Schwan und Wolf von --Tina-- ================================================================================ Kapitel 6: Wolfstod und ein gelbes Band --------------------------------------- Jack legte mir sein Messer mit der Spitze gegen den Brustkorb und ich fühlte wie sich das Metall ganz leicht durch den Stoff von Pullover und T-Shirt in meine Haut bohrte. Ich tat nichts zur Gegenwehr, hatte mit dem Leben abgeschlossen. Es ging alles so schnell. Ich sah, trotz der schwarzen Punkte, die vor meinen Augen tanzten, wie sich die Muskeln in Jacks Arm anspannten und machte mich innerlich auf den Schmerz gefasst, der unweigerlich folgen würde. Doch was kam, war ein Schatten, der mit dem Werwolf zusammenprallte und ihn nicht nur aufhielt, sondern von mir wegstieß. Jack und andere Personen schrieen herum, davon auch mindestens zwei unbekannte weibliche Stimmen, meine Nase roch frisches Blut. Ich hörte Sina leise und erstickt aufschluchzen und versuchte mich aufzurichten, meine Lebensgeister waren wieder geweckt. Doch bevor ich auch nur meinen Oberkörper erhoben hatte, trat mir jemand brutal gegen meinen Brustkorb und die Luft wurde aus meiner Lunge gepresst, als ich hart auf den Boden prallte. Ich hatte die ganze Situation noch nicht verarbeitet, da hatte ich einen schweren Fuß auf meiner Brust und einen Degen an der Kehle. Einen Degen? Der Kerl war wohl nicht aus diesem Jahrhundert. So bewegungslos wie es mit meinem fliegenden Atem ging, betrachtete ich meinen neuen Angreifer und versuchte ihn einzuordnen. Er war ein sich aristokratisch haltender Mittdreißiger und in einem eleganten Anzug gekleidet. Der ganze Mann wirkte gepflegt, machte einen berechnenden Eindruck und wenn ich meiner Nase bei dem ganzen Blut- und Schweißgestank trauen durfte, dann roch er nach nichts. Damit wäre auch geklärt, mit was ich es hier zu tun hatte und es war ein Wunder, das der Vampir mir nicht einfach den Degen in die Brust gerammt hatte. Doch schon in der nächsten Sekunde wurde ich eines besseren belehrt, es geschahen einfach keine Wunder. Ich hörte Schritte von der Richtung hinter dem Vampir kommen und ich roch das Blut von dem Werwolf, den Sina gebissen hatte. Eigentlich hatte ich nicht gedacht, dass der Mann den Biss überlebt hätte, denn allem Anschein nach war die Halsschlagader verletzt worden. Doch wie gesagt, unsere Rasse ist sehr ausdauernd, wir bekämpfen den Tod verbissen. Auch der Vampir hatte anscheinend den Feind von hinten gehört, ihn als höhere Gefahr eingeschätzt als mich, was schon fast einer Beleidigung gleich kam und mit einer Schnelligkeit, die es mir schwer machte den genauen Bewegungen zu folgen, drehte er sich um. Der Degen traf zielsicher mitten in die Brust des Werwolfs und während dieser noch verwundert auf den Stahl schaute und langsam tot zusammenbrach, zog der Vampir seine Waffe wieder aus seinem Körper. Ich hatte der ganzen Aktion mit einer geschockten Faszination zugesehen, doch jetzt wäre ich wohl der Nächste. Tatsächlich fixierten mich nun die grauen Augen des Vampirs und er schwang den Degen in einer Bewegung, die jahrelange oder vielleicht sogar jahrhundertelange Übung zeigte, auf mein Herz zu und ich schloss die Augen. Mit einem erstickten Aufstöhnen wurde mir die restliche Luft aus der Lunge gepresst, die der schwere Fuß auf meinem Brustkorb mir noch gelassen hatte, als etwas mit voller Wucht auf meinem Oberkörper prallte. Ich brauchte einen Moment, um die Augen wieder aufzureißen und noch einen weiteren Moment, um zu verarbeiten, was ich sah. Sina! Das liebenswerte, kleine Vampirmädchen lag quer über meiner Brust, hatte die Augen fest zugekniffen – und nur wenige Millimeter von ihrem Rücken hatte der Degen Halt gemacht. „Bist du wahnsinnig?