Heldenhaft von Voidwalker ================================================================================ Kapitel 5: Aufbruchsstimmung ---------------------------- Über den Tod hatte ich schon eine ganze Menge gehört, gelesen und davon gesehen. Jeder, dem irgendwann mal seine Goldfische wegsterben, macht sich Gedanken darüber, mancher fängt auch schon beim innerlich verfaulten Kaktus an und andere erst bei ihrer altersschwachen Katze, aber früher oder später denkt jeder darüber nach, informiert sich und hört zu, wenn irgendwer so ganz zufällig auf das Thema lenkt. Ich bildete da keine Ausnahme, doch seien wir ehrlich: Neben den biologischen Fakten, was je nach Todesart geschah, gab es eigentlich keine wirklich brauchbaren Informationen. Es war einfach so, dass diese Grenze sogar für Detailfragen und Neugier, gleich wie ehrgeizig die angefacht war, ein ultimatives Mauerwerk darstellte. Kein Vorbeikommen, nicht mal einen Blick durfte man riskieren. Gut, es gab diesen ganzen Esoterikmüll. Ich habe da ein helles Licht gesehen. Vor meinen Augen lief der schlecht geschnittene Film meines Lebens. Gott sprach zu mir, ich sei ein böser, böser Junge gewesen, während im Hintergrund irgendwo eine Peitsche auf den Boden einhieb. Was auch immer sich die menschliche Fantasie eben vor oder nach einem Nahtoderlebnis oder aus reiner Idiotie heraus zusammen spinnen kann. Diese Geschichten haben ihren ganz eigenen Reiz, denn sie lassen uns nicht mit der trostlos kalten Realität zurück, dass danach einfach Nichts wartet, dass dort Schluss ist und wir schlicht weg sind. Für die Mehrheit ein unbequemer Gedanke. Ich hatte mir selbst nie groß Gedanken um dieses Thema gemacht. Sicherlich, das übliche ‚Ob er wohl im Himmel ist?‘, wenn einem das geliebte Tier wegstarb, aber von den großen Tragödien verschiedener mir bekannter Menschen wurde ich verschont, keine Verwandten starben weg, niemand erlitt Unfälle. Es war nie nötig, mich weiter damit zu befassen. Außerdem war ich jung, ich war abgebrüht und aufgeklärt, wer da an etwas nach dem Tod glaubt, ja der kann ja auch gleich zu Weihnachten früher ins Bett, um den Fettsack nicht zu stören, der durch den Kamin rutscht! Und zu Ostern werden keine Hasen mehr gegessen, den Eierbringer zu verspeisen, ist unhöflich! Mich jedoch hier und jetzt mit dem eigenen Ableben – sogar angeblich nachträglich – konfrontiert zu sehen, rief in mir ein derartiges Unbehagen hervor, dass ich einfach jeglichen Nerv verlor. Mir platzte nicht der Kragen, wie zuvor mehrmals (fast) geschehen, wie ein scheuendes Pferd ging einfach die Angst mit mir durch. „Bist du bescheuert?! Ich kann nicht tot sein! Ich hab Freunde, Familie, ich muss die Sommerausgabe noch fertig bekommen, ich... ich kann nicht... das geht einfach nicht!“ erwiderte ich hitzig, wollte eigentlich als Beweis meiner völligen Ruhe das Teeglas greifen und bemerkte erst jetzt, wie eifrig meine Hände am zittern waren, sodass ich mir schließlich in dem Bestreben, mich zu beruhigen, durch die Haare fuhr. Selbst das Zerzausen meinst längst nicht mehr als solche zu erkennenden Frisur half mir nicht weiter, verstärkte wohl nur noch den Eindruck eines von jetzt auf sofort völlig aufgelösten Menschen. War vorher mein Inneres nervös gewesen, dass ich meine Finger zu beschäftigen versuchte, so war ich es jetzt durch und durch. Ich erhob mich, ungefragt und energisch, stieß den Stuhl dabei zurück und tigerte wie ein ausgehungerter Löwe beim Anblick des hinter den Gittern baumelnden Steaks im Raum auf und ab. Mein Blick starr auf den Boden geheftet, wogte die Verzweiflung immer wieder auf. Athorio, die Soleaner, parallele Welten, das waren Hirngespinster, mehr nicht, das war alles völliger Unfug! Ich musste einfach an diesem Gedanken festhalten, denn wenn das nicht stimmte, stimmte auch der letzte Teil nicht, den ich plötzlich selbst gedanklich nicht mehr in Worte zu kleiden mochte, als sei ich ein damit den Schnitter unabsichtlich beschwörendes, abergläubisches Waschweib. Nur ein irrer Alter, der mich in seine Wahnideen reinzuziehen versuchte und verdammt – er schaffte es gerade, fast schaffte er es, denn noch gab ich nicht auf, nein, noch war da Vernunft in meinem Kopf, irgendwo unter den Schichten von Angst und Verzweiflung verborgen. Andererseits ergab das Ganze auf geradezu gruselige Weise ein sinnvolles Bild. Hatte Athorio nicht von dieser Frau erzählt, die in ‚meiner Welt‘ erschien? Was war mit den meerblauen Augen? Ihre Tracht hatte ich einem neuen Jugendkult zugeordnet. Was, wenn ich mich irrte? Sie war nach unserer ersten Begegnung so überaus rasch verschwunden, dann am Teich war sie ebenfalls plötzlich weg gewesen, ohne Schlüssel und ohne Geräusch war sie mehrmals in meiner Wohnung gewesen. Der Alte hatte von dem ‚Lösen materieller Fesseln‘ gesprochen, und was hatte diese Frau getan, als sie plötzlich hinter mir stand? Sie sah nicht so aus, als würde sie mit mir reden wollen. Es stand Abschied in ihren Augen. Das Geländer war plötzlich zu niedrig. Sie unternahm rein gar nichts, um mich vor dem Sturz zu bewahren. Der Balkonsturz. Ich hatte den Aufschlag nie gespürt. Kreidebleich blieb ich mitten im Raum stehen und vermutlich wäre ich mit zitternden Knien eingeknickt und umgekippt, hätte mich nicht plötzlich der überraschend starke Arm Athorios gehalten und zu dem Stuhl zurück geführt. Ich sank völlig kraft – und widerstandslos in die Sitzfläche, lehnte mich gegen das Gestell und zitterte wie Espenlaub. „Trink deinen Tee. Er hat beruhigende Wirkung.