Mutig von bells-mannequin (Lily und James) ================================================================================ Kapitel 1: Vielleicht. ---------------------- Mutig Als Lily Evans das erste Mal diesen Jungen lächeln sieht, weiß sie, dass sich etwas verändert hat. Und ohne, dass sie es verhindern kann, beginnt auch sie zu lächeln. Die erste Konstante in all diesem Neuen um sie herum. Und auch wenn es momentan nur ein Junge mit braunen Augen und ohne Namen ist – nun, sie nimmt, was sie kriegen kann, und wenn Sev anscheinend keine Lust hat, mit ihr während der Hutzeremonie zu fiebern, dann ist das nicht ihr Problem. Gut, doch, das ist ihr Problem, aber Lily ist schlau genug, ist sie schon immer gewesen, dass sie weiß, eine kleine Lüge, einen kleinen Trick, einen kleinen Zauber sollte man immer der Wahrheit vorziehen. Es ist so viel sicherer und einfacher als sich der Wahrheit zu stellen. „Evans, Lily“, ruft da die hagere Frau mit den scharfen, klugen Augen auf, und als Lily an ihr vorbei und zum Stuhl mit dem ausgefransten Hut läuft, lächelt Professor McGonagall, diesen Namen wirft ihr zumindest ihr Gedächtnis hin, flüchtig. Guten Abend, Lily, grüßt der Hut. Für einen kurzen Moment überlegt Lily, ob dies vielleicht eine Wahnvorstellung ist und sie zu lange und zu oft Lügen der Wahrheit vorgezogen hat, aber dann kichert der Lumpen auf ihrem Kopf. Du bist ziemlich schlau, Miss Evans, bemerkt er. „Ich weiß“, erwidert sie leise. „Ich bin sogar außerordentlich schlau, aber das sollte Sie nicht davon abhalten, Ihren Job – wie auch immer – zu machen.“ Und schlagfertig dazu. Er – Sie? Es? – macht eine kurze Pause. Sie wusste bis zum heutigen Tag nicht, dass Hüte dramatisch sein können, aber vielleicht kann sie es als zweite Konstante bezeichnen. Der Junge ohne Name und der theatralische Hut. Wie schön. Deswegen kommst du auch nicht nach Ravenclaw. „Bauen Ravenclaws Mist?“ Eher weniger. „Dann ist das okay. Hufflepuff?“ Merlin und Agrippa, Hufflepuffs können reizend sein, aber … würdest du jemals einer Konfrontation aus dem Weg gehen?“ Der Hut wartet keine Antwort ab. „Slytherin – nun, Slytherins haben Humor. Und du auch. „Wissen Sie, im Zug kamen zwei Jungs in mein Abteil und haben von irgendeinem Satanisten namens Lord Voldemort gesprochen. Und sie haben erzählt, dass er in Slytherin war. Und – na ja …“ Es hätte sie nicht schockieren dürfen, dass Hüte auch seufzen können. Tom Vorlost Riddle wäre gekommen, unwichtig, in welchem Haus. Dir würde es in Slytherin gut gehen. „Dann ist es mir egal, in welches Haus ich komme.“ Vielleicht tut sie jetzt gerade sehr tapfer, aber in ihrem Inneren klopft ihr Herz hart gegen die Brust und irgendetwas Unlogisches in ihr schreit nach Gryffindor. „GRYFFINDOR“, sagt der Hut nun laut, ohne, dass sie eine weitere Unterhaltung führen und irgendwie fühlt Lily sich dadurch übergangen. Sie läuft auf schwachen Beinen der grölenden Löwenmeute entgegen und setzt sich mit Widerwillen neben diesen Idioten aus dem Zug, Black, Sirius. Sirius schaut sie abfällig aus seinen arroganten Augen an: „Wie kommt’s, dass der Hut Snivellus’ beste Freundin so schnell hierher gebracht hat?“ Sie spürt Severus’ Blicke wie giftige Natternbisse in ihrem Hinterkopf. Gryffindor. Nun, zumindest das. Letztendlich, stellt Lily einige Jahre darauf fest, ist es gut, dass sie bei den Löwen gelandet ist. Natürlich, einerseits ist die Devise eines Tapferen immer noch mit dem Kopf durch die Wand, aber sie selbst wäre nicht auch in Gryffindor, wenn es nicht auch die andere, zurückhaltende Art von Mut gäbe. Dies sind zumindest die Dinge, die man sich über das Haus Godrics erzählt, nur, dass Lily nicht weiß – zumindest nicht wirklich weiß –, warum der Hut sie hierher geschickt und nicht bei den Slytherins oder Ravenclaws oder Hufflepuffs untergebracht hat. Es ist essentiell und belanglos zugleich, wenn sie am Kamin sitzt, in die glühenden Kohlen starrt und an Slytherin denken muss. An einen Slytherin, um es zu präzisieren, mit denselben schwarzen Augen und der verrußten Seele. Poetisch, dass die rotlodernden Flammen umherstieben, immer wieder goldgelbe Funken schlagen, als wäre Gryffindor daran schuld, als wäre sie schuld, dass ihr bester Freund eine verdorbene Giftschlange geworden ist. Lily sieht es ein, es ist ganz einfach. Plötzlich ist die Wahrheit schlichter und um einiges besser zu ertragen, als das Lügengerüst, das sie wieder aufbauen müsste, um guten Gewissens mit Severus Snape befreundet zu sein. Die Wahrheit ist, dass das einzige, was sie jetzt noch zusammenhält, die Kindererinnerung ist, die Art von Freundschaft, die in verstaubten Tagebüchern und Fotoalben aufbewahrt wird, um sie sich in Jahrzehnten wieder anzusehen, melancholisch und zartbitter, aber mit der warmen, schweren Hand der Gegenwart, so dass es doch nicht so schmerzhaft ist, wie man gedacht hat. Vielleicht ist sie auch nur ein Einzelfall. So viele Mädchen, die einst in ihren besten Freund verliebt waren, kann es doch gar nicht geben, oder? „Lily!“ Sie hebt ihren Kopf und sieht ihre Freundin, mit pochenden, taumelnden, verliebten Schritten auf sie zukommend, in dem verwirrenden Chaos ihrer kurzen Haarsträhnen bunte Herbstblätter, in ihrem Herzen genug Wärme und Hitze, dass die Kälte des herannahenden Winters den Gemeinschaftsraum nicht abkühlt. „Charlotte.“ Lily legt den Kopf schief und versucht, sich zwischen Skepsis und Sticheln entscheiden zu wollen, aber irgendwie ist es doch egal, absolut egal. Charlotte ist glücklich. Das zählt. Womit sie wieder beim Lügen ist. Charlotte setzt sich neben Lily in den alten Ohrensessel, bemüht, die Hektik aus dem Gesicht zu wischen und sagt nichts. Sie starrt nur aus dem Fenster, in die klare Nacht, die durch den strahlendhellen Mond beleuchtet wird. Lily seufzt: „War es so toll?