“, herrschte sie ein dazu getretener Vampir an, während der elegante Degenfechter seine Waffe zurückzog. Genau dasselbe hätte ich Sina auch gerne gefragt, doch war ich dafür wohl nicht in der richtigen Position dazu, mal abgesehen vom akuten Luftmangel. Die Vampire waren gerade einen Moment abgelenkt, halfen sie doch Sina auf oder suchten sie nach Verletzungen ab und ich fand, es war an der Zeit endlich aus der passiven Rolle heraus zu kommen. Mit einer flinken Bewegung fasste ich den Fuß, der immer noch schwer auf meinem Brustkorb ruhte und verdrehte ihn so, dass der Vampir zwar nicht fiel, jedoch zur Seite stolperte. So schnell ich konnte, rollte ich mich etwas zur Seite und aus der gleichen Bewegung sprang ich auf, hatte ich in den Minuten, die ich hier ruhig auf dem Rücken liegen musste, doch wieder neue Kräfte gesammelt. Ich wich zurück, versuchte den Raum und die Personen darin zu überblicken, doch es befand sich so ein Chaos in dem Wohnzimmer, dass es mir nicht gerade gut gelang. Die Werwölfe waren, bis auf mich, tot. Ich hätte Entsetzen fühlen müssen, schließlich waren sie von der gleichen Rasse und ihre Mörder standen im selben Raum mit mir, doch ich fühlte nur Genugtuung. Ehrlich gesagt war da sogar so etwas wie Enttäuschung, dass nicht ich es war, der Jack getötet hatte und auch jetzt noch kribbelte es mir in den Fingern, der Leiche, die mit gebrochenen Augen an die Zimmerdecke starrte, einen kräftigen Tritt zu geben. Die Vampire waren mit Sina zu siebt und hatten sich nun alle mir zugewandt. Unwillkürlich stieß ich ein bedrohliches Grollen aus, das tief in meiner Kehle entstand und keinen Zweifel an meiner Absicht mich zu wehren ließ. Auch wenn ich Sina zumindest etwas vertraute, stand das mit ihrer Familie, denn darum handelte es sich hier wohl, ganz anders. Ich hatte wieder das Fenster hinter mir, notfalls würde ich durch das Glas springen und hoffen, dass die Vampire mir wegen der Mittagssonne nicht folgen würden und ich mir dabei nicht zu viele Schnittverletzungen holte. Doch bevor irgendeiner der anderen Vampire etwas tun konnte, hatte Sina beschwichtigend ein Handzeichen in ihre Richtung gemacht und kam langsam auf mich zu. Sie oder jemand ihrer Familie hatte zumindest ihr Gesicht gesäubert und nur noch ihre Bluse und das Dekolletee waren blutbeschmiert. Mit ruhigen Schritten kam sie soweit an mich heran, dass sie knapp vor mir stand, von dem bedrohlichen Knurren ließ sie sich nicht abschrecken. Mittlerweile glaubte ich, dass sie aus irgendeinem Grund nur vor mir keine Angst hatte, denn vor dem Rudel hatte sie ängstlich gezittert. Was immer der Grund war, ich würde ihn schon noch rausbekommen, das schwor ich mir. Während Sina immer näher kam, beobachtete ich die anderen Vampire. Großteils hatten sie abweisende, wütende und gefährliche Gesichtsaudrücke aufgesetzt, nur in dem Gesicht des Vampirs mit dem Degen war nichts zu lesen. Eine der anderen Vampirfrauen hatte besorgt die Hände vor der Brust gefaltet und der Blick auf Sina war schon fast mütterlich zu nennen. Als das Vampirmädchen vor mir angekommen war, wagte ich es den Blick von ihren Verwandten abzuwenden und auf sie sinken zu lassen, stand sie doch wie ein lebendiger Schutzschild zwischen mir und ihrer Familie. Sie starrte mir ernst ins Gesicht und hob drohend einen Finger. „Aus!“, befahl sie und vor Verwunderung vergaß ich völlig zu Knurren, die bedrohliche Haltung aufrecht zu halten und nur mit schnellen Seitenblicken versicherte ich mich, dass die Vampire nicht näher kamen. Ich hatte mich wohl verhört! Diesem kleinen Miststück hatte ich doch schon eben gesagt, dass ich nicht ihr Schosshündchen war. Ihre Familie würde es mir wohl übel nehmen, wenn ich die Kleine erwürgte oder was auch immer für so eine Frechheit angemessen war. Mein Gesicht musste wohl ziemlich entgleist sein, denn Sina kämpfte erst tapfer gegen ein Kichern, bevor sie dennoch dagegen verlor. Das Mädchen brachte mich noch mal um den Verstand. Hier stand sie blutverschmiert, in einem Berg von Leichen, mit einer Familie, die nichts lieber tun wollte als den von ihr aufgepäppelten Wolf zu töten und sie lachte. Ich rollte mit den Augen, doch ohne dass ich das wollte, zuckten meine Mundwinkel etwas nach oben. Ein wachsamer Blick zu den Vampiren zeigte mir, dass sie wohl nicht mehr glaubten, dass die Situation eskalieren würde. Vier der Vampire