“ Wundervoll. Sogar mit meiner Panik schien dieser vermaledeite Irre gerechnet zu haben, er gab mir gepanschtes Zeug zu trinken, wirklich prima! Vielleicht waren Halluzinogene drin? Vielleicht hatten die Drogen-... unwahrscheinlich. Erneut reckte er den Arm, wollte mir offenbar beruhigend die Hand auf die Schulter legen, aber in einem fast explosionsartigen Gefühl von Zorn riss ich den Stuhl vom Tisch zurück. „Fass mich nicht an!“ fauchte ich ihm entgegenfunkelnd zu, „Bleib fern!... Ich bin nicht tot!... Ich kann nicht tot sein...!“ Ich prüfte meinen Puls. Natürlich war da Puls, um solche netten Details hatte Athorio sich ja ebenfalls gekümmert – ich wurde in seiner Welt wiedergeboren. Nein, halt, keine Reinkarnation, sondern... wie nannte er das gleich? Eine Rematerialisierung. Klang grässlich nach Star Trek. Sein mitleidiger Blick lag noch immer auf mir, er hatte die Ruhe weg und wagte es, mich anzusehen, als würde er tatsächlich Mitleid verspüren! Dieser elende Hund von einem Heuchler, nichts verstand er, sein kleines krankes Köpfchen war gar nicht fähig, zu begreifen, was er einem Mittzwanziger antat, indem er ihm kurzerhand den Tod vor Augen stellte! „Du kannst nichts beweisen! Nichts davon! Du bist nur ein Irrer! Ein armer, alter Irrer!“ – „Duncan-„ – „Nenn mich nicht so!“ Widerwillen, bloßes Dagegenhalten, gleich was er sagte, ich hätte es negiert. Wir brauchen Sauerstoff? Unfug, wir hatten immer die Wahl! Ein Mensch existierte, um sich fortzupflanzen? So ein Quatsch, die Gesellschaft erlaubte uns Künste und Forschung! Soleaner waren angeblich eine frauendominierte Gesellschaft? Sicher doch, deshalb redete er mit mir und nicht Katharina! Der Himmel war blau? Unfug, im Moment war er grau, ha! Das Problem war, dass ich ein kleines, unschönes Detail übersehen hatte. In völliger innerer Ruhe hob der Greis die Hand, öffnete die Fläche zur Decke hin und ließ nur Sekundenbruchteile später eine lustige kleine Flamme darüber tänzeln. Einfach so. Sie stand mitten in der Luft, vielleicht ein paar Zentimeter über seiner Haut, eine kleine Sphäre, die heiß und freurig glühend loderte. „Den Trick hatte ich ganz vergessen...“ spie ich verächtlich und wollte ihm schon auflisten, was ein Zauberkünstler im Zirkus so alles vollbringen konnte. Doch in dem Moment begann die Kugel zu tropfen. Nicht etwa heiß brennendes Material von dem Zeug, woraus auch immer die Kugel bestehen mochte, sondern Wasser. Es tropfte auf seine Hand und Sekunden später begannen die Flammen immer zäher nach oben auszuschlagen, bis plötzlich das glühende Rot samt der Flammen gefror, bis in die Tiefe hinein bildete sich ein Eisklumpen, der sogar kühl dampfend seine Temperatur an die Umgebung abgab. Ich wollte schon mit Stickstoff und Kühlmitteln beginnen, da begann auch die Eiskugel sich wieder umzuformen, verlor jegliche Gestalt und Materie, ein kleiner Lichtpunkt blieb übrig und das wortwörtlich. Ich konnte dieses Ding nicht direkt ansehen, zu grell das davon ausgehende Licht, es stach in den Augen, doch ich sah eine kleine Kugel aus... ja aus Licht eben. Normalerweise hätte ich eine furchtbar helle Glühbirne vermutet. Aber hier waren weder Glühbirnen noch geheime Stickstoffleitungen noch ein subtil verstecktes Feuerzeug. „Duncan, einer der nicht ganz so kleinen Unterschiede zwischen unserem Volk und eurem ist der, dass uns gewisse Fähigkeiten offen stehen, die mit dem Alter immer stärker werden. Sie beginnen mit ungefähr zehn Jahren, sich zu entwickeln. Bei besonders starken Soleanern auch schon früher. Es gibt das Gewebe, welches unsere Welten trennt und während ihr das Gewebe nicht wahrnehmen könnt, haben wir es über die Jahrhunderte studiert und gelernt, daraus unseren Nutzen zu ziehen.“ – „Ihr... seid... Hexen?“ Amüsiert lachte Athorio auf, ehe er mir berichtete, dass dieses Wort ja nur für Frauen gelte, Männer seien Hexer. Das war inzwischen der dritte Schlag in die Magengrube, ich wusste langsam nicht mehr, womit ich getroffen wurde und bei dem Schaden, der schon entstanden war, konnte mir das auch langsam egal sein. Er erklärte mir recht nüchtern, dass die meisten Soleaner dafür keinen direkten Namen hatten, es war einfach ‚die Gabe‘ und jeder besaß eine andere. Sucher konnten mit tödlicher Präzision Wahrscheinlichkeitsräume bestimmen. Die Männer und Frauen der Regierung waren Hellseher, blickten in jene andere Welt und machten brauchbare Probanten für den Transfer ausfindig. Wieder andere Gruppierungen waren fähig, dieses Gewebe zu verformen, zu dehnen – und somit den Essenzen eine sichere Passage zu gewährleisten. Dann gab es solche wie Athorio, die sich mit Elementarmagie herum mühten, obgleich mir der Begriff ‚Magie‘ noch immer zutiefst zuwider war. Seine Tochter indes war nicht mit sonderlich starker Magie gesegnet, im Gegenteil, jene Schwäche nagte zusätzlich an ihr. Erst mit vierzehn hatte sich ihre Gabe gezeigt, als sie weinend aus einem Raum rannte. Drei Minuten später hätte es eine Arbeit zurückgegeben, unter der bei ihr schlicht ein nicht gerade beeindruckendes Ergebnis stand. Sie konnte hellsehen, allerdings nur das eigene Schicksal. Der mögliche Zeitraum war dabei von der Stärke ihrer Konzentration und der inneren Ruhe abhängig – bei einem aufbrausenden Menschen wie ihr zweifellos eine furchtbare Strafe. „Ich will zurück.