Krieger der Winde von Silver-DragonX (Teil 1 - Der Gesetzlose) ================================================================================ Kapitel 6: Absoluter Gehorsam ----------------------------- Schon seit geraumer Zeit frage ich mich, wie tief ein Mann fallen kann, ehe er auf dem Boden aufschlägt und in die Fänge einer abscheulichen Bestie gerät? Wie viel Leid ein einzelner Mann ertragen muss, damit er zu einem blutrünstigen Ungetüm wird, zu einem Wesen, das ohne mit der Wimper zu zucken siebenundsechzig Menschenleben auslöscht? Was hat dieser Mensch verbrochen, was für eine Schuld hat er sich aufgeladen? Und ist er noch zu retten? Oder ist es längst zu spät? Kann ein zerrüttetes Herz geheilt werden? Kann ein jahrhundertealter, aufgestauter Hass, einer gigantische Woge in einem wütenden Meer gleich, besänftigt werden? Kann so ein Mensch, getrieben von Wut, Hass, Blutgier, Mord, kann so ein Mensch Liebe erfahren? Kann er seine Vergangenheit überwinden und sein Schicksal besiegen? Kann er es gar ändern? Oder ist so ein Mensch hoffnungslos verloren? Ich denke, dass die richtige Person ihn heilen kann. Eine reine, unschuldige Seele vermag das zu tun, woran so viele scheiterten. Die Wogen glätten, den Hass vertreiben, die Liebe in diesem Monstrum rühren. Es muss nur die richtige Person sein. Und für jeden Menschen gibt es diese Person. Für jeden kommt einmal der Augenblick, an dem er seine Vergangenheit ruhen lässt und sich auf die Zukunft konzentriert. Denn was vergangen ist, kommt nicht zurück, nur, was noch vor einem liegt, wird man erfahren. Vertraue mir. Ich habe diese Menschen gesehen, ihr Leid, ihren Hass, ihre Wut … und ich habe gesehen, wie sie geheilt wurden. Ich glaube an das Gute in jedem Menschen und in der Welt. Und das solltest du auch. -Der alte Prophet- -aus: Geschichte unserer Welt- Dunkelheit umgab ihn. Schon seit mehreren Wochen hatte er das wärmende Licht der Sonne nicht mehr gesehen. Den wohligen Duft der Wiesen und Wälder nicht mehr gerochen, das Rauschen des Wassers und die Laute der Tiere nicht mehr gehört und das sanfte Streicheln des Windes nicht mehr gespürt. Was er sah, waren dunkle Wände, nass und moosbewachsen. Er roch die feuchte, stinkende Erde, auf der er lag, zwischen Ratten, Kot, altem Stroh und vergammelten Leichen. Was er hörte, waren die Geräusche der Wachen, die durch die dicke Eichentür an seine Ohren drangen. Was er fühlte, waren die verrosteten Ketten, die in seine Hand- und Fußgelenke schnitten, und die gerade so lang waren, dass er das brackige Wasser und das verschimmelte Brot, das er nun schon seit Wochen zu Essen bekam, an den Mund führen konnte. Seine Haare reichten inzwischen bis auf den Boden, sein Bart verhüllte fast vollständig das Gesicht. Nur seine moosgrünen Augen, die noch immer ungebrochen auf das Holz der Tür starrten, der einzige Beweis, dass sein Geist noch ihm gehörte, waren zu sehen. Die Wunden der Tortur zierten seinen, mit Lumpen bedeckten Körper. Unzählige Blutgerinnsel hatten seine Haut rot gefärbt, sein Körper selbst war dürr, man konnte die Rippen einzeln zählen. Es war das erste Mal, dass ihm ein Fehler unterlaufen war und er hatte sich mit jedem Peitschenhieb geschworen, so ein Fehler würde ihm niemals wieder unterlaufen. Durch den dichten, schwarzen Bart drang ein