hatten sich etwas zurückgezogen, zwei verschwanden sogar aus dem Raum. Nur noch die besorgte Vampirfrau und der Mann mit dem Degen standen nahe nebeneinander da und beobachteten Sina und mich mit Argusaugen. Mittlerweile glaubte ich, dass es sich bei diesen beiden Vampiren um die handelte, die Sina als ihr `Eltern` bezeichnet hatte. Der Vater, Henry war demnach sein Name, fixierte mich mit einem ruhigen Blick, der aber überdeutlich sagte, dass er mich genüsslich töten würde, sollte ich dem Mädchen vor mir etwas antun. Eine kleine Hand winkte vor meinem Gesichtsfeld und ich widerstand nur schwer dem Drang, Sinas Handgelenk fest zu halten. Zum einen wollte ich ihr nicht wehtun, zum anderen hätte das ihrer Familie bestimmt nicht gefallen. Erst auf den zweiten Blick fiel mir etwas auf. „Dein Arm? Ich habe eben Knochen brechen hören.“, murmelte ich und starrte fasziniert auf Sinas offensichtlich unverletzten und schmerzfrei beweglichen Arm. Bei der Erinnerung an den Schmerz, verzog die kleine Vampirin das Gesicht und auch ihr Blick wanderte zu ihrem makellosen Arm. Wie war das möglich? Ich wusste, dass Vampire um einiges schneller waren mit der Selbstheilung als Werwölfe, aber so schnell? „Schon geheilt. Aber ich habe tierischen Hunger!“, erklärte Sina mit einem Funkeln in den Augen. Sah ich da nicht ihre Eckzähne etwas unter ihren Lippen hervorgucken? Gut, dass sie das Experiment mit Wolfsblut schon hinter sich hatte, denn sonst hätte ich jetzt um meine Adern gefürchtet. Sina hatte wirklich einen ausgehungerten Ausdruck in ihrem Gesicht und ich fragte mich, ob die verheilte Verletzung damit zu tun hatte. Irgendwoher musste die Energie dafür ja kommen. „Und wenn du wieder verletzt würdest?“, fragte ich und war schon auf die Antwort gespannt. Ich fixierte ihre braunen Augen, die etwas dunkler als meine waren und war da nicht ein leichter Grünstich drin? Und seit wann interessierte mich die Augenfarbe einer Vampirin? Innerlich den Kopf schüttelnd konzentrierte ich mich auf Sinas Antwort auf meine Frage. „Dann würde Heilung nur bis zu einem gewissen Punkt ablaufen. Im Moment bin ich so verletzlich wie ein Mensch, ich brauche erst etwas Blut.“, erklärte Sina und sah mich offen an. Ich war ziemlich erstaunt, dass die Kleine mir so bereitwillig alles erklärte, hatte sie mir doch förmlich angeboten ihr weh zu tun. Sie war wehrlos und sie sagte es mir, einem Todfeind. Entweder war diese Vampirin verrückt oder völlig verblödet. Doch das bezweifelte ich, denn so naiv wie Sina manchmal wirkte, war sie nicht, das hatte sie schon bewiesen. Dann blieb nur noch eine dritte Möglichkeit übrig und die machte mich aus unerfindlichen Gründen noch nervöser. Die kleine Vampirin musste irgendetwas in mir sehen, dass sie mir vertraute, etwas von dem ich selbst nicht wusste, dass ich es besaß. Also ich würde mir nicht so leichtfertig mein Leben anvertrauen, wie das arglose Ding das gerade tat. „Schau mich bloß nicht so an.“, knurrte ich bedrohlich, als Sina mich immer noch mit diesem hungrigen Blick maß. Doch fehlte das Grollen in meiner Stimme, das der Drohung erst ihren Ernst gegeben hätte. Das Vampirmädchen reagierte nur mit einem belustigten Lächeln. Vor ihr konnte ich meine Show wirklich sein lassen, sie schien zu wissen, dass ich ihr mittlerweile nichts mehr antun konnte. Dazu mochte ich sie einfach viel zu sehr, schließlich fühlte ich in ihrer Gegenwart nicht die Leere in meinem Brustkorb, die sie selbst dort erst sichtbar gemacht hatte. „Sie werden dir nichts tun.