“ war meine einzige Bemerkung. Ich weiß nicht, an welchem Punkt ich den Verstand verloren und mich in diesem Gespinnst verstrickt hatte, aber Fakt war: Diese verflixte Kugelnummer hatte mir den Rest gegeben. Ich wollte einfach nur noch zurück in mein Bett, ich wollte nichts mit Feuer und Bürgerkriegen, toten Kindern, die eigentlich Sucher waren und irgendwelchen Anschlägen zutun haben. Heimwärts sollte es gehen, in mein Bett und dann würde ich durchschlafen. Scheiß auf die Leiche hinter’m Haus. Ich würde die nächsten Episoden tippen, in die Stadt gehen und irgendwas für Christines Geburtstag kaufen! „Duncan, du bist Schriftsteller, du hast nicht die nötigen Fähigkeiten.“ – „Heißt das, ich kann hier auch zaubern?“ – „Du wurdest in unserer Welt rematerialisiert, es ist dir möglich, ja. Obwohl du natürlich jetzt gerade einmal auf dem Stand eines Zehnjährigen beginnen würdest und deine Gabe selbst noch nicht kennst. Aber davon redete ich nicht. Dich zurück zu schicken, kann nur eine.“ – „Die Frau, die mich so herzlich über den Jordan jagte...“ mutmaßte ich und wurde von Athorios Nicken abermals bestätigt. Dass ich angeblich auch rumhexen konnte, war mir reichlich egal. Magie gab es nicht und Magie interessierte mich auch nicht, im Moment hatte ich ganz andere Sorgen denn ich war tot, verdammt! „Ich will zu ihr. Ich werde sie bitten, wenn nötig betteln, dass sie mich zurück schickt. Du hast es selbst gesagt – ich habe hier nichts verloren.“ – „Und was willst du tun, wenn sie ablehnt?“ – „Dann werde ich sie zwingen.“ erklärte ich nüchtern. Man möge mich nicht falsch verstehen, ich bin kein Monster, kein Unmensch, aber ich bin auch keiner dieser furchtbar toleranten Gutmenschen, die für alles und jeden Verständnis haben und sich immer brav hinten anstellen. Hier ging es um mein Leben und da konnte sie noch so traurig drein schauen, sie würde es mir gefälligst zurückgeben, sonst konnte sie mal von mir einen Grund bekommen, traurig zu sein! Meine recht hitzige Antwort wiederum schien Athorio irgendwie zu gefallen, ihn auf eine Idee zu bringen. Er rief nach seiner Tochter, die kurz darauf die Treppe halb herab kam und in die Küche lugte. Die Anweisung war knapp. Fertig machen solle sie sich und schon vernahm ich das Fußgetrappel, als sie die Treppe wieder hinauf eilte. Der Greis aber beugte sich mit einem breiten Lächeln zu mir herüber. „Der Widerstand hat endlos viele Pläne, die Meisten beziehen sich darauf, die Stellung der Regierung zu schwächen. Man wagte jedoch nie, die Bidimensionale anzugreifen. Sie ist einfach zu stark abgeschirmt, gesichert gegen alle Welt. Aber Katharina ist eine exzellente Schützin und Strategin und du besitzt ein kreatives und schnelles Köpfchen, eine kleine Einheit – ihr Zwei – könntet es vielleicht schaffen, unbemerkt einzudringen! Cat lotst dich bis zu ihr, gemeinsam bringt ihr sie dazu, dich zurück zu schicken.“ Man musste nicht Einstein sein, um zu bemerken, dass der Plan irrwitzig, halsbrecherisch und vor allem noch lange nicht zu Ende war. Da steckte weit mehr dahinter! Jetzt plötzlich, da kommen sie auf die Idee, diesen Angriff zu führen. Als wenn ich dazu nötig gewesen wäre, in einem militärischen Einsatz war ich ja wohl eher ein Hindernis! Trotzdem schien Athorio die Idee ganz wundervoll zu finden. Na meinetwegen, denn in einem Punkt hatte er recht: Wenn ich etwas wollte, dann verbiss ich mich darin und konnte reichlich über mich hinaus wachsen! Das hatte ich bei Frauen, Verlägen und dem wöchentlichen Einkauf schon mehrfach bewiesen. Hier nun ging es aber nicht um die letzte Nudelpackung, einen Vertrag oder eine nächtliche Liason, sondern um nicht weniger als mein Leben als Ganzes. Solange mich diese Frau nur durchbrachte, würde ich schon einen Weg finden, mir die Unterstützung dieser ‚Bidimensionalen‘ zu sichern. Charmant konnte ich ja sein und sollte es wirklich nötig werden – ich hoffte natürlich, dem wäre nicht so –, so hätte ich auch ein paar unangenehmere Seiten, die derweil handgreiflich und lauter wurden. Letzteres zuerst. Athorio jedoch verbarg etwas. Wie würde Katharina wieder dort heraus kommen? Was würde mit der Bidimensionalen geschehen, wenn ich erstmal weg war? Er tat ganz recht daran, es mir nicht zu sagen – es interessierte mich im Moment nämlich nicht. Mein Leben ging vor, danach konnte meinetwegen sonstwas geschehen, ich würde bestimmt eine furchtbar schlechte Gewissen haben, ein paar Tage, vielleicht sogar Wochen, dann würde ich bei Tamara vorbei schauen oder mit von Stephan in seinem verdammten BMW abholen lassen und die Welt war wieder heil. Keine toten Kinder oder das ungewisse Schicksal trauriger, meerblauer Augen. „Wohin geht’s und wann brechen wir auf?