. In akuten Streßsituationen wird ein Tier mit Adrenalin vollgepumpt, seine Muskeln in Alarmbereitschaft versetzt, alles bereit gemacht, um entweder zu kämpfen oder zu flüchten. In die Ecke gedrängten Tieren war die Flucht verwehrt, deshalb wurden sie so gefährlich. Gut, ich stand nicht unbedingt in einer Ecke, aber bezog man die Schusswaffe mit ein, könnte man es zu meinen Gunsten umdeuten. Die Waffe. Ein Blick glitt zu der Pistole. Sie mitnehmen? Ich besaß keinen Waffenschein. Ich hatte noch nie einen Schießstand gesehen, noch nicht einmal von außen. Mitnehmen könnte ich sie höchstens, um dafür zu sorgen, dass mein ungebetener Gast sie nicht so schnell zurück bekäme, sollte sie doch rascher als erwartet erwachen. Gute Idee. Aber dazu reichte es auch, das Ding zu packen und aus der ohnehin noch offenen Balkontür zu schleudern. Ich war sogar in dieser Situation geistesgegenwärtig genug, ein Taschentuch überzulegen. Was jetzt? Polizei. Rasch griff ich das Telefon und wählte die Nummer, die ultimative Ziffernkombination für Situationen, in denen Fremde Kinder erschossen und danach Erwachsene in ihre eigenen Wohnungen entführten. Die Geschichte klang jetzt schon völlig unglaublich. Als mir dann jedoch aus dem Hörer ein ‚Kein Anschluss unter dieser Nummer‘ entgegen schallte, weiteten sich sogar meine Augen in völligem Unglauben. Ich telefonierte so ziemlich jede mir bekannte Nummer durch. Zunächst öffentliche Stellen, Polizei, Feuerwehr, danach wählte ich sogar die Nummern von ein paar Freunden, meinen Eltern. Ich zweifelte sogar genug an der Realität selbst, um die Kabel am Telefon zu prüfen. Alles in Ordnung. Nur, dass es offenbar keinerlei Anschlüsse gab. Allmählich wurde mir unwohl, nicht nur der ausbleibenden Hilfe wegen, sondern auch, weil ich nicht abschätzen konnte, wann der Grund für das Rufen dieser Hilfe wieder erwachen würde. Zweifellos war sie furchtbar sauer. Warum auch immer, ich ging sogar davon aus, dass sie irgendeine Kampfsportart beherrschte. Lag vielleicht an dem trainierten Körper. Zeit zu gehen. Irgendwer dort draußen würde ein Telefon haben und die Polizei rufen können! Ob die Mörderin bis dahin geflohen war oder nicht, ganz ehrlich, war mir völlig egal. Sollte sie doch, solange sie mich nicht wiederfand, war ich damit ungemein zufrieden, denn eigentlich beabsichtigte ich einfach nur mein Leben in Ruhe und Frieden weiter zu führen. Auch wenn mir der Junge zweifellos für mehrere Wochen und Monate die Ruhe nehmen würde. Ich hastete zum Kleiderschrank, zog mir in aller Eile ein weißes Hemd und Jeans an, ein paar schwarze Socken, ehe ich in die einfachsten Schuhe schlüpfte und in meiner Weitsicht mir sogar eine dünne Jacke überwarf. Dass es vorhin kalt war, hatte ich nicht einmal bemerkt, doch jetzt glaubte ich mich daran zu erinnern. Dass ein weißes Hemd eine dumme Idee ist, wenn der Rücken von unebenen Betonplatten zerfurcht wurde, bemerkte ich ungefähr zu dem Zeitpunkt bereits, als sich der Stoff auf die Wunden legte und brannte, doch machte ich mir keine Gedanken darum, ließ mir keine Zeit. Jeden Moment könnte sie aufwachen und ich hätte dann ein arges Problem. Wenn die Leute mich sahen, sich Sorgen machten – na umso besser! In aller Eile trugen meine Füße mich aus der Wohnungstür, wieder die Treppen herab, denn selbst jetzt würde mich keine Kraft dieser Welt dazu treiben können, einen Fahrstuhl zu betreten! Ich stürmte aus