“, versprach Sina und schaute mich von unten an. Ich rollte mit den Augen. War ja klar, dass die Vampirin ihre Familie für liebenswerte Geschöpfe hielt, die nicht fähig waren mich eiskalt zu töten, nur weil Sina mich zumindest momentan mochte. Ich stand dem etwas skeptischer gegenüber, doch was sollte ich auch machen? Gegen sieben Vampire, die irgendwo im Haus verteilt waren hatte ich noch weniger Aussichten auf Erfolg, als gegen das Werwolfsrudel. Und sollte ich wirklich hier heraus kommen, würde ich in der Nacht eine Masse Verfolger haben, die um einiges flinker waren als ich. Ich war gespannt, was aus dieser Sache werden würde, schließlich würde mich das Oberhaupt dieser Familie nicht gehen lassen, ohne dass er sicher sein konnte, dass ich keine Werwölfe, Menschen oder Monsterjäger hierher führte. Eben dieses Familienoberhaupt kam nun mit der Frau an seiner Seite auf Sina und mich zu und sofort spannten sich meine Muskeln an. Aufmerksam versuchte ich jede Bewegung der beiden zu analysieren und auf Anzeichen für Aggressivität zu achten. Eine sanfte Berührung an meinem Unterarm hätte mich beinahe dazu gebracht erschreckt zurück zu springen, bevor ich merkte, dass es die Hand der kleinen Vampirin war, die auf meinem Arm ruhte. Diese unschuldige Geste von Zuneigung und Vertrauen schaffte es tatsächlich, dass ich mich etwas entspannte, aber meine Vorsicht ließ ich nicht fallen. „So, was machen wir mit Ihnen?“, fragte mich der Mann, der seinen Degen mittlerweile in einem Stück Holz hatte verschwinden lassen, dass er aussah wie ein herkömmlicher Gehstock. Sein Blick wirkte kühl, doch war ansonsten nichts in seinem Gesicht abzulesen. Die Frau an seiner Seite hingegen war ein offenes Buch und in ihrem Blick spiegelte sich ein Gemisch aus Misstrauen, Sorge und auch etwas Hass wieder. „Mich gehen lassen?“, warf ich zögernd in den Raum, doch das stand wohl nicht zur Debatte. So wanderte auch nur eine Augenbraue des Degenmannes in die Höhe. In Unterzahl und nicht in bester körperlicher Verfassung, hatte ich nicht gerade viel zu melden. Ich atmete tief durch und versuchte die Anspannung aus meinem Körper zu vertreiben. Es fiel mir sehr schwer, denn fast wehrlos vor zwei Vampiren und Sina zu stehen, war nicht gerade entspannend, besonders wo jetzt wieder die kleine, warme Hand auf meinem Arm fehlte. Doch allem Anschein nach gelang es mir zumindest nach außen hin ein ziemlich unbeeindrucktes Gesicht zu machen, denn Sinas Vater zog wieder erstaunt eine Augenbraue hoch, doch diesmal schien etwas wie Respekt in seinen Augen mitzuschwingen. Vielleicht war meine Aussicht am Leben zu bleiben doch nicht so hoffnungslos, wie ich gedacht hatte. „Dazu sollten wir vielleicht erst einmal einige Dinge klären. Doch setzen wir unser Gespräch vielleicht im Nebenraum fort.“, erklärte Sinas Vater und wies mit seine Hand auf eine der von diesem Raum ausgehenden Türen. Wenn ich mich richtig erinnerte, war darin die Küche. Sina machte eine neckische Geste mit dem Kopf und schon hüpfte sie regelrecht los. Ich warf den anderen beiden Vampiren noch einen lauernden Blick zu, der sie nicht im Geringsten einschüchterte und ging ganze zwei Schritte weit. Mein Blick war auf Jacks Leiche gefallen oder eher gesagt auf das Lederband daneben, das er immer noch in seinen schlaffen Händen hielt. Mit einem wütenden Grollen ging ich zielsicher auf den Toten zu, ignorierte dabei, wie sich die Vampire, sogar Sina, anspannten. Das war vielleicht die erste Situation in der ich dem Vampirmädchen Angst gemacht hatte, in dem Moment war mir das egal. Ich hob die Lederschnur samt Gegenständen daran auf und schnell fand ich daran, was ich gesucht hatte. Mir war egal, dass mich die Vampire beobachteten. Ich zerriss die Schnur mit einem kräftigen Ruck, während ich den kleinen, goldenen Anhänger fest hielt und schon prasselten die anderen Gegenstände auf den Boden. Achtlos ließ ich alles andere fallen, nur das Medaillon umklammerte ich so fest mit meiner Faust, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Missmutig trat ich gegen die Leiche des Werwolfs, der mir so viel Leid verursacht hatte, doch brachte mir das nicht die erhoffte Genugtuung. Mit einem letzten Blick auf Jacks toten Körper, wandte ich mich der Küche und ging zielstrebig auf die Tür zu. Ich achtete nicht darauf, was die Vampire taten, es war mir auch egal. Obwohl ich ihre Blicke fast körperlich in meinem Rücken spürte und ich konnte ein kurzes Aufflackern von Angst nicht unterdrücken. Sie brauchten nur einen Sprung nach vorne machen und ihre Zähne in meiner Halsschlagader