Grinsen an die Oberfläche, welches jedoch sofort einen schweren Hustenanfall nach sich zog. Innerlich jedoch, dort, wo sein Geist frei von Eisen umherwandelte, malte er sich aus, wie er die Rache genießen, sich in dem Blut seiner Peiniger suhlen und dabei hämisch Lachen würde. Denn trotz seines elendigen Zustandes war er fest davon überzeugt, schon bald aus dem Kerker zu fliehen. Sein ganzes jämmerliches Dasein beschränkte sich nun auf die Rache und das Blutbad, dessen war er sich sicher, das er anrichten würde. Da hörte er plötzlich ein unbekanntes Geräusch. Nicht neu, nur vergessen. Er konnte regelrecht spüren, wie ein rostiger Schlüssel ein ebenso rostiges Schloss öffnete. Greller Fackelschein blendete, mit einem lauten Fauchen begleitet, warf er den Kopf zur Seite. Er war lichtscheu geworden, in den Wochen, die er in diesem Loch saß. Er konnte schemenhaft die zwei Wärter erkennen, ein breites Schwert am Gürtel, dornenübersäte Armbänder an den Handgelenken. Ihre Köpfe mussten kahl rasiert sein, ihre Rüstung schien aus Leder zu bestehen. Er roch den beißenden Gestank frischen Blutes. Noch immer hörte er die Schreie, die erst vor wenigen Stunden verklungen waren, noch immer hörte er das Quietschen der Foltergeräte. Er wusste, was jetzt auf ihn zukam und er stellte sich darauf ein. Zwischen die Wärter trat ein Mann, von dem er nur die Stimme kannte. Sie klang weise, obwohl er noch keine vierzig sein konnte. Nie klang sie zornig, nie traurig, nie arrogant, nie eingeschüchtert. Immer selbstsicher, immer leicht fröhlich, voller Kraft und innerer Ruhe. Etwas rauchig und nach viel Alkohol, aber nie zu viel. Sie klang nach Erfahrung, nie nach Unwissen, sie klang nach Verständnis, nie nach Fragen, sie klang nach Ehrfurcht, nie nach Hohn, doch diesmal, diesmal klang sie fremd. Ungewohnt, nahezu verzweifelt, ungewiss, fragend, seufzend. Sie klang aggressiv, wütend, jedoch zugleich beherrschend, ohne jegliche Mordabsicht. Er spürte, dass seine Zeit noch nicht gekommen war. Er roch, dass es für ihn heute nicht zur Folter ging. Er hörte, wie der Mann tief Luft holte, zwei Schritte auf ihn zu machte und mit seinen langen, dünnen Fingern sein Kinn packte. »Was soll ich bloß mit dir machen?« Er drehte den Kopf zur Seite, musterte ihn und presste die Wangen eng zusammen. »Du verdammter Schweinehund. Wie soll ich dich büßen lassen für deine Tat? Wie kann ich deinen Mord sühnen und wie kann ich deinen Mordversuch ausgleichen?« Er gab ihm eine schallende Ohrfeige, richtete sich auf und stöhnte. »Du verdammter Assassine kommst in meine Burg, mischt dich unter meine Männer und versuchst, mich hinterrücks zu erdolchen. Ich sollte dich hinrichten lassen und trotzdem kommt der Befehl nicht über meine Lippen, will es nicht. Wieso?« Jetzt schrie er ihm direkt ins Gesicht, Speichel traf die Stirn und verschwand im Bart. »Wieso? Wieso kann ich nicht einfach deine Tod befehlen? Wieso bewundere ich dich für deinen Mut und dein Können. Wieso bin ich froh, dass du zu mir kamst und ich dich einsperren ließ? Aber vor allem frage ich mich, wieso gerade ich? Wieso wurde ich Ziel deiner Künste, Assassine? Was habe ich verbrochen? Ich, Kurek Themeus von Sechling, der gütigste Herrscher, den diese Region jemals gesehen hat? Die Erträge sind reich, die Abgaben gering. Ich lasse meine Untertanen Holz für ihre Zwecke schlagen und erlaube ihnen, einmal im Monat einen Bock zu jagen. Und trotzdem werde ich zum Ziel eines Assassinen. Warum? Was willst du von mir?