der Wohnungstür und rannte den mir bekannten Berg herab. Theoretisch hätte ich ins Nachbarhaus gehen können. Theoretisch hätte ich auch einfach bei Christine klingeln und klopfen können, Randale machen, bis sie öffnen würde. Aber was, wenn die Fremde bis dahin erwacht war? Mich fand? Christine erschoss? Ich konnte nicht zulassen, dass meinetwegen noch mehr Menschen starben und irgendwie unterwarf ich mich bereitwillig und ohne großes Nachdenken dem instinktiven Wunsch, mich als Beute so weit wie möglich vom Jäger zu entfernen. Letztlich bedeutete das, die Straßen entlang zu hetzen und nach links und rechts zu spähen, ob nicht irgendwo jemand hinter einer Gardine kauern würde, ob nicht jemand zufällig den Weg kehrte oder ein Auto mir entgegen käme. Erstmals in meiner Mietzeit in dieser Gegend verfluchte ich die stets herrschende Ruhe hier draußen, ich sah niemanden und PKWs kamen auch keine. Meine Verzweiflung stieg mit jeder Minute, ich glaubte schon Schritte hinter mir zu hören, lauerte förmlich auf den Moment, da ich einen Knall hörte und mich besser zu Boden warf, ehe eine irre Gewordene mich mit ihrem Kugelhagel in die Knie zwang. Dass ich die Waffe vom Balkon geworfen hatte, interessierte mich in diesem Moment nicht. Dafür registrierte ich jedoch jetzt, nach mehreren Minuten, dass die Laterne weg war. Damit meinte ich nicht etwa, sie sei raus aus meiner Hand oder meiner Wohnung, nein, sie war schlicht weg. Vorhin, als mich diese Schützin auf die Beine gezerrt hatte, schon als ich mich umsah, nirgendwo Glassplitter, kein Eisengestell, nichts. Sie war einfach weg. Das interessierte mich auf eigenartige Weise, denn man hätte meinen sollen, ich hätte gegenwärtig wirklich andere Probleme. Schließlich rannte ich in eine Seitengasse hinein, zwischen den einzelnen Grundstücken feiner kleiner Einfamilienhäuser hindurch und bemerkte erst auf den zweiten Seitenblick einen älteren Mann, vielleicht Anfang fünfzig, der mir mit seinen erfahrenen, ruhigen Augen folgte. Geschwind bremste ich mich selbst aus und kehrte um, wagte ohne fragen und bitten über den Zaun zu springen. Hätte er sich nun bedroht gefühlt und einen Hund besessen, vielleicht hätte er ihn auf mich gehetzt. Ich musste mich noch nie eines Hundes erwehren, wahrscheinlich zog ich deshalb in diesem Moment großmäulig jenen Kampf dem mit der Fremden vor. „Jungchen, Jungchen, wie siehst du denn aus!“ erklärte der Alte und umrundete mich, besah sich die Blutflecken auf meinem Rücken, die sich durch das Hemd abzeichneten. Gedanklich korrigierte ich sein Alter von anfänglichen fünfzig Jahren auf über sechzig. Er hatte sich gut gehalten – von weitem. Jetzt jedoch sah ich die zahllosen Jahre in den Augen, die dünne, hier und da von Altersflecken gezeichnete Haut, die zweifellos so weich war, wie sie bei Alten seltsamerweise häufig zu sein schien. Er hatte eine drahtige Figur, war einen Kopf kleiner als ich und erweckte damit mehr den Eindruck des harmlosen Großvaters, der seinen Enkeln mit ausgebreiteten Armen begegnete und ihnen nach dem Besuch ein Scheinchen zusteckte. Damit war er das friedfertigste Wesen, dass ich mir im Moment vorstellen konnte. „Da ist... also ich... könnten wir rein gehen? Bitte! Ich müsste dringend die Polizei rufen!