versenken. Oder Daddy hinter mir, könnte mich mit seinem Degen töten, doch würde ich dabei wenigstens das Geräusch des Herausziehens des Stahls aus der Schutzhülle hören. Trotzdem war ich in diesem Moment gefangen in meinen Erinnerungen und abgelenkt, erst als ich mich auf einem der Stühle in der hellen und großzügigen Küche hatte fallen lassen, sah ich wieder vom Boden auf. Sina hatte sich neben mich auf einen anderen Stuhl gesetzt und die Füße mit auf die Sitzfläche gezogen, was ihrem Vater wohl nicht ganz gefiel, verzog er doch missbilligend den Mund. Ob es allerdings dabei um Sinas fehlendes Benehmen ging oder dass sie so nah neben mir saß, konnte ich nicht sagen. Mir blieb auch keine Zeit zum Nachdenken, denn schon hatte Sina ihre Hand nach mir ausgestreckt. „Darf ich sehen?“, fragte sie und wartete erst gar nicht auf meine Antwort. Sie nahm mir den Anhänger aus der verkrampften Hand und irgendeine höhere Macht hatte wohl mein Gehirn ausgeschaltet, denn ich ließ es ohne Gegenwehr geschehen. Selbst wenn ich Sina daran hätte hindern wollen, wäre das keine gute Idee gewesen, immerhin standen zwei Vampire ihrer Familie hinter und neben uns und beide schienen darauf bedacht, ihr Nesthäkchen zu beschützen. Na ja, der Mann stand dicht neben Sina und mir, die Frau machte sich an dem Kühlschrank zu schaffen. Ich ließ es zu, dass Sina nicht nur das Medaillon an sich nahm und das goldene Schmuckstück von allen Seiten betrachtete, sondern es auch öffnete. Ich konnte innerlich das Bild vor meinen Augen beschwören, was das Vampirmädchen sehen würde, schließlich hatte ich die beiden Fotos darin oft genug betrachtet. Auf der linken Seite würde Sina ein Paar in Hochzeitskleid und Anzug sehen, die Frau überglücklich lächelnd und unübersehbar schwanger. Der Mann legte eine Hand um ihre Taille, die andere ruhte auf ihrem runden Bauch, als würde er das ungeborene Kind beschützen wollen. Auf der anderen Seite waren zwei Teenager zu sehen, der eine war unverkennbar ich und die männliche, ernstere Ausgabe der Frau im Hochzeitskleid. Das Mädchen neben mir auf dem Foto ähnelte mehr einem Gemisch aus dem Pärchen, war ein bisschen jünger und hatte das strahlende Lächeln ihrer Mutter aufgesetzt. Ich achtete nicht auf den Anhänger, ich versuchte eher in Sinas Gesicht zu lesen. Würde sie sich über mich lustig machen? Schließlich war ich sonst nicht gerade gefühlsbetont, wenn man Zorn und Aggressivität außen vor ließ und es passte einfach nicht zu mir aus sentimentalen Gründen so etwas mit mir rum zu tragen. Doch anstelle eines Grinsens wurde Sinas Gesicht mitfühlend, vielleicht sogar etwas traurig. Ob sie wohl an ihre leibliche Familie gedacht hatte? Sie musste schon tot sein, während ich nicht bei meiner Familie sein durfte, weil ich ihr schlecht erklären konnte, wieso ich nicht alterte. Außerdem hätte ich vor knapp zehn Jahren beinahe meine Schwester geschlagen, als sie mich zu Vollmond gereizt hatte. Das war der eigentliche Grund, wieso ich geflohen war. Niemand war bei mir sicher, noch nicht mal Personen, die ich liebte. Besser alleine um die Erde ziehen, als Schuld an Verletzungen oder gar dem Tod der eigenen Familie oder von Freunden zu sein. Beinahe sanft legte mir Sina den Anhänger zurück in meine Hand, legte meine andere Hand behutsam wie einen Deckel darüber. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich länger als notwendig berührte, doch vielleicht war das auch nur Einbildung. Wie dem auch sei, mich beruhigte diese Geste der Zuneigung. Zumindest würde Sina wohl nicht zulassen, dass mich ihre Familie wie die anderen Werwölfe in die ewigen Jagdgründe schickte. „Darf ich vorstellen: Henry Benoir. Thomas Cole. Bin gleich wieder da!“, erklärte Sina wieder etwas überdreht und sprang vom Stuhl auf, als würde er sich jeden Moment in eine reißende Bestie verwandeln. Sie war so schnell aus der Tür heraus, dass ich ihr nur verwundert und etwas aufgebracht hinterher sehen konnte. Wie konnte sie mich hier mit ihrem Vater alleine lassen? Das schien sich auch Henry zu fragen, denn er sah ihr kopfschüttelnd aber nachsichtig hinterher, wie man es bei einem überdrehten Kind eben tun würde. „Thomas Cole also. Gehören Sie zu dem Rudel da draußen?