“ „Und noch mehr“, lächelt sie. Da ist so viel Seeligkeit in ihrem Blick, so schwärmerisch und verträumt und glücklich und verliebt, dass Lily es in diesem Moment nicht einmal wagt, ihr die Lüge ins Gesicht zu sagen. Nichts zu sagen, ist ein guter Kompromiss zwischen ehrlich und verlogen. Eine Gratwanderung, die ihr irgendwann das Genick brechen wird. Aber Charlotte kennt sie gut. Vielleicht zu gut, vielleicht auch nicht. Manchmal kennt sie sich doch selbst kaum. „Ich weiß, was du denkst, Lily. Du denkst, dass es niemals funktionieren kann. Es ist Black!“, äfft Charlotte Lily nach. „Er wird dich verletzen. Ich will doch nur dein Bestes. Aber ich hab mich in ihn verliebt. Es ist mir egal.“ Lily schiebt sie eine ihrer roten Haarlocken hinters Ohr. „Ich weiß, Charlotte. Ich sag doch gar nichts.“ „Aber du denkst dafür um so mehr! Ich kenne dich, Evans, ich kenne dich besser, als du es glaubst!“ „Es ist nur …“ Lily zupft an ihrer Unterlippe, zögert, eine Sekunde, zwei Sekunden, eine Sekunde zu lang. Zeit abgelaufen, Prinzessin. „Ja, ich weiß! Er ist zwei Jahre jünger als ich, er ist ein verdammter Slytherin, er ist Sirius’ Bruder, aber, dreimal verflucht, ich kann nichts dagegen machen.“ Dies hier wird eine ausgewachsene Katastrophe, fällt Lily nur ein, als ihre Herzensfreundin das Gesicht in den Händen vergräbt. Lily weiß, dass sie versucht, nicht zu weinen, die toughe Charlotte, aber sie weiß auch, dass es nicht funktionieren wird. Zum Glück ist es schon so spät, dass niemand außer den beiden mehr im Gemeinschaftsraum ist. Zum Glück weiß noch niemand außer den beiden und dem Dritten, dass Charlotte O’Connell, die herzensgute, tapfere Mustergryffindor, und Regulus Black, der intelligente, dunkle Musterslytherin, zusammen sind. Verliebt sind. Solches. Dinge, die niemand im ganzen Schloss akzeptieren können wird. Selbst bei Lily und Severus sind die Nähte beinahe geplatzt vor all der Verachtung und dem Konkurrenzding zwischen den beiden Häusern, und da war es nur eine Freundschaft. Die, nun, eh vorbei ist. „Merlin, Lily, was soll ich bloß tun?“ Jeder fragt sie, was er zu tun hat. Es ist wie ein Spiel aus Nehmen, Nehmen, noch mehr Nehmen, denn alles, was Lily tut, ist ihre Meinung zu sagen, und das, was sie zurückbekommt, ist ein Respekt und eine Freundlichkeit, die eigentlich unnötig sind. Charlotte hingegen ist Treiberin im Quidditchteam. Draufschlagen und hoffen, dass der Gegner blutend am Boden ist. Aber trotzdem – irgendwie macht dieses Raue Jungs – zumindest die Blacks – richtig scharf. „Habt ihr schon miteinander geredet, oder seid ihr immer noch beim Rumzüngeln?“ Charlotte wird rot, ob vor Empörung oder Scham, ist unklar. „Nun, zumindest solltet ihr darüber reden. Euch besprechen. Fragt euch ehrlich, ob diese Beziehung wichtig genug ist, um euer beider Ansehen so dermaßen zu malträtieren.“ In ihrem Augenwinkel sieht sie das Händeklatschen einen Herzschlag früher, als sie es hört. Den Jungen ohne Namen. James Potter. „First Lady hat gesprochen. Beehren Sie sie doch morgen wieder. Sprechzeiten von dreizehn bis zwanzig Uhr, mittwochs und samstags nur nach Vereinbarung.“ Er lächelt spöttisch. Lily neigt in einem kurzen Gruß den Kopf und erhebt sich. „Überleg’s dir gut, Charlotte.“ Dann geht sie in ihren Schlafsaal. Nichts ist tosender als das Herzblut, das in ihrem gesamten Körper wallt. Es ist nicht so uneinfach, zu behaupten, sie würden nicht zusammengehören, denn gegenwärtig tun sie das schließlich auch. Hogwarts ist ausnahmsweise mal der gleichen Meinung, ungespalten, ob Schlammblut oder Todesser, jeder sieht es, jeder weiß es. Lily Evans, James Potter. Einfach. „Wie geht’s?“ James kickt Kiesel vor sich her, Hände in den Manteltaschen vergraben, Blick auf den Boden gerichtet. „Gut?“ Aussage, Frage, Aussage, Frage. Verwirrend einfach, verwirrend komplex. Ihr Herz holpert. Sie schluckt hart. „Wie viel hast du gestern mitgehört?“ „Genug, um zu erkennen, warum alle Welt dich fragt und nicht mich.“ Lily kann nicht anders, sie muss einfach lachen. Ihr Atem steigt in den morgendunklen Himmel, während sie das Schloss erreichen und hastig ins Warme flüchten. „Deswegen heißt es auch Kummerkastentante, nicht Kummerkastenonkel. Es braucht das Geschick und die Diplomatie einer Frau, James.“ „Es braucht dich“, sagt er leise, während er in die entgegengesetzte Richtung sieht. Sie lächelt, beinahe, schockiert, nicht. Letztendlich entscheidet sie sich, einfach den letzten Satz überhört zu haben und bittet: „Sag Sirius nichts.“ „Du bist nicht Charlotte.“ „Genau. Ich bin Lily. Weißt du noch? Immunität und Einfluss sind in mir vereint, als Schulsprecherin, als Ansprechperson, als ihre Freundin.“ „Eingebildete Schnepfe.“ Seine Stimme schwimmt in einem amüsierten Unterton. „Wusstest du das noch nicht, Potter?“ „Ich weiß, dass du Charlotte liebst. Und das reicht erst mal.“ „Danke.“ Sie sieht ihn warm an. „Ich bin dir was schuldig.“ Sein Blick wird hart und nachgiebig, liebevoll und so fremd, dass sie beinahe einen Schritt zurückweicht: „Sag mir, wer du bist.