“ erkundigte ich mich schlicht und erhielt zur Antwort, dass es sofort los ginge. Das ‚wohin‘ hatte er mir irgendwie nicht beantwortet, aber ich hatte das Gefühl, das käme noch. Tatsächlich trabte Cat ein paar Minuten später wieder an, verstaute gerade die dem Anblick nach geschätzt fünfte Schusswaffe am Körper, ehe sie sich eine legere Jacke überwarf und damit immerhin bis auf eine Kanone alle verdeckte. Offenkundig würde das weder ein Spaziergang werden, noch würden wir dort sonderlich friedlich vorgehen. Immerhin jedoch würde es leise werden, wie ich an den Schalldämpfern erkannt hatte. Ob ich mich darüber wirklich freuen sollte, war mir nicht klar. So eine Irre, die schon ein Kind abgeknallt hatte, sollte mich jetzt mit zweifellos zahlreichen weiteren Morden zu einer Frau bringen, deren Hilfe nicht völlig sicher war, nur um diesem Wahnsinn wieder zu entkommen. Prima. Klang ja sehr einladend. „Hat der seine Gabe schon rausgefunden?“ – „Cat, sei... sei einfach... versuch es wenigstens. Er ist neu und wusste es nicht besser.“ – „Mir brummt trotzdem der Schädel.“ Selbst als ich mich mit einer zaghaften Entschuldigung und einem charmanten Lächeln einmischte, bedachte sie mich abstrafenden Blickes mit einer Arroganz, als hätte ich gewagt, die als Bauer die Königin von Großbritannien anzusprechen. Immerhin zum Ende rang sie sich mühselig ein zaghaftes, ja fast kaum wahrzunehmendes Lächeln ab. Ein wenig unterkühlt, aber immerhin ein Anfang. Ich hatte nicht vor, mein Leben einer Frau anzuvertrauen, die mich am liebsten erschossen hätte – oder noch immer gern würde. Nachdem Athorio in der Vertrautheit des Flures ein wenig mit seiner Tochter redete und ich indes den Tee leerte, erhob ich mich, um meine wundervolle Reise ins Traumland zu beginnen. Ich hatte eben doch Recht gehabt: Der Tag war schon vom Morgen an restlos verkorkst gewesen! Der Greis kehrte schließlich zu mir zurück, bedachte mich mit einem entschuldigenden Lächeln und trat näher, als es die Höflichkeit zuließ. Ich war zunächst einen reichlichen Moment schwer verwirrt, ehe ich begriff, dass er mir soeben eine Kette um den Hals legte. Ein netter, in Silber gefasster Anhänger baumelte daran. Mit Steinen kannte ich mich noch weniger aus als mit Autos. Saphire waren blau und Smaragde grün oder so ähnlich, dachte ich ich zu erinnern. Was für Steine jedoch so tief schwarz waren, wusste ich nicht. Emosteine. Oder Gothiksteine. Die Einordnung der Farbe nach Jugendszenen gefiel mir irgendwie ganz gut, sodass ich sogar zu schmunzeln begann, während mir das durchaus unkonventionell angenehme Parfüm des alten Herrn auffiel. „Der Anhänger gibt dir ein wenig Energie für ein paar rudimentäre Zauber, verwende sie sorgfältig und sparsam, du hast 3, vielleicht 4 Sprüche offen, ehe du wieder ohne alles da stehst. Um ihn einzusetzen, umschließe den Stein mit der Rechten und stelle dir so präzise wie möglich vor, was du dir wünschst! Sei aber vorsichtig, Zauber können immer auch abgwehrt werden und wenn deine Konzentration nicht groß genug ist... benutze die Kette am besten einfach nur im Notfall!“ Wundervoll. Geschichten, die ich nicht hören wollte, Tee, den ich nicht trinken wollte und Geschenke, die ich nicht einmal benutzen sollte. Ich wollte aus meiner Ungeduld heraus schon neuerlich nach dem Reiseziel fragen – und vor allem nach der Dauer –, als Katharina plötzlich nahe zu mir trat, mit ihren katzenhaften, braunen Augen mich musterte. Mir waren noch nie braune Augen untergekommen, die so berechnend und kühl wirken konnten. Eigentlich hatte braun doch immer etwas Warmes, oder nicht? Von jenem Anblick entsprechend gefesselt, bemerkte ich nicht einmal, wie sie mein Handgelenk packte und sich um die Hüfte legte, als würde ich gerade meine Freundin umarmen. „Spüre ich deine Hand auch nur ein paar Zentimeter höher oder tiefer, lernt deine Nase meinen Ellbogen kennen, klar? Komm nicht auf dumme Gedanken und halt dich gut fest, wird ein schwieriger Flug.“ Ich war mir nicht ganz darüber im Klaren, ob sie sich gerade einfach nur wichtig machte, um ihr angekratztes Ego wieder aufzupolieren, oder ob sie tatsächlich glaubte, uns würde eine reale Gefahr drohen. Überhaupt – von was für einem Flug sprach sie da bitte? Selbst wenn wir gleich abheben oder ihr Flügel wachsen würden – was ich zweifellos belacht hätte – war uns da noch immer eine gewisse Zwischendecke samt Dach im Weg. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir die kleine, zerbrechlich wirkende Phiole nicht aufgefallen, die sie in ihrer Hand trug – der Rechten, denn ihre Linke hatte unlängst einen vergleichbaren Platz am Bund meiner Jeans eingenommen. Ein kalter Daumen schob sich unter den Stoff, umschloss das Material eisern und brachte mich einen Moment in Verlegenheit, ehe ihre Rechte schwungvoll herumfuhr und die Phiole auf ihre Brust schmetterte. Kleine Glasscherben zerstoben in der Luft, lösten sich in irgend etwas auf, das ich intuitiv für Asche befunden hätte, ehe von Boden und Decke her unzählige winziger Lichtkugeln hervor schnellten. Ein beeindruckendes Schauspiel begann, immer mehr der Lichter wirbelten im Kreis um uns herum, bildeten einen Zylinder vom Boden bis zur Decke, ich hörte Athorio noch furchtbar leise ein ‚Gute Reise!‘ wünschen, obwohl er doch kaum einen Meter entfernt stand, die Lichter, inzwischen wohl Hundertschaften, tänzelten immer schneller und greller um uns herum. „Festhalten!