“ Sofort wurde die Miene des Alten ernst, er musterte mich einen Moment ungemein eindringlich, jedoch nicht auf misstrauische Weise, sondern meiner Vermutung nach eher, um festzustellen, ob ich mir einen bösen Scherz erlauben würde. Scheinbar stand mir jedoch immer noch die blanke Panik ins Gesicht geschrieben, die ihn letztlich davon überzeugte, mich in sein Heim einzuladen. Durch eine Verandatür an der hinteren Hausfront gelangten wir ins Innere. Ein fremdes Heim zu betreten, ist stets eigenartig. Man lernt viel dabei über den Menschen, der es bewohnt. Bilder, Urkunden, Poster, sogar die Art des Sofas oder Fernsehers. Alles trägt ein Stückchen dazu bei, diesen Menschen zu verstehen, ihn kennen zu lernen, aber ehe man diesen Prozess nicht abgeschlossen hat, fühlt man sich irgendwie immer als Eindringling, als Fremdkörper in einem geschlossenen System. Wahrscheinlich, weil man es als System erkannte, und zwar nicht als das Eigene. „Ziehen sie erstmal ihr Hemd aus, das sieht wirklich übel aus!“ trug mir der Alte auf. Ich wollte eigentlich Widerworte einlegen, da lag immerhin ein toter Junge im Hinterhof, aber der Herr wimmelte mit einer Handbewegung meine Einwände ab und erklärte, ich würde wohl kaum jemanden anrufen können, wenn ich derweil verblutete. Das klang für mich einleuchtend und auch, wenn ich nicht daran glaubte, dass meine Wunden so tief seien oder tatsächlich mein Leben bedrohen könnten, war es mir lieber, zu gehorchen. Einer Person wie diesem Mann ordnete man sich irgendwie gern unter, er war erfahren, er war zweifellos weise und strahlte diese nur dem Alter eigene, erhabene Autorität aus. Angenehm. Ich öffnete also das Hemd wieder, legte es mir sorgsam über den Arm und nahm auf einem kleinen, stoffbespannten Hocker Platz, der offenbar zur Sofagarnitur dazu gehörte. In beige war sie gehalten und damit fast schon zu stereotyp. Der Tisch nicht nur mit Holzmaserung, sondern tatsächlich aus richtigem Holz, man sah ihm förmlich an, wie schwer er war – und wie teuer. Ein paar Deckchen hier und da, meist halb vertrocknete Blumensträuße von der Wiese im Garten darin, hier und da ein paar Bilderrahmen, die eine glückliche Familie beisammen zeigte. Die Poster an den Wänden waren meist Szenerien der Stadt aus ihren unterschiedlichen Entwicklungsstadien, es gab sogar eine Skizze der Gründungszeit, als kaum mehr im Tal stand, außer ein paar Hütten um einen gepflasterten Platz geschart. Der Alte kehrte schließlich zurück und ich entschuldigte mich sofort dafür, so unachtsam gewesen zu sein. Schließlich schleppte ich mit meinen Schuhen den Dreck der Straße und die Gartenerde hier herein, obwohl doch auf der Veranda extra ein Fußabtreter lag und dem Parkett tat das zweifellos nicht gut. Ich hätte die Schuhe auf den kleinen Teppich stellen können, der dem Tisch untergelegt war, aber dort bekam man die Flecken nur noch schwerer heraus. Einmal mehr jedoch schüttelte der Alte mit sanftem Lächeln den Schopf und stellte eine Schüssel neben mir auf dem Boden ab. Warmes Wasser schwappte darin herum und ich sah nur aus dem Augenwinkel, wie eine Pinzette in seiner Hosentasche verschwand. „Ich... also... könnte ich...?!