“ Dann streicht er ihr die vorwitzige Haarsträhne aus ihrem ebenmäßigen Gesicht und läuft den Gang weiter zu seinem Kurs für Muggelkunde. Sie atmet einmal tief ein und geht in den Klassenraum. Aber die Blicke auf ihr beweisen, was los ist. Das Traumpaar in spe ist los. Lily holt ihr Arithmantikbuch aus der Tasche. Und versucht das Lächeln zu unterdrücken, das sie immerzu aufsetzen will, wenn sie den Jungen ohne Namen sieht. Was Sie erwarten? Eine Liebesromanze der ersten Klasse. Warum Sie das erwarten? Weil James Potter der Nachthimmel und Lily Evans der Stern ist. Und sonst? Sie sollen sich jetzt gefälligst küssen. Seit wann können sie eigentlich miteinander reden, ohne sich an die Gurgel zu gehen? Manchmal kommen solche Erinnerungsfragen plötzlich auf, während sie sich in ihren Wollschal kuschelt, den See entlangspaziert und versucht, leise und still zu sein. Keine Gedanken. Aber immer, wenn sie das versucht, wird es nur noch schlimmer. Heute doch genauso, oder? Remus, Peter und Charlotte kommen auf sie zu. Remus lächelt freundlich und mild, während Peter atemlos berichtet, dass James noch etwas länger bei Dumbledore brauchen wird. Charlottes Blick ist eine Mischung aus Belustigung – der hat Angst mit Prinzessin Lily zu reden, bei Merlins Unterhose – und aus Angst – und? Was ist jetzt? Lily lächelt beruhigend. „Alles klar, Charlotte. Hallo, Remus, Peter.“ „Hallo, Lily“, erwidert Remus ruhig, während Peter nur sein gefahrloses Lächeln lächelt. „Wie geht’s dir?“ „Oh, wie immer. Es muss halt“, sagt sie mit einem Schmunzeln in der Stimme. „Dass du auch ständig fragst, wie es anderen geht! Was ist mit dir?“ „Ich bin müde“, sagt er und fügt als Nachgedanken hinzu, „aber zufrieden.“ Lily fängt Charlottes gehetzten Blick auf, aber sie sagt nichts und redet weiter mit Remus. Der zweite der Marauder, den sie ins Herz geschlossen hat. Und merkwürdigerweise hat es nicht gedauert, bis sich auch noch der ungestüme, forsche Sirius und der täppische, friedliebende Peter eingenistet haben. Wie eine Plage, diese Marauder. Plötzlich taucht James hinter ihr auf und wieder sieht sie es eine Sekunde früher als sie es hört. Sie öffnet ihre Augen und unterdrückt das Lächeln. Und dann muss sie es nicht mehr niederhalten, denn hinter ihm steht dunkel und ruhig Regulus Black. James bemerkt ihren Blick und sagt: „Wir müssen noch was mit den Slytherin-Vertrauensschülern besprechen, Lily.“ „Ja“, sagt sie hastig und wirft einen Blick in die Runde. An Charlotte bleibt er hängen. „Wir sehen uns beim Abendessen.“ Als sie die drei hinter sich lassen, sieht Lily James verwirrt an. Regulus Kiefer ist angespannt, aber er macht kein Geräusch, nicht mal beim Laufen. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass ihr Herz so laut in ihren Ohren pocht. Es muss die Slytherins eh schon fertig gemacht haben, dass zwei Gryffindors Schulsprecher sind, aber nun zwischen den beiden eingepfercht wohin auch immer zu gehen – ist unangenehm. Als würde man einem Menschen, von dem man weiß, dass er töten will, den Rücken zukehren. „Du solltest aufpassen, Regulus“, erwähnt James beiläufig, als hätte er nur ein blütenweißes Taschentuch fallen lassen und kein hochexplosives, pumpendes, wildes Herz. Lily hält den Atem an. Sie ist die Diplomatin des Schulsprecherpaars, aber er ist der Mut. Irgendwie doch nur ein Gryffindor. Einen kurzen Moment blitzt der Schmerz in Regulus’ Gesicht und Lily kann nicht anders, sie muss Mitgefühl empfinden. Das ist der Junge, in den sich ihre beste Freundin verliebt hat … er muss irgendetwas an sich haben, oder? „Weiß … weiß Sirius … ?“ Lily schaut zu James. Genau. Weiß Sirius? Einatmen, ausatmen. Das einfachste auf der Welt. Dann sagt sie: „Man kann Potter einiges nachsagen, aber nicht, dass er dumm ist.“ James verbeugt sich spöttisch. „Sirius ist in sie verliebt gewesen. Er ist es auch immer noch. Scheiße, ich sehe es, wenn mein Bruder etwas Verrücktes macht – und ich hätte nicht gedacht, dass ich mich auch in dieses räudige, quidditch-spielende Mädchen verlieben würde.“ All diese Zuneigung in der Luft … Lily schüttelt den Kopf. „Seid einfach ein bisschen vorsichtiger. Und redet darüber“, ahmt James die gestrige Lily nach, dann packt er ihr Handgelenk und zieht sie den dunklen Gang entlang. Die Antwort flirrt vor ihren grünen Augen, hin, her, hin, her, und sie versucht sie zu fangen, sie festzuhalten, aber dann ist sie auch wieder weg, und das einzige, was sie daran erinnert, dass es überhaupt eine Antwort gibt, ist James, der vor ihr steht und sie ansieht. Besorgt? Innig? „Weißt du, das ist eigentlich ziemlich nervig“, sagte sie, um das Schweigen zu umgehen. Es ist so still, dass sie ihr Herz hören kann. „Was meinst du?“, fragt er leise und lehnt sich weg von ihr an die gegenüberliegende Wand und sieht sie an. Zumindest glaubt sie das, aber das einzige Licht geht von seinem Zauberstab aus, und sein Gesicht liegt im Schatten. Vielleicht hätten sie sich doch wie normale Beinahe-Paare bei Madam Puddifoot treffen sollen, denkt Lily zynisch, anstatt sich in einen der tausendundeinen Geheimgänge der Marauder zu verkriechen und zu hoffen, dass niemand sie jemals findet. „Wie sollen wir jemals zusammenkommen, wenn ganz Hogwarts uns hinterherspioniert?“ James versucht, ein Lachen zu unterdrücken, sie sieht es genau. Bevor sie es hört. „First Lady und ihr Kerl, was?“ Irgendetwas Ernstes ist jetzt in seiner Stimme. Kein Lächeln mehr. Zittern. „Bist du in mich verliebt, Lily? Oder ist es nur deine Aufgabe, in mich verliebt zu sein?