« Kurek von Sechling schritt die Kerkerzelle langsam und gemütlich ab. Jedes Mal, wenn er eine Frage stellte, dann drehte er sich zu seinem Gefangenen und spreizte die Arme weit vom Körper ab. Seine Brust beugte sich dabei nach vorne, sein Hals und sein Kopf blieben allerdings zurück. Es sah seltsam aus, fremd, wenn er sich so verbog. Plötzlich riss Kurek von Sechling eine der Fackeln an sich und ging mit seinem Kopf nahe an seinen Gefangenen heran. Es war das erste Mal, dass der Gefangene das Gesicht des Grafen sah. Dunkle, warmherzige Augen starrten ihn aus einem faltenfreien, scheinbar alterlosen Gesicht an. Kurek von Sechling hatte dichte, braune Augenbrauen und ebenso braunes Haar, welches mit Fett zurückgelegt war. Einige Strähnchen hingen ihm auf der Stirn, unter der leicht schiefen Nase saß ein dichter Schnauzer. Zusätzlich trug der Graf einen eleganten Spitzbart, das restliche Gesicht war sauber rasiert. Scheinbar legte Kurek von Sechling Wert auf Hygiene, denn sein Atem roch angenehm und seine Zähne waren gepflegt. Auch die Hand, die das schmutzige Holz der Fackel umklammerte, war auf dem Handrücken tadellos. »Lasst ihn vorbereiten«, befahl der Graf, drückte dem Wächter die Fackel wieder in die Hand und ging zur Tür. Gerade wollte er um die Ecke verschwinden, da hielt er inne und drehte sich zu seinem Gefangenen um. Ein leichtes Grinsen blitzte im Flammenschein auf, dann verschwand er. Die Wächter verließen die Zelle und schlugen die Tür hinter sich zu. Für eine Weile hatte der Gefangene seine Ruhe. Kurek Themeus von Sechling war ein eleganter, gut aussehender Mann in seinen besten Jahren. Doch das Herz des Grafen hatte noch keine Frau gebunden und so war ihm ein Erbe verwehrt geblieben. Zwar hatte er schon einige Liebschaften überstanden, jedoch hatte er Vorsicht walten lassen, denn nichts forderte den Kopf eines Grafen mehr, als ein uneheliches Kind. Vor wenigen Stunden war der Graf aus den Kerkern seiner Festung zurückgekehrt und bedachte jetzt, tief über ein Schachspiel gebeugt, seinen nächsten Zug. Sein Gegner war niemand Geringeres als sein eigener Bruder, Gurthan Themeus von Sechling. Schon seit Kindesalter an spielten sie Schach und sie waren beide herausragende Spieler. Kurek von Sechling war es bis dato noch nicht ermöglicht worden seinen herausragenden Geist in einem Krieg zu gebrauchen. So wurde Schach zu seinem Spiel und er lieferte sich tagelang Partien mit Menschen aus aller Herren Länder. Jeder Gesandte, der an seinen Hof kam, konnte eine Partie mit dem Grafen nicht umgehen und war er noch so schlecht. »Schach, mein Lieber«, sagte Gurthan und setzte seine Dame zwei Felder vom weißen König entfernt auf das Brett. Der Graf von Sechling verbarg ein Grinsen hinter seiner Hand, zog mit seinem Springer und entfernte die Dame aus dem Spiel. »Wie oft habe ich dir nun schon erzählt, dass ein König sich nicht von einer Dame besiegen lassen darf, Bruderherz?« Gurthan verschränkte nachdenklich die Arme, schaute in das Gesicht seines Bruders und zog mit seinem Turm um drei Felder nach vorne. »Schachmatt!