“ Meine Stimme zitterte ein wenig, denn bei aller Liebe, ich war nicht masochistisch genug, einen Opa an meinen Wunden herum werkeln zu lassen, ich wusste ja weder um seine Befähigungen, noch, ob seine Hand dabei tatsächlich ruhig bleiben konnte! Diese Sorgen zerschlugen sich jedoch zu meiner Überraschung zügig. Vielleicht konnte er Gedanken lesen, vielleicht half ihm aber auch einfach die Lebenserfahrung, ich vorzustellen, wie ich mich fühlen und was ich denken musste. Er erklärte mir, früher Arzt gewesen zu sein, sogar Notfallarzt. Die Zeit war zwar lang her, doch er hätte das nötige Wissen. Einen Waschlappen in die Schale tunkend, begann er mir von seiner damaligen Berufung zu erzählen. Der Stoff sog sich rasch mit Wasser voll und wurde bewusst notdürftig ausgewrungen, ehe er vorsichtig über meinen Rücken tupfte, um unter dem Blut die eigentlichen Verletzungen sichtbar zu machen. Bereits vor über vierzig Jahren fand er zu seinem Traumberuf, es war der Moment gewesen, als er in einem Park einen verletzten Greis sah, offenbar mit Hitzschlag gestürzt und von Schürfwunden übersäht. Er rannte los, um kurz darauf einen Fremden anzuhalten, der mit dem Rad unterwegs war. Ein Handy besaß er zu diesem Zeitpunkt nicht, weshalb der Unbekannte den Anruf tätigen musste. Zurück bei jenem Greis, wartete er auf das Eintreffen des Notarztwagens. Mitfahren durfte er natürlich nicht, doch er sah die Geräte im Inneren, sah den Arzt, wusste plötzlich um das erhabene Gefühl, einem Menschen geholfen zu haben, richtig geholfen zu haben. Offenbar war er nicht willens, dieses Gefühl wieder herzugeben. Die Art und Weise, wie der ehemalige Notarzt erzählte, machte mir mehr und mehr bewusst, dass er am Ende sogar traurig war, seinen Beruf nicht mehr ausüben zu können. Wahrscheinlich war ich ihm da eine angenehme Abwechslung vom Beete harken und Essen zubereiten, im Moment konnte er mit Eifer seiner alten Berufung nachgehen und wahrlich, er tat das exzellent. Die Wunden wurden freigewaschen, ich war sogar so sehr auf seine Geschichte konzentriert, dass ich kaum spürte, wie er mit der Pinzette hier und da kleinere Steinchen aus den Wunden holte. Als er mir jedoch mit Desinfektionsmittel zu Leibe rückte – das spürt man bei jeder noch so guten Geschichte! Ich bedankte mich artig, wollte ihm teils aus jener Dankbarkeit heraus und teils auch aus Neugier über seine Reaktion Geld anbieten. Er lehnte ab, erklärte, dies sei für ihn selbstverständlich gewesen und in diesem Moment sah ich meine zuvor gefasste Vermutung bestätigt. Er liebte seinen Job und man hatte ihm mit dem Alter notgedrungen weggenommen, was er liebte. Schließlich erklärte ich neuerlich, ich müsse nun dringend telefonieren. Unlängst waren Panik und Hektik wieder Fremdworte, konnte ich ruhig und besonnen mein Vorgehen planen und jetzt, da mir seine Geschichte nicht mehr in den Ohren lag, sondern sich nach und nach im Gedächtnis als Erinnerung absetzte, erkannte ich völlig nüchtern die Notwendigkeit eines Telefonates. Überhaupt war diese neu gewonnene Objektivität ungemein heilsam. Manipulation der Matrix? Blödsinn! Ich war in Panik, ich hatte Todesangst, das Geländer kam mir wahrscheinlich nur niedrig vor. Man konnte sogar über ein hohes Geländer mühelos stürzen, wenn man den Oberkörper nur weit genug darüber hinaus beugte und durch die vorherige Ohnmacht war mein Gleichgewichtssinn ja ohnehin reichlich im Eimer gewesen. Supermanfähigkeiten? So ein Unfug! Ich hatte schlicht Glück gehabt, anders aufzukommen, als zunächst befürchtet, vermutlich war ich mit dem Bauch voran aufgeschlagen und der Blutgeschmack im Mund kam vom Aufprall mit dem Kiefer. Was danach jedoch geschehen war, war so Weltlich wie alles andere auch, ungewöhnlich, aber deshalb nicht gleich mysteriös oder unerklärbar. Eine Irre war angekommen