“ Und weil sie darauf nichts sagen kann, küsst er sie auf die Wange, in einer weichen Bewegung, als hätte er das schon Tausende von Malen gemacht, als wäre diese Berührung nichts, was sie aus der Bahn zu bringen hat. An ihm muss sie nicht zweifeln. Und an sich selbst auch nicht. Oder? °°° Die Beziehung geht tatsächlich auf. Kaum zu fassen, aber sie sind glücklich, das ist doch das wichtigste, oder? Das wichtigste ist die Liebe in diesem Krieg, denn Liebe siegt über alles, die Guten werden gewinnen. Die Guten, genau – aber was ist, wenn man plötzlich nicht mehr weiß, wer die Guten und wer die Bösen sind? Was, wenn man nicht mehr entscheiden kann? Wie könnte sie auch? Wie könnte Lily es wagen, über etwas zu urteilen, das vor ihr verborgen ist? Wenn sie dann Remus nach einer schrecklichen Vollmondnacht besucht, wie kann sie sagen, ich bin auf der richtigen Seite, wenn sie sieht, wie Narcissa Black und einige andere Slytherins sich bei Madame Pomfreys Erste-Hilfe-Kurs – „für den Fall der Fälle, wenn Sie einmal in der Muggelwelt sind und keine Magie anwenden dürfen“ – anmelden? Narcissa Black, die Verlobte von Lucius Malfoy, der vor ein paar Jahren seinen Abschluss gemacht hat. Aus der schwarzblütigsten, reinsten Familie Englands. Cousine von Sirius, dem unschwärzesten Black seit jeher. „Prongs, Padfoot“, macht Remus schwach, als er seine beiden besten Freunde sieht, „wo habt ihr Peter gelassen?“ „Ist bei seiner neuen Flamme“, erzählt Sirius mit düsterem Gesichtsaudruck. Nicht, dass ihn das irgendwie schlechter aussehen lässt – um genau zu sein, sieht er damit aus wie ein heißer Kerl, der die letzten Nächte mit Liebeskummer verbracht hat. Um genau zu sein, ist er das auch. James’ und Remus’ Blick bleibt an ihrem besten Freund hängen, aber das ist vermutlich eher so ein Gewohnheitsding. Remus ist reif und klug und verständig, seit man ihn kennt, und James ist auch schon länger in die Anderswelt der Erwachsenen übergewandert. Nur Sirius hinkt hinterher. „Wie geht’s dir, Sirius?“, fragt Lily. Es ist eine einfache First-Lady-Frage, die Frage des Mädchens, das sich um alles und jeden kümmert, des Mädchens, das schon vor langer Zeit aufgegeben hat, wütend zu sein, wenn die Marauder ihre Scherze treiben. Mittlerweile sind die hochwohlgeborenen Herren Moony, Wormtail, Prongs und Padfoot nur noch die Marauder, weil sie beste Freunde sind. Obwohl Lily wetten könnte, dass sie sicherlich noch einen bombastischen Abschlussstreich machen werden; und mal ehrlich: Diesen grandiosen Abgang gönnt man ihnen auch, oder? „Scheiße“, antwortet Sirius ehrlich. „Grandios beschissen. Ich hab mich noch nicht mal nach meinem ersten Kater so gefühlt.“ Ausnahmsweise weiß Lily nicht, ob er ihr das so sagt, weil jeder ihr solche Dinge anvertraut und die Marauder scheinbar keinerlei Geheimnisse voreinander haben, oder ob er gerade versucht, das Mitleid der besten Freundin seiner Angebeteten zu ergattern. „Gib auf“, rät Lily, „ich hab auch nichts dagegen, wenn du anderen Mädchen das Herzchen dabei brichst – aber ich sag’s dir, Sirius: Charlotte ist weg vom Fenster, sie ist weg von deinem Planeten.“ Leise lacht James. Ihr Herz flattert bei diesem Geräusch. Leider. „Das kannst du jemandem mit Verstand sagen, Prinzessin, nicht diesem liebestollen Tunichtgut.“ „Meine unschuldige Seele ist berührt von so viel Zuneigung und Freundschaft, Prongs“, antwortet Sirius gespielt beleidigt, während er sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel streicht. Remus sagt plötzlich ernst: „Ich glaube, Charlotte ist verliebt.“ Sirius’ Augen verdunkeln sich. „Ich weiß. Aber ich bin selbst schuld. Außerdem kann ich jetzt endlich die ganzen Mädchen verstehen, die immer heulend durchs Schloss rennen.“ Er verzieht das Gesicht. „Man lernt, mit so was umzugehen“, sagt Lily. Sirius ringt sich ein Lachen ab und das Geräusch zerschneidet ihr beinahe das Herz: „Ach wirklich, Evans? Hat schon mal jemand dir das versilberte Herz gebrochen?“ Für einen kurzen, ewigen Moment spürt sie den Blick des Jungen ohne Namen auf sich; sie zögert. „Ich weiß es nicht“, sagt sie irgendwann, und das ist es, was man ausnahmsweise als Wahrheit bezeichnen kann. Wie merkwürdig. James Augen verhärten sich. „Ich muss gehen. Remus, kommst du heute wieder zu uns in den Schlafsaal?“ Remus bejaht perplex und dann ist James mit wehendem Umhang verschwunden. Sie schluckt trocken. „Wie kommt es eigentlich, dass immer wir die Nachtschichten haben, hm?“ Ein kläglicher Versuch, ein Gespräch mit James Potter anzufangen. Dumme, dumme Lily. Wer hat noch mal gesagt, du seiest intelligent? Hm? „Ravenclaw ist sich zu gut dafür, und Slytherin hasst uns doch irgendwie, aber Gryffindor und Hufflepuff pumpen viele Bestechungsgelder durch die Vertrauensschüler, damit immer wir gemeinsam Aufsicht haben“, erklärt James halb belustigt, halb verärgert. „Und du hast sie nicht daran gehindert?“ „Tu nicht so, First Lady. Sie erwarten, dass wir spätestens auf dem Weihnachtsball zusammenkommen, und ich denke, dass das sogar ungefähr hinhauen könnte, wenn wir uns ein bisschen beeilen.“ Plötzlich stoppt Lily und irgendwo in ihr drin glüht die Wut auf, die sie schon so lange nicht mehr gespürt hat, wenn sie seine Stimme hörte. „Warum sagst du das?!“, faucht sie. James schüttelt spöttisch lächelnd den Kopf und rückt seine Brille zurecht: „Weil es die Wahrheit ist, Prinzessin. Und ich dachte, du wärst klug genug, das zu bemerken.“ „Hör auf.“ Ihre Stimme bricht genau im theatralisch-richtigen Moment. Und sie hasst es. „Ist die Wimperntusche zumindest wasserfest?“, gibt er ungerührt zurück. „Nein, verdammte Dreckscheiße, und deswegen werde ich jetzt auch nicht heulen, du arroganter … Kerl!“ Lily stampft wütend mit dem Fuß auf und geht mit geballten Fäusten weiter den Gang entlang. Kurz ruckt sie mit dem Kopf. „Kommst du jetzt endlich, Volltrottel?!“ Sie könnte schwören, dass er leise lacht, aber in dieser labilen Verfassung will sie sich das lieber nicht vorstellen, falls er nachher noch zeugungsfähig schlafen gehen will. Ihre Hände kribbeln. Als sie vor der schlafenden Fetten Dame stehen, fragt James sanft: „Wollen wir noch ein Stück gehen?“ „Warum sollte ich das wollen?“, zickt Lily. „Weil ich dich darum bitte.