“ befahl meine Führerin in dem Moment, da ein Blitz vor meinen Augen aufzuckte. Tatsächlich war ich in einer Schrecksekunde geneigt, loszulassen und die Hände vor die Augen zu heben, einzig ihr Befehl brachte mich in die glückliche Lage, mich stattdessen eisern anzuklammern. Ich spürte einen entsetzlichen Sog nach unten, irgendetwas schien mir die Kleider vom Leibe reißen zu wollen. Sehen konnte ich nichts, der Blitz hatte mich restlos geblendet, kleine weiße Sternchen torkelten sturzbesoffen vor meinem ohnehin weißen Sichtfeld umher, stießen sich gegenseitig an und taumelten daraufhin in andere Richtungen weiter, das hätte gewiss einen schönen Bildschirmschoner abgegeben! Der Sog wurde noch einmal stärker, ich spürte zur gleichen Zeit einen unglaublichen Druck auf Kopf und Schultern und begriff erst in diesem Moment, dass sowohl der Sog von unten als auch der Druck von oben dazu passen würde. So fühlte es sich doch an, wenn man sich rasend schnell bewegte, oder? Druck aus der Zielrichtung, Sog aus der Herkunftsrichtung. „Festhalten!“ befahl Katharina abermals in einer gewissen, aufkeimenden Monotonie und diesmal klammerte ich mich rein der Vorahnung wegen fest und nicht, weil irgend etwas mich fast zur gegenteiligen Reaktion gedrängt hätte. Mit einem Schlag verebbten die Effekte der Geschwindigkeit, spürte ich halbwegs festen Boden unter meinen Füßen und sank umgehend würgend auf die Knie, spie unter ersten Ansätzen zurückkehrender Sehkraft den Tee samt Galle und Magensäure aus und zuckte froh über meine Zielgenauigkeit mit der Hand zurück, als ich bemerkte, dass die Pfütze meines Erbrochenen sich wenige Zentimeter neben der Hand befanden, mit der ich mich gerade abstützte. Abartig beißend und stechend lag mir der Geruch des Schwefels in der Nase und in Erinnerung an einen Film über den Dämonenjäger namens Constantine erkundigte ich mich, ob wir nun in der Hölle wären. Cat zischte leise, dass in der Phiole Schwefelwasser war und schien es glatt darauf bewenden lassen zu wollen, obgleich ich ihrer Stimme deutlich anhörte, wie sehr sie das amüsierte. Warum flüsterte sie? Warum lachte sie nicht schallend auf, wonach ihr wohl der Sinn stand? Erst als die letzten Sternchen mit unhöflichem, gedanklichem Fußtritt aus meinem Sichtfeld katapultiert worden waren, kehrten auch die Farben zurück. Die gedämpften Geräusche drangen wieder mit voller Lautstärke zu mir durch und was ich vernahm, klang irgendwie... unangenehm. Metall schürfte über Stein, schwere, zweifellos gewaltige Maschinen ächzten in der Ferne röhrend und schnaufend unter dem Druck ihrer Arbeit, hin und wieder erklangen harsch gebrüllte Befehle. Wundervoll, wirklich wundervoll, wo zum Teufel waren wir hier gelandet? Mühselig hob ich den Kopf, der sich plötzlich so schwer anfühlte, dass ich mit Freude zwei dieser widerlichen Aspirin-Kautabletten genommen hätte. Vor uns ragte ein kleiner Erdwall auf, offenkundig perfekter Sichtschutz, der sogar als Solcher benötigt wurde – denn Katharina kauerte dahinter und wagte nur hin und wieder über den Rand zu spähen. Sie hielt die erste Waffe längst im Anschlag. Vorsichtig und darauf bedacht, nicht meinem Glück folgend mit dem Knie in diese Pampe meines Magens zu stoßen, robbte ich zu ihr herüber und baute mich einem neugierigen Kind gleich an dem Erdwall auf, ehe ich mit der Nase im Dreck über den Wall spähte. Ein beeindruckender Anblick, dass musste man der Regierung zugestehen. Gewaltige Betonwände ragten auf, Burgzinnen nicht unähnlich, waren in den Wehrgängen Schießscharten eingelassen, die Türme ragten mit einem an jeder Ecke des quadratischen Geländes hoch auf, der Eingang schien kein tatsächliches Tor zu besitzen, war jedoch offenkundig gut bewacht, denn mehrere Men-... Soleaner mit Gewehren standen dort und hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte ihnen Kartenspiele unterstellt. Auf Wache langweilte man sich schrecklich, das wusste ich, weil ich im Rahmen der Recherche für eine meiner Kurzepisoden mal mit einem Nachtwächter redete. Während seiner Schicht. Stunden lang – und er war darüber sehr erfreut. „Wie kommen wir an denen vorbei?“ erkundigte ich mich neugierig über den Plan, als Cat mich kurzerhand wieder hinter den Hügel drückte. Meine Jeans war sowieso schon versaut, vielleicht sollte ich mich noch etwas über das relativ weiche Erdreich wälzen, dann würde ich unter dem von Gewitterwolken schwarz gefärbten Himmel so gut wie gar nicht mehr auffallen. Überhaupt war die Szenerie hier mehr als eigenartig. Es gab eine gewaltige Ebene, bis zum Horizont sah ich keinen einzigen Berg, nur immer wieder kleinere Erdhügel wie diesen und dann stand dort inmitten der Ebene dieser Bau. Das wirkte nicht gerade nach Mitteleuropa. Zu bergig. „Das ist der Hochsicherheitsbereich, da drinnen sind mehr Wachen, als ich Kugeln habe – selbst wenn ich den gesamten Vorrat von Zuhause mitgeschleppt hätte. Ich kann uns da rein bringen, das wird hässlich, aber ist möglich. Ich kann uns auch ein paar Probleme vom Hals halten. Dein Job ist es, dafür zu sorgen, dass ich mit meinen Kugeln reiche und sobald die wegfallen... dass ich keine mehr brauche! Also Bücherwurm, hübsch kreativ sein!... Ach eins noch: Bleib hinter mir. Ist einfach gesünder, ich kann sehen, was mir widerfährt, aber für dich kann ich nichts garantieren!