und hatte ein unschuldiges Kind vor meinen Augen einfach erschossen, um mich daraufhin zu verschleppen. Woher sollte ich schon wissen, was sie plante? Woher soll irgendwer wissen, was Wahnsinnigen im Kopf vorgeht? Will man das überhaupt wissen? Vielleicht hätte sie mich gefoltert. Vielleicht wollte sie mich auch hübsch ästhetisch in meiner eigenen Wohnung hinrichten und es nach Selbstmord aussehen lassen. Vielleicht hätte sie auch einfach ein Glas Milch mit mir getrunken und wäre dann seelenruhig wieder gegangen. Es spielte absolut keine Rolle. Denn daran war nichts Unheimliches. Der Alte führte mich nunmehr mit einem ernsten Blick nebst sachtem Nicken aus dem Wohnzimmer heraus in den Flur des Hauses. Auch hier fanden sich Bilder einer Familie, ein schöner kleiner Schuhschrank und eine stilisierte Garderobe, die Tür fasste eine Milchglasscheibe ein und eine Treppe führte hinauf in den oberen Stock, wo ich Bad und Schlafräume vermutete. Andererseits sagte der Standardaufbau solcher Häuser auch aus, dass es im Erdgeschoss ebenfalls ein Badezimmer gab. Oder zumindest Toiletten. In der Küche angelangt, bemerkte ich, dass der Stil der Einrichtung schon deutlich variierte im Vergleich zum Wohnzimmer. Moderner wirkte hier alles, die Kochplatten, ein großer, leise vor sich hin summender Kühlschrank, der Tisch aus Leichtmetall mit ein paar ebenfalls recht ansehnlichen Stühlen daran und schließlich das Telefon, Ziel meiner Suche im Raum. Wie in den meisten amerikanischen Filmen hing es an der Wand, statt irgendwo auf einer Ablage herumzustehen, wie ich es gewohnt war. Ich gab mich mit der Kuriosität zufrieden, griff den Hörer und wählte, doch auch hier wurde mir gesagt, dass es keinen Anschluss unter dieser Nummer gäbe. Auch hier wählte ich so ziemlich jede Telefonkennung durch, die mir in den Sinn kam, mit dem ernüchternden, immer gleichen Ergebnis. Frustriert und völlig verwirrt ließ ich mich auf den Küchenstuhl sinken. Das ergab einfach keinen Sinn. „Papa?“ erklang die freundliche Stimme eines weiteren Familienmitgliedes. Offenbar hatte ich sie im Garten bei irgendwelchen Arbeiten übersehen, denn ich vermutete die Quelle im Wohnzimmer. Der Alte legte ein heiteres Lächeln auf und erklärte, er sei in der Küche. Wenn Männer seines Alters so angesprochen wurden, würde ich wohl einer Frau begegnen, die in ein paar Jährchen älter wäre. Was genau mich dazu veranlasste, dieser Begegnung fast schon vorfreudig entgegen zu blicken, wusste ich auch nicht. „Was ist denn nun eigentlich geschehen?“ hakte der ehemalige Arzt nach und stellte damit erstmals eine Frage, die von tatsächlicher Neugier für die Vorfälle sprach. „Ich weiß auch nicht. Ich war in meiner Wohnung, als ich... als...“ Sollte ich ihm wirklich davon berichten, wie eine Halluzination einer umwerfend schönen Frau dazu führte, dass ich panisch über die Brüstung stürzte? „Ich habe am Balkon das Gleichgewicht verloren und bin übel gestürzt. Ein Wunder, dass ich mir nichts dabei gebrochen habe! Jedenfalls liege ich da und ich weiß wirklich nicht, wie lang. Vielleicht habe ich mir ja eine Gehirnerschütterung geholt oder soetwas?