“ Es ist ja nicht das erste Mal, dass er in diesem Ton mit ihr spricht, nicht wahr? Deswegen sollte sie sich davon auch nicht beeindrucken lassen, schließlich weiß sie jetzt schon länger, dass James Potter kein absoluter Schwachkopf ist. Kläglich schüttelt sie den Kopf, entspannt sich unmerklich und sagt: „Gehen wir an den See.“ „Wie First Lady wünschen.“ Es war klar, dass James sich diese Gelegenheit nicht entgehen lässt. Aber er kann sich so etwas schließlich auch erlauben, Lily hingegen hat den Ruf einer blütenreinen Prinzessin zu wahren. Fast so weiß wie der unberührte Schnee unter ihren Füßen, als sie aus dem Schloss treten. „Gott, wieso hab ich das nicht gesehen?“, murmelt Lily. „Weil du wütend auf einen arroganten Kerl warst“, erwidert James lapidar. Und dann fügt er mit unwirscher Stimme hinzu: „Du hast mir übrigens immer noch nicht die Fragen beantwortet.“ Und dahinter klingt noch mehr. So viel mehr. „Ich hab davor nur eine Frage, James“, sie sieht ihn erwägend an, und als er nickt, fährt sie fort, „was denkst du, wer ich bin?“ Er fährt sich mit der Linken durch sein störrisches Haar; es fällt ihr auf, dass es das erste Mal seit diesem Semester ist, dass er diese so verachtenswerte attraktive Geste macht. „Du bist die größte Lügnerin, die ich kenne.“ Wie schnell ihr Herz doch klopft, vor Wahrheit und Echtsein und Liebe. „Hey, James.“ Flüsternd beendet Lily die Stille zwischen ihnen, sanft wie Schneeflocken. „ich weiß nicht einmal mehr, ob ich lüge oder ehrlich bin. Ich bin verliebt in dich.“ Es ist verrückt. Da liegt die First Lady in den Armen des Jungen ohne Namen und weint – wegen so einer trivialen Sache wie Verliebtsein. Ist es so richtig? Ungefähr, oder? Die Meute erwartet, dass Prinzessin und Prinz zusammenkommen – aber was erwartest du, Miss Evans? „Es tut mir leid, Lily.“ Ihr verwirrtes Herz klopft schneller, als er ihren Namen sagt, ihren Namen, hinter all dem Getue. „Ich bin so ein Idiot-… Lily, bitte … hör auf zu weinen…“ Hilflos berührt er ihr blutrotes Haar, nimmt ihr Gesicht in seine Hände, wischt ihr die Tränen von den Wangen. „Ich hab mir so viel Mühe gegeben. Ich habe aufgehört, Snape zu verhexen, ich habe aufgehört, dich nach einem Date zu fragen, ich bin erwachsen geworden. Es hat mich so wütend gemacht … und ich … dachte, es wäre einfacher für dich … Entschuldige.“ Als Lily ihn küsst, schlägt ihr Herz holprig, flüchtig fahren ihre Hände in sein Haar. James seufzt leise und löst den Kuss sanft. Irgendwo ist da ein Klingen in ihrem Ohr, als wäre eine Münze auf den Boden gefallen. Er streicht über ihre Wange, da schwingt Bedauern mit; Bedauern und sehr viel Zuneigung und Ruhe und Geduld. „Beweis mir, dass du mutig bist, Prinzessin. Mehr nicht.“ Die Wärme verschwindet mit ihm und erst jetzt realisiert sie, dass ihre Finger von Kälte schmerzen. Der Kloß im Hals verschwindet nicht, nicht einmal, als Lily in ihrem Bett liegt und versucht, ihn zu vergessen. Den Jungen ohne Namen. Das Büro Dumbledores ist immer wieder beeindruckend, und in all seiner Verrücktheit und merkwürdigen Ordnung ähnelt dieser Ort irgendwie einem Quell der Weisheit. „Miss Evans, wie geht es dir?“, fragt Dilys Derwent aus ihrem Portrait. „Mäßig“, versucht Lily ein klägliches Lächeln, „die N.E.W.T.s sind so gut wie da und ich weiß nicht, ob ich mich genügend vorbereiten kann.“ „Aber, aber“, tadelt ein anderes Bild mit dem Schulleiter Armando Dippet. „Miss Evans, wenn nicht Sie es schaffen, wer dann? Sie sind bisweilen das begabteste Mädchen, das ich jemals kennen lernen durfte. Zumindest nach meiner geliebten Rosie.“ Rose ist seine Ehefrau gewesen, die bei der Geburt seines einzigen und geistig behinderten Sohnes gestorben ist. Anscheinend waren sie sich ähnlich gewesen, mit dem Blumennamen, den roten Locken und der verblüffenden Klugheit. „Dumbledore hat übrigens gemeint, dass du dich ruhig umsehen darfst, Lily“, meint Dilys Derwent. Lily neigt den Kopf, steht auf und sieht in einige Vitrinen, streichelt kurz Fawkes Gefieder und auf einmal sieht sie den Sprechenden Hut. Ihr Kopf schüttet Adrenalin aus, während sie sich ihm nähert und ihn mit zitternden Händen aufsetzt. Ah, Miss Evans. Ich dachte schon, du würdest es gar nicht mehr schaffen, mich noch einmal zu besuchen, bevor du das Schloss entgültig verlässt. „Tut mir leid. Aber in Anbetracht dessen, dass ich erst jetzt wirklich verstanden habe, dass ich noch mal mit Ihnen reden wollte …“ Nun, was ist deine Frage? „Warum haben Sie mich nach Gryffindor geschickt?“ Weil du die Eigenschaften besitzt, die dich zu einer vortrefflichen Gryffindor machen. Und weil sonst niemand deine Augen als smaragdfarben sondern als schlangengrün bezeichnen würde. „Ich weiß, wer ich bin. Ich bin intelligent, ich bin verlogen, ich bin nett. Nichts davon macht eine Gryffindor aus.“ Der Hut macht ein gluckerndes Geräusch. Miss Evans, du musst noch viel lernen. Mut hat nicht immer etwas damit zu tun, ob man sich traut, einen Schlibbrigen Summlinger anzufassen oder waghalsige Loopings mit einem ramponierten Schulbesen zu machen oder eine sehr riskante Beziehung zu einem Slytherin aufrecht erhalten zu wollen, der schon längst in den Fängen des Dunklen Lords ist. Mut ist auch etwas im Kopf. Deswegen bist du in Gryffindor. „Aber ich bin nicht mutig.“ Nein, das bist du nicht. Aber du kannst es sein. „Ich verstehe nicht –“ Ich bin nicht unfehlbar, Miss Evans, fällt der Hut ihr ins Wort. Ich habe Fehlentscheidungen getroffen, die ich nicht rückgängig machen kann, und es wird die Zeit kommen, da man mich pensionieren wird, weil dieses Einordnungsverfahren überholt ist. Aber als ich dich nach Gryffindor schickte, das weiß ich, war es die richtige Entscheidung. Du musst sie nur noch annehmen. „Aber –“ Lebwohl, Lily. Dann schweigt der Hut und ist nichts mehr als ein alter Lumpen. „Nun, Miss Evans“, sagt da Professor Dumbledore an der Tür seines Büros, „ich denke, ich habe alles getan, was ich zu tun hatte. Sie können gehen.