“, fragte der Vampir und fixierte mich mit seinem ausdruckslosen Gesicht. Selbst wenn ich zu Jacks Rudel gehört hätte, wäre ich vorsichtig mit der Antwort gewesen, denn zu den Leuten zu gehören, die beinahe eine Tochter des Hausherrn getötet hatten, war bestimmt ungesund. Doch so log ich noch nicht einmal, als ich entrüstet verneinte. Meine Stimme war wohl etwas zu gereizt und aggressiv gewesen, denn Henry zog wieder eine Augenbraue hoch, was ich mittlerweile für eine sehr lästige Angewohnheit bei ihm hielt. Ich machte Anstalten vom Stuhl aufzuspringen, doch ein Blick des Vampirs ließ mich mitten in der Bewegung inne halten und langsam wieder zurücksinken. Ich sollte es mir vielleicht doch nicht mit diesem Mann verscherzen, denn auch wenn er nach außen hin aristokratisch und durch seinen Anzug harmlos wirkte, würde ich nicht den Fehler machen und ihn unterschätzen. „Was hatten Sie dann mit dem Rudel zu schaffen und was hat es mit dem Anhänger auf sich?“, fragte das Familienoberhaupt der Vampire und langsam ging mir dieser Mann gehörig auf die Nerven. Musste er genau die Fragen stellen, die ich nicht beantworten wollte? Ich hatte die Sache noch lange nicht verarbeitet und da wollte ich nicht darüber reden, um genauer zu sein, ich wollte darüber nie wieder reden! „Das geht dich einen feuchten Scheiß an.“, knurrte ich den Vampir an, auch wenn er in der eindeutig besseren Position war. Hatte ich nicht eben noch daran gedacht, ihn nicht zu verärgern? Nun, unhöflich und auch noch beleidigend zu sein, würde er wohl als Provokation ansehen. Doch bevor die Lage eskalieren konnte, sprach Sina von der Tür aus: „Ist das nicht egal, Vater? Er kam zurück, um mein Leben zu retten, obwohl er wusste, dass die Chancen schlecht standen. Müsste das nicht reichen?“ Ich war selten so froh gewesen jemanden zu sehen, wie gerade das kleine Vampirmädchen. Sie hatte sich umgezogen und das Blut abgewaschen und um ehrlich zu sein, trug das ebenfalls dazu bei meine Nerven zu beruhigen. Der Blutgeruch in diesem Haus war schon schlimm genug und ließ mich alles andere nur undeutlich wahrnehmen, doch dass das unschuldige Vampirmädchen ihn bis eben verströmte, hatte sich so falsch angefühlt. „Sina hat Recht. Der Wolf hat sie versucht zu retten und dafür schulden wir ihm etwas.“, mischte sich nun auch die Vampirfrau ein, die vom anderen Ende der Küche herüber kam. Was sie dort gemacht hatte, sah ich erst als sie näher kam und ich musste schlucken. Irgendwo in dem Kühlschrank waren wohl Blutkonserven gelagert, denn sie trug ein Glas mit einer roten Flüssigkeit zum Tisch und der Blutgeruch wurde noch erdrückender. Sie stellte das Glas vor Sina hin und ich verzog angewidert den Mund, als sie einen großen Schluck daraus trank. Es war zwar natürlich, dass eine Vampirin Blut trank, doch unbedingt mit ansehen musste ich das nicht. Doch ich verkniff mir einen Kommentar, wollte ich Sina nicht verletzen. Außerdem war es eine Beruhigung, dass die hungrige Vampirin nun etwas aß, bevor sie sich trotz des Geschmacks meines Blutes auf mich stürzte. „Hier. Provisorisch für deinen Anhänger.“, erklärte Sina und hielt mir ein schmales Band hin, das aus glatten, gelben Fäden gewebt war. Ich hatte nicht wirklich viel Ahnung von Stoff, doch die Farbe war lebendig und im Licht glänzte das Band. Als ich nicht sofort Anstalten machte, die Schnur aus ihrer einen Hand zu nehmen, in der anderen hielt sie noch das Glas, schob die kleine Vampirin schmollend die Unterlippe vor. Ich konnte nicht anders, als ihrer wortlosen Forderung folge zu leisten und das Medaillon meiner Mutter an das Band zu hängen. Wer wollte es sich auch mit der Frau verscherzen, die anscheinend die Herzen einer gesamten Vampirfamilie besaß? „Was haben Sie denn jetzt vor?