“ Mein Gegenüber jedoch winkte gelassen ab. Offenbar hatte er diesen Verdacht auch irgendwann schon gehabt oder konnte ihn jetzt, da er bei der Teekanne stand und an drei Tassen werkelte, per Ferndiagnose ausschließen. Mit ruhiger Stimme bat er mich, die Geschichte weiter zu erzählen, denn noch hatte ich schließlich nicht alles berichtet, was mich letztlich mit dem Ausdruck eines gehetzten Hasen in seinen Garten trieb. „Da liege ich also und plötzlich ist da ein Kind, ein Junge von vielleicht acht oder neun Jahren, ich sehe zu ihm hoch und der meint rotzfrech, ob er mir helfen kann! Ich wollte ihm gerade antworten, als es den Burschen umhaut. Einfach so! Da spritzt plötzlich sein Blut auf mich und der Junge liegt tot am Boden! Ich dreh mich um und da steht diese Irre mit ihrer Pistole, ich hatte in meinem ganzen verfluchten Leben noch nie so viel Angst!“ Ich ereiferte mich mehr und mehr in meiner Rede, bekam diesen Umstand zwar mit, schien jedoch keinerlei Notwendigkeit zu sehen, mich zu zügeln. Sogar jenen Moment nackter Panik gestand ich ein. Ob das wohl daran lag, wem ich das sagte? Hätte ich einer alten Frau – oder besser noch einer Jungen – dies ebenso berichtet? „Ich dachte im ersten Moment, sie jagt mir jetzt auch eine Kugel durch die Stirn, aber sie kam nur näher, packte mich und wollte mich mitschleifen. Über nackten Beton. Dabei habe ich mir dann wohl auch diese Verletzungen zugezogen. Ich komme also gerade so auf die Beine, da zerrt sie mich in mein Haus zurück, den Elfgeschosser oben am Waldrand! Sie zottelt mich sogar in eine Wohnung hinein, in meine Wohnung, können sie sich das vorstellen? Mit meinem Haustürschlüssel! Dann... ja keine Ahnung. Was immer sie vor hatte, ich wollte es echt nicht herausfinden. Ich habe ihr eine Flasche bei erstbester Gelegenheit über den Kopf gezogen und mit dem Toaster nachgeholfen, als sie partout nicht zu Boden gehen wollte. In Filmen sieht das immer schrecklich einfach aus, jemanden nieder zu bekommen! Ich habe versucht, die Polizei anzurufen, aber da haben sie mir das Selbe gesagt wie hier auch. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Also bin ich erstmal losgerannt, ich musste ja Hilfe finden! Da lag immerhin ein Junge tot hinter dem Haus und irgendeine Irre in meiner Wohnung. Die Waffe hab ich noch aus der offenen Balkontür geworfen und mich rasch angezogen, dann bin ich losgelaufen. Sie glauben gar nicht, wie heilfroh ich bin, dass ich auf sie traf! Irgendwas muss ich aber doch jetzt wegen dem Jungen machen...?! Was ist mit der Notrufnummer los?“ Nachdem er damit fertig war, an den Tassen herum zu mehren, widmete sich der Alte der Teekanne, die indes schon gut gefüllt schien. Ich zuckte einen Moment zusammen und betrachtete völlig irritiert das sich mir bietende Schauspiel. Da tänzelte eine Flamme. Direkt über seiner Handfläche. Eine kleine, runde, rot glühende Kugel, an der Flammen nach oben züngelten. Die Kugel lag aber nicht auf seiner Handfläche – sie schwebte. Einfach so. Und folgte dem Verlauf seiner Hand, als er damit ein Teelicht entzündete und die Kanne auf das Gestell darüber setzte. Danach verlosch die Flamme und die Kugel verschwand. Auch einfach so. Einen Moment glaubte ich mich schlicht ‚versehen‘ zu haben, zweifelte meine Sinne an und malte mir gedanklich einen Anzünder dazu, ein Feuerzeug, Streichholz, aber nichts wollte so recht passen. Woher zum Teufel hatte er das Feuer genommen? Als er sich mir zuwandte, blickte er mich an, freundlich immer noch, aber irgendwie auch besorgt. Ganz so, als würde mit mir irgendwas nicht stimmen. „Ich bin auch froh, dass du mich getroffen hast. Ganz ehrlich, glücklicher hätte es uns nicht widerfahren können! Sowas kann schnell schief gehen, mancher macht in solchen Situationen wirklich rasch Dummheiten, die er vielleicht später bereut, die sich aber so oder so als Fehler erweisen würden.