“ Der Blick aus seinen eisblauen Augen ist weiser und freundlicher denn je. „D-dankeschön, Professor“, stottert Lily noch, dann eilt sie mit wehendem Haar die Wendeltreppe herunter. Es hätte sie nicht schockieren dürfen, dass sie James direkt in die Augen sieht, als sie den Kopf wieder hebt. Sie rennt weg. °°° Trüb wie ihr Kopf, so sieht der halb zugefrorene See aus. Es ist kalt, sehr kalt, mit all dem Tamtam herum. Erfrorene Hände, stellt sie fest, gehören absolut in die Top Ten der Dinge, die sie verabscheut. Lily weiß es immer noch nicht. Sie versteht es, sie ist klug genug dafür, aber sie weiß nicht, was sie tun soll. All dieses Verwirrende, das dauernde Aufflackern von Charlottes grauen Augen, Regulus’ ruhiger Stimme, Sevs Gesicht vor ihren Augen. Und immer wieder James. Verliebt? Ja, nein, ja, nein. So schwierig kann es doch gar nicht sein, oder? Lilys Kopf ruckt hoch, als sie leise Geräusche hinter sich hört. „’N Abend, Prinzessin.“ Sirius’ Maraudergrinsen lässt Lily rot werden. Nicht, dass sie ihn auf irgendeine andere Weise lieben würde, wie man nun mal seine engsten Freunde liebt, aber trotz allem ist er immer noch der hübscheste Junge, den sie jemals gesehen hat. „Hallo, Sirius.“ „Ich will dich gar nicht lange in deiner sicherlich sehr überzeugenden Melancholie und deinen Selbstzweifeln stören – nur eine kurze Frage.“ Sein Blick ist besonders. Vielleicht liegt ja darin sein Zauber. Er ist so sehr außergewöhnlich, in jedem Falle eine Überraschung wert, und sein Sarkasmus und sein Hochmut machen ihn nur nach attraktiver. „Willst du mit mir zum Weihnachtsball gehen?“ Erwägender Blick, ein verstehendes Räuspern. Langsam schleicht sich der analytischer Verstand wieder hinein in Lilys Kopf. Unter Sirius’ dunklen Augen liegen tiefe Augenringe, erzählen lange Geschichten von schlaflosen Nächten und beschissenen Alkoholexzessen. „Warum nicht, Padfoot?“ Sie erwidert sein Lächeln kurz und nickt bestätigend. „Und mit wem geht der Rest der Marauder?“ „Wormy mit seiner komischen Freundin aus Ravenclaw, Moony mit Miss Willow und Prongs … mit Charlotte.“ Ihr sanftes Gesicht erstarrt. Leise sagt sie: „Ich werde sicherlich nicht als Rachemittel dienen, Sirius, so sehr ich dich auch liebe.“ „Nein!“, sagt Sirius hastig. „Nein. Ich mein, ich bin erwachsen geworden, auf so eine Idee würd ich niemals kommen. Tut mir leid, wenn du das jetzt glaubst … also-… eigentlich hat James mich erst auf die Idee gebracht, dich zu fragen. Ich wollte zuerst gar nicht hingehen.“ Sie muss ihm verzeihen, etwas Anderes kommt nicht in Frage: „Du wirfst dich vor mich, wenn wütende Mädchen mich anfallen?“ „Ich werde als Bösewicht in jedem Sinne enden, Prinzessin. Die Jungs verabscheuen mich doch eh alle, wenn sie nicht versuchen, mich nachzumachen. Und die Mädchen, so sehr sie mich auch heiß finden, werden mich hassen, dafür, dass sie kein romantisches Zusammenkommen zwischen dir und Prongs erleben werden.“ Lily zuckt mit den Schultern: „Fraglich, ob es jemals zustande kommen wird, muss man hinzufügen, Pad. Alles ist so kompliziert.“ Auf einmal wird sein Blick sanft. „Einfacher geht es doch gar nicht. James ist in dich verliebt, seit du ihn in der dritten Klasse mit giftigem Schneckensekret beschossen hast – weshalb wir den Hauspokal nicht gewonnen haben. Und du – du siehst ihn immerzu mit diesen Augen an, weißt du? Von Anfang an.“ „Ich weiß“, sagt sie. „Ich weiß. Es muss irgendeinen Grund dafür haben, dass alle wollen, dass wir zusammen sind, aber das, was ich nicht finde, ist dieser Grund. Und solange ich den nicht kenne, kann ich es nicht, so sehr ich auch will.“ „Das ist ziemlich dumm.“ „Wem sagst du das?“ Lily lacht hilflos. Der Weihnachtsball steht an. Der letzte, den sie jemals auf Hogwarts besuchen wird. Und es ist nicht mit dem Jungen, in den sie verliebt ist. Wenn sie überhaupt verliebt ist, was ja immer noch ein unaufgeklärter Fakt ist und die Hogwartsmeute bangt und wartet, mit wem Lily Evans in den Ballsaal schweben wird. „Ohmeingottohmeingottohmeingott.“ Lily wirbelt in einem Traum aus mitternachtsblauem Taftstoff und eingeflochtenen Lilienblüten im tiefroten Haar durchs Studierzimmer der Schulsprecher. „Scheißescheißescheiße“, stöhnt sie und sucht unter dem bequemen Sofa, auf dem Sirius lässig liegt, nach ihren High Heels. „Wingardium leviosa!“, fuchtelt sie mit ihrem Zauberstab. Sirius, nonchalant wie eh und je, sagt: „First Lady haben wohl Lampenfieber?“ Ein Schuh fliegt auf ihn zu, er fängt ihn lachend auf und wirft ihn ihr zurück. „Abgesehen von der Tatsache, dass dies ein Spießrutenlauf wird – ist es doch ein Ball wie jeder andere, stimmt’s? Oder haben wir jetzt doch ein Date?“ Lily steht mitten im Raum und lässt das Sofa wieder auf den Boden schweben: „Ja, ja, ich weiß. Ich hab trotzdem Panik.“ „Löwen haben nie Angst. Wir sind die Könige.“ „Deswegen habe ich auch nie verstanden, dass ich die Prinzessin bin.“ „Gryffindor muss sich schon etwas dabei gedacht haben, nicht wahr?“ Und dabei belässt er es. Seufzend probiert sie einige Schritte auf den Schuhen. Der Tanzkurs, auf den ihre Freundinnen aus Little Winging, Jessie und Alexa, vor zwei Jahren bestanden haben, hat sich vielleicht doch ein bisschen gelohnt. Vielleicht. „Kann schon sein. Und jetzt lass uns gehen. Zu spät zu kommen macht vielleicht dich attraktiver, aber mein Image verkraftet nicht mehr als ’ne Viertelstunde.