“ Das waren knappe und präzise Worte, mit soetwas konnte ich normalerweise gut umgehen. Normalerweise. Ich gab just in diesem Augenblick meine Bedenken kund, dass es nicht vielleicht auch einen etwas gewaltloseren oder wenn schon mit Gewalt, so doch immerhin etwas unblutigeren Weg geben müsse. Der Blick, der mir daraufhin zugedacht wurde, war einerseits neugierig, jedoch ebenso amüsiert wie abfällig. Sie schien es nicht sonderlich zu mögen, wenn man die althergebrachten Weisen ihres Kampfes angriff und mit ach so klugen Ideen untergrub. Sicherlich, für sie mochte es fast schon eine Genugtuung sein, jeden Mann und jede Frau dort drin abzuballern, aber ich war hier in keinem verfluchten Ego-Shooter, in dem man zwanzig Leben hat! Ich führte ohnehin genau genommen schon mein Zweites und wollte gerade erreichen, ins Erste zurück zu kehren. Mit einem lapidaren ‚Spuck’s aus!‘ forderte sie schließlich das Unmögliche. Ich hatte eine Idee gehabt, einen gedanklichen Ansatz, keinen bereits ausgegorenen, festen Plan! Genau das schien Katharina meinen Augen anzusehen und machte es mir damit recht schwer, in Ruhe zu denken – sie wollte mich aus der Deckung zerren. Dementsprechend impulsiv packte sich sie an der Schulter und riss sie zurück, dass Athorios Tochter fast auf mich stürzte. Sie fing sich mit den Armen ab, linste auf den Endpunkt ihres verhinderten Sturzes – meinen Schoß, was zugegeben ein unglücklicher Zufall war! – und bedachte mich daraufhin mit einem Funkeln, dass ich so recht nicht zu deuten wusste. Belustigung? Wut? Ich war mir nicht sicher. Zumindest schien ihre Ungeduld sie zu entflammen. „Warte noch verdammt, mir fällt was ein! Aber wenn wir jetzt am Tor schon Wachen erledigen, was denkst du, wie lange es dauert, bis die Alarm schlagen und alle nach uns suchen? Und was ist mit den Türmen? Die sehen uns doch, sobald wir uns auf das Gebäude zubewegen!“ – „Hör mal, ich find‘ das auch nicht gerade prickelnd, aber uns läuft die Zeit davon, irgendwo in diesem Gebäude halten die sich einen Augenball und der wird in ungefähr einer halben bis dreiviertel Stunde unsere Anwesenheit spüren! Außerdem gibt es Gerüchte, hier draußen um das Gebäude herum hätten die Wärter irgendwelche Viecher freigelassen, die genau solche Situationen wie jetzt vermeiden sollen, indem sie die Angreifer vorzeitig abfangen, ich will hier nicht länger bleiben als nötig! Vater ist ein Idealist, er kämpft für seine Sache, aber ich will nicht dafür sterben, klar? Wenn irgendwas schief geht, dann benutze ich die zweite Phiole, ob mit oder ohne dich!“ Das waren höchst interessante Wendungen. Das energische, aufbrausende Töchterchen hatte also schlicht Angst. Dicke Kaliber verwenden, kleine Kinder erschießen und dann den Tod scheuen. Soso. Zudem glaubte ihr Vater in ihr eine Verbündete zu haben, die bis zum Äußersten bereit war – was offenkundig nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Es war zunächst nur ein kleines, vibrierendes Steinchen, dass von Zeit zu Zeit wieder in Ruhe verharrte, welches meine Aufmerksamkeit gewann. Als ich jedoch wie gebannt darauf starrte und dem nächsten Vibrieren entgegen fieberte, da es so lustig auf dem Boden umher hüpfte, folgte auch Katharina meinem Blick. Ihr jedoch schien das irgendwie nicht so zu gefallen. „Verdammt, da ist was im Boden!“ zischte sie leise und lenkte mit ihrem Deut meinen Blick auf eine gut zehn Meter entfernte Stelle, da sich tatsächlich der Boden ein Stück hob, das Steinchen vibrieren ließ, ehe der Hügel erstarrte. Was immer dort knapp unter der Oberfläche erschreckend schnell grub, schien sich gerade neu zu orientieren, wohin es denn gehen sollte. Dann legte es wieder eifrig einen Meter in unsere Richtung zurück. Einmal mehr war die Panik hell entflammt. Ich hatte vermutlich zuviele grottenschlechte Filme über aus dem Untergrund schießende, menschenfressende Raketenwürmer gesehen, um jetzt nicht an die überdimensionierte Ausgabe eines Regenwurmes zu denken, der mich mit rasierklingenscharfen Zähnen zerfleischen würde. Selbst wenn das nur ein Maulwurf war – ungefähr so groß wie ein Grizzly, aber okay, ein Maulwurf war ja harmlos – hätte ich es nicht wirklich wissen wollen. Menschen fürchteten instinktiv alles, was sie für gefährlich hielten. Darunter fielen Dinge, die laut waren, Dinge, die Schmerzen bereiteten, Dinge, die giftig waren und vor allem Dinge, die groß waren, denn was groß war, war auch kräftig und uns damit körperlich überlegen, damit sollte man sich also besser nicht anlegen. Genau diese Taktik der Entspannungspolitik schlug ich nunmehr auch an, packte nun meinerseits Cat mit der Linken am Handgelenk und zerrte sie hastig hinter dem Hügel hervor. Die Rechte lag längst um diesen verdammten Stein und ich betete zu Gott, Allah, Shiva und weiß der Teufel wem noch – vielleicht sogar auch dem –, dass dieses Zaubersteinchen tat, was ich ihm im Moment zeigte. Eine Meute voller Wachen, ein Turm, besetzt mit Scharfschützen, zwei Figuren, die unter aller Augen direkt auf das Tor zuhielten und doch ungesehen blieben, die Wachen ließen sie einfach passieren, die Schützen erkannten nur irgendwo in