“, fragte mich die ältere Vampirin und ließ sich gegenüber von Sina und mir auf einen Stuhl an den großen Tisch sinken. Sie hatte auch ein Glas mit Blut in der Hand und ich musste mich zwingen nicht hinzusehen. Wo hatten sie das Blut wohl her? Ich hoffte mal, dass es aus einer Blutbank war, denn wenn nicht, wollte ich mir nicht vorstellen, wie sie an das Blut gekommen waren. Doch jetzt hatte ich erstmal eine Frage zu beantworten, von der ich die Antwort selbst nicht wusste. „So recht weiß ich das auch nicht. Irgendwo Richtung Meer ziehen, da war ich schon länger nicht mehr.“, improvisierte ich. Ja, das schien doch eine gute Idee zu sein. Ein bisschen Urlaub am Meer, vielleicht könnte ich wieder ein paar Wochen auf einem Fischerboot arbeiten. Da wurde nicht besonders auf Papiere geachtet, das hatte ich schon vor fünf Jahren bemerkt, als ich es ganze drei Wochen auf ein und demselben Schiff ausgehalten hatte. „Ihnen ist klar, dass Sie mit niemandem über unsere Familie reden werden. Sollten mir irgendwo Gerüchte über Vampire zu Ohren kommen, dann werde ich Sie jagen und zur Strecke bringen.“, wisperte Henry Benoir mir leise von der Seite zu. Er war mir dabei so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Ohr spüren konnte und als ich in seine Richtung schaute, sah ich seine spitzen Eckzähne unter seinen Lippen hervorlugen. Das Oberhaupt dieser Familie hatte sehr ruhig gesprochen, kein Anzeichen von Zorn oder Aggression war in seiner Stimme gewesen. Doch trotz allem spürte ich die Drohung die in den Sätzen lag und ich war mir sicher, dass er nicht nur jeden Satz ernst meinte, sondern auch genauso durchführen würde, wie er gesagt hatte. „Wieso sollte ich jemandem hiervon erzählen und vor allem wem? Außerdem müsste ich dann offen legen, dass ich auch kein Mensch mehr bin. Ich werde niemandem von diesem Zusammentreffen erzählen.“, erklärte ich nach außen völlig ruhig und bedacht, auch wenn mich die Vampirzähne so nah an meinem Gesicht beunruhigten. Nervös spielte ich mit dem Anhänger, der jetzt an dem gelben Band um meinen Hals hing. Als ich merkte, dass ich damit meine innerliche Unruhe verriet, zwang ich mich das Medaillon unter meinen Pullover zu verstecken und die Hände ruhig auf den Tisch zu legen. Jetzt war es zwar bestimmt egal, die Vampire hatten meine Angst, meine Schwäche, bestimmt schon längst bemerkt, doch ich wollte mir keine Blöße geben. „Das sagen Sie jetzt. Doch was, wenn Sie in eine Situation geraten, wo Ihnen diese Information nützlich sein können. Vielleicht haben Sie auch Spaß daran, andere Personen in Probleme zu bringen?“, meinte Henry und brachte sein Gesicht ganz nah vor meines und ich spannte meinen Körper automatisch an. Die Augen fixierten mich, starrten mich regelrecht an, während der Vampir kaum blinzelte. Ich versuchte den Blick so stoisch wie möglich zu erwidern, auch wenn er mir regelrecht eine Gänsehaut auf die Arme zauberte und nur mit Mühe widerstand ich den Drang zurückzuweichen. „Ich verspreche Ihnen, dass ich niemandem von Ihrer Familie erzähle. Ich mag zwar nicht die vertrauenswürdigste Person sein, aber meine Versprechen halte ich immer.“ „Dann sollten Sie jetzt gehen, bevor die Nacht hereinbricht.“, erklärte die Vampirfrau auf meine Antwort hin. Sie unterbrach damit auch das kleine Blickduell, das Henry und ich durchführten, was mich fast vor Erleichterung aufatmen ließ. Ich wusste zwar nicht, wieso ich jetzt plötzlich doch gehen durfte, doch ich würde nicht fragen und die Vampire noch auf dumme Gedanken bringen. Ein schneller Blick zu dem Küchenfenster zeigte mir, dass es mittlerweile schon später Nachmittag war und ich vielleicht nur noch drei, vier Stunden Sonnenlicht hatte. Wenn ich jetzt losging, hätte ich noch genügend Zeit den Rucksack einzusammeln, die Stadt zu erreichen und mir ein Zimmer zu suchen. Vor allem hätte ich ein bisschen Vorsprung, sollte einer der Vampire doch auf die Idee kommen, mich zu verfolgen. Der Mann machte mir Platz, so dass ich vom Stuhl aufstehen konnte und ich brachte so unauffällig wie möglich etwas Abstand zwischen uns. Die Freiheit war greifbar nahe und ich wollte mir nicht noch auf den letzten Metern irgendwelche Stolpersteine in den Weg legen. Sinas Vater schien nicht so überzeugt zu sein, dass man mich gehen lassen durfte, doch vertraute er anscheinend dem Urteil der anderen Vampirfrau. Zumindest hatte er mir Platz gemacht und machte keine Anstalten mich in Stücke zu reißen. „Komm, ich bringe dich bis zur Tür. Es sei denn, du möchtest aus dem Fenster klettern.