“ Es wäre perfekt, beinahe, nur noch ein Schritt in die richtige Richtung, und alles wäre perfekt. Das Licht etwas stärker dimmen, die Pastete ein bisschen mehr salzen, Dinge, die nur einen kleinen Schwenk des Zauberstabes brauchen. Aber auch Dinge, die magisch genug sind, die man mit keiner Formel verändern kann. „Wollen wir tanzen, Evans?“, lädt Sirius in einer spöttischen Verbeugung ein. „Aber gerne doch, Black.“ Der Knicks ist formvollendet. Wenn sie sich jetzt einen Fehler erlauben, das weiß Lily, werden sie von den Aasgeiern zerstückelt, spätestens in einer halben Minute. Aber mit Sirius ist es einfach, Probleme zu vergessen. Er ist ein Freigeist, und plötzlich erscheint ihr Fliegen so simpel wie Atmen. Sie wirbeln über die Tanzfläche, vergessen, lachen, sind Freunde. Alles so einfach. Sirius ist ein begnadeter Tänzer, ist er wirklich – vermutlich ein Vorteil der Black’schen Erziehung. Aber als Lily sieht, wie das Lächeln auf seinem Gesicht maskenhaft wird und der Schalk in seinen Augen zerrieselt, weiß sie, dass Charlotte und James da sind. Nur einen Blick wirft sie in die Richtung – und schon ist sie erschlagen von Charlottes Schönheit – ihrem herbstlaubroten Haar, den klaren, grauen Augen und den rauen Quidditch-Spieler-Händen. Plötzlich fallen ihr wieder die vierunddreißig unterdrückten Gründe ein, warum sie vielleicht doch nicht mit Sirius zum Ball hätte gehen sollen. Lily hat etwas gegen die Beziehung zwischen Regulus und Charlotte, ganz zweifellos, aber das heißt nicht, dass sie ihre liebste Freundin wieder mit Sirius, dem netten Herzensbrecher, verkuppeln will, absolut nicht. Dadurch, dass sie nun aber mit Sirius hier ist, wirkt es, als wären Feststellungen getroffen und Seiten manifestiert worden, die eigentlich nichts anderes als leer sind. Charlottes bedrückter Blick folgt ihr den ganzen restlichen Tanz über. „Willst du sie zurückgewinnen, Sirius?“, fragt Lily, während sie sich an einen der Tische setzen und einen der kleinen Weihnachtsengel zu sich winken. Sie sagt höflich, bevor Sirius sich wieder betrinken kann: „Zwei Butterbier, bitte.“ Der dunkelhaarige Engel bestätigt weihnachtlich lächelnd und schwebt kurz darauf mit zwei Gläsern zurück. Sirius nickt dankend. Nun, zumindest hat er Manieren. „Nein, ich glaube nicht“, gibt er irgendwann ehrlich zu. „Ich meine, klar, irgendwie … vermisse ich sie, aber – na ja, es ist, glaub ich, nur diese Sache, dass ich sie abserviert habe. Und dass ich es bereue. Aber ich weiß, sie empfindet nichts mehr für mich und das einzige, was ich fühle, ist mein verletztes Ego.“ Er grinst selbstironisch. „Und du solltest dich langsam mal mit Prongs beschäftigen, bevor er vor Kummer eingeht, Prinzessin.“ Sirius nickt in Richtung seines besten Freundes, der starr lächelnd mit Charlotte tanzt, die freundschaftlich zurückgrinst, aber mit den Augen den Saal durchstöbert. Anscheinend findet sie nichts. Lily Blick fällt auf James zurück, dunkel und sanft und unbeschreibbar attraktiv, die Brille schief auf der Nase, die Haare zerzaust. Beinahe hätte sie gelächelt. „Ich bin multifunktional, Prinzessin, merk dir das. Und wenn ich jemanden verkuppeln will, krieg ich das auch hin!“ Mit diesen Worten und einem unverschämten Grinsen reißt Sirius Lily wieder auf die Tanzfläche, zieht sie einmal übers ganze Parkett, ihr Kleid bauscht auf, und plötzlich steht sie vor James, der perplex Sirius beobachtet, wie er mit einem zynischen Grinsen mit Charlotte tanzt und sie dann so schnell wie möglich an Willow, das brünette, schöne Mädchen, das mit Remus hier ist, abgibt. Plötzlich tanzen also Remus und Sirius, Willow und Charlotte. Alle vier müssen lachen und auch der Rest des Saales folgt wie immer, gebannt und auf eine große Sache hoffend, Sirius mit Blicken, die Slytherins mit gerümpften Nasen, der Rest uneingeschränkt grinsend, kichernd, lachend. Immer wieder eine Nummer wert, diese Marauder. „Ich …“, beginnt Lily ziellos, dann zögert sie. Sie hält die Luft an. James flüstert: „Atmen, Prinzessin.“ Und sie tut einen tiefen Atemzug. Vielleicht reicht es für diesen Augenblick, während ihr Herz einen Schlag macht, vielleicht reicht es, um zu erkennen, wer sie ist, was sie ist. Vielleicht reicht es, dieses kleine Funkeln über ihr, in ihr, in ihm, überall. Vielleicht reicht auch die Erkenntnis. Es ist das erste Mal, dass das schiefe Lächeln des Jungen ohne Namen auch James Potters ist. „Lass uns rausgehen“, sagt James mit gedämpfter Stimme, als sie sich nicht rührt, ihn ansieht, alle anderen sie auch ansehen. Er greift nach ihrem Arm und führt sie sanft, mit einer warmen Hand in ihrem Kreuz, aus der Halle. Es ist keine Totenstille. Aber es ist die Stille, die die kleine Hoffnung mit sich trägt, dass zumindest eine Sache auf dieser Welt endlich abgehakt werden kann. Als ob Lily Evans und James Potter etwas dagegen machen könnten. Als ob nicht jeder sofort sehen würde, dass sie zusammengehören. Ihr Herz klopft hart und atemringend in ihrer Brust, ihre Finger zittern. Draußen spazieren sie langsam Richtung Verbotener Wald. „Ist dir kalt?“ „Nein“, lügt sie. Für einen Moment schweigen sie wieder, unwissend, was zu sagen ist, unwissend, was zu fühlen ist. Wann ist es so schrecklich kompliziert geworden, eine normale Schulbeziehung aufzubauen? Seit du weißt, dass es mehr ist. Nicht jeder Mensch ist mutig, nicht jeder Mensch muss es sein. Es gibt intelligente Menschen, die wissen, wann ein Rückzug klüger wäre, strategisch nützlicher, es gibt Leute, die glauben einfach. Was ist Mut? Das ist doch das Problem, oder? Dieses ganze bisherige Schuljahr hat sich darum gedreht, jeder hat ihr gesagt, sie kann mutig sein, aber letztendlich hat es doch nicht mal ihr Kopf verstanden, und wenn sie sich nicht auf ihren Verstand verlassen kann – wo ist sie denn dann? Normalerweise ergreift immer James die Initiative. Es gibt Dinge, die er verabscheut, und dazu zählt auch Schweigen. Es ist komisch, jetzt, nach so vielen Jahren, endlich zugeben zu können, wie viel sie über ihn weiß. Zuzugeben, dass er noch viel mehr über sie weiß. Aber plötzlich ist es einfacher. Zumindest einfacher als das Geflecht aus Gedankensträngen zu ertragen, das in ihrem Kopf hin- und herwirbelt. Sie bleibt abrupt stehen, unter dem blauen Nachthimmel und Abertausenden von Sternen. „Warum willst du eigentlich mit mir zusammensein, James?