« Daraufhin entfernte er sich rasch vom Spieltisch und wanderte durch die große Halle, in der sie immer saßen und spielten. »Wieso steigst du vermehrt in den Kerker? Gibt es dort unten wunderschöne Jungfrauen? Oder Unmengen von Gold?« »Weder noch.« Kurek ging seinem Bruder entgegen und reichte ihm die Hand. »Du hast wie immer wunderbar gespielt.« Gurthan wandte sich ab und ging zu der großen Glastür, die auf den Balkon führte. Lange Zeit starrte er auf den Hof, über die Mauer hinweg und auf die grünen Felder, die die Burg umgaben. Am Horizont sah er vereinzelt Dörfchen, die alle auf dem Land seines Bruders lagen. Der Regen der letzten Tage war einem strahlend blauen Himmel gewichen und auf den Feldern herrschte ein reges Treiben, denn es zogen bereits neue Wolken auf und die Bauern wollten die Ernte vor dem nächsten Unwetter, dass sie in wenigen Stunden erreichen würde, noch einholen. Innerlich überkam ihn die Wut und sein Gesicht verfinsterte sich. Er war der Erstgeborene und es sollte sein Erbe sein. Vor nunmehr dreißig Jahren war er zusammen mit seinem Vater in den Krieg gezogen und, so wurde es zumindest verlautet, für tot erklärt. Somit ging der Besitz in die Hand seines Bruders über. Als er nach zehn Jahren Gefangenschaft zurückgekehrt war, weigerte sich Kurek, ihm das Erbe der Sechlings zu überlassen und bis jetzt hatte sich nicht viel daran geändert. »Wieso bist du seit Tagen schon so missgestimmt, Bruder?« Kurek legte die Hand auf Gurthans Schulter, stellte sich neben ihn und folgte seinem Blick. »Willst du etwa wieder auf Reisen gehen?« »Du weißt, dass ich das nicht mehr kann, Kurek. Seit ich mir im Krieg diese Wunde zugezogen habe, kann ich die Burg nicht mehr verlassen.« In der Tat waren Gurthans Bewegungen stockend und langsamer als bei anderen. Auch wirkten sie unkontrolliert und gelegentlich suchten ihn heftige Anfälle heim. »Ich sehne mich nach den Abenden an einem Feuer, fern ab der Heimat.« Er zwang sich ein Lächeln auf und umarmte seinen jüngeren Bruder. »Doch ich sollte vergangenen Dingen nicht hinterhertrauern, steht heute schließlich ein so wichtiges Ereignis an.« »Du meinst den Gefangenen?« »Immerhin wollte er meinen geliebten Bruder ermorden. Ich hoffe ja immer noch, dass du ihn Vierteilen lässt.« Kurek grinste bloß und seine Augen strahlten, als Gurthan ihn verdutzt anstarrte. »Ich habe mir etwas viel Besseres überlegt, Bruder.« »Also lässt du ihn über einem Feuer schmoren?« Das falsche Lächeln wuchs zu einem ebenso falschen, aber breiten Grinsen. »Ich wusste es doch gleich.« Erneut schlang er seine Arme um den Hals seines Bruders und drückte ihn, sodass er kaum noch Luft bekam. Da klopfte es an der großen Eichenholztür. Die Flügel schwangen auf und herein traten drei Wächter, die einen edlen, wenn auch ein wenig dürren, Mann begleiteten, dessen Arme in Ketten gelegt waren. »Es ist noch viel besser als du erwartet hast, Bruder. Ich begnadige den Gefangenen.« Alle Farbe schien aus Gurthans Gesicht zu weichen, er stammelte einige Sätze hervor und drückte seine Verwunderung dann doch in vollständigen Sätzen aus. »Aber wieso? Er wollte dich töten. Wieso begnadigst du einen gemeinen Meuchelmörder?