“, scherzte Sina und sprang von ihrem Stuhl auf. Sie lächelte, schien so lebendig wie eh und je, doch irgendwie war da ein trauriges Glitzern in ihren Augen. Wieso sollte sie traurig sein, wenn ich ging? Ihre Familie war doch wieder hier, sie war nicht mehr allein. Ich folgte dem Vampirmädchen bis zur Tür, bewacht von den älteren Vampiren. Auf dem Weg durch das Wohnzimmer fiel mir auf, dass jemand die Leichen entsorgt hatte, nur noch wenige Blutspuren und umgestoßene Möbel deuteten auf den Kampf hin. Wer weiß, was die Vampire mit den Leichen anstellen würden, vielleicht verbrannten sie die toten Werwölfe, vielleicht fanden sie ihre letzte Ruhestätte irgendwo im Wald verscharrt. Mir war das egal, auch wenn mir bei dem Gedanken beinahe dasselbe Schicksal geteilt zu haben, ein kalter Schauer über den Rücken lief. An der Haustür wusste ich wieder nicht, ob ich mich verabschieden sollte und wieder nahm mir Sina die Entscheidung ab. „Pass auf dich auf, Thomas. Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen kennen gelernt. Ich werde dich vermissen.“, erklärte sie mit einem traurigen Lächeln. Bevor ich noch etwas dazu sagen konnte, hatte das Vampirmädchen ihre Arme um meine Brust geschlungen und sich kurz an mich gedrückt. Ich stand völlig erstarrt da, wusste nicht was ich machen sollte. Wegstoßen wollte ich sie nicht, was mich noch mehr irritierte. Meine Instinkte waren wohl irgendwie beschädigt oder am Schlafen. Doch ihre Umarmung erwidern, dagegen sträubte sich mein gesunder Wolfsverstand. Verdammt noch mal, ein Werwolf umarmte doch keinen Vampir! Den Kopf zu beugen und ganz leicht auf Sinas Haar zu legen, davon konnte ich mich nicht abhalten. Ich atmete den Duft nach alten Büchern und Rosenblüten ein, den Sina ausstrahlte, auch wenn unangenehm der Gestank von Blut aus dem Wohnzimmer darüber schwebte. Mittlerweile gehörte dieser Geruch für mich zu Sina dazu, wie ihr wetterwendisches Wesen und ihr fröhliches Lachen. „Leb wohl.“, flüsterte Sina und riss sich von mir los. Sie flüchtete regelrecht aus dem Flur und die Verbindungstür zu dem Wohnzimmer fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Ich wusste nicht, wie lange ich die Holztür anstarrte, doch die Leere in mir war belastend. Was sollte ich jetzt machen? Wieder hatte ich kein Ziel vor Augen und was mir noch vor ein paar Tagen wie die pure Freiheit vorgekommen war, sorgte jetzt dafür, dass sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Ich zwang mich, mich nach draußen zu gehen, die Haustür leise hinter mir zu schließen und meinem Instinkt in die Richtung zu folgen, wo ich den Rucksack hatte liegen lassen. Ich legte wieder ein Tempo vor, bei dem ich wohl nicht vor Sonnenuntergang die Stadt erreichen würde, doch war mir das gerade egal. Zu viel ging in meinem Kopf herum. Sina hatte `Lebwohl` gesagt. Nicht `auf Wiedersehen`. Dieser kleine Unterschied sagte eigentlich schon alles. Die Spur von Bedauern, dass ich das Vampirmädchen wohl nie wieder sehen würde, verdrängte ich, auch wenn ich so ein drückendes Gefühl in der Brustgegend hatte. Wieso sollte es mich auch interessieren, ob ich Sina je wieder sah? Wir waren ja keine Freunde oder so etwas, dazu kannten wir uns zu kurz und waren zu verschieden. Zumindest versuchte ich mir das einzureden, während ich missmutig und mit hängendem Kopf weiterging. Ich warf noch einen letzten Blick auf das Anwesen, das mit dem Wald im Hintergrund und dem Rosengarten, wie aus einem Katalog für Reisen zu historischen Orten aussah. Mich abwendend zog ich den Anhänger aus meinem Pulloverausschnitt und nahm meinen Weg wieder auf, während ich abwesend über das gelbe Satinband strich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)