“ Womit hatte ich diese Lektion verdient? Denn nichts anderes war es, ich saß wie der Schüler in der Bank am Tisch und nickte sogar brav, weil der erhabene Lehrer mich an seiner Weisheit und seinem Wissen teilhaben ließ. Aber irgendwie klang das eher, als würde ich gerade eine Rüge erhalten. Wofür also? Sein Blick jedoch schweifte von mir ab zu einem Punkt hinter mir und selbst ohne mich umzudrehen, wusste ich genau, dass er zum Kücheneingang blickte, weil dort meiner sich schließlich bestätigenden Vermutung nach seine Tochter stehen würde. „War das wirklich nötig, dass du den Sucher vor seinen Augen erschießt?“ erkundigte sich der Alte in einem Ton, so voller Güte und Nachsicht, dass mir das Blut in den Adern gefror. Natürlich stand jene in der Tür, die ich für wahnsinnig hielt, die ich als irre bezeichnet hatte, die mich verschleppt und skurpellos einen Jungen erschossen hatte. Sich den wohl noch immer schmerzenden Kopf haltend, funkelte sie mich einen Moment an, ehe sie geradezu schuldbewusst zu ihrem Vater spähte und sich zu rechtfertigen versuchte, doch noch vor einem Wort aus ihrem Halse gedachte ich erneut zu fliehen. Ich war offenkundig blindlings mitten in die Schlangengrube gerannt, auf der Flucht vor dem einzigen Reptil, dass sich außerhalb dieser befunden hatte. Schlechter hätte ich wohl nicht wählen können! Doch schon als ich aufsprang, um der Küche zu entfliehen – ich ertappte mich sogar dabei, zum Toaster neben dem Kühlschrank zu linsen – kam mir der Alte in die Quere. „Setz dich!“ befahl er in einem schneidenden Ton. Von einem ‚leck mich‘ bis zu ‚vergiss es‘ wollte mir so ziemlich alles über die Lippen treten, ich hätte mich sogar damit abgegeben, einfach die Fremde bei Seite zu stoßen und zu fliehen. Doch so lautete nicht der Befehl. Ein Gefühl beschlich mich, als würde man mir Ketten um Arme und Beine legen, zunächst zärtlich darauf achtend, dass auch ja nicht ein einziges Haar eingeklemmt werden würde, ehe man mit brachialer Gewalt die Stränge durchzog – und ich unsanft wieder auf der Sitzfläche des Stuhls landete. Ich konnte nicht aufstehen. Erklären kann ich es nicht, aber so sehr ich mich auch mühte, keinen einzigen Finger zu krümmen, stand mir zu, es lag außerhalb meiner Macht, ich hatte meinen Körper nicht mehr im Griff, war als Geist der Gefangene hier drin geworden, in dieser Hülle aus Fleisch und Knochen. Nackte Panik kroch erneut in mir hoch, das Gefühl tiefster Beklemmung, als der Alte seine Tochter anwies, sie solle sich um die Leiche und ihre Waffe kümmern. Verächtlich in meine Richtung schnaubend, winkte der Greis ab und schickte seine Tochter davon, ehe er allen Ernstes die drei Teetassen nahm und auf dem Tisch sorgsam verteilte. Seelenruhig setzte er sich hin, mir gegenüber. Hätte er jetzt gesagt ‚Wir töten dich‘ oder ‚Wir fordern Lösegeld‘, vermutlich hätte ich bei Ersterem schwer geschluckt und beim Letzten vielleicht sogar erleichtert geseufzt, aber er sagte das Einzige, was ich mir vorstellen konnte, dass meine Panik nur noch weiter steigerte und mir vor Augen führte, dass unsteigerbare Angst nicht existierte – man konnte sie immer noch weiter steigern. „Wir sollen reden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)