« Die drei Wächter machten einen Schritt auf Gurthan Themeus von Sechling zu und zogen ihre Schwerter. »Aus einem einfachen Grund, werter Bruder. Es kam ein Vöglein geflogen und ließ sich neben mir auf dem Geländer nieder. Und wie es da so hockte, da fing es an zu Zwitschern und ich lauschte seiner Melodie gewissenhaft. Als es endete, da warf ich ihm einen Brotkanten hin, das Vöglein nahm ihn dankend an und fliegt seit diesem Tage für mich durch die Welt.« Gurthan schien nicht zu begreifen, was sein Bruder damit ausdrücken wollte. »Und nun, lieber Bruder, darfst du raten, welches Lied mir das nette Vöglein zwitscherte. Soll ich es dir sagen?« Mit jedem Wort, das über die Lippen des Grafen wanderte, verfinsterte sich seine Miene und seine Stimme klang bedrohlicher. Schließlich zog auch er seine Klinge, presste sie seinem Bruder an den Hals und fuhr erbost fort: »Das Lied handelte vom Verrat eines geliebten Mannes. Von einem Mann, der seinem Bruder einen Meuchelmörder auf den Hals hetzt, weil er es nicht ertragen kann, dass sein Bruder die Ländereien des Vaters geerbt hat.« Gurthan atmete vorsichtig aus, setzte ein weiteres falsches Grinsen auf und hob seine Hände. »Du glaubst doch nicht wohl einem hinterhältigen Assassinen. Dieser Bastard würde alles tun, um aus seiner Zelle freizukommen und du hilfst ihm dabei. Er will uns auseinander bringen, Bruder.« Gurthan ging einige Schritte zurück und drehte sich zur Balkontür. »Wenn du diesem Meuchler wirklich Glauben schenkst, mein Bruder, dann habe ich nur noch Eines zu sagen: Wachen!« An die zehn bewaffneten Männer stürmten die Halle, ihre Schwerter funkelten im Licht der Sonne und auf ihren Schilden prangte das Wappen der Sechlings. »Männer«, rief Gurthan von Sechling, drehte sich zu seinem Bruder, zog sein Schwert und zeigte auf die Wärter. »Diese Männer wollen euren Herren töten. Bringt sie zur Strecke!« Mit wildem Geschrei griffen sie die Wärter an und ein heftiges Scharmützel entbrannte. Es dauerte nicht lange, ehe das erste Blut floss und nach wenigen Minuten lagen die Wärter niedergestreckt am Boden. »Es ist aus, Kurek. Viel zu lange musste ich auf meinen Titel warten, den du dir angeeignet hast. Viel zu lange musste ich den lieben Bruder spielen, der mit einer schweren Verletzung aus dem Krieg heimgekehrt ist und alles für seinen Bruder tut. Viel zu lange habe ich deinem Treiben zugesehen, doch das hat jetzt ein Ende.« Blitzschnell zuckte sein Degen nach vorne, grub sich ein Stück in Kureks Gesicht ein und hinterließ eine tiefe Wunde auf der Nase. Der Graf stolperte zurück, täuschte einen hohen Angriff vor und zog seinen Degen nach unten. Er traf das Bein seines Bruders, machte einen Satz nach hinten und stand plötzlich neben dem Gefangenen. »Die Schlüssel«, rief der, hielt dem Grafen die gefesselten Hände hin und sah ihn flehend an. »Ich kämpfe für dich, aber befreie mich von den Fesseln.« Kurek schluckte. Die Schlüssel baumelten noch immer am Gürtel eines Wärters. Er selbst hatte es nie für nötig gehalten, sich ebenfalls Schlüssel umzuhängen. Der Gefangene verstand. »Dann sollten wir verschwinden.« Ohne weitere Erklärungen machte er kehrt und stürmte durch die Tür davon. Kurek zögerte nicht lange und rannte ihm hinterher. »Holt sie euch«, hörten sie Gurthan noch brüllen, dann waren sie zu weit entfernt. Kurek und der Gefangene hasteten durch die unzähligen Gänge der Burg. Jetzt wurde dem Grafen auch klar, warum sein Bruder die Hinrichtung angesetzt hatte und warum alle Soldaten dort anwesend sein sollten. »Wo werde ich die Fesseln los?