“ Das einzig Positive, das man vielleicht einer öffentlichen Romanze abgewinnen könnte, ist der Fakt, dass man sich nicht mit dem Schüchternsein-Ding abgeben muss. Jedem ist klar, man will etwas von dem anderen, jedem ist klar, was es ist. James lächelt sanft, als er in ihre grünen Augen sieht. Smaragdgrün, moosgrün, seegrün. „Weil du das schönste Mädchen ist, das ich jemals gesehen habe.“ Die Spannung fällt von Lily, sie boxt ihn hart gegen den Arm: „Du bist so ein Volltrottel, Potter, weißt du das eigentlich?“ „Ich dachte, Mädchen stehen auf Romantik.“ Der Schalk in seinen Augen lässt das Braun schokoladenflüssig werden, zartschmelzend und bittersüß. „Als ob es das einzige wäre, das ich hätte“, sagt sie frech. „Das hat nichts mit irgendetwas zu tun, Evans“, antwortet James lachend. „Du bist ein kluges, hübsches Ding, aber es gibt genügend andere, die das auch sind. Woher soll ich wissen, warum? Ich bin es einfach.“ Er sagt es so leicht dahin, als wäre es etwas Banales wie ein Regenschauer voller Tulpenblüten. „Verliebt“, wispert Lily. Das ist es. Verliebt. „Vielleicht hat es etwas damit zu tun, wie du lächelst, sodass du aussiehst als wärst du jemand, der leicht zu haben ist, aber in Wirklichkeit bist du prüder als jede Abstinenzlerin. Vielleicht liegt das daran, dass ich nie verstanden habe, wieso du in Gryffindor bist. Vielleicht liegt es daran, dass ich dich nie verstanden habe.“ Ein Lächeln zupft an seinem Mundwinkel. „Es ist so einfach, über solche Dinge zu reden. Es gibt genügend Momente, in denen du dir ausmalst, was du sagst, du sammelst, und irgendwann kommt der Moment, aber das, was wichtig ist, ist doch dein Herz, oder? Alles andere ist … nebensächlich.“ Das ist Mut. Verstehen, wie jemand ist, verstehen wollen, wie jemand ist. Lily fragt: „Willst du mit mir ausgehen?“ Und sie versteht jetzt, wie James Tag für Tag das Herz in der Brust gestottert hat, als er sie fragte, sie versteht es, weil sie weiß, was er fühlt, und weil sie weiß, dass sie genau das gleiche fühlt wie er. Sein Gesicht verändert sich plötzlich, als wäre da trotz allem noch immer eine Grenze gewesen, seine Augen werden weich. Er muss nicht mehr sagen, dass er sie liebt. Sie weiß es auch so. „Bist du dir sicher?“ James’ Tonfall lässt sie nervös lachen. Es ist der Tonfall, den Jungen anschlagen, bevor sie mit einem verschüchterten, prüden Mädchen schlafen. Prinzipiell ist es nur eine Verabredung, um den großen See, nach Hogsmeade, auf seinem Besen Runde um Runde über Hogwarts schweben. Es ist das Entscheiden. Es geht nicht um ein banales Rendezvous. Dies ist Lilys Mut, Mut zur Entscheidung, Entscheidung zu James, James ein Leben lang, sie weiß das, er weiß das. Ihre Stimme flattert hilflos: „Ja.“ „Und weiter?“ Sein verschlagenes Marauderlächeln ist ein Teil von dem, in das sie sich verliebt hat – wie gut es tut, das so frei zugeben zu können. „Nichts und weiter, James.“ Aber ihren Stolz als prüdes Mädchen hat sie immer noch. „Du hast mich jahrelang nach einem Date gefragt, und nun, da ich es wollte, hattest du aufgehört zu fragen, also musste ich wohl ran, hm?“ „Ich hoffe, Majestät werden mit der Zeit Ihre Kratzbürstigkeit verlieren“, scherzt James. „Dies ist nur die einzige Möglichkeit, zu umgehen, dass mir total übel vor Panik ist“, erwidert Lily. Und das, obwohl sie seit sieben Jahren in diesen Jungen verliebt ist. Sie schließt die Lücke zwischen ihnen und lässt ihre Hände auf seiner Brust ruhen. „Ich hoffe, den Heiratsantrag wirst du machen, Potter, denn ich muss mich die nächsten zwanzig Jahre von dieser Dateanfrage erholen.“ James grinst schief, während er eine ihrer roten Haarsträhnen zwischen die Finger nimmt. „Ich denke, das lässt sich einrichten, Prinzessin.“ Er beugt sich zu ihr herunter, um sie zu küssen, doch Lily dreht in einer neckischen Bewegung ihren Kopf zur Seite und sagt ernst: „Ich verstehe immer noch nicht, warum ich in Gryffindor bin. Ich habe dich nach einem Date gefragt, aber das hat nichts mit Mut zu tun.“ „Das, was du getan hast, war ja auch nicht mutig. Aber ich denke, die Art, wie du Charlotte zur Seite stehst, oder wie du mit Remus redest, oder wie du mit deiner Schwester umgehst, ist mutig. Und es ist mutig, in dieser Zeit Auror werden zu wollen, und es ist für immer und ewig mutig, dass du mich liebst, und dass du es mir nicht sagen wirst, und dass du nicht zulassen wirst, dass ich dir an die Wäsche gehe, obwohl du es mehr wollen wirst als ich.“ Lady Evans stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn rücksichtslos, auf eine unprüde, ungeduldige, sehr rüde Art und Weise, und während er mit den Fingern langsam ihr Rückgrat hinabwandert, realisiert sie. Letztendlich ist es auch egal, oder? Hier steht sie, der Weihnachtsball fliegt hinter ihnen vorbei, hier steht er, der Junge ohne Name, der Junge, der ihr Herz gewonnen hat, indem er nichts getan hat, als sie zu verstehen. James sagt, sie ist mutig, sie selbst sagt, sie ist nicht mutig, und in dieser Art von Differenz bilden sie eine perfekte Symbiose. Sie weiß das. Vielleicht ist es mutig, dass sie trotzdem bleibt. Vielleicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)