der Ferne das unterirdische Rumwälzen eines ihrer kleinen Maskottchen, während wir zwei ungehindert in die Stadt eindrangen. Ich kniff die Augen zusammen, ich presste die Lider so fest aufeinander, als ginge es um Leben und Tod – was ja leider auch stimmte. Meine Beine trugen mich voran, obgleich ich mit der Kondition Katharinas ohnehin nicht hätte mithalten können. Daran lag es vielleicht letztlich auch, dass sie mich so spielend leicht überholte, meine Hand packte und wir mit ineinander verschränkten Fingern dem Tor entgegen eilten. Irgendwann begann sie mich mehr zu ziehen, fluchte leise, ich solle mich konzentrieren. Ihr Befehl war nicht gerade förderlich, denn natürlich drohten meine Gedanken jetzt erst Recht daran abzudriften, was sie zu diesem Befehl bewog. Hatte man uns im Visier? Richtete man gerade die Waffen auf uns? Hatten die Wachen vielleicht irgendeinen verschwimmenden Schatten gesehen und ahnten, dass hier Hexerei im Spiel war und uns unsichtbar machte? Die Fragen bekämpfte ich damit, mich auf das Gefühl ihrer Hand zu konzentrieren, kühl vom Schweiß der Nervosität, weiche, glatte Haut, die mich an diverse Nächte erinnerte. Eben diese Bilder wiederum bekämpfte ich mit dem Gedanken, wie Gewehrsalven meinen Körper durchschlugen. Ich kannte das Gefühl nicht, war nie angeschossen worden, aber ich kannte Berichte von Opfern und hatte genug Actionfilme gesehen. Dieses Bild wiederum gab mir genug Ansporn, mich endlich wieder auf die Unsichtbarkeit zu fixieren, das Bild, wie zwei Personen vor aller Welten Augen verschwammen. David Copperfield? Pah! Duncan Brass hieß der Neue! Im Feuereifer und völliger Euphorie spürte ich, wie wir von weicher Erde auf irgend etwas Hartes traten. Ich wusste noch nicht, dass es sich hierbei nicht um das Pflaster der Straße innerhalb des Geländes handelte, sondern lediglich um das Holz einer Art von Zugbrücke, die über einen erstaunlich dunklen, tiefen Graben gespannt war. Vielleicht hätte ich die Augen besser geöffnet lassen sollen. So nämlich wähnte ich uns schon nach wenigen Schritten innerhalb der Stadt, riss in Vermutung meiner glorreichen Tat die Lider auf und zuckte schlicht zurück, als ich in einen Gewehrlauf blinzelte. Natürlich war das nicht weiter von Bedeutung, denn schon direkt, nachdem ich die Waffe begutachtet hatte, fiel mir das unschöne Loch im Helm der Wache auf. Cat hatte einmal mehr präzise und allumfassend gehandelt. Der Wachmann sank vor mir auf die Knie und kippte zeitlich um, während ein kleines, dunkles Rinnsal, dessen Farbe dank des schwarzen Helmes nicht weiter erkennbar war, über Selbigen gen Boden sickerte. Eine dicke, schwere Plattenrüstung schirmte den Torso, die Arme waren mit einer Art Netzhemd überspannt, welches neben kleineren, weiteren Kugelschutzteilen auch die Beine bedeckte. Leichte, aber stabile Stiefel, dünne Lederhandschuhe und dieser schwarze Helm, unter dessen halb transparenten Sichtschutz das Gesicht eines Mannes im mittleren Alter zu erkennen war. Ein paar kleine Abwandlungen und sie hätten mich an die imperialen Sturmtruppen aus Star Wars erinnert. Fiese Burschen waren das, unnachgiebig und-... Der Kerl tat mir leid. Er hatte hier Wache geschoben, sich wahrscheinlich über den langweiligen Dienst geärgert, auf Feierabend gehofft und wäre irgendwann heim zu Weib und Kindern, in sein Zuhause, sein Leben. Es war vielleicht nicht groß, nicht toll, nicht für jeden wünschenswert, aber es war ganz Seines. Und wir hatten es ihm genommen. Ich machte mir keinerlei Illusionen darüber, dass sein Ableben zum Teil auch auf meine Kappe ging. Hätte ich nur ein paar Sekunden länger gewartet, hätte ich nur etwas mehr Konzentration bewiesen, wir wären bis zu einer sicheren Stelle gerannt und hätten uns dort verbergen können, alles kein Problem. So jedoch lagen jetzt hier vier Leichen herum. Pardon – drei. Katharina mühte sich nämlich unlängst meine Warnung vor dem Alarm im Sinn habend, die Verschiedenen achtlos auf die Brücke zu rollen und kurzerhand einfach in den Graben zu werfen. Wo sie landeten, wusste ich nicht, sah es nicht, wollte es auch gar nicht. Aber wenigstens war dies keine der klassischen Bodenlosschluchten. Auch wenn das Knacken des Aufpralls widerlich klang, ließ es wenigstens ein Stückchen der alten, mir bekannten Normalität durchschimmern. Hexerei, Teleportation, Sucher und Bidimensionale, in Wunder, dass ich noch nicht meinen Verstand verloren hatte!... Naja. Vielleicht hatte ich das ja auch und das hier war nun meine Version, deren Irrsinn zu teilen. Doch im Moment wagte ich nicht, das Wesen dieser Halluzination auszutesten. Nein, obgleich diese armen Schweine mein vollstes Mitleid hatten, half ich Cat, die Leichen zu beseitigen. Das bisschen Blut würde erst auffallen, wenn man gezielt nach den Wachposten suchte. Trotzdem hatten wir uns damit ohnehin ein unglücklich knappes Zeitfenster gesetzt. „Sag mal, was ist überhaupt ein Augenball?