« Verstört starrte Kurek den Gefangenen an. Was interessierte es ihn, wo man die Fesseln los wurde? Er musste um sein Leben rennen und hoffen, dass er den Galgenplatz vor den Wachen seines Bruders erreichte. »Wo werde ich die verdammten Fesseln los?«, fragte ihn der Gefangene erneut, doch diesmal brüllte er ihn aus Leibeskräften an. »Die Schmiede«, stammelte Kurek und bog um eine Ecke. »Hier entlang.« Sie rannten über den Hof, als ein gellender Ruf an ihre Ohren drang. Ein Pfeil bohrte sich in einen Wagen, den sie gerade passierten, ein Zweiter verfehlte Kurek nur knapp. Ein Dritter jedoch fand ein Ziel und bohrte sich in die rechte Wade des Grafen. Mit letzter Kraft hastete er in die Schmiede und verrammelte die Tür, nachdem der Gefangene auch angekommen war. Ohne zu zögern, nahm der sich einen Hammer und drosch auf die Kettenglieder ein. Gleichzeitig hämmerten die Wärter an die dicke Holztür. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte der Graf den Pfeilschaft, der knapp über der Wunde abgebrochen war, aus seinem Bein zu ziehen. Blut lief ihm die Wade hinunter und tropfte auf den sandigen Boden in der Schmiede. Ein Esel, der zum Antrieb einiger Geräte und zum Tragen schwerer Lasten angeschafft worden war, beobachtete das Treiben. Plötzlich zertrümmerte eine Axt die Holztür und drei Wachen stürmten das Gebäude. Der Erste bekam den Schmiedehammer ins Gesicht gedroschen, mit dem der Gefangene die Fessel zertrümmert hatte. Noch während der Soldat zu Boden sank, entwendete er den Degen aus dessen Hand und stach die anderen beiden nieder. Dann sprang er vor die Tür, fegte einen Degen beiseite und erledigte im Handumdrehen mit Klinge und Hammer die übrigen Soldaten. Kurek, an den massiven Amboss gelehnt, beobachtete den tödlichen Tanz. Gerade ging der letzte Soldat zu Boden, da spürte er einen brennenden Stich in der Schulter. »Du kannst mir nicht entkommen, Bruder.« Gurthan hatte sich durch die Hintertür an ihn herangeschlichen und zog ihn jetzt, von den Schmerzen der Wunden in Bein, Schulter und auf dem Gesicht begleitet, auf die Beine. Vor allem der Kratzer im Gesicht machte Kurek zu schaffen, denn sein Kopf fühlte sich an als wolle er platzen und das Blut behinderte ihn beim Atmen. Durch die wilde Flucht war er sowieso noch ganz außer Atem, das Blut tat das Übrige. »Du verdammter Assassine«, donnerte Gurthan und nutzte seinen Bruder als Geisel, um die Schmiede unbehelligt verlassen zu können. »Wer bist du eigentlich, dass du meinem Bruder hilfst? Ich habe dich schließlich auf ihn gehetzt. Du hast mir die Treue geschworen. Wie waren doch gleich deine Worte? Absoluter Gehorsam deinem Herren gegenüber.« »Ich habe schon vielen die Treue geschworen«, sagte der Assassine und richtete die Klinge gegen den Grafen und seinen Bruder. »Ich leistete schon vielen Herren absoluten Gehorsam, aber nur so lange, wie sie zahlen. Und dein Bruder hat mir einen besseren Preis gemacht. Er wird mich begnadigen und meine Taten mit Geld entlohnen. Er ist mein neuer Herr und du wirst sterben.« Als er diese Worte aussprach, traf ein einzelner Regentropfen die Klinge des blutigen Degens. Doch schon nach kurzer Zeit brachen die Schleusen des Himmels auf und ein Sturzbach ergoss sich auf die Welt. Der staubige Hof verwandelte sich in ein Schlammloch, das Blut der Leichen wurde hinfort gespült und in der Ferne verkündeten Trompeten vom Abbruch der geplanten Hinrichtung. »Was hast du Bastard eben gesagt?« Gurthan traute seinen Ohren kaum. In der Stimme des Assassinen hatte er keinen Zweifel vernehmen können. Er war sich seiner Sache absolut sicher. »Du wirst sterben. Ich lasse dich für den Verrat büßen.« Ohne zu zögern, schnellte der Degen nach vorne und verfehlte Gurthans Kopf nur um Haaresbreite. Doch der Angriff reichte aus, damit sich Kurek aus dem Griff des Verräters befreien konnte. Noch während er zurücksprang, zog Gurthan seinen Degen rasch von links nach rechts und traf seinen Bruder im Rücken. Der samtene Anzug hatte der Klinge nichts entgegen zu setzen und sie drang tief in das Fleisch ein. Schreiend sackte der Graf zusammen. »Du kannst es dir noch überlegen«, blaffte Gurthan und hielt seinen Degen hoch erhoben, um Angriffe des Assassine zu kontern. »Ich zahle dir das Doppelt, nein, das Dreifache. Töte meinen Bruder und lass mich leben. Dann wirst du frei und reich sein.« Der Assassine senkte die erbeutete Waffe und überlegte. Den Moment der Unachtsamkeit nutzte Gurthan aus, sprang nach vorne und stach zu. Doch wie sich herausstellte, war der Assassine nicht unaufmerksam, sondern wich dem Stich aus und drosch seine Faust in das Gesicht seines Gegners. Gurthan ging mit blutender Nase zu Boden und landete im Schlamm des Hofes. Der Assassine grinste, strich sich mit der Hand über die rasierte Gesichtshaut und durch die nassen, schwarzen Haare und hob den Degen. »Angesichts der Tatsache, dass er der Graf und somit Herr der Burg ist, werde ich dich töten.« Er rannte auf Gurthan zu, stach senkrecht nach unten, zog den Degen jedoch noch herum, sodass er seinem Gegner zwar eine tödliche Wunde zufügte, er aber nicht ohne Leid die Welt verlassen würde. Genüsslich zog er den Degen aus dem Fleisch und reinigte ihn an der Kleidung. Kurek lag in einiger Entfernung im Schlamm und keuchte. Allmählich verlor er zu viel Blut und seine Augen sahen schon jetzt nur noch ein verschwommenes Bild. Mit viel Mühe hatte er sich auf den aufgerissenen Rücken gedreht, um den Zweikampf beobachten zu können. Eine innere Freude überkam ihn, als der Assassine seinen Bruder niederstreckte. Gerade zog er die Klinge aus der Brust des Verräters, da schlugen zwei Bolzen im Rücken seines Retters ein und er sank zu Boden. Die Schmerzen betäubten seine Sinne. Weder fühlte er die Kälte des Schlammes, noch hörte er die Rufe der Soldaten, die vom Hinrichtungsplatz in die Burg strömten. Auch sah er nur noch verschwommene Fetzen, die sich zu einer einheitlichen Masse vermischten. Er spürte nicht das warme Blut, das seinen Rücken hinunter lief und er vergaß, dass niemand außer dem Grafen wusste, dass er ein freier Mann war. Mit letzter Kraft würgte er einige verstümmelte Sätze hervor, dann brachte er die Kraft nicht mehr auf und fiel in Ohnmacht. Ein jeder Mann sollte sein Schicksal ändern können. Ist er dazu nicht in der Lage oder will er es nicht einsehen, dann ist er arm. Ist er dazu bereit und stellt sich dem Schicksal entgegen, dann ist er der reichste Mensch der Welt. -Der stille Barde- -aus: Briefe an den Fremden- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)