“ hakte ich schließlich nach, während wir Wächter Nummer drei – eine Frau – zur Brücke schleppten und über den Rand stießen. „Stell dir einen großen, hässlich wabbelnden, in der Luft umher schwebenden Ball vor. Das ganze Ding besteht aus... naja, Fleisch oder sowas, vermuten wir. Dann stell dir vor, dieses schwebende Ding hat so um die dreißig bis fünfzig Auswüchse, kleine lange Röhrchen, die wie Würmer aussehen und sich auch genauso in alle Richtungen umher winden. Stell dir jetzt noch vor, an jedem dieser Auswüchse würde ein hautloser, lidloser Augapfel sitzen und eifrig umher schauen. Voila, ein Augenball. Der Schöpfer dieser Kreatur war zweifellos ein mächtiger und fähiger Beschwörer, aber ich gebe zu, beim Namen hat er sich ganz offensichtlich nicht viel gedacht. Diese Dinger sind Externare, beschworene Kreaturen. Damit sie existieren können, muss der Magus, der das Wesen gerufen hat, es beständig füttern. Mit Energie, seiner eigenen Energie. Also sollte er für die Dauer der Beschwörung gut bei Kräften sein, denn das zehrt mit der Zeit ganz schön, habe ich mir sagen lassen. Augenbälle sind dumm wie Brot, sie besitzen weder Tastsinn noch Gehör, keinen Geruch oder Geschmack, sie können wirklich nur sehen. Das allerdings leider verdammt gut, ihre Sicht geht sogar bis ins Hellseherische. Sie erspüren jedes Lebewesen im Umkreis mehrerer Meilen bis auf den kleinsten Grashalm und man kann sie wie einen Wachhund ganz gut abrichten. Ich sag dir, wenn so einer Alarm schlägt... wir wissen bis heute nicht, wie diese Dinger überhaupt Geräusche produzieren, aber das hört man einmal und wünscht sich danach, es nicht gehört zu haben. Das klingt, als würde man eine Kreissäge bei dem Versuch, Metall zu schneiden, aufheulen lassen! Laut, schrill, hässlich, da ist das Kratzen von Fingernägeln auf einer Schiefertafel harmlos!“ Wundervolle Aussichten. Also saß irgendwo in den Eingeweiden dieses gewaltigen Traktes nicht nur ein trauriges Mädchen, das mir vielleicht nicht bei meiner Rückkehr helfen wollte, nein, es gab da noch ein Regiment von schwer gepanzerten Wachen mit Sturmgewehren, einen mächtigen Magus und ein allsehendes Ding voller Augen. Ich hatte nur noch zwei bis drei Zauber übrig und Katharinas Hellseherei würde uns sicherlich auch nicht ewig schützen können. Irgendwie schmolz meine Zuversicht mit jeder Minute weiter dahin. Das war elend, ich wollte doch eigentlich nur nach Hause! Wieso musste es mir alle Welt – oder alle Welten – dabei so schwer machen? Hatte ich irgendwem irgendwas getan? Schwer seufzend blickte ich der vierten Leiche, die in der Finsternis des Grabens verschwand, einen Moment nach. Schließlich wandten wir uns jedoch ab und Cat – erstmals freundlich lächelnd – winkte mich herbei mit dem Spruch, dass wir weiter sollten. Den Wall zu passieren, war keine Schwierigkeit und dahinter lag etwas, dass mich auf den ersten Blick zunächst irritierte. Eine Stadt. Im Miniaturformat zwar, aber eine Stadt. Ein paar Hütten hier und da, gepflasterte Gassen und Straßenlaternen. Es hätte wirklich ein Stadtzentrum sein können. Rasch jedoch wurde mir erklärt, der Großteil seien Lager, Unterkünfte, Waffenkammern und dergleichen. Es gäbe ein paar Gebäude mit besonderen Funktionen, die Wache, den Zwinger für den Augenball, die Kantine, letztlich jedoch wäre wohl der Großteil hier unspektakulär. Auf die Frage hin, woher sie das wisse, grinste mich Katharina breit an. „Ich bin in jedes Gebäude gegangen. Gedanklich. Die Versuche endeten allesamt tödlich und die Vision verlosch damit wieder, ich behalte aber das wissen, was ich sah. Den Schmerz abzublocken, den man beim Sterben spürt, die Erinnerungen aus der Vision aber zu behalten, ist ein ziemlich schwieriges Gebiet, ich habe Jahre gebraucht, das zu lernen. Am Anfang begreift man die Sache mit den Visionen sowieso nicht richtig...“ erklärte Cat und griff mich schließlich bei der Hand. Wir mussten weiter und unsere Zeit war begrenzt. Zwischen den Gebäuden hindurch zu kommen, war kein Problem, das richtige Bauwerk zu finden jedoch schon. Ein Vogel oder fliegender Späher wäre nützlich gewesen und ich dachte schon einen Moment darüber nach, mir mit dem Stein Flügel zu wünschen, ehe mir die Scharfschützen auf den Türmen wieder ins Gedächtnis kamen. Dumme Idee also. Trotzdem fanden wir nach gut zwanzig Minuten das richtige Gebäude. Wie hätte es auch anders sein können: Es ragte groß im Stadtzentrum auf. Ein kreisrunder Bau mit geschätzten zehn Meter hohen Mauern, ein flach zulaufendes Dach mit einem kleinen, fast schon minarettartigen Turmaufbau, doch trotz der Mauerhöhe schien es nur ein Stockwerk zu geben. In allen Himmelsrichtungen waren schwere Tore angebracht, massives Holz mit Eisenbeschlägen. Viel kritischer aber waren die regelmäßig vorbei schauenden Patrouillen und die abermals vier Kopf starke stationäre Wache. Wenn hier plötzlich jemand fehlte, das würde zweifellos binnen Minuten auffallen. „Was jetzt? Wir können wohl kaum das Gebäude stürmen!“ hakte ich nach. Cats Blick sagte alles: Was fragst du mich, ist doch dein Part! Schwer seufzend wollte ich schon ein paar Vorschläge zur Diskussion in den Raum stellen, wie wir nun weiter vorgehen könnten. Bisher waren wir durch Seitengassen geschlichen, dem Geräusch der im Gleichschritt aufdonnernden Stiefel ausgewichen und hatten uns bis hier her schleichen können, nun aber schien Schluss zu sein. Und zwar anders als gedacht. „Hände dahin